Tears for Fears

© Goldmann

Seit genau 22 Jahren verdingt sich der in Solihull gebürtige Engländer Mark Billingham nun schon als Autor von Kriminalromanen – wohlgemerkt neben seiner weit länger ausgeübten Tätigkeit als Stand-Up-Comedian, welcher er in der Heimat auch in erster Linie seine große Bekanntheit verdankt. Eben jene Bekanntheit, zu der es auf dem deutschen Buchmarkt bis heute nicht wirklich gereicht hat, obwohl seine Werke seit dem Erstling „Der Kuss des Sandmanns“ fast durchgehend veröffentlicht worden sind.

Doch diese Kontinuität täuscht, denn anders als die im Stil durchaus vergleichbare Kollegin Val McDermid, scheint Billingham hierzulande weiterhin auf der Suche nach dem sicheren Hafen zu sein. Zu Beginn noch fester Bestandteil des Goldmann Verlags, gab es anschließend ein kurzes Stelldichein bei Heyne, nur um inzwischen – aufgeteilt zwischen Atrium und Kampa Verlag – veröffentlicht zu werden. Die Tatsache, dass man dabei bereits auf Deutsch erschienene Bücher wieder unter einem neuen Titel herausgebracht hat, schadet nicht nur der Übersichtlichkeit, sondern macht es meines Erachtens auch schwierig, Leser längerfristig an diesen Autor zu binden.

Und genau das wäre durchaus wünschenswert, zählt doch Mark Billingham zu den wirklich lesenswerten Vertretern der britischen Krimi-Szene, wobei hier insbesondere die frühen Bände aus der Reihe Detective Inspector Tom Thorne herausstechen, da sie den klassischen britischen Police-Procedural gekonnt mit Elementen des amerikanischen Psychothrillers erweitern. Nachdem der Auftakt in dieser Hinsicht vor allem durch seine subtile Herangehensweise sowie durch seine unerwartete Reife überraschen und überzeugen konnte, kristallisiert sich nun in „Die Tränen des Mörders“ die eigentliche Marschrichtung mehr und mehr heraus. Und die hinterlässt weit deutlichere Abdrücke im literarischen Kopfsteinpflaster, spart der Autor doch jetzt auch drastischere Szenen nicht aus, was eine gewisse Resistenz in der Magen-Darm-Flora des Lesers voraussetzt. Die Subtilität ist eindeutig einer derben Anschaulichkeit gewichen – wohlgemerkt aber ohne dabei qualitativ in das niveaulose Metzgermilieu von Fitzek, Carter und Co. abzutauchen. Billinghams großes Verdienst ist es, genau hier einen formvollendeten Spagat hinzulegen und mit einem Bein fest im Realismus verankert zu bleiben, was sich besonders in seinem Hauptprotagonisten, Tom Thorne widerspiegelt.

Der sieht sich in „Die Tränen des Mörders“ mit einer Umstrukturierung der Londoner Metropolitan Police konfrontiert, denn die Ereignisse des 11. September haben auch in der Hauptstadt des Vereinigten Königreichs ihren Widerhall gefunden. Mehrere so genannte „Crime Groups“ wurden gebildet und Thorne, verantwortlich für die „Serious Crime Group“, wird nun zumeist mit den Fällen betreut, die in kein Schema passen wollen oder mangels Indizienlage allgemein als unlösbar gelten. Aktuell handelt es sich dabei um zwei Morde an Frauen, welche innerhalb kürzester Zeit hintereinander begangen worden sind. Beide Opfer scheinen auf dem Heimweg den Zug genutzt haben und wurden erwürgt, womit sich allerdings die Ähnlichkeiten auch erschöpfen, denn die Mordmethode war jeweils eine gänzlich andere. Während die allein erziehende Mutter vor den Augen ihres dreijährigen Kindes qualvoll und brutal getötet wurde, ist mit der zweiten verhältnismäßig vorsichtig umgegangen worden. Zudem finden sich bei Letzterer auch Spuren von Körperflüssigkeit – und zwar Tränen.

Sind es etwa die Tränen des Mörders? Und handelt es sich vielleicht um zwei verschiedene Täter? Durch die gewonnenen Erkenntnisse erscheinen jetzt auch zwei frühere Frauenmorde plötzlich in einem völlig neuen Licht. Gemeinsam mit seinem Kollegen Dave Holland und Neuzugang Sarah McEvoy nimmt Thorne die Ermittlungen auf – und scheut dabei auch wieder nicht die Konfrontation mit seinen Vorgesetzten, denen langsam aber sicher die Geduld ausgeht …

