Sag es mit Gift

© Bastei Lübbe

Seit weit über zwanzig Jahren sammele ich inzwischen Kriminalliteratur, ergänzt durch eine auch nicht unbeträchtliche Anzahl von Büchern aus anderen Genres und zusammengefasst (oder sollte ich besser zusammengepfercht sagen?) in einer Bibliothek, welche mittlerweile aufgrund des Gewichts die Statik unseres Wohnzimmers in arge Bedrängnis bringt. Man könnte also tatsächlich passenderweise behaupten: „Mord ist aller Laster Anfang“. In meinem Fall ein Laster, das aber wenigstens keine nennenswerten gesundheitlichen Nachteile (von trockenen Augen mal abgesehen) mit sich bringt, wenngleich manch ein literarisches Mahl auf dem Weg zum „Krimi-Gourmet“ rückblickend etwas schwerer im Magen liegt – oder nach objektiven Gesichtspunkten unter äußerst leichter Kost anzusiedeln ist. Bei Ann Grangers Debüt im Spannungsgenre handelt es sich genau um solche.

Nun ist der klassische englische Landhauskrimi per se kein Sub-Genre, in dem sich Schriftsteller in der Vergangenheit in großer Zahl zu ungeahnten künstlerischen, geschweige denn spannungsreichen Höhenflügen aufgeschwungen haben. Wenig überraschend, legt das Lesepublikum doch seit Miss Marples Zeiten hier vor allem Wert auf den richtigen Schauplatz, möglichst verschrobene, skurrile Charaktere und eine dazu passende gediegene, gemütliche Atmosphäre. Die Suspense hat auch deswegen zwischen gehäkelten Tischdecken, weichen Ohrensesseln, knisternden Kaminfeuern und pfeifenden Teekesseln einen mitunter schweren Stand, was dem Erfolg des „Cozys“ allerdings nie abträglich war. Und ich bin ganz ehrlich: Ab und zu ist es tatsächlich ganz entspannend, sich nach all den depressiven, alkoholkranken Ermittlern oder geistesgestörten Serienkillern für die nächste Lektüre in einem idyllischen, abgelegenen englischen Dörfchen zu erholen. Sowohl zwischen den Buchdeckeln, als auch im wahren Leben. So nehme ich daher unseren diesjährigen Urlaub in Oxfordshire, am Rande der Cotswolds, zum Anlass, um Jahre nach dem ersten Kontakt mit diesem Buch, einen etwas kritischeren Rückblick zu wagen und eine Antwort auf die Frage zu suchen: Kann man das heute eigentlich noch lesen? Und konnte man es je?

Im Jahr 1991 hatte Ann Granger – erst als Englischlehrerin, dann im diplomatischen Dienst lange Zeit in Ländern wie Österreich, Frankreich, Deutschland, aber auch in ehemaligen Staaten wie Jugoslawien und der Tschechoslowakei, tätig – unter dem Pseudonym Ann Hulme bereits sechs Bücher veröffentlicht. Sie werden heute gerne im Bereich der „Historic Novels“ verortet, obwohl es sich bei sachlicher Betrachtung allesamt um äußerst kitschige Liebesromane handelt. Entsprechend hoch durften daher wohl die Erwartungen der Krimi-Leser gewesen sein, als im genannten Jahr mit „Mord ist aller Laster Anfang“ der erste Whodunit mit Meredith Mitchell, wie ihre Schöpferin ebenfalls Diplomatin, das Licht der Welt erblickte. Von wenigen Ausnahmen abgesehen – Martha Grimes‘ Inspektor Jury hatte inzwischen eine gewisse Popularität erreicht – war der Landhaus-Krimi zu diesem Zeitpunkt zu einer Randhauserscheinung verkommen. Keine gute Ausgangslage für eine erfolgreiche Reihe, möchte man meinen. 2023, sechzehn Bände (ein 17. ist auf Deutsch für März 2024 angekündigt) und diverse andere Reihen später, muss man konstatieren: Besser hätte es für Ann Granger kaum laufen können, auch wenn der Start ein durchaus holpriger war. Und damit nun zum Inhalt:

Ungarn, Anfang der 90er Jahre. Konsulin Meredith Mitchell erhält von ihrer Cousine Eve Owens einen Brief samt Einladung für die Hochzeit von deren Tochter Sara. Meredith, Saras Patentante und von der ewigen Routine im Dienst des auswärtigen Amts inzwischen mehr als gelangweilt, nimmt die Gelegenheit wahr, dankend an und reist kurz darauf in das kleine (fiktive) Dörfchen Westerfield, nahe Bamford (ebenfalls fiktiv) in Oxfordshire. Zu ihrer Überraschung muss sie feststellen, dass sich in ihrer alten, englischen Heimat einiges verändert hat. Die ehemals allgegenwärtige Landhausidylle hat durch die Errichtung hässlicher Betonbauten sichtlich Schaden genommen, das freundliche, nachbarschaftliche Miteinander sich in Misstrauen und skeptische Zurückhaltung gewandelt. Und selbst im Hause ihrer Cousine, dem alten Wohnsitz des ehemaligen Pfarrers, scheint alles andere als Frieden zu herrschen.

Ein Unbekannter hinterlässt regelmäßig Drohungen in Form makabrer Scherze am Eingangstor, Saras künftiger Gatte fürchtet um sein feines Image und zwischen den angrenzenden Nachbarn, dem alten Bert und dem jungen Künstler Philipp Lorrimer, herrscht Streit aufgrund buddelnder Katzen im preisgekrönten Blumenbeet. Was Meredith anfangs noch als typische Verschrobenheit der Landbevölkerung interpretiert, wird recht bald bitterer Ernst. Erst wird eine der Katzen tot aufgefunden, offensichtlich vergiftet. Dann stolpert sie bei einem Besuch über die schmerzverzerrte Leiche ihres Besitzers. Schon am Vortag klagte Philipp über Bauchkrämpfe und so vermutet Meredith, dass auch hier Gift im Spiel sein muss. Alan Markby, Inspektor bei der Bamforder Polizei und auch geplanter Brautführer, wird mit den Ermittlungen in dem Fall beauftragt – und kreuzt dabei, zu seiner wachsenden Verstimmung, immer wieder die Wege von Meredith, die sich als Hobbydetektivin gebärt und ihrerseits Nachforschungen anstellt. Zeichnet wirklich der alte Bert für die Vergiftung verantwortlich? Und ist Gift überhaupt die einzige Todesursache? Als sie der Wahrheit immer näher kommt, ist es endgültig vorbei mit der Beschaulichkeit im ruhigen Westerfield …

Als ich Mitte 2000er, auch dank des damals noch lebendigen Forums auf der Website Krimi-Couch (nun ein Schatten ihrer selbst), die Perlen der DuMont-Kriminalbibliothek nach und nach für mich entdecken durfte, richtete sich der Blick auf weitere Literatur aus dem Bereich des Whodunit. Seit dem Golden Age hatte sich aber der Spannungsroman, auch dank auf Realismus pochenden Schriftstellern wie Dashiell Hammett oder Raymond Chandler, weiterentwickelt. Morde unter Gentleman in alten Herrenhäusern und in verschlossen Räumen waren lange genau so außer Mode, wie Hobbydetektive mit Anzug und Zigarre. Morde wurden nun immer blutiger und wissenschaftlicher seziert. Und der Leser sollte weniger zum Miträtseln angeregt, als vielmehr durch immer plastischere Schilderungen geschockt und gegruselt werden. Dennoch scheint es gerade zur Jahrhundertwende eine kleine Renaissance des klassischen Mystery-Novels gegeben zu haben. Anfangs noch in Form von Persiflagen oder Hommagen, wie z.B. in Gilbert Adairs „Mord auf ffolkes Manor“, eroberte sich der Whodunit wieder einen Platz in den Buchhandlungen zurück. Und so musste ich letztlich unvermeidlich auch über die Ann Granger Titel – oder besser gesagt über deren sehr einprägsame Cover stolpern.

Konzentriert man sich allein auf die Aufmachung des Buches, so kann man durchaus feststellen: Das Buch hält genau das, was es verspricht. Wer sich über das pittoreske Dorfidyll hinaus aber große Hoffnungen auf einen winkelten, komplexen Plot oder einen Meisterdetektiv wie Miss Marple macht, der kann dieser (zumindest für den ersten Band der Reihe) direkt wieder begraben. Ann Granger vermag es nicht zu kaschieren, dass sie zum allerersten Mal einen Fuß in das Krimi-Genre setzt, denn der Plot knarzt allerorten und ist ähnlich wie schwerfällig, wie die alten Holztüren der Cottages in Westerfield. Zwar gelingt es ihr durchaus, den Schauplatz optisch einen St. Mary Mead von Agatha Christie anzugleichen, bevölkert ihn aber mit wandelnden Klischees, die sich dick eingepackt in Stereotypen kaum bewegen können und daher Lebendigkeit vermissen lassen. Fast scheint es so, als hätte sich Granger hier Punkt für Punkt durch die To-Do-Liste „Was gehört alles in einen Whodunit“ gearbeitet und darüber hinaus vergessen, dass alles auch logisch – und vor allem für den Leser überraschend zu verknüpfen.

Ironischerweise wirken sich diese Schwächen aber weit weniger auf das Lesevergnügen aus, als die Hauptprotagonistin, Meredith Mitchell. Bar jeglichen Sinns für Humor, motzt, zickt, meckert und trampelt die Diplomatin (!) durch die Szenerie, durchgängig im Angriffsmodus auf alles, was auch nur im Begriff ist, Widerworte zu geben oder ihrem Treiben Einhalt zu gebieten. Natürlich hätte es auch ein kleiner Belgier mit Eierkopf oder die alte wirre Oma nie über das Sperrband eines Tatorts geschafft. Es wirkt rückblickend aber dennoch logischer, als die Anwesenheit dieser personifizierten weiblichen Abrissbirne, die so ziemlich alles tut, um den Leser gegen sich aufzubringen. Alan Markby, im weiteren Verlauf der Reihe wichtige zweite Hauptfigur, hat dagegen kaum Raum, um sich entfalten zu können und ist sich daher in erster Linie unseres Mitleids sicher. Eine Mischung also, an der „Mord ist aller Laster Anfang“ eigentlich noch vor Auffinden der ersten Leiche hätte krepieren müssen.

Umso überraschender, dass mich trotzdem irgendetwas an dieser Lektüre um den Finger wickeln konnte, was mit Worten nur schwer zu greifen ist. Meredith nervt, ja. Die Kulisse könnte kaum künstlicher sein, sicher. Aber obwohl diese Mängel so offensichtlich sind, lullt uns Ann Granger mit dieser Tee-und-Keks-vorm-Kamin-Atmosphäre dermaßen geschickt ein, dass man unwillkürlich tiefer in den Sessel sinkt und darüber hinaus die Zeit (und viele der offensichtlichen Kritikpunkte) einfach vergisst. Es ist diese Rutherfordsche Gemütlichkeit, die den Leser in eine warme Decke packt, welche zum Markenzeichen der Reihe werden wird, in „Mord ist aller Laster Anfang“ aber allein noch nicht ausreicht, um eine wirkliche Empfehlung aussprechen zu können. Granger deutet hier zwar ein gewisses Potenzial an, ist aber sichtlich noch auf der Suche nach dem eigenen Stil, mit dem dann auch eine dringend benötigte Leichtigkeit einhergehen könnte.

So ist Meredith Mitchells erster Fall dann nur für diejenigen von Interesse, welche literarische Entschleunigung vom chaotischen Alltag in Form eines Landhaus-Krimis suchen oder Serien immer unbedingt von Anfang an verfolgen möchten. Allen anderen empfehle ich, etwas später in diese sich im weiteren Verlauf tatsächlich stetig steigernde Reihe einzusteigen.

Wertung: 71 von 100 Treffern

einschuss2
  • Autor: Ann Granger
  • Titel: Mord ist aller Laster Anfang
  • Originaltitel: Say It with Poison
  • Übersetzer: Edith Walter
  • Verlag: Bastei Lübbe Verlag
  • Erschienen: 10.2022
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 304 Seiten
  • ISBN: 978-3404189113

London Has Fallen

© Rowohlt

Kennen Sie das auch? Sie wollten eigentlich nur zwei, drei Chips aus der Tüte nehmen und plötzlich ist diese aus unerklärlichen Gründen schon gleich wieder leer. Ähnlich könnte es ihnen als Freund historischer Romane bei der Lektüre von Bernard Cornwells Sachsen-Saga gehen, mit welcher es dem in Amerika lebenden Autor in den vergangenen Jahren auf bemerkenswerte Art und Weise gelungen ist, sein Lesepublikum stets nach noch einem Roman mehr gieren zu lassen.

Irgendetwas in seinen Geschichten – und dieses irgendetwas ist nicht ganz einfach zu greifen – birgt ein gewisses Suchtpotenzial in sich, lässt viele blind zum direkten Nachfolger greifen. Wohl wissend, dass Cornwell das Rad nicht neu erfinden, sondern vielmehr seinem üblichen Schema in Aufbau und Erzählung treu bleiben wird. „Kennst du einen, kennst du alle.“ Ein nicht ganz aus der Luft gegriffener Vorwurf an den nur wenig wandlungsreichen Autor, der aber letztlich trotzdem immer noch von einer anderen Erkenntnis abgelöst wird: „LIEST du einen, liest du alle.“

Nachdem mich der Auftakt um den jungen Kämpfer Uhtred nur mit viel Wohlwollen meinerseits überhaupt für einen weiteren Band gewinnen konnte, schlugen die beiden weiteren Bücher „Der weiße Reiter“ und „Die Herren des Nordens“ umso mehr im Hause Heidsiek ein, da Cornwell hier nun genau die richtige Balance für seine doch recht formelhafte Schreibe findet und das ferne Ziel des Protagonisten – die Bebbanburg – äußerst gekonnt wie eine Karotte vor unserer aller Nase baumeln lässt. Aber kann er dieses qualitativ hohe Niveau auch weiterhin halten? „Schwertgesang“, der vierte Teil um Uhtred, den Sachsen, lässt diese Frage nicht lange offen und beantwortet sie bereits nach wenigen Seiten mit einem dicken Ja. Der britische Schriftsteller hat spätestens jetzt seinen Rhythmus gefunden, welcher in erster Linie vom Klang der Schwerter auf den Schildern seiner Protagonisten diktiert wird, denn einmal mehr nimmt das Schlachtengetümmel einen nicht unerheblichen Teil des Buches ein. Es darauf allerdings zu reduzieren, würde „Schwertgesang“ nicht gerecht, nimmt sich Cornwell doch auch wieder ebenso viel Zeit, um ein glaubwürdiges Gemälde des frühen englischen Mittelalters zu zeichnen. Und damit zur Handlung:

Knapp sieben Jahre sind seit den Ereignissen in „Die Herren des Nordens“ vergangen. Uhtred, nach seinen Abenteuern in Northumbrien inzwischen nach Wessex zurückgekehrt, hat sich gemeinsam mit seiner Frau Gisela und seinen Schwurmännern in Coccham (heutiges Cookham, Berkshire) niedergelassen. Dort befestigt er im Auftrag seines Königs Alfred die Stadt und umliegende Gehöfte entlang der Temes (Themse), um diese gegen die weiter anhaltenden Überfälle der Nordmänner zu sichern. Keine leichte Aufgabe, welche noch dadurch erschwert wird, dass Uhtred seitens Alfred nur wenig Unterstützung erhält und die Dänen, unter Führung der Brüder Erik, Sigefried Thurgelson und Graf Haesten, einst selbst in Uhtreds Diensten, über den Seeweg immer mehr Verstärkung bekommen. Ein Angriff scheint nur eine Frage der Zeit. Doch König Alfred ist für sämtliche Warnungen blind, träumt lieber weiter von einem vereinten England und plant stattdessen selbst in die Offensive zu gehen. Sein Ziel: Die Stadt Lundene (London).

Unter der Führung seines verhassten Cousins Æthelred, dem Aldermann von Mercien, soll Uhtred auf Befehl des Königs die von den Dänen besetzte Stadt einnehmen, um einen Brückenkopf für weitere Feldzüge in den Norden zu erhalten und den Seehandel über die Themse zu sichern. Ein riskantes und schwieriges Unterfangen, zumal Æthelred von Strategie und Taktik keinerlei blassen Schimmer hat. Einmal mehr muss sich also Uhtred in seine blutverschmierte Rüstung werfen, um mit List, Tücke und Mut die Kohlen für Alfred aus dem Feuer zu holen…

Vorneweg ein Hinweis für die Leser, welche wie ich, die älteren Rowohlt-Ausgaben ihr Eigen nennen (Ob es bei den neuen korrigiert wurde, entzieht sich meiner Kenntnis): Die auf dem Klappentext des Buches angegebene Jahreszahl 855 ist natürlich ein Fehler seitens des Verlags. Vielmehr spielt sich die hier erzählte Geschichte zwischen den Jahren 885 und 887 nach Christus ab, wenngleich die Geschehnisse rund um Uhtred einmal mehr größtenteils der Fantasie des Autors entsprungen sind (Cornwell gibt dazu auch im Nachwort eine Erklärung ab) und sich nur in einigen Punkten mit den, aus dieser Zeit nur spärlichen erhaltenen historischen Fakten kreuzen.

Das wird vielleicht aber nur denjenigen bitter aufstoßen, welche an der Universität die Angelsachsenchronik im Detail studiert haben, weiß doch der Autor (wie schon zuvor in „Die Herren des Nordens“) diesen kreativen Freiraum bestens zu nutzen. Bernard Cornwell hat über die Jahre ein beeindruckendes Gespür dafür entwickelt, Fiktion und überliefertes Wissen miteinander zu verweben, um es dem Leser informativ und dennoch durchgängig kurzweilig nahe zu bringen. Wie oft wird gerade im Bereich des historischen Romans „das zum Leben erweckte Mittelalter“ fälschlicherweise hymnisch gepriesen. Hier ist dieses Lob tatsächlich mehr als gerechtfertigt, denn obwohl wir sogleich in die Erzählung und damit in diese geschichtliche Epoche eintauchen, wirkt doch vieles aus heutiger Sicht fremd auf uns. Cornwell macht nicht den in diesem Genre so beliebten Fehler, nur Bühne und Requisiten dem damaligen Zeitalter anzupassen – er verdeutlicht auch durch seine Figuren, dass sich die Menschen des frühen Mittelalters, abhängig von ihrer Bildung oder ihrem Stand, mit gänzlich anderen Herausforderungen konfrontiert sahen.

Seit seinem ersten Auftritt in „Das letzte Königreich“ ist besonders der Hauptprotagonist Uhtred in dieser Hinsicht enorm gewachsen und verkörpert glaubwürdig die Summe seiner eigenen Erfahrungen. Er ist vor allem das Ergebnis gewaltsamer Auseinandersetzungen, musste von Klein auf seinen Platz erkämpfen, weswegen wiederum Cornwell erst gar nicht versucht, ihn irgendwie als Sympathieträger beim Leser zu platzieren und anzudienen. Uhtreds große Stärke ist nun mal strategisches Denken und das blutige Kriegshandwerk. Ihm geht es um Ruhm, Ehre, Ansehen und am Ende auch um den finanziellen Vorteil. Ihn daher gleichzeitig als liebevollen, empathischen Familienvater zu zeichnen, würde zwar das potenzielle Lesepublikum dieser Reihe um einiges erweitern – aber gleichzeitig der Authentizität einen Bärendienst erweisen. Somit steht und fällt der Zugang zu dieser Lektüre auch mit dieser Figur. Man liebt oder hasst sie. Dazwischen wird es nicht viel geben. Erstere wird es möglicherweise freuen zu sehen, dass der alte Uhtred, welcher rückblickend als Ich-Erzähler der Geschichten fungiert, diesmal um einiges präsenter ist. Sein Wirken als Chronist der eigenen Abenteuer – die er vor seinen Zuschauern immer wieder in das zwar nicht rechte, aber dafür wahre Licht rücken muss – verleiht Cornwells Schilderungen zusätzlich an Tiefe.

Und wer befürchtet, es in der Sachsen.-Saga mit durchgehend eindimensionalen Charakteren zu tun zu bekommen, dem kann ich diese Angst auch nehmen. Auch wenn ein jeder andere Attribute mit sich bringt, vermeidet er doch jegliche Schwarz-Weiß-Malerei oder zu deutliche Kontraste. Die Motivationen der Figuren sind unterschiedlich – und ändern sich ähnlich häufig wie ihre Bündnisse. Wie in einem guten Krimi kann man sich der Absichten aller Beteiligten nicht durchgängig sicher sein. Und auch das Böse ist nicht immer dänisch und trägt einen roten Vollbart. Ganz im Gegenteil: Während Hollywood-Produktionen wie „King Arthur“ die Invasion der Nordmänner des von den Römern verlassene Britanniens als reinen Verteidigungskampf gegen einen teuflischen Gegner inszenieren, vermeidet Cornwell solche einseitigen Perspektiven und macht es dem Leser – und letztlich damit auch Uhtred – so nicht leicht, eine bevorzugte Seite zu wählen. Es sind gerade diese verschwimmenden Grenzen, diese teils liebenswerten Halunken hüben wie drüben, welche zusätzlich dafür sorgen, dass sich so etwas wie Vorhersagbarkeit oder Langeweile in dieser Reihe erst gar nicht einstellen kann und will.

Ein anderes, zentrales Element ist – neben der unverblümten, rohen, mitunter aber auch schwarzhumorigen Sprache – Cornwells seit jeher wirksamste stilistische Waffe: Die Schlachtenbeschreibungen. Wenn der Autor die Kämpfer nach und nach im Schildwall in Position bringt, wird man unversehens Teil der Erzählung, wird der Leser auf bestürzende Art und Weise in das Getümmel von menschlichen Leibern hineingezogen, wo er im strömenden Regen, Matsch und Blut schreiend losstürmt, um den feindlichen Dänen mit gezogener Waffe das Fürchten zu lehren. Vor Augen dabei eine wackelnde Handkamera, welche das schreckliche Gemetzel in aller Plastizität, aber eben auch unheimlich fesselnd und mitreißend direkt von den Zeilen auf Papier in die Köpfe des gebannten „Zuschauers“ transportiert. Wenn jemand da draußen ein literarisches Äquivalent für Mel Gibsons Epos „Braveheart“ sucht, der wird bei Bernard Cornwell mit höchster Sicherheit fündig. Insbesondere auf den letzten knapp vierzig Seiten brennt der Autor ein Actionfeuerwerk der Extraklasse ab, das in diesem Genre wohl seinesgleichen sucht. Und selten hat der Titel eines Buches dann abschließend auch so gut gepasst, wie hier.

Zusammenfassend bleibt nur zu sagen: Der Griff zur nächsten „Chipstüte“ aus der Feder Bernard Cornwells ist nach der Lektüre von „Schwertgesang“ eigentlich unvermeidlich. Auch der vierte Band der Sachsen-Saga um Uhtred von Bebbanburg – der seiner „Karotte“ erwartungsgemäß auch diesmal kein Stück näher kommt – ist ein unheimlich facetten- und bildreicher, aber auch emotionaler Ausflug ins frühe englische Mittelalter, den ich mit Inbrunst verschlungen habe. Ein Glanzlicht des historischen Romans, zu dem man aber nur greifen sollte, wenn man bereits die Vorgänger kennt.

Wertung: 90 von 100 Trefferneinschuss2

  • Autor: Bernard Cornwell
  • Titel: Schwertgesang
  • Originaltitel: Sword Song
  • Übersetzer: Karolina Fell
  • Verlag: Rowohlt
  • Erschienen: 01.2009
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 480
  • ISBN: 978-3499248023

Kraftwerk des Bösen

© Elsinor

John Buchans „Der Übermensch“, war da nicht mal was? Wer die deutsche Verlagsszene insbesondere im Bereich Kriminalroman in den letzten Jahren genauer verfolgt hat, dem wird nicht entgangen sein, dass dieser Titel bereits 2014 vom Elsinor Verlag veröffentlicht worden ist. Genau ist dabei allerdings das Stichwort, denn wie leider so oft bei kleineren Verlagshäusern, so blieb auch diesem Buch eine größere mediale Reichweite – und damit ein entsprechendes Lesepublikum – verwehrt. Und wenn es sich dann auch noch um einen Klassiker aus der Zeit des Ersten Weltkriegs handelt, scheinen die Chancen nicht selten umso geringer. Wieso also jetzt eine weitere Neuauflage?

Nun, einerseits feierte der klassische Spannungsroman zuletzt ein kleines Revival, wobei dies wohl weniger der großen Nachfrage geschuldet ist, als vielmehr dem Kostenfaktor. Anstatt Übersetzer, Lektoren und neue Lizenzen für großes Geld einzukaufen, bedient man sich bestehender Rechte und auch Übersetzungen, welche man allenfalls nochmal hier und da überarbeitet. Verlage wie zum Beispiel Kampa oder auch der Unionsverlag haben die finanziellen Vorteile in diesem Geschäftsmodell längst für sich entdeckt und entsprechend ihr Programm ausgerichtet. Andererseits gibt es weiterhin Menschen dort draußen, die nicht müde werden, sich für längst vergessene (oder auch bis dato unentdeckte) Krimi-Perlen einzusetzen. Und einer davon ist seit vielen Jahrzehnten Martin Compart – ehemaliger Herausgeber für u.a. so wegweisende Krimi-Reihen wie die „gelben Krimis“ bei Ullstein, die „Schwarze Serie“ von Bastei Lübbe oder die kurzlebige Kollektion DuMont Noir. Er ist es auch, der in der überarbeiteten Ausgabe von „Der Übermensch“ (engl. „The Power House“) wieder ein Nachwort besteuert, das sich am Informationsgehalt der oben genannten Reihen orientiert, fast allein den Kauf schon lohnt – und damit aber eigentlich auch in Inhalt und Umfang eine größere Besprechung des vorliegenden Romans fast gänzlich überflüssig macht.

Was soll ich da jetzt noch ergänzen oder aus dem Text herausholen? Das war so ziemlich mein erster, leicht verzweifelter Gedanke nach der Beendigung dieses Klassikers, welchen Compart – im Kontext der Bedeutung und der Entwicklung des Spionage-Romans (bis hin zum Ursprung des Begriffs Spion an sich) sowie auch mit Fokus auf den Lebenslauf John Buchans – im Anschluss an die eigentliche Geschichte über ganze dreißig Seiten (!!) analysiert. Nun, konzentriere Dich einfach auf den gelesenen Text, würde wohl mein alter Dozent zu mir sagen. Doch genau hier steht man relativ schnell vor dem nächsten Problem, denn „Der Übermensch“ ist eigentlich vom Umfang her weniger ein Roman, als vielmehr eine recht übersichtliche Novelle, welche zudem ohne wirkliche Aktion seitens des Hauptprotagonisten, Edward Leithen, auskommt.

Leithen ist stattdessen der Prototyp des „Clubland Heros“, der, selbst konfrontiert mit lebensbedrohlichen Problemen, diesen weitestgehend von seinem Schreibtisch aus begegnet, wodurch sich wiederum Buchans Geschichte deutlich von vielen zeitgenössischen Kollegen wie Eric Ambler oder W. Somerset Maugham, unterscheidet. Compart spricht hier von einem „romantisierenden Blick“ gegenüber dem eher realistischen Ansatz der genannten Autoren – und trifft damit den Nagel auf den Kopf. Genau diese stilistische Eigenheit des schottischen Schriftstellers lässt aber eben wenig Raum für eine Auseinandersetzung mit der eigentlichen Handlung – zumindest ohne im gleichen Zug die Essenz, Faszination und vor allem Spannung schon vorweg zu nehmen. Ich will es dennoch versuchen und dabei vermutlich scheitern:

Edward Leithen ist der exemplarische, ja fast schon klischeehaft konservative Vertreter der britischen Oberschicht nach dem Ende der viktorianischen Ära. Wohnhaft in der Metropole London, leistet er seinen Dienst am Empire als Abgeordneter der Tory-Partei im Parlament und ist nebenbei noch am örtlichen Gericht als Anwalt tätig. Sein Leben findet neben diesen beiden Schauplätzen größtenteils in diversen exklusiven Clubs statt, in welchen die erbitterten, aber stets sportlichen Konflikte aus den politischen Sälen Westminsters mit großer Begeisterung fortgesetzt werden. So ist es wenig überraschend, dass zwei seiner besten Freunde dem gegnerischen Lager der Labour-Partei entstammen. Während man sich vor den Augen der allgegenwärtigen Presse in den Auseinandersetzungen nichts schenkt, schätzt man sich privat umso mehr, wenngleich ein jeder darauf bedacht ist, den jeweils anderen mit seinen Leistungen oder Erlebnissen zu beeindrucken.