Falls jemand nun schon auf den Geschmack gekommen und im Begriff ist, sich dieses Buch (aktuell nur antiquarisch) zuzulegen, der sei dringend darauf hingewiesen, bitte nicht den Klappentext oder die Inhaltsangabe auf der Rückseite zu lesen. Wer immer für diesen Text damals verantwortlich gezeichnet hat, scheint vom Sternzeichen her Spaßverderber zu sein. Anders lässt sich nicht erklären, warum hier gleich die halbe Handlung gespoilert und damit dem etwaigen Lesern ein Großteil des Vergnügens verdorben wird. Doch zurück zum Inhalt zwischen den Buchdeckeln. Was auch bei „Die Tränen des Mörders“ wieder gleich auffällt: Mark Billingham leistet sich auch diesmal relativ wenige Anfängerfehler und schreibt weiterhin wie ein „alter Hase“, was durchaus nicht selbstverständlich ist, wenn man einen Blick auf die Frühwerke anderer Genre-Kollegen wirft, wo doch der ein oder andere einen mehr als holprigen Start hingelegt hat.

Vielleicht liegt es daran, dass Billingham sich vom ersten Band an (den man übrigens vorher unbedingt gelesen haben sollte!) auf seinen Hauptprotagonisten Tom Thorne fokussiert und er eine klare Vorstellung davon zu haben scheint, wohin sich die Figur (zumindest grob) entwickeln soll. Und Thorne ist auch der Triebwagen vor dieser Geschichte, bestimmt durch sein Handeln den Fortschritt der Ermittlungen und bleibt auch abseits der kriminalistischen Entwicklung für uns als Leser durchweg interessant. Vergleiche mit Ian Rankins John Rebus – ebenfalls auf dem Buch platziert – sind dabei jedoch vollkommen unangebracht, Ähnlichkeiten gänzlich aus der Luft gegriffen. Vom Beruf abgesehen, könnten beide kaum unterschiedlicher sein. Nicht nur besticht Thorne durch einen grauenvollen Musikgeschmack (Country), sondern er geht auch wesentlich offensiver mit den sich ihm stellenden Problemen um. Während ein John Rebus allabendlich seine Geister in Drams von Whisky ertränkt, ist Thorne eher Mitglied der Abteilung Attacke, wirft sich bissig, übereifrig und oft am Rande des Zorns in seine Arbeit. Eine Eigenschaft, die auch in diesem Fall deutlich zutage tritt – und ihn mehr als einmal in Schwierigkeiten bringt.

Billingham nimmt sich viel Zeit für seinen (Anti-)Helden, gewährt uns vor allem in Hinsicht auf dessen Beziehung zu seinem Vater neue Einblicke, vergisst darüber hinaus aber nicht, auch die anderen Mitglieder der „Serious Crime Group“ mit einzubeziehen. Wenn man unbedingt Parallelen zu Rankin ziehen möchte, wären sie dann eher in dieser Richtung angebracht, denn wie der Schotte in seinen späteren Romanen, so beginnt auch Billingham bereits hier sein London um weitere Perspektiven zu erweitern (siehe auch die Ausführungen im Epilog). Dave Holland und Phil Hendricks spielen diesmal eine weit größere Rolle als noch im Vorgänger. Und mit Sarah McEvoy gelingt ihm auf Anhieb eine weitere interessante Neubesetzung, deren Handlungsstrang zudem eine gewisse Tragik in sich birgt. Ihr Miteinander deutet daraufhin, dass der Autor seine Arbeit in Punkto Recherche gemacht hat, umschifft er doch geschickt die üblichen Klischees von toughen Bullen mit Sonnenbrille, sondern zeichnet ein authentisches Bild der Polizeiarbeit. Diese Detailtreue findet sich auch in der Ausarbeitung des bzw. der Antagonisten wieder. Anstatt uns Leser wie ein Jeffery Deaver mit stets den gleichen Soziopathen aus dem Sessel holen zu wollen, soll Billingham auch in den kommenden Bänden ein gutes Händchen beweisen, wenn es darum geht, erschreckende und verstörende, aber auch glaubhafte Bösewichte aus dem Hut zu zaubern.

Und wie schaut es beim Spannungsbogen aus? Wenn man zu Kritik ansetzen möchte, bietet sich leider an diesem Punkt die größte Angriffsfläche, denn Billingham bringt sich mit der Konzeption der Morde ein bisschen selbst in Bedrängnis, entnimmt viel zu früh ein elementares Gefahrenmoment aus der Handlung und lässt damit unnötig Dampf aus dem Kessel. Konkreter kann ich leider an dieser Stelle nicht werden, ohne zu viel zu verraten. Aber soviel sei gesagt: Der Autor legt den Hebel dann auch wieder recht schnell um, verengt seinen Fokus noch mehr auf Thorne und baut so erneut eine Suspense auf, die dann auch den Leser durchgängig bis zum Ende trägt, wenngleich dieser keine packende oder gar actionreiche Jagd erwarten sollte. Es handelt sich vielmehr