Während einer geselligen Zusammenkunft ist es dann an Edward Leithen von seinem bis dato größten Abenteuer zu erzählen. Dieses begann mit der urplötzlichen und mysteriösen Flucht eines Bekannten aus London. Sein Name: Charles Pitt-Heron. Schon immer mit dem Ruf eines Draufgänger versehen, sind dessen Freunde dennoch überrascht über die Art und Weise der Abreise. Von seinem Freund Tommy Deloraine erfährt Edward, dass Charles zuletzt in zwielichtigen Kreisen verkehrt hat und nun verzweifelt versucht, diesen zu entkommen. Tommy seinerseits möchte ihm nachreisen und beistehen, weswegen er seinen Freund damit beauftragt, die Ursprünge der unbekannten Gefahr näher zu erforschen. Edward, der einst Charles‘ Ehefrau Ethel sehr zugetan war, kommt nach und nach einer weltumspannenden Verschwörung namens „Das Kraftwerk“ (engl. „The Power House“) auf die Spur und sieht sich schließlich sogar dessen Kopf gegenüber. Als dieser ihm die mitunter nachvollziehbaren Gründe für sein kriminelles Wirken erläutert, steht er vor einer schwierigen Wahl: Soll er den Dingen seinen Lauf lassen oder sein eigenes Leben riskieren, um ein anderes zu retten? Edwards Entscheidung setzt schließlich eine Kette von Ereignissen in Gang, welche von London bis in das ferne Kaschmir ihren Widerhall finden …

John Buchan – ein Name, der heute hierzulande allenfalls Kennern des Genres in Begriff ist, wobei sich diese Kenntnis zumeist auf sein wohl bekanntes Werk, „Die neununddreißig Stufen“, potenziert, dessen Verfilmung durch den damals noch recht jungen Alfred Hitchcock zu den größten britischen Filmen aller Zeiten zählt. Hier, in Großbritannien, ist Buchans Buch auch seit seinem Erscheinen im Jahr 1915 durchgehend lieferbar. Im Verlauf der Jahre hat es wie sein Schöpfer viele Bewunderer gefunden, zu denen u.a. Persönlichkeiten wie der ehemalige amerikanische Theodore Roosevelt zählten. Auch Graham Greene orientierte sich in seiner Arbeit stark am Idol John Buchan, dessen abwechslungsreiches und fast übervolles Leben von Martin Compart in dieser Ausgabe hervorragend herausgearbeitet und gewürdigt wird. Obwohl er nur 64 Jahre alt wurde, tat er sich nicht nur als Schriftsteller und Journalist hervor, sondern war während des Ersten Weltkriegs auch Mitarbeiter im militärischen Geheimdienst und ab 1935 sogar Generalgouverneur von Kanada. Zu seinem umfangreichen Werk gehören neben zweiundvierzig Sachbüchern, vier Gedichtbänden und zehn Biographien auch achtundzwanzig Romane, von denen der erste, „The Half-Hearted“, bereits im Jahr 1900 das Licht der Öffentlichkeit erblickte.

In dieser bis heute unübersetzten klassischen Abenteuergeschichte verhindert der Held namens Lewis eine Invasion durch die Russen. Zehn Jahre später folgt der Leser Buchan in „Trommeln über Transvaal“ (engl. „Prester John“) nach Südafrika, wo sich ein junger Engländer einem verheerenden Aufstand der Schwarzen entgegenstellt. Letzterer ist zwar von der damaligen imperialistischen Ideologie und Doktrin beeinflusst, zeichnet gleichzeitig aber auch ein für diese Zeit überraschend verständnisvolles Bild der südafrikanischen Sichtweise. Aus heutiger Sicht könnte man „Trommeln über Transvaal“ wohlwollend als frühen Polit-Thriller bezeichnen.

Dennoch sollte es nochmal fünf weitere Jahre dauern, bis Buchans literarischer Fingerabdruck auch von einem größeren Publikum wahrgenommen wird. Beeinflusst von den desillusionierenden Eindrücken des Kriegsjahres 1915, begann er mit der Arbeit am bereits erwähnten „Schlüsselwerk“ seiner Schriftstellerkarriere – „Die neununddreißig Stufen“, das noch im gleichen Jahr in Druck ging und zu einem großen Erfolg für Buchan wurde. Ein Erfolg, von dem auch „Der Übermensch“ profitierte, der bereits 1913 als Fortsetzungsroman erschienen war, und drei Jahre später, die Gunst der Stunde nutzend, als gebundene Ausgabe erneut auf den Markt kam. Nach Ansicht von Martin Compart, handelt es sich hierbei um den ersten modernen Spionage-Roman. Und selbst wenn viele Buchan nachfolgende Autoren des Genres bis heute „Die neununddreißig Stufen“ als Blaupause hervorheben – ich bin nach genauer Überlegung durchaus eneigt Compart zuzustimmen.

Um seine Sichtweise zu teilen, bedarf es allerdings auch einer gewissen Erweiterung eben dieser, denn „Der Übermensch“ hat aus heutiger Sicht nur noch wenig mit dem gemeinsam, was wir, geprägt von Protagonisten wie George Smiley oder James Bond, mit diesem Sub-Genre verbinden. Anstatt uns wie später genreüblich an der Seite der fürs Gute streitenden Helden körperlicher Gefahr auszusetzen, entwickelt sich der Spannungsbogen von „Der Übermensch“ größtenteils zwischen den Papierstapeln des Schreibtischs, hinter denen Edward Leithen sitzt und Telegramme verschickt, um die eigentlich der Bedrohung ausgesetzten Akteure zu warnen und in Sicherheit zu bringen. Fast scheint es anfangs so, als hätte Buchan es bewusst vermieden, seine höchstwahrscheinlich eher elitäre Leserschaft direkt mit so primitiven Dingen wie Mord und Totschlag auseinanderzusetzen. Immer wenn sich daher die Häscher den durch die Berge Bucharars und Kaschmirs Charles Pitt-Heron und Tommy Deloraine nähern, sitzen wir Leser im warmen, behaglichen London – relativ unberührt von dem Ausmaß der kriminellen Verschwörung, die Edward bis hierhin relativ dank diverser Gespräche und Schlussfolgerungen unbehelligt aufdecken kann. Zumindest so lang, bis der Hauptprotagonist durch das Element des Zufalls dem Kopf dieses Syndikats gegenübersteht.

Bis zu diesem Zeitpunkt hat uns „Der Übermensch“ zwar relativ temporeich und gefällig, aber auch wenig überraschend oder gar begeisternd von Seite zu Seite zu tragen – nun ändert diese Begegnung in einem dunklen Salon eines alten Landhauses von jetzt auf gleich die ganze Tonalität. Hier, in den Schatten eines brennenden Kaminfeuers, offenbart sich der scheinbar wohlwollende Gastgeber als Drahtzieher des Bösen, als kultivierte und doch gefährliche Spinne im Zentrum eines gewaltigen Netzes. Martin Compart zieht in seinem Nachwort Vergleiche mit Hugo Drax und Ernst Stavro Blofeld, späteren Superverbrechern und Gegenspielern James Bonds, dessen Schöpfer Fleming sich ebenfalls als Autor in der Tradition John Buchans verstand. Und tatsächlich liegen die Parallelen deutlich auf der Hand, erinnert die Enthüllung des Bösewichts frappant an die Konfrontationen von 007 mit den übergroßen Schurken, welche durch die Verfilmungen in die moderne Kultur übergegangen sind. Für mich weckt dieser wortwörtliche Gänsehautmoment – der Dialog zwischen Leithen und dem Kopf des „Kraftwerks“ gehört meines Erachtens zum Besten, was dieses Genre hervorgebracht hat – allerdings Erinnerungen an jemand ganz anderen.

Wenn sich Leithen und sein Gegenüber ein philosophisches Wortduell über ihre gegensätzlichen Weltanschauungen liefern und unser Held dabei, ohne wirklich nachzugeben, in diesem Kräftemessen immer mehr an Boden verliert, verwandelt sich das düstere Zimmer vor meinen Augen in den tosenden Abgrund eines Wasserfalls – in den Schauplatz der unvermeidlichen und entscheidenden Auseinandersetzung zwischen dem Meisterdetektiv Sherlock Holmes und dem Napoleon des Verbrechens, Professor Moriarty. Und Letzterer ist es auch, der hier für mich in Gestalt des großen Gegenspielers eine einprägsame, weil zutiefst unheimliche Wiederauferstehung feiert. Mit dem gleichen diabolischen Genie versehen und ebenso entschlossen, arbeitetet auch das „Kraftwerk“ am Fall der bestehenden, so genannten Ordnung, deren Ineffizienz und Anfälligkeit sich die Organisation aber gleichzeitig zu Nutze macht, um überall ihre eigenen Leute für den vernichtenden Schlag zu positionieren. Wie alle Oberschurken nach ihm (und vor ihm eben ein Moriarty), so gewährt er Leithen – und damit auch uns – einen relativ freigiebigen Blick in seine Absichten. Doch wo heutzutage ein actionreiches Überraschungselement dieser Selbstherrlichkeit ein Ende setzen würde, bleibt in „Der Übermensch“ nur ein mulmiges Gefühl zurück. Zu sehr schneiden sich die Worte von Leithens Gegner durch unser vermeintliches Selbstverständnis. Zu ungewollt und dennoch deutlich, der aktuelle Bezug.

Haben Sie jemals darüber nachgedacht, wie brüchig diese Zivilisation eigentlich ist, auf die wir alle so stolz sind?

Bei Drohungen bleibt es im weiteren Verlauf dann auch nicht mehr. Leithen, der sich als aufrechter Patriot seiner Zeit nicht einschüchtern lassen will, wird damit endgültig zum Hauptziel des vollkommen skrupellosen und an menschlichen Ressourcen nicht armen „Kraftwerks“ und muss fortan alle eigenen Hebel in Bewegung setzen, um am Leben zu bleiben – und um schließlich zum Gegenschlag ausholen zu können. Unterstützt wird er dabei von dem heimlichen Star des Buchs, der in Form des schlagkräftigen „Volkstribuns“ Chapman für ein paar handfeste Momente und damit eine kurzfristige Auflockerung der zupackenden Suspense sorgt (Übrigens fühlte ich mich auch hier an eine weitere Figur aus der Feder Sir Arthur Conan Doyles erinnert: Den temperamentvollen Professor Challenger aus „Die verlorene Welt“). Auch diese zupackende Unterstützung kann letztlich aber nicht verhindern, dass Leithen am Ende in den Straßen Londons noch um sein Leben laufen muss – und damit einem weiteren Stilelement den Boden bereitet, das heute aus keinem Spionage-Thriller mehr wegzudenken ist: Die rasante und atemlose Verfolgungsjagd.

Der Übermensch“, Auftakt einer vierbändigen Reihe um Edward Leithen, ist aber auch abseits seiner Bedeutung für das heutige Sub-Genre des Kriminalromans ein kaptivierendes, unheimlich dichtes Stück Spannungsliteratur, dessen Lektüre immer noch lohnt. Es bleibt zu hoffen, dass Martin Compart und der Elsinor Verlag auch in Zukunft weitere Schätze dieser Qualität aus den Tiefen der Thriller-Geschichte heben können.

Wertung: 87 von 100 Treffern

einschuss2
  • Autor: John Buchan
  • Titel: Der Übermensch
  • Originaltitel: The Power House
  • Übersetzer: Jakob Vandenberg
  • Verlag: Elsinor
  • Erschienen: 05.2022
  • Einband: Broschiertes Taschenbuch
  • Seiten: 160 Seiten
  • ISBN: 978-3942788670

Tears for Fears

© Goldmann

Seit genau 22 Jahren verdingt sich der in Solihull gebürtige Engländer Mark Billingham nun schon als Autor von Kriminalromanen – wohlgemerkt neben seiner weit länger ausgeübten Tätigkeit als Stand-Up-Comedian, welcher er in der Heimat auch in erster Linie seine große Bekanntheit verdankt. Eben jene Bekanntheit, zu der es auf dem deutschen Buchmarkt bis heute nicht wirklich gereicht hat, obwohl seine Werke seit dem Erstling „Der Kuss des Sandmanns“ fast durchgehend veröffentlicht worden sind.

Doch diese Kontinuität täuscht, denn anders als die im Stil durchaus vergleichbare Kollegin Val McDermid, scheint Billingham hierzulande weiterhin auf der Suche nach dem sicheren Hafen zu sein. Zu Beginn noch fester Bestandteil des Goldmann Verlags, gab es anschließend ein kurzes Stelldichein bei Heyne, nur um inzwischen – aufgeteilt zwischen Atrium und Kampa Verlag – veröffentlicht zu werden. Die Tatsache, dass man dabei bereits auf Deutsch erschienene Bücher wieder unter einem neuen Titel herausgebracht hat, schadet nicht nur der Übersichtlichkeit, sondern macht es meines Erachtens auch schwierig, Leser längerfristig an diesen Autor zu binden.

Und genau das wäre durchaus wünschenswert, zählt doch Mark Billingham zu den wirklich lesenswerten Vertretern der britischen Krimi-Szene, wobei hier insbesondere die frühen Bände aus der Reihe Detective Inspector Tom Thorne herausstechen, da sie den klassischen britischen Police-Procedural gekonnt mit Elementen des amerikanischen Psychothrillers erweitern. Nachdem der Auftakt in dieser Hinsicht vor allem durch seine subtile Herangehensweise sowie durch seine unerwartete Reife überraschen und überzeugen konnte, kristallisiert sich nun in „Die Tränen des Mörders“ die eigentliche Marschrichtung mehr und mehr heraus. Und die hinterlässt weit deutlichere Abdrücke im literarischen Kopfsteinpflaster, spart der Autor doch jetzt auch drastischere Szenen nicht aus, was eine gewisse Resistenz in der Magen-Darm-Flora des Lesers voraussetzt. Die Subtilität ist eindeutig einer derben Anschaulichkeit gewichen – wohlgemerkt aber ohne dabei qualitativ in das niveaulose Metzgermilieu von Fitzek, Carter und Co. abzutauchen. Billinghams großes Verdienst ist es, genau hier einen formvollendeten Spagat hinzulegen und mit einem Bein fest im Realismus verankert zu bleiben, was sich besonders in seinem Hauptprotagonisten, Tom Thorne widerspiegelt.

Der sieht sich in „Die Tränen des Mörders“ mit einer Umstrukturierung der Londoner Metropolitan Police konfrontiert, denn die Ereignisse des 11. September haben auch in der Hauptstadt des Vereinigten Königreichs ihren Widerhall gefunden. Mehrere so genannte „Crime Groups“ wurden gebildet und Thorne, verantwortlich für die „Serious Crime Group“, wird nun zumeist mit den Fällen betreut, die in kein Schema passen wollen oder mangels Indizienlage allgemein als unlösbar gelten. Aktuell handelt es sich dabei um zwei Morde an Frauen, welche innerhalb kürzester Zeit hintereinander begangen worden sind. Beide Opfer scheinen auf dem Heimweg den Zug genutzt haben und wurden erwürgt, womit sich allerdings die Ähnlichkeiten auch erschöpfen, denn die Mordmethode war jeweils eine gänzlich andere. Während die allein erziehende Mutter vor den Augen ihres dreijährigen Kindes qualvoll und brutal getötet wurde, ist mit der zweiten verhältnismäßig vorsichtig umgegangen worden. Zudem finden sich bei Letzterer auch Spuren von Körperflüssigkeit – und zwar Tränen.

Sind es etwa die Tränen des Mörders? Und handelt es sich vielleicht um zwei verschiedene Täter? Durch die gewonnenen Erkenntnisse erscheinen jetzt auch zwei frühere Frauenmorde plötzlich in einem völlig neuen Licht. Gemeinsam mit seinem Kollegen Dave Holland und Neuzugang Sarah McEvoy nimmt Thorne die Ermittlungen auf – und scheut dabei auch wieder nicht die Konfrontation mit seinen Vorgesetzten, denen langsam aber sicher die Geduld ausgeht …

Falls jemand nun schon auf den Geschmack gekommen und im Begriff ist, sich dieses Buch (aktuell nur antiquarisch) zuzulegen, der sei dringend darauf hingewiesen, bitte nicht den Klappentext oder die Inhaltsangabe auf der Rückseite zu lesen. Wer immer für diesen Text damals verantwortlich gezeichnet hat, scheint vom Sternzeichen her Spaßverderber zu sein. Anders lässt sich nicht erklären, warum hier gleich die halbe Handlung gespoilert und damit dem etwaigen Lesern ein Großteil des Vergnügens verdorben wird. Doch zurück zum Inhalt zwischen den Buchdeckeln. Was auch bei „Die Tränen des Mörders“ wieder gleich auffällt: Mark Billingham leistet sich auch diesmal relativ wenige Anfängerfehler und schreibt weiterhin wie ein „alter Hase“, was durchaus nicht selbstverständlich ist, wenn man einen Blick auf die Frühwerke anderer Genre-Kollegen wirft, wo doch der ein oder andere einen mehr als holprigen Start hingelegt hat.

Vielleicht liegt es daran, dass Billingham sich vom ersten Band an (den man übrigens vorher unbedingt gelesen haben sollte!) auf seinen Hauptprotagonisten Tom Thorne fokussiert und er eine klare Vorstellung davon zu haben scheint, wohin sich die Figur (zumindest grob) entwickeln soll. Und Thorne ist auch der Triebwagen vor dieser Geschichte, bestimmt durch sein Handeln den Fortschritt der Ermittlungen und bleibt auch abseits der kriminalistischen Entwicklung für uns als Leser durchweg interessant. Vergleiche mit Ian Rankins John Rebus – ebenfalls auf dem Buch platziert – sind dabei jedoch vollkommen unangebracht, Ähnlichkeiten gänzlich aus der Luft gegriffen. Vom Beruf abgesehen, könnten beide kaum unterschiedlicher sein. Nicht nur besticht Thorne durch einen grauenvollen Musikgeschmack (Country), sondern er geht auch wesentlich offensiver mit den sich ihm stellenden Problemen um. Während ein John Rebus allabendlich seine Geister in Drams von Whisky ertränkt, ist Thorne eher Mitglied der Abteilung Attacke, wirft sich bissig, übereifrig und oft am Rande des Zorns in seine Arbeit. Eine Eigenschaft, die auch in diesem Fall deutlich zutage tritt – und ihn mehr als einmal in Schwierigkeiten bringt.

Billingham nimmt sich viel Zeit für seinen (Anti-)Helden, gewährt uns vor allem in Hinsicht auf dessen Beziehung zu seinem Vater neue Einblicke, vergisst darüber hinaus aber nicht, auch die anderen Mitglieder der „Serious Crime Group“ mit einzubeziehen. Wenn man unbedingt Parallelen zu Rankin ziehen möchte, wären sie dann eher in dieser Richtung angebracht, denn wie der Schotte in seinen späteren Romanen, so beginnt auch Billingham bereits hier sein London um weitere Perspektiven zu erweitern (siehe auch die Ausführungen im Epilog). Dave Holland und Phil Hendricks spielen diesmal eine weit größere Rolle als noch im Vorgänger. Und mit Sarah McEvoy gelingt ihm auf Anhieb eine weitere interessante Neubesetzung, deren Handlungsstrang zudem eine gewisse Tragik in sich birgt. Ihr Miteinander deutet daraufhin, dass der Autor seine Arbeit in Punkto Recherche gemacht hat, umschifft er doch geschickt die üblichen Klischees von toughen Bullen mit Sonnenbrille, sondern zeichnet ein authentisches Bild der Polizeiarbeit. Diese Detailtreue findet sich auch in der Ausarbeitung des bzw. der Antagonisten wieder. Anstatt uns Leser wie ein Jeffery Deaver mit stets den gleichen Soziopathen aus dem Sessel holen zu wollen, soll Billingham auch in den kommenden Bänden ein gutes Händchen beweisen, wenn es darum geht, erschreckende und verstörende, aber auch glaubhafte Bösewichte aus dem Hut zu zaubern.

Und wie schaut es beim Spannungsbogen aus? Wenn man zu Kritik ansetzen möchte, bietet sich leider an diesem Punkt die größte Angriffsfläche, denn Billingham bringt sich mit der Konzeption der Morde ein bisschen selbst in Bedrängnis, entnimmt viel zu früh ein elementares Gefahrenmoment aus der Handlung und lässt damit unnötig Dampf aus dem Kessel. Konkreter kann ich leider an dieser Stelle nicht werden, ohne zu viel zu verraten. Aber soviel sei gesagt: Der Autor legt den Hebel dann auch wieder recht schnell um, verengt seinen Fokus noch mehr auf Thorne und baut so erneut eine Suspense auf, die dann auch den Leser durchgängig bis zum Ende trägt, wenngleich dieser keine packende oder gar actionreiche Jagd erwarten sollte. Es handelt sich vielmehr um ein ruhiges, psychologisches Kräftemessen und Katz-und-Maus-Spiel, in dem die Gedanken der Gegenüber im Vordergrund stehen. Durch die konstanten Wechsel zwischen den Erzählebenen bleibt dabei das Tempo dennoch hoch, obwohl es zwischen all den falschen Fährten lange dauert, bis die Ermittler das vor ihnen ausgebreitete Puzzle zusammensetzen können.

Der Weg bis zur Auflösung ist für uns ein ziemlich düsterer und mitunter brutaler, da der Autor, wie bereits angedeutet, durchaus bildreich Tatorte und Handlungen des Mörders in Szene setzt. Die Tonalität passt sich hier eindeutig sowohl den Ereignissen als auch dem Setting selbst an, denn das winterliche London abseits der touristischen Hauptattraktionen kommt entsprechend trist und trostlos daher. Billingham nutzt Schauplätze und Jahreszeit geschickt aus, um bei seinem Publikum die gewünschten Bilder zu erzeugen, so dass man sich nicht selten dabei ertappt, wie Thorne selbst die Kälte zu spüren, dem überhaupt die Ermittlungen sichtlich zu schaffen machen.

Die Tränen des Mörders“ ist eindeutig keine Wohlfüllliteratur und will dies auch an keiner Stelle sein. Vielmehr zeigt der Roman deutlich und unzensiert die bösartigen Abgründe, in welcher der menschliche Geist abtauchen kann, welche Kräfte wirken können, wenn sich gewisse Konstellationen in der Vergangenheit zu deinen Ungunsten verschieben können. Billingham haut uns das unverblümt um die Ohren, nimmt keinerlei Rücksicht auf Etikette – und würde uns fast komplett vergessen lassen, dass hier tatsächlich ein Komiker die Feder geschwungen hat. Wäre, ja wäre da nicht dieser in all der Dunkelheit toll pointierte, zynische Humor, der dem Leser zwischendurch immer wieder ein Schmunzeln ins Gesicht zu zaubern vermag.

Die Auflösung ist letztlich schlüssig, wird jedoch etwas zu kurz und hastig abgehandelt und lässt leider auch ein paar Fragen (Wer war denn nun Caroline genau?) offen, was den Anschein erweckt, dass Billingham hier eventuell etwas unter Zeitdruck geraten ist. Das Gesamtergebnis trübt das nur bedingt. „Die Tränen des Mörders“ ist erneut eine gelungene Mischung zwischen Police-Procederual und Thriller. Keine Neuerfindung des Genres, aber eine nachtschwarze und schonungslose Variation des Bekannten, welche genau das liefert, was das Gros der Leser von einem Krimi erwartet – ziselierte und packende Spannung.

Wertung: 90 von 100 Treffern

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  • Autor: Mark Billingham
  • Titel: Die Tränen des Mörders
  • Originaltitel: Scaredy Cat
  • Übersetzer: Isabella Bruckmaier
  • Verlag: Goldmann
  • Erschienen: 08.2003
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 480 Seiten
  • ISBN: 978-3442455379

Die Gasse feiert – Acht Jahre „Crimealley“

Was, schon wieder ein Jahr rum?

Bereits am 18.10.2023, also vor genau einer Woche, feierte die Crime Alley ihren nun schon achten Geburtstag. Da sich aber genau zu dieser Zeit meine Lebensgefährtin einer schwereren Operation unterziehen musste (die sie inzwischen gottseidank gut überstanden hat), erhebe ich mein Glas erst jetzt, um mit euch an dieser Stelle anzustoßen.

Wer in den letzten anderthalb Jahren regelmäßig einen Blick in die kriminelle Gasse reingeworfen hat, wird sich wohl vor allem eins gedacht haben: „Wie man sieht, sieht man nichts.“

Über einen längeren Zeitraum war an dieser Stelle leider keinerlei Aktivität meinerseits festzustellen, was neben beruflichen, vor allem gesundheitliche Gründe hatte. Und der Gedanke, dieses Gässchen einfach sich selbst zu überlassen, ließ sich in dieser schweren Phase nicht immer gänzlich verscheuchen. Im Gegensatz zu vielen anderen Blogs, die scheinbar mühelos seit ihrem Bestehen wie ein Uhrwerk laufen (Ich bin immer wieder beeindruckt, mit welcher Energie einige meiner Kollegen und Kolleginnen hier vorangehen), war die Crime Alley von Beginn eigentlich nur eins: Ein Ort, an dem ich meine Gedanken zu „Papier“ bringen wollte, um ein Buch und meine dazugehörige Rezeption besser in  Erinnerung behalten zu können.

Über die Jahre haben aber tatsächlich einige Gefallen an diesen meinen Gedanken gefunden und im Laufe der Zeit dafür gesorgt, dass aus einer reinen Pflichterfüllung (der monksche Zwang nach der Lektüre auch stets eine Besprechung zu schreiben) eine stetige größere Leidenschaft wurde. Gerade diese ist mir zuletzt aber immer mehr verloren gegangen, was jedoch weniger am Medium Buch oder an meiner Liebe zur Literatur, als vielmehr an den zuletzt unerträglichen alltäglichen Umständen gelegen hat.

Umso überraschter bin ich dann – ich schrieb es an dieser Stelle bereits schon mal – über das dennoch anhaltende Interesse der Stammleser und Follower dieses Blogs. Aufmunternde Nachrichten sind über die Monate immer wieder eingegangen und waren wesentlich dafür mitverantwortlich, dass die kleine Flamme in den Fenstern der kriminellen Gasse nie ganz ausgegangen ist – und jetzt auch wieder etwas heller brennt. Wenn vieles im Leben in die falsche Richtung läuft, man große Entscheidungen treffen muss und sie dennoch mitunter zweifelnd hinterfragt – dann tut es manchmal einfach gut, eine derart ernst gemeinte und vor allem anhaltende Bestätigung zu bekommen.

Die Crimealley ist am Ende natürlich nur ein kleiner Blog unter vielen. In einer Zeit, in der die Reichweite von Blogs gefühlt mehr und mehr schwindet. Und vor allem in einer Zeit, wo es auch das Buch zunehmend schwerer hat, den Weg vom Verlag in die Hände eines Lesers zu finden. Dennoch gefällt mir der Gedanke, dass diese kleine, dunkle Gasse irgendwo einen Platz zwischen all den anderen gefunden hat. Ich freue mich über die vielen interessanten und liebevollen Menschen, mit denen ich dank ihr in all den Jahren in Kontakt treten konnte. Über die Bücher, die ich entdecken und für mich, aber vor allem auch für euch, besprechen durfte.

Wenngleich dieser Blog wohl nie die Kontinuität (und den Output) mitbringen wird, welche sich manch einer vielleicht erhofft (und die ich auch so gerne aufrechterhalten würde), so macht hoffentlich auch dieser Geburtstag deutlich: die Crimealley ist gekommen, um zu bleiben. Weil mir das Schreiben immer noch Spaß macht. Weil es noch so viel spannende und herausragende Literatur zu entdecken gilt. Und weil mir dieser virtuelle Ort längst untrennbar ans Herz gewachsen ist.

Mein Dank geht einmal mehr an die Bloggerkollegen und Bloggerkolleginnen, an die Follower, Besucher und Freunde – an all diejenigen, welche letztlich mit ihrer Treue und Unterstützung dafür verantwortlich waren und sind, dass zu jeder Zeit irgendjemand durch die Gasse schlendert und der Staub sich nie wirklich lange setzen kann. Danke schön, dass ihr meine Faszination immer wieder aufs Neue befeuert.

Bleibt alle gesund, neugierig und „kriminell“.

Ich genehmige mir heute einen „wee dram“ auf euer Wohl. Slàinte Mhath!

Euer Stefan

 

 

Serenade of Solitude

© Ullstein

Während im Hintergrund der fantastische Song „Small Town Ghosts“ auf Dauerschleife läuft – die erste Singleauskopplung aus dem gleichnamigen Debütalbum der Band „All the Sea will tell“, einem Musik-Trio aus dem Kölner Raum, welches von Autor Sven Heuchert an der Gitarre komplettiert wird – lasse ich das soeben Gelesene nochmal in aller Ruhe Revue passieren.

Heucherts neuester Roman, „Das Gewicht des Ganzen“, mit gerade mal knapp 190 Seiten schon fast eher eine Novelle, hat einmal mehr seine Spuren bei mir hinterlassen. Nachdem ihm schon mit „Alte Erde“ ein großer Wurf gelungen ist, wählt er diesmal zwar einen in der Tonalität gänzlich anderen Ansatz, erzielt dabei jedoch die gleiche Wirkung. Statt wie so oft bei anderen Schriftstellern mit der letzten Seite und dem Buchdeckel auch gleichzeitig einen Abschluss zu finden, spürt man hier weiterhin die lakonische Wärme und Zärtlichkeit dieser Geschichte, die wie ein verdammt guter Single Malt erst im Abgang sein ganzes und vor allem komplexes Aroma entfaltet.

Spätestens nach diesem Werk müsste eigentlich jedem da draußen klar geworden sein, wie glücklich wir uns schätzen können, einen solchen Schreiber in unserer Mitte zu wissen. Ihn dabei stets im gleichen Atemzug auf seine amerikanische Art der Erzählung zu reduzieren, wird seinem Repertoire meines Erachtens übrigens nicht gerecht, ist es doch gerade seine Vielseitigkeit die immer wieder heraussticht, sein Mut, nicht stets die ewig gleichen Wege zu beschreiten, unbekanntes Terrain sowohl sprachlich als auch inhaltlich zu betreten. So hätten wohl viele (darunter auch ich selbst), allein aufgrund des gewählten Schauplatzes, einen weiteren typischen Country-Noir aus seiner Feder erwartet, nachdem „Alte Erde“ dieses Sub-Genre in Deutschland – auf außergewöhnliche Art und Weise – salonfähig gemacht hat. Stattdessen treffen wir nun auf ein noch weit feinfühligeres und reduziertes Stück Prosa, welches vielerorts die genau gegenteilige Richtung einschlägt. Wo Heuchert zuvor durchaus explizit wurde, lässt er hier jetzt vieles ungesagt und impliziert – überlässt es dem Leser, sich sein eigenes Bild von der Geschichte zu zeichnen, die an dieser Stelle nur kurz angerissen sei:

Die dünn besiedelte Provinz Ontario im Südwesten Kanadas. Hier, an den Ufern des gleichnamigen Sees und weiter im Norden, nahe Magnetawan, begegnen wir Russ und Milla. Ersterer, ein Antiquitätenhändler und seit seiner Kindheit am Roblin Lake fest mit der Region und der ihn umgebenden Wildnis verwachsen, lebt, nur einmal unglücklich verliebt, ein Leben in zurückgezogener Einsamkeit, welche nur von gelegentlichen Streifzügen auf der Suche nach weiteren historischen Schätzen, darunter auch alte Schusswaffen, unterbrochen wird. Eine solche wird ihm eines Tages auch von Milla angeboten. Die Deutsche, ehemalige Fernfahrerin, hat ihren Familienbetrieb in der Heimat, eine Spedition, nach einem Schicksalsschlag aufgegeben und auch sonst der Vergangenheit, inklusive Ehemann, den Rücken gekehrt. In einem alten Haus inmitten der kanadischen Wälder sucht sie Abstand vom Schmerz und Wege für einen Neuanfang, denn auf ihren Schultern lastet das Gewicht des Ganzen …

Angesichts des übersichtlichen Umfangs von Heucherts Roman, habe ich mich bewusst dagegen entschieden, zu verraten, was genau Milla in die Abgeschiedenheit der unendlichen und für uns Europäer kaum nachvollziehbaren Weiten Kanadas getrieben hat. Die Gründe für ihren Kummer und den Rückzug von den Menschen um sie herum – sie sind die Essenz dieses Buches, der ruhige und doch schnell fließende Fluss auf dem der in Troisdorf geborene Autor sein literarisches Floß aussetzt, in dem wir als Passagier mit jeder Seite tiefer in die undurchdringliche Wildnis eindringen. Wie schon zuvor in „Alte Erde“, so spielt auch hier die Natur eine elementare Rolle, ist fest mit den Figuren verwoben, bildet den Resonanzkörper für die Gefühle der beiden Protagonisten, welche sich einander– und damit auch dem Leser – nur nach und nach öffnen. Im Licht des Tages begegnen wir lange zwei wortkargen Menschen, die sich in erster Linie mit Blicken verständigen, zur Zigarette und dem Whisky greifen oder gemeinsam auf die Jagd gehen. Fast so als suchte ihr unruhiger Geist Zuflucht in irgendeiner Form von Tätigkeit.

Milla und Russ kommen sich nahe und sind doch in ihrer Einsamkeit getrennt. Die Nähe spendet weder Trost, noch lindert sie den Schmerz, den beide auf die jeweils eigene Art verarbeiten. Feinfühlig, sensibel und voller Melancholie, aber dann auch gleichzeitig hart und kalt, schildert Heuchert ihren Versuch, mit den Geistern der Vergangenheit abschließen zu können – und dabei zeitgleich irgendwie die eigene Identität wiederzufinden. Millas Selbstreflexion steht dabei oft im Mittelpunkt der Geschichte, deren Flucht auch eng mit der Frage nach der eigenen Schuld verwoben ist. Hat sie ihren Schicksalsschlag durch eigene Fehler selbst herbeigeführt? Inwieweit ist sie noch in der Lage, sich für andere Menschen zu öffnen und ein zweites Leben zu beginnen? Und gibt es so etwas wie eine weitere Chance für sie überhaupt? Heuchert überlässt es uns, Antworten auf diese Fragen zu finden und mit ihrer offensichtlichen Trauer umzugehen, welche er wie ein dunkles Tuch zwischen die Zeilen seiner Geschichte webt. Ihren Schmerz fühlbar zu machen, ohne sich dabei irgendwelcher Effekthascherei zu bedienen, ist die eine große Stärke dieses an Worten so sparsamen und Gefühlen so reichen Stücks Prosa.

Die zweite ist, wie schon erwähnt, Heucherts Gespür für Naturbeschreibungen. Ohne dafür je einen Fuß auf kanadischen Boden gesetzt haben zu müssen, erweckt der Autor vor unseren Augen die ganze Magie des hohen Nordens zum Leben, hören wir plötzlich das Rauschen des Gletscherwassers in den Bächen und sehen den kalten Atem des Weißwedelhirschs in der klirrenden Winterkälte Gestalt annehmen. Natürlich ist dies zu einem gewissen Grad ein romantisierender Blick, den Heuchert, der hier mit Sicherheit auch eigene Erfahrungen mit verarbeitet, auf seine zweite Heimat wirft. Dennoch ist es genau diese empathische, melancholische Präzision, sind es diese wenigen, flüchtigen Schritte heraus aus der Zivilisation in die archaische Wildnis, welche diese „Serenade of Solitude“ so lange eindringlich wirken und nachhallen lässt. Übrigens ganz bewusst der Titel dieser Besprechung, der sich auf ein Interlude aus dem genannten aktuellen Album von „All the Sea will tell“ bezieht und zu diesem Stück großartiger Literatur wie die Faust aufs Auge passt.

Als „Acoustic Storytelling“ versteht sich die Musik von Sven Heucherts Band. Und mit „Das Gewicht des Ganzen“ schlägt er nun eine formvollendete Brücke zur Literatur, hat er ein Echo dieser musikalischen Liebe für den rhythmischen Klang, die Natur und die ewigen Themen Liebe, Einsamkeit, Rausch und Vergänglichkeit zu Papier gebracht, das sich vor den ganz Großen der Gegenwartsliteratur nicht verstecken muss. Ganz im Gegenteil: Heucherts Roman gehört schon jetzt zu meinen persönlichen Entdeckungen des Jahres. Und man kann dem Buch gar nicht genug Leser wünschen.

Wertung: 90 von 100 Treffern

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  • Autor: Sven Heuchert
  • Titel: Das Gewicht des Ganzen
  • Originaltitel: –
  • Übersetzer: –
  • Verlag: Ullstein
  • Erschienen: 02/2023
  • Einband: Hardcover
  • Seiten: 192 Seiten
  • ISBN: 978-3550050725

Die Geister, die ich rief

© Aufbau

Stephen King sollte sich vielleicht langsam Sorgen machen. Dem amerikanischen Bestseller-Autor, welcher jahrelang mit seinen Empfehlungen und Lobeshymnen auf den Buchdeckeln jede gefühlte zweite Krimi-Neuerscheinung als Meisterwerk angepriesen hat, wird scheinbar von James Ellroy und Ken Bruen immer mehr der Rang abgelaufen.

Besonders letzterer ist spätestens seit seiner auch in Deutschland erfolgreichen „Jack-Taylor“-Reihe offensichtlich ein neuer Gradmesser im „Hardboiled“-Genre. Und das, insbesondere der so genannte „Irish Noir“, ist wieder richtig gefragt. So verwundert es kaum, dass Bruens Name auch im Lesezeichen zu Stuart Nevilles Debütwerk „Die Schatten von Belfast“ mit positiver Werbung für seinen nordirischen Kollegen zu lesen ist. Es bleibt jedoch die Frage: Kann man diesen inoffiziellen Gütesiegeln wirklich blindlings vertrauen? Oder gibt der ein oder andere Autor seinen Namen eventuell etwas zu leichtfertig her?

Eins steht jedenfalls fest: Beim Aufbau-Verlag hatte man in der Vergangenheit immer wieder ein äußerst scharfes und gutes Auge für den besonderen Kriminalroman, welcher im gräulichen Einerlei des Mainstreams für Farbtupfer sorgt. Von Malla Nunns grandiosem und bitterschwarzem Noir-Erstling „Ein schöner Ort zu Sterben“ bis hin zum kitschigen Knast-Krimi „P. O. W. – Gefangen“ (nachträglich als Taschenbuch unter dem Titel „Das Camp“ neu erschienen). Die Palette des Verlagsprogramms Rütten & loening (wo der Titel ursprünglich als Hardcover erschien) ist trotz des geringen Umfangs erstaunlich reich an Facetten und, ja, eben irgendwie anders. Genau dieses Attribut trifft auch auf „Die Schatten von Belfast“ zu, welches uns die altbekannte Rache-Thematik in einem zwar nicht gänzlich neuen, aber bemerkenswert innovativen Gewand serviert.

Seit mehr als 75 Jahren hat er nun in Deutschland Bestand und ist für uns (leider) zur Selbstverständlichkeit geworden: der Frieden. In Irland konnte von ihm lange Zeit allenfalls geträumt werden. Jahrzehntelang tobte ein Krieg ohne wirkliche Fronten zwischen der IRA und den Unionisten, der tausenden Zivilisten das Leben kostete. Kollateralschäden, welche die jeweils andere Seite stets zum Anlass nahm ihrerseits Vergeltung zu üben. Dass dieser Kreislauf der Gewalt überhaupt gestoppt wurde, ist angesichts der so verhärteten Fronten fast ein kleines Wunder. Ein Wunder, an den sich aber manch einer immer noch nur schwer gewöhnen kann. Einer davon ist Gerry Fegan. Während des Höhepunkts des Nordirland-Konflikts galt er als der harte Mann der IRA. Zahlreiche Morde gingen auf sein Konto, bis er schließlich für viele Jahre ins berüchtigte Maze Prison wanderte. Als er nun im Jahre 2007 wieder herauskommt, hat sich die Welt verändert.

Seine einstigen Weggefährten haben sich mit der neuen Zeit arrangiert. Ehemalige IRA-Leute machen nun in Politik oder betreiben nebenbei das ein oder andere krumme Geschäft, um den Kitzel der Gefahr nicht gänzlich zu verlieren. Für Fegan jedoch bleibt dieser Frieden, dieses neue Belfast verschlossen. Seit seiner Zeit im Gefängnis wird er von den zwölf Geistern derer heimgesucht, die er auf dem Gewissen hat. Hartnäckig verfolgen sie jeden seiner Schritte, peinigen und martern sie ihn. Jeden Abend säuft Fegan sich ins Koma, um in Ruhe schlafen zu können. Doch die Schatten bleiben. Bis ihm eines Tages in einer Bar ein Ausweg gezeigt wird. Dort trifft er auf Michael McKenna, einen Jugendfreund aus IRA-Zeiten, der mittlerweile in der Politik seine Strippen zieht. Die Schatten wollen ihn tot sehen. Ihn und all die anderen, welche Fegan im Auftrag der IRA getötet hat. Dem bleibt keine andere Wahl. Er greift einmal mehr zur Waffe …

Wer sich nun „Die Schatten von Belfast“ als eine Mischung aus „Ein Mann sieht Rot“ und „The Sixth Sense“ vorstellt, der liegt damit gar nicht mal so falsch, denn Nevilles Thriller verbindet die Rache-Elemente des klassischen Hardboiled äußerst geschickt mit einer Prise des Übersinnlichen, wobei er, trotz einer kurzen psychologischen Erklärung, es im Großen und Ganzen dem Leser überlässt, ob die Geister „Realität“ oder nur Einbildung des Protagonisten sind. Wer mit solch mystischen Einflüssen jetzt wenig anfangen kann, sei aber vorab beruhigt. Neville baut Fegans Schatten nur dort ein, wo es wirklich notwendig ist und tut dies meist sehr dezent. Dennoch machen sie das Spannungselement dieses Krimis aus, da sie innerhalb der Handlung die Richtung angeben und man durch sie von Beginn an weiß, wie viele Menschen sterben müssen (Der englische Titel lautet deswegen auch „The Twelve“). Das trotz der düsteren Vergangenheit Gerry Fegan die Sympathien des Lesers hat, liegt dann auch nicht nur an dessen gezeigter Reue, sondern an der Tatsache, dass hier jemand das Gesetz in die Hand nimmt, der es selbst oft gebrochen hat.  Doch was hat Neville aus dieser sehr intelligent konzipierten Ausgangssituation nun gemacht?

Eine Beantwortung dieser Frage ist schwierig, da man „Die Schatten von Belfast“ mit zweierlei, streckenweise sogar dreierlei Maß messen muss. Eins wird jedenfalls schon zu Beginn deutlich. Stuart Neville schreibt über ein Thema, das ihm nicht fremd ist und das er wohl jahrelang selbst als betroffener Bewohner dieser Region Nordirlands miterlebt hat. Nur so lässt sich jedenfalls erklären, wie sensibel und scharfsinnig er hier den brüchigen Frieden seziert, der eigentlich eher ein beidseitiger Waffenstillstand für die Öffentlichkeit ist.

Außerhalb des Rasters, unter der Oberfläche und im Verborgenen, wird weiterhin, wenn auch auf andere Art und Weise, Krieg geführt. Aus Bomben sind nun Rednerpulte geworden. Der Flecktarn wurden gegen den Nadelstreifenanzug ausgetauscht. Die IRA ist nicht tot, sondern lediglich Teil der Politik geworden. Nicht zuletzt auch deswegen, weil terroristische Anschläge spätestens seit dem 11. September keinerlei Akzeptanz mehr in der Bevölkerung finden. Der Nimbus des irischen Freiheitskämpfers ist verloren gegangen. Und die finanzielle Unterstützung irischstämmiger US-Amerikaner damit zu einem Rinnsal verebbt. Das wissen auf der anderen Seite auch die Briten, die ihre militärische Präsenz zwar reduziert, ihr Engagement in Nordirland aber keinesfalls aufgegeben haben. Stattdessen versuchen sie es nun mit Bespitzelung und Bestechung, um die im Untergrund operierenden Gegner im Zaum zu halten. In „Die Schatten von Belfast“ ist der schottische Agent Davy Campbell ihr verlängerter Arm, den man in den engeren Kreis der alten IRA-Riege eingeschleust hat. Als Gerry Fegan seinen Rachefeldzug beginnt, wird Campbell auf ihn angesetzt, da beide Seiten verhindern wollen, dass das Karfreitagsabkommen, der so genannte Stormont, nicht scheitert.

Hätte Neville in Punkto Figurenzeichnung dasselbe Feingefühl bewiesen, „Die Schatten von Belfast“ hätte durchaus das Zeug zum Volltreffer gehabt. Hier offenbart sich aber vielleicht sein Bezug zum Filmgeschäft (Neville ist Hand-Double für einen irischen Schauspieler), denn die Besetzung könnte so auch in einem Mafia-Schinken von Scorsese zu sehen sein. Dass an sich wäre nicht gravierend, würde die Sprache nicht derart blumig und gestelzt ausfallen. Was in einem Drehbuch vielleicht funktioniert, beißt sich hier stellenweise mit der knallharten, mitunter sogar sehr brutalen Geschichte und sorgt für den ein oder anderen ungewollten Lacher. Nicht zum Lachen dagegen ist die Bearbeitung der deutschen Buchausgabe. Da Übersetzer Armin Gontermann bei Malla Nunns „Ein schöner Ort zu sterben“ einen sehr guten Job gemacht hat, ist hier wohl in erster Linie das Lektorat und besonders die Korrekturabteilung zu kritisieren. So viele fehlende oder falsch gesetzte Satzzeichen, Wörter und grammatikalisch holpernde Sätze hat man selten derart geballt auf einem Haufen gesehen.

Dass diese Lektorats-Versäumnisse dem Lesevergnügen nicht gänzlich abträglich sind, liegt letztlich besonders an einem: der Spannung. Die versprüht das Buch nämlich trotz aller Holperer bis zum Schluss und macht es dem Leser mitunter unmöglich, den Buchdeckel überhaupt zuzuklappen. Besonders das Ende gerät grandios düster und atmosphärisch, wenngleich, bedingt durch den Auftrag der Geister, natürlich vielleicht etwas vorhersehbar.

Mich persönlich hat das wenig gestört. „Die Schatten von Belfast“ ist knallharte und rasante Hardboiled-Unterhaltung, welche in ihrer Kurzweil und Intensität einfach Laune macht und der man, nicht nur weil es sich um ein Debütwerk handelt, manchen Fehler gerne verzeiht. Wer Lee Child mag, dürfte auch hier ordentlich auf seine Kosten kommen und im Anschluss mit Sicherheit zum nächsten Band „Blutige Fehde“ greifen.

Wertung: 85 von 100 Treffern

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  • Autor: Stuart Neville
  • Titel: Die Schatten von Belfast
  • Originaltitel: The Twelve / The Ghosts of Belfast
  • Übersetzer: Armin Gontermann
  • Verlag: Aufbau Verlag
  • Erschienen: 08.2012
  • Einband: Hardcover
  • Seiten: 448 Seiten
  • ISBN: 978-3746628578

Master of Puppets

© Goldmann

Was haben das Album einer neuseeländischen Rock-Gruppe und ein Dokumentarfilm über das schottische Parlament mit dem zwölften Band aus der Reihe um Detective Inspector John Rebus zu tun? Nun, sie bildeten quasi den Ausgangspunkt für die Geschichte von „Puppenspiel“, der rückblickend zu einem von Sir Ian Rankins wichtigsten Romanen werden sollte, markiert er doch den Zeitpunkt, ab dem er endgültig komplett vom Schreiben leben konnte – und damit das Ende einer mehr als 12-jährigen, finanziell nicht immer auf Rosen gebetteten Lehrzeit. Geduld, so stellt er heute selbst fest, ist daher die vielleicht wertvollste Tugend, welche man sich als angehender Schriftsteller zu Eigen machen kann. Geduld, für die richtige Idee zur richtigen Zeit. Für einen Verleger, der den Wert und die Chancen hinter dieser Idee nicht nur erkennt, sondern auch wertschätzt. Und Geduld für den Moment, an dem sich all dieser Fleiß und die Hingabe auszahlt.

Wer sich bereits ein paar Interviews mit Sir Ian Rankin angeschaut hat, der erkennt und versteht, dass sich dieser Schotte nicht nur seiner Heimat Fife und der naheliegenden Stadt Edinburgh auf eine besondere Art verbunden fühlt, sondern schon seit seiner Kindheit in Cardenden an, der Faszination des geschriebenen Wortes genauso erlegen ist, wie dem Zauber der Musik. Von der Comic-Lektüre über das Schreiben eigener kleiner Kurzgeschichten und Gedichte bis hin zum Studium von Muriel Spark und seinem ersten eigenen Werk „Verborgene Muster“ (engl. „Knots and Crosses“). Von Abenden in Tanzlokalen und einer kurzen Zeit als Sänger in der Punkband „Dancing Pigs“ bis hin zur Zusammenarbeit mit Jackie Leven. Literatur und Musik haben Sir Ian Rankins Werdegang beeinflusst, gelenkt und letztlich auch den speziellen Charakter und Charme seiner Bücher geformt. So ist es fast folgerichtig, dass ihn beide Elemente immer wieder zu Ideen inspirieren – er stets aufs Neue aus Musikalben und Songtexten seine Ideen bezieht und diese dann nicht selten dann auch den Ton des Buchs bestimmen. „Puppenspiel“, dessen englischer Original-Titel „The Falls“ lautet, ist dafür einmal mehr ein treffendes Beispiel.

Bei „The Falls“ handelt es sich einen Song der neuseeländischen Band „Mutton Birds“ aus dem Album „Rain, Steam and Speed“, über das Rankin nach seinem ersten Aufenthalt in Neuseeland Anfang der 2000er beim fernsehen in einem Werbespot stolperte. Er kaufte es sich kurzerhand am Flughafen, hörte es sich zuhause in Edinburgh an – und blieb am langsamen, quälend eindringlichen und mythischen Sound des Liedes hängen. Der Text handelte davon, wie der Mensch sich in seiner unersättlicher Neugier die Welt erfindet und hat eine besonders prägende Zeile im Refrain:

There must be a story behind all that …

Dieser Satz schien Rankins eigenen inneren Antrieb zum Schreiben zusammenzufassen und sollte ihm kurz darauf direkt wieder durch den Kopf spuken, als er für ein französisches Fernsehteam im Untergeschoss des damals gerade erst eröffneten Museum of Scotland ein Interview über das neue Parlamentsgebäude gab (Der Autor verfolgte zu der Zeit die Baukosten, den gewählten Standort und die ganze Notwendigkeit, mehr Bürokratie einzurichten, mit großer Skepsis). Ein Museumsarbeiter erkannte den Autor wieder und bat ihn darum, sich die „Püppchen“ im vierten Stock in der Abteilung „Religion und das Leben nach dem Tod“ anzusehen. Eher widerwillig kam er diesem Ansinnen nach und sah dort erstmals die „Särge vom Arthur’s Peak“. Kleine, geschreinerte Miniatursärge mit darin bestatteten Holzpüppchen, welche man 1836 in einer Höhle des „Arthur’s Peak“-Hügels entdeckt hatte und über deren Herkunft und Bedeutung bis zum heutigen Tage ohne eine abschließende Deutung diskutiert wird. „There must be a story behind all that …“ Rankin sah sofort die Gelegenheit, seinerseits eine Deutung zu liefern, wo eine historische „Wahrheit“ bislang gefehlt hatte, begann mit der Recherche und hatte einige Monate später seinen Plot. Und dieser sei kurz angerissen:

Edinburgh, Anfang der 2000er Jahre. Nicht nur ein neues Jahrtausend ist angebrochen, auch sonst scheint die Welt rund um Detective Inspector John Rebus von der Mordkommission im Revier St. Leonard’s Street im Wandel begriffen. Mit seinem Vorgesetzten Chief Superintendent Thomas „Farmer“ Watson geht eine langjährige Konstante in Rebus‘ beruflichen Leben endgültig in den Ruhestand. Ihr Verhältnis war von Gegensätzlichkeit, aber auch von großem Respekt geprägt. Watson, um die Stärken des unkonventionell agierenden Detectives wissend, hatte immer wieder mehr als nur ein Auge zugedrückt oder ganz weggeschaut, selbst den zuletzt immer exzessiver werdenden Alkohol- und Nikotinkonsum so gut und lang es ging ignoriert. Nun rückt auf seine (lange von Männern dominierte) Position die Karrierefrau Gill Templer nach, die nicht nur eine komplizierte gemeinsame (wenngleich kurze) Vergangenheit mit Rebus verbindet, sondern ungünstigerweise direkt mit einem Aufsehen erregenden Fall konfrontiert wird:

Philippa Balfour, junge Studentin und Tochter des stadtbekannten Privatbankiers John Balfour, ist wie vom Erdboden verschluckt. Sie hatte sich eigentlich mit Freunden für denselben Abend verabredet, ist aber nie am Treffpunkt angekommen. Der erste Verdacht fällt direkt auf ihren Freund David Costello, dem Rebus und seine Kollegin Detective Sergeant Siobhan Clarke sogleich einen Besuch abstatten. Während Letztere sich durch den Rechner der Vermissten wühlt und dabei in deren eMails über ein seltsames Online-Rollenspiel stolpert, an dem Philippa augenscheinlich teilgenommen hat, fühlt Rebus wiederum Costello auf den Zahn. Der ist selbst Sohn gut betuchter Eltern und muss zugeben, Philippa nach einem heftigen Streit verlassen zu haben. Beweise für eine Gewalttat gibt es aber keine, was John Balfour jedoch nicht davon abhält, seine Beziehungen spielen zu lassen und sämtliche Reviere für eine Großfahndung in Bewegung zu setzen. Der Druck von Öffentlichkeit und Medien steigt schnell – und mit ihm die Nervosität in der polizeilichen Führungsetage.

Rebus wird nach einem nächtlichen alkoholischen Absturz in Costellos Wohnung ein Arzttermin aufgedrückt. Gill Templer hofft ihn so aus dem Dunstkreis der Ermittlungen herauszuhalten. Eine weitere Gelegenheit ergibt sich in dem kleinem Dorf Falls. Hier hat eine Einwohnerin einen kleinen Holzsarg an dem namensgebenden Wasserfall gefunden. An sich keine nennenswerte Entdeckung, würde nicht unweit der schlossähnliche Familiensitz der Balfours liegen. Widerstrebend begibt sich Rebus in die ländliche Provinz, tut den bizarren Fund aber schnell als makabren Scherz ab und hat dabei sogar die Finderin selbst im Verdacht. Dennoch ist sein Interesse geweckt. Ist der Zeitpunkt wirklich ein Zufall? Oder ist die Aktion eine Botschaft an Philippas Eltern? Bei seinen Nachforschungen macht er kurz darauf die Bekanntschaft mit Dr. Jean Burchill, eine Historikerin im Museum of Scotland und Expertin für ein paar besondere Ausstellungsstücke: Sechzehn Miniatursärge gleicher Machart, die 1836 entdeckt wurden und für deren Bedeutung es mehrere Theorien gibt. Eine davon bezieht sich direkt auf die Zahl, denn das in Edinburghs Geschichte berüchtigte Duo Burke und Hare, beide in den 1820er Jahren als Leichenhändler tätig, hatte der Legende nach genau die gleiche Anzahl an Männern und Frauen getötet – und deren Körper anschließend an die Anatomie der Universität verkauft.

Gibt es hier vielleicht eine Verbindung? Während er gemeinsam mit einem kleinen Team geschichtliche Recherche betreibt, nimmt Siobahn per eMail Kontakt mit Philippas Questgeber auf. Der mysteriöse „Quizmaster“ stellt ihr mit steigendem Schwierigkeitsgrad immer kompliziertere Rätsel. Und im Versuch, sich auch ohne John Rebus an ihrer Seite bei einer Ermittlung beweisen zu können, wird Siobhan plötzlich unvorsichtig …

Vorab: Wer nach dem äußerst komplex aufgebauten und mit einer Vielzahl verschiedenster Figuren bevölkerten elften Band, „Der kalte Hauch der Nacht“ (das mir – siehe Rezi – hervorragend gefallen hat), ein ähnliches „Ungetüm“ befürchtet hat, den kann ich an dieser Stelle beruhigen. Sir Ian Rankin geht mit der Menge an Charakteren weit sparsamer um als im Vorgänger und fährt auch nicht annähernd so viele parallele Handlungen auf. Ob das gut oder schlecht ist – daran scheiden sich sicherlich die Geister. Ich habe in jeden Fall sowohl positive als auch negative Aspekte in dieser veränderten Strategie ausmachen können, wobei erstere – einmal mehr – überragen, denn auch „Puppenspiel“ legt wieder Zeugnis von der hochkarätigen Klasse dieses Ausnahme-Autors ab.

Rankin hat seine Perspektive über die Jahre von dem sehr engen narrativen Fokus auf den einsamen Wolf Rebus hin zu einem viel umfassenderen Weitwinkel erweitert, in dem auch anderen Protagonisten aus der Serie nun immer mehr Aufmerksamkeit zuteil wird. Das scheint jedoch weniger eine bewusste Entscheidung des Autors, als folgerichtige Entwicklung, hat doch der grimmige Einzelgänger zunehmend seine Schwierigkeiten mit dem Wandel der Zeit mitzuhalten. Rebus wird langsam aber sicher zu einem Auslaufmodell, das zwar immer noch mit unkonventionellen Methoden Erfolge verbuchen kann, dafür aber auch inzwischen auf die Mithilfe anderer angewiesen ist. Das Zeitalter der Informanten und kurzen Dienstwege neigt sich dem Ende zu. Modernste Techniken ersetzen diese antiquierten Methoden – und damit auch den ehemals scheinbar unvermeidlichen Gang in die verrauchten Gefilde der Pubs. Für Rebus ist alles rund um das Thema Computer unbekanntes Terrain. Eine Welt, in der er sich komplett verloren fühlt – und die er daher gerne Kollegen, wie eben Siobahn Clarke, überlässt.

Die hatte in der Vergangenheit allenfalls angedeutet, wozu sie fähig ist, erhält nun aber ihren „moment to shine“. Mit dem Vorwurf konfrontiert, zu einem Abbild ihres Mentors Rebus zu werden, hängt sie sich besonders herein, um zu beweisen, dass sie mit ihren ganz eigenen Fähigkeiten glänzen kann. „Puppenspiel“ ist nicht nur ihre endgültige Feuertaufe – es ist auch der Abschluss dieser oben erwähnten Entwicklung. Spätestens ab jetzt ist das nicht mehr allein eine Reihe um Detective Inspector John Rebus, der ihr in diese virtuelle Welt auch in Zukunft nur widerwillig folgen und sich lieber auf alte Stärken – und damit auf die Suche nach greifbaren, konkreten Indizien – besinnen und beschränken wird. Für den Leser ist das meines Erachtens eine absolute Win-Win-Situation, ist es doch sonst in vielen Krimis sehr oft der Fall, dass die Erzählung unter den regelmäßigen Perspektivwechseln leidet, ein Spannungsbogen unnötig in die Länge gezogen oder – noch schlimmer – das Spannungsmoment gänzlich verschleppt wird.

In „Puppenspiel“ haben beide – Rebus und Clarke – gleich viel „Screentime“. Es ist ebenso sehr Siobhans wie Rebus‘ Buch. Und von dieser Gleichberechtigung profitiert der Roman in besonderem Maß, zumal beide neben den beruflichen, eben auch mit privaten Themen zu kämpfen haben. Während Siobhan sich der Avancen ihres Kollegen Detective Grant erwehren muss, mit dem sie gemeinsam die Rätsel zu lösen versucht, ist Rebus erneut im Clinch mit den eigenen Dämonen und Geistern der Vergangenheit. Nicht zum ersten Mal hinterfragt er, angesichts all der gebrachten Opfer, den Sinn seiner Arbeit. Gute Freunde sind tot (hier gelingt Ian Rankin im Buch eine der stärksten Momente der Serie), seine Tochter ihm weiterhin fern und fremd – und auf eine richtige Beziehung kann und will er sich auch nicht einlassen. Und das obwohl er durchaus Gefühle für Dr. Jean Burchill entwickelt, die zudem noch erwidert werden. Aber wie soll er ihr seinen inneren Konflikt erklären? Wie soll er ihr verständlich machen, dass allein sein Beruf ihn definiert und es so etwas wie Feierabend, für ihn nicht gibt?

(…) „Was für eine herrliche Stadt“, sagte sie. Rebus gab sich Mühe, ebenso zu empfinden. Die Schönheiten der Stadt fielen ihm kaum mehr ins Auge. Für ihn war Edinburgh eine Art Gemütszustand: ein Herumjonglieren mit den Beweggründen krimineller Machenschaften und mit den niederen Instinkten anderer Leute. Er mochte die kompakte Bauweise ihrer Stadt und ihre Größe. Und er mochte ihre Bars. Doch ihr äußeres Erscheinungsbild beeindruckte ihn schon lange nicht mehr. Jean kuschelte sich etwas enger in ihren Mantel. „Wohin man auch schaut, überall Geschichten und historische Reminiszenzen.“ Sie sah ihn an, und er nickte zustimmend. Doch in Wahrheit dachte er nur an die zahllosen Selbstmorde, mit denen er zu tun gehabt hatte, an die Leute, die von der North Bridge gesprungen waren, weil es ihnen offenbar nicht gelungen war, dieselbe Stadt zu sehen wie jetzt Jean.

„Ich kann mich an diesem Ausblick einfach nicht satt sehen.“, sagte sie und ging dann weiter Richtung Auto. Wieder nickte er, nicht ganz aufrichtig. Denn für ihn handelte es sich nicht um einen Ausblick, sondern vielmehr um eine Ansammlung potenzieller Tatorte. (…)

Rankin investiert diesmal viel Zeit in die Ausarbeitung und Erweiterung seiner Charaktere, macht deutlich, dass auch ein John Rebus den Zahn der Zeit zu spüren beginnt und er nicht in einer künstlichen Blase lebt, die in kommenden Bänden unangetastet bleiben wird. Dieser Mut zur Veränderung hebt den Schotten von einer Vielzahl seiner Konkurrenten ab, die jedes Jahr aufs Neue ein und denselben Stereotyp aus ihrer Schublade ziehen und allein den Schauplatz und die restliche Besetzung etwas variieren. Bestes Beispiel dafür ist Rebus‘ Gedanke, seine Wohnung in der Arden Street endgültig zu verlassen. Das Wohngebiet ist längst komplett in der Hand von Studenten, keinen seiner Nachbarn kennt er noch persönlich. Warum er diese Entscheidung am Ende des Buches dann doch nochmal ändert, ist ein weiteres Highlight des Buchs.

Das ist wiederum – Rankin-typisch – kein Pageturner im klassischen Sinne, entwickelt aber eine immense Sogkraft, welche den Leser immer tiefer in die Handlung und die Gassen der Stadt Edinburgh hineinzieht. So kann ich sogar verschmerzen, dass die Auflösung selbst mich nicht mehr wirklich überrascht hat. Auch weil bei Rankin seit jeher das „Warum?“ Vorrang vor dem Genre-typischen „Wer?“ hat. Und in dieser Hinsicht macht er wieder einen fantastischen Job.

Wer es an der Länge meiner (vollkommen ausgeuferten) Besprechung noch nicht hergeleitet hat, dem sei also nochmal zusammenfassend gesagt: „Puppenspiel“ ist ein düsterer, melancholischer, aber auch immer wieder äußerst schwarzhumoriger Police-Procedural (den „Tartan Noir“ hat er für mich hiermit hinter sich gelassen) über die Brüchigkeit bürgerlicher Fassaden, der ein paar der besten Dialog- und Monologzeilen der gesamten Serie beinhaltet und für viele Stunden auf höchstem Niveau unterhält. Da verzeiht man dem Autor sogar, dass er Gerald Cafferty, Rebus‘ Nemesis, diesmal auf der Ersatzbank gelassen hat. Unbedingte Leseempfehlung!

Wertung: 91 von 100 Treffern

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  • Autor: Ian Rankin
  • Titel: Puppenspiel
  • Originaltitel: The Falls
  • Übersetzer: Christian Quatmann
  • Verlag: Goldmann
  • Erschienen: 03/2004
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 640 Seiten
  • ISBN: 978-3442456369

Schwarzes Loch L. A.

© List

Wie heißt es so schön: „Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, und wenn er auch die Wahrheit spricht.“ Eine Redewendung, welche zwar im politischen Milieu zumeist wenig Anwendung und Gehör findet, in Literatur-Kreisen aber durchaus schon die ein oder andere Karriere beenden konnte, weswegen die Veröffentlichung von „Ein strahlend schöner Morgen“ des amerikanischen Autors James Frey im Jahr 2008 von einigen Nebengeräuschen begleitet wurde.

Drei Jahre zuvor geriet seine Name groß in die Schlagzeilen, als der abschließende Band seiner zweiteiligen Autobiographie „Tausend kleine Scherben“ auf dem Markt erschien und Kritiker und Leser gleich mehrere Ungereimtheiten in seinen Büchern entdeckten. Frey, der hier in romanhafter Struktur von seinen eigenen Erfahrungen über Drogen- und Alkoholsucht erzählte, hatte in Wahrheit große Teile seines Lebens komplett frei erfunden und mit Details ausgeschmückt, die nach und nach widerlegt werden konnten. Die Hoffnung, sich als harter Hund von der Straße im Feuilleton zu platzieren, zerplatze damit zu Seifenblasen. Und so schien sein Weg als Schriftsteller vorbei, bevor er richtig gestartet war. Bis „Strahlend schöner Morgen“ das Licht der Welt erblickte.

Und wie bereits erwähnt, so traf auch dieses Werk von Beginn an ein gehöriges Maß an Skepsis. Doch ist der Ruf erst einmal ruiniert … James Frey arbeitete jedenfalls seine Fehler sehr offensiv auf, was sich bereits äußerst augenzwinkernd auf der allerersten Seite bemerkbar macht. „Vorsicht: Dies ist keine wahre Geschichte“, steht dort ohne weiteren Kommentar. Eine Ansage an alle Leser und Kritiker, die sicherlich auch als reuevoller Versuch der Rehabilitation verstanden werden darf. Aber hat Frey tatsächlich gänzlich aus seinen Fehlern gelernt? In jedem Fall macht er mit „Strahlend schöner Morgen“ nicht denselben nochmal, sondern konzentriert sich stattdessen auf seine durchaus zuvor schon zutage getretene Stärke, menschliche Schicksale in den mitunter komplexen Kontext zu ihrem Milieu zu stellen und daraus eine fiktionale Geschichte zu schmieden, welche mit einem sehr feinen Makro die oftmals Unsichtbaren in der Mitte unserer Gesellschaft ins Visier nimmt. Es sind aber nicht nur die Figuren, welche Frey so treffend zum Leben erwecken versteht. Vielmehr bildet diesmal die Stadt Los Angeles das bestimmende Zentrum eines eng gesponnenen Spinnennetzes, in dem er kaleidoskopartig („L.A. Crash“ lässt grüßen) unterschiedlichste Charaktere beleuchtet – und dabei mit der „Linse“ nur selten länger an einem Ort verweilt.

Strahlend schöner Morgen“ könnte glatt als Kurzgeschichtensammlung durchgehen, wäre da nicht Freys umherschweifender Blick durch die Stadt der Engel, welche inzwischen fast symbolisch für den „Pursuit of Happiness“ steht. Diese fest im amerikanischen Selbstverständnis einbetonierte Legende vom Streben nach dem Glück, das jedem im „Land of the Free and Home of the Brave“ schon von der Verfassung her zusteht. Aber auch eine Legende, die leider nur allzu oft an der harten Realität von Unfreiheit, Diskriminierung, Angst, Mut- und Hoffnungslosigkeit zerschellt. Und genau diese Realität bekommt in Form der vier im Mittelpunkt des Romans stehenden Menschen ein äußerst unverfälschtes – und nachhaltig prägendes – Gesicht.

Da sind zu einem Dylan und Maddie. Ein junges Pärchen, gerade mal 19 Jahre alt, das seine Heimat, ein kleines Kaff in Ohio, hinter sich gelassen hat, um vor häuslicher Gewalt und betrunkenen Eltern nach L.A. zu fliehen und dort ein gemeinsames Leben zu beginnen. Geld haben sie keines. Und auch keine Unterkunft oder gar einen Job, allein ihre Liebe. Schnell müssen sie feststellen, dass diese Stadt keine Liebe erwidert und auch nicht belohnt. Dylan gelingt es zwar einen Job als Mechaniker in einer Motorrad-Werkstatt zu ergattern, aber als dessen Besitzer unerwünschten Besuch von einer Gang bekommt, wird er mit einer fatalen Versuchung konfrontiert. Tausende Dollar von Bargeld, von ihm in einem Versteck gefunden, welche auf einen Schlag die finanziellen Probleme lösen könnten. Doch zu welchem Preis?

Old Man Joes Schicksal ist ein noch weit Schlimmeres. Gerade mal 39 Jahre alt, aber inzwischen in der Gestalt eines alten Mannes, lebt er seit Jahren in den Straßen von Los Angeles, besser gesagt am Strand von Venice Beach, den er jeden Morgen mit jeweils einer Flasche Chablis, den er ausschließlich trinkt, einen Besuch abstattet. Hier, in der prallen Sonne und unter dem Rauschen des Meeres sucht er täglich Antworten auf die ewig gleichen Fragen. Warum ist er überhaupt hier? Was erwartet ihn noch im Leben? Nur um Abends in die Toilette eines Taco-Restaurants zurückzukehren, wo er seine Nacht verbringt. Diese Routine wird eines Tages jäh unterbrochen, als er ausgerechnet dort ein junges, drogensüchtiges Mädchen hinter einer Mülltonne auffindet. Sie wurde schlimm zusammengeschlagen und Old Man Joe, seit Jahren nur auf sich selbst und eine Flasche Chablis fokussiert, beschließt ihr zu helfen. Eine gute Tat, die nicht folgenlos bleibt.

Weit weg von den dreckigen Gassen L.A.s findet stattdessen das Leben des erfolgreichen Schauspielers Amberton Parker statt, der gemeinsam mit seiner Frau Casey, ebenfalls hochbezahlter Filmstar, und den drei Kindern auf den ersten Blick für alle den perfekten Traum von Hollywood lebt. Doch wie in ihren Filmen, so ist auch dieses prachtvolle Äußere nur eine perfekt konstruierte Fassade, die rein der Funktionalität wegen errichtet wurde. Amberton selbst ist schwul. Seine Frau wiederum sucht ihre sexuelle Erfüllung in den Armen anderer Frauen. Diese Regelung funktioniert für die Familie dennoch hervorragend, bis Amberton sich beginnt nach wahrer Liebe zu sehen. Er glaubt diese in dem gut aussehenden Sportler Kevin gefunden zu haben. Der sich lässt tatsächlich auf ein einmaliges Vergnügen mit ihm ein, hat jedoch keinerlei Interesse daran daraus mehr werden zu lassen. Eine Ablehnung, die Amberton in seinem Wahn und seiner Arroganz nicht akzeptieren kann und der zunehmend Druck ausübt, bis er schließlich gar als letztes Mittel zur Erpressung greift. Doch die Drohung verfehlt ihr Ziel und plötzlich hat ausgerechnet er, der bisher alles bekommen hat, worauf sein Blick fiel, eine Klage am Hals. Und der Skandal droht an die Öffentlichkeit zu geraten.

Desweiteren verfolgen wir den Weg von Esperanza. Tochter mexikanischer Einwanderer, die sich seit jungen Jahren wegen ihrer breiten Oberschenkel in der Öffentlichkeit schämt und aufgrund ihre Komplexe Schwierigkeiten hat, einen vernünftigen Job zu finden. Große Ziele setzt sie sich erst gar nicht. Ein bisschen Glück würde ihr ausreichen, doch das scheint auch für Esperanza in L.A. irgendwie außer Reichweite. Bis sich ihre Hausherrin irgendwann ihr gegenüber eine Frechheit zu viel herausnimmt – und plötzlich Esperanza in sich selbst eine ungeahnte Stärke findet …

Die Vielfalt von „Strahlend schöner Morgen“ endet aber nicht bei diesen vier Hauptcharakteren, denn Frey streut in seinem Roman immer wieder weitere kleine Geschichten von ein, welche sich ebenfalls mit einzelnen Bewohner L.A.s befassen und zwischen den Kapiteln durch historische Fakten, Statistiken und Trivia angereichert werden. Ob Reporter, Waffenhändler oder Model. Sie alle verbinden sich im Lesefluss dennoch weitestgehend lückenlos mit dem ohnehin komplex gesponnenen Netz, tragen dazu bei, dass Los Angeles für uns nicht die übliche Buchkulisse bleibt, sondern wir einen unverstellten Blick auf das bekommen, was dahinter liegt. Ein schwarzes Loch, mit großer Anziehungskraft, das jedes Jahr tausende Menschen mit aus Hochglanzmagazinen und Hollywoodklischees gespeisten Versprechungen von Palmen, teuren Autos und Sandstränden in diesen Moloch lockt, wo viele von Ihnen mitsamt Ihren Hoffnungen verschlungen und vergessen werden.

Laut statistischen Berechnungen, welche sich aus dem jährlichen Bevölkerungswachstum ergeben, soll Los Angeles im Jahr 2030 die größte urbane Zone der USA sein. Mit der Stadt wird nicht nur die Zahl der Verbrechen, sondern auch die Umweltverschmutzung anwachsen – haben sich Konflikte zwischen einzelnen Kulturen eventuell zu andauernden gewalttätigen Auseinandersetzungen entwickelt. Eine Entwicklung, die mehr als nur ein wenig Parallelen zu Dystopien wie „Blade Runner“ oder „Flucht aus L. A.“ erinnert, welche sich trotz all ihrer visuellen künstlerischen Freiheit bereits ein weit älteres Los Angeles als Ausgangspunkt genommen hatten. Ist dieser „Point of no return“ bereits überschritten? James Frey gibt darauf keine eindeutige Antwort, mahnt aber mehr als deutlich an, dass blinder Glaube allein immer weniger reichen wird, um in der Stadt der Engel himmlisches Glück zu finden. Und am Beispiel von Amberton zeigt sich zudem – auch der Faktor Geld bietet keine allumfassende Sicherheit in diesem Haifischbecken, das jede Spur von Schwäche, jeden Blutstropfen im Wasser, sofort bestraft. Der Grat vom Jemand zum Niemand ist so schmal, wie in kaum einer anderen Stadt der USA. Und fast hofft man als Leser bei all diesen negativen Prognosen, James Frey hätte auch hier wieder eiskalt gelogen, die Wahrheit zurechtgebogen oder etwas hinzuerfunden.

Doch was bedeutet das letztlich für das Leseerlebnis selbst? Bei James Frey scheint, bei all seiner zutage tretenden Kreativität, die Vermittlung einer gewissen Botschaft Vorrang vor Stil und Methode gehabt zu haben, denn „Strahlend schöner Schein“ kann zwar durchaus einen gewissen Bann auf uns wirken, verspielt aber die Chance, diesen auch durchgehend aufrechtzuerhalten, da er einfach zu häufig zwischen den einzelnen Perspektiven hin und her springt. Auch im Krimi erweist ein immer wieder wieder verschlepptes Spannungsmoment der Suspense einen Bärendienst. Und einen ähnlichen Effekt erzielt Frey mit seinen abrupten Schnitten von einer Figur zur anderen. Möglich, dass hier seine Vergangenheit als Drehbuchautor zutage tritt. Weniger wäre aber dennoch mehr gewesen und hätte es dem Leser ermöglicht, tiefer in die jeweilige Szenerie eintauchen zu können bzw. emotional näher mit den durchaus gelungenen Charakteren auf Tuchfühlung zu gehen. Dafür bleibt durch das etwas gehetzt wirkende Stakkato von Absätzen leider nicht immer genug Zeit.

Das ist aber auch der einzige größere Kritikpunkt an diesem außergewöhnlich mutigen, weil unverblümt ehrlichen Roman, der auf knapp 600 Seiten einer ganzen Stadt den Spiegel vorhält, vor Ideen- und Detailreichtum nur so strotzt und doch nie Gefahr läuft, den Bezug zur Wirklichkeit zu verlieren. Ob Old Man Joe oder Esperanza – es sind eben keine künstlichen Tragödien, die uns hier aufgetischt werden, sondern authentische Lebensläufe, beeinflusst und geformt von eigenen Fehlentscheidungen und überhöhten Hoffnungen – oder durch das Pech, einfach zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen zu sein. „It could be you“ scheint immer ganz schwach lesbar zwischen den Zeilen zu schimmern und uns an die unangenehme, aber auch unumstößliche Tatsache zu erinnern, dass ein strahlend schöner Morgen nichts darüber aussagt, wie der Tag zu Ende gehen wird.

Wertung: 89 von 100 Treffern

einschuss2
  • Autor: James Frey
  • Titel: Strahlend schöner Morgen
  • Originaltitel: Bright Shiny Morning
  • Übersetzer: Henning Ahrens
  • Verlag: List Verlag
  • Erschienen: 11.2010
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 590 Seiten
  • ISBN: 978-3548609997

Agatha Christies Reifeprüfung

© Atlantik

Nach den unruhigen Tagen und dem Aufruhr rund um ihr mysteriöses Verschwinden und das endgültige Scheitern ihrer Ehe im Dezember 1926 (siehe auch meine Rezension zu „Die großen Vier“) reiste Agatha Christie zu Beginn des kommenden Jahres gemeinsam mit ihrer siebenjährigen Tochter Rosalind auf die Kanarischen Inseln. Gesundheitlich war die Schriftstellerin zu diesem Zeitpunkt in einer äußerst schlechten Verfassung und psychologisch ebenfalls schwer angeschlagen. Die Scheidung von ihrem ersten Ehemann, Archibald Christie, stand bevor und der kürzliche Tod ihrer Mutter verursachte ihr noch ebenso viel Kummer, wie der „Verrat“ vieler sogenannter Freunde, welche ihr in der Zeit der Not den Rücken zugewandt hatten. Hinzu kam die Angst vor finanziellen Engpässen, die mit einer anstehenden Trennung einhergehen würden. Alles andere, als die perfekte Ausgangslage, um ein neues Buch in Angriff zu nehmen.

Im Februar 1927 blieb Agatha Christie aber schlichtweg nichts anderes übrig – die erwähnte Geldnot und ein Vertrag zwangen sie dazu – als erneut zur Feder zu greifen. Wie schon bei „Die großen Vier“, so suchte sie auch diesmal Hilfe bei sich selbst. Da Christie enorme Probleme bei der Komposition eines passenden Plots hatte, griff sie kurzerhand die bereits 1923 erschienene Kurzgeschichte „Das Geheimnis des Plymouth-Express“ (hierzulande erst 1977 im Sammelband „Auch Pünktlichkeit kann töten“ veröffentlicht) wieder auf und schrieb diese zu einem kompletten Roman um. Das Ergebnis ist „Der blaue Express“, welcher knapp ein Jahr später, zuerst als Fortsetzungsroman in der Londoner Abendzeitung „The Star“, in achtunddreißig Folgen von Februar bis März das Licht der Welt erblickte – und im Laufe der Zeit zu einem großen finanziellen Erfolg für die Autorin wurde. Auch die Kritiker waren voll des Lobes für das Werk, das Christie selbst bis zuletzt nur mit der schlimmsten Phase ihres Lebens verband. In ihrer Autobiografie beschrieb sie gar, den ganzen Schreibprozess „immer gehasst“ und das Zählen der Wörter als „Tortur“ empfunden zu haben.

“(…) I could not see the scene in my mind’s eye, and the people would not come alive.” (…) „I found it commonplace, full of clichés and with an uninteresting plot.“ (…)

Der blaue Express“ markiert daher für heutige Literaturwissenschaftler den Wendepunkt in Agatha Christies langer Karriere als Schriftstellerin, den finalen Schritt vom Amateur zum Profi, vom Hobby- zum Berufsschreiber, der eben auch dann ein Werk vollenden und abliefern muss, wenn alle privaten Umstände es auf den ersten Blick eigentlich unmöglich machen. Die spätere Queen of Crime – sie wuchs mit diesem Roman und zog aus ihm auch ihre Lehren. In einen ähnlichen Zugzwang beim kreativen Prozess des Schreibens wollte sie fortan nie wieder geraten, weshalb sie bis in die 1940er Jahre zwei Manuskripte zurückhielt – für den Fall, nochmal in eine ähnliche Schaffenskrise zu geraten. Zwei Joker in ihrem Blatt, die später zu den besten Vertretern ihres Lebenswerks gehören sollten: „Ruhe unsanft“ und „Vorhang“. Letzterer Titel ist auch ein weiterer Hinweis darauf, dass sich Christie spätestens zu diesem Zeitpunkt („Alibi“ deutete es ja schon an) einen Ausweg zurechtgelegt hatte, um Hercule Poirot loswerden zu können. Wie Sir Arthur Conan Doyle so viele Jahre vor ihr, so schien auch sie hier ihres Helden bereits überdrüssig, dessen Popularität in der Bevölkerung aber inzwischen ähnliche Höhen erreicht hatte, wie einst Sherlock Holmes. Neben diesen beiden Jokern auf der Hand, zog sie daher zwei Jahre nach „Der blaue Express“ noch ein Ass aus dem Ärmel. In „Mord im Pfarrhaus“ betrat mit Miss Marple erstmals eine neue Hauptfigur die Bühne und erlaubte ihr im weiteren Verlauf ihrer Karriere eine gewisse Unabhängigkeit von dem egozentrischen Belgier.

All diese oben beschriebenen (auch im Nachwort der alten Fischer-Ausgabe nachzulesenden) Umstände und Informationen sollte der Leser meines Erachtens im Hinterkopf haben, wenn er zur Lektüre dieses Buches und auch zu einer späteren Bewertung ansetzt. Sie sind mit Sicherheit ein Grund dafür, warum „Der blaue Express“ Christies übliche Leichtigkeit und Leichtfüßigkeit im Umgang mit ihren sonst so lebendigen Figuren vermissen lässt und sich stattdessen ein äußerst verkrampfter und sperriger Stil durch das ganze Buch zieht. Nichtsdestotrotz, so viel sei vorangestellt, stellt der Roman eine erhebliche Steigerung zum so viel schwächeren Vorgänger „Die großen Vier“ dar. Eben weil es Christie wieder einmal gelingt, auf kleinstem Raum einen relativ verwinkelten Kriminalfall zu inszenieren, dessen Rahmenhandlung an dieser Stelle kurz angerissen sei:

Der amerikanische Multi-Millionär Rufus van Aldin hat endgültig genug von seinem verschwenderischen und notorisch untreuen Schwiegersohn Derek Kettering und überredet seine Tochter Ruth zur Scheidung. Als brave Tochter beugt sich diese (scheinbar) dem Willen ihres Vaters und besteigt kurz darauf den Train Bleu, den blauen Express, einen Luxuszug zwischen Calais und Ventimiglia, um an die Französische Riviera zu reisen – und um sich dort mit ihrem heimlichen Geliebten zu treffen. Lebend soll sie dort niemals ankommen. Ihre Leiche findet man erdrosselt und mit bis zur Unkenntlichkeit entstelltem Gesicht in ihrem Abteil. Die Geschenke ihres Vaters, eine Sammlung wertvoller Rubine, unter denen sich auch das sagenumwobene „Feuerherz“ befindet, sind verschwunden. Angeblich hatte sie zuvor Besuch von einem fremden Mann, weswegen die lokale Polizei sogleich von einem Raubmord ausgeht. War es vielleicht sogar Derek Kettering, der sich auch unter den Passagieren des Zugs befindet? Ein kleiner, belgischer Fahrgast mit grünen Augen und Eierkopf ist davon nicht ganz überzeugt und stürzt sich, obwohl eigentlich im Ruhestand, sogleich in die Ermittlungen. Und findet in Katherine Grey, die ihren ersten Winter außerhalb Englands verbringen will, eine unerwartete Verbündete bei seinen Nachforschungen …

Mord in einem Zug? Da war doch was? Lässt man die bereits erwähnte Vorlage „Das Geheimnis des Plymouth-Express“ mal außer Acht, stoßt der Leser hier erstmals auf dieses Motiv, dessen sich Agatha Christie einige Jahre später in ihrem wohl erfolgreichsten und bekanntesten Roman, „Der Mord im Orient-Express“, erneut bedienen wird. Und dort, das muss man an dieser Stelle konstatieren, auch um einiges ausgereifter und komplexer ausarbeitet, denn „Der blaue Express“ krankt vor allem an einer, für einen Whodunit sehr wesentlichen Schwäche: Er wartet schlichtweg mit viel zu wenigen wirklichen Verdächtigen auf, wodurch ein möglicher Täter trotz Christies üblichem Kartenspiel und den unter-welchem-Hütchen-ist-die-Kugel-Tricks zumindest relativ schnell einzukreisen ist. Obwohl ich mich selbst in diesem Genre gerne am Nasenring durch die Manege ziehen lasse, kam auch ich nicht umhin, während der Lektüre gewisse Indizien früh deuten zu können, wenngleich es dann am Ende nicht ganz für alle Zusammenhänge gereicht hat. Hier bleibt uns Lesern Hercule Poirot also dennoch ein paar kleine Trippel-Schritte – und die ein oder andere Überraschung – voraus.

Dessen etatmäßiger Begleiter Captain Hastings (in „Das Geheimnis des Plymouth-Express“ an seiner Seite) fehlt jedoch auffallend und kann durch die eher blasse Miss Katherine Grey nicht ansatzweise gleichwertig vertreten werden. Interessant ist jedoch, zumindest für den eingefleischten Krimi-Kenner und Christie-Gourmet, dass die gute Miss Grey ihre Heimat in einem beschaulichen kleinen Dörfchen namens St. Mary Mead hat. Genau das Fleckchen Erde in dem niemand geringeres als Miss Marple, an deren Entstehung Agatha Christie wie bereits erwähnt direkt nach der Veröffentlichung dieses Romans arbeitete, ihre berühmten Fälle lösen wird.

Während in vielen Poirot-Fällen dem Hauptprotagonist oft gar nicht so viel Raum in der Handlung zuteil wird, ist „Der blaue Express“ doch deutlich – und man muss vielleicht sogar sagen zwangsweise – auf den kleinen belgischen Meisterdetektiv ausgerichtet. Das ist Fluch und Segen zugleich, da einerseits der Mord nicht genug Futter hergibt, um für dessen graue Zellen eine wirkliche Herausforderung darzustellen, wir andererseits ihm aber viel näher als sonst über die Schulter schauen dürfen und seine, trotz fehlender Bescheidenheit, charmante und zutiefst sympathische Art für enorm viel Kurzweil sorgt. Poirot, in „Alibi“ eigentlich schon zwischen Cottages und Kürbissen aufs Altenteil und Abstellgleis geschoben, wirkt hier deutlich revitalisiert und verjüngt – und deutet an, dass er vielleicht doch noch nicht zum alten Eisen gehört. Wer konnte zu diesem Zeitpunkt auch ahnen, dass er seine größten Momente und Fälle sogar noch vor sich haben sollte?

Trotz der Widrigkeiten bei der Entstehung, ein paar Ungereimtheiten im Plot und dem übersichtlichen Kreis der Verdächtigen – mit „Der blaue Express“ gelingt Agatha Christie eine merkliche Steigerung zu „Die großen Vier“ und ein heute noch lesenswertes, weil unterhaltsames und atmosphärisches Krimi-Kammerspiel auf der Schiene, an dem Fans und Freunde der Autorin sowie grundsätzlich Liebhaber des klassischen Kriminalromans des Golden Age gleichermaßen ihre Freude finden werden. Also Ticket ziehen, Abteil besteigen, zurücklehnen, miträtseln und sich (ein bisschen) verblüffen lassen.

Wertung: 84 von 100 Treffern

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  • Autor: Agatha Christie
  • Titel: Der blaue Express
  • Originaltitel: The Mystery of the Blue Train
  • Übersetzer: Gisbert Haefs
  • Verlag: Atlantik
  • Erschienen: 03/2018
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 320 Seiten
  • ISBN: 978-3455002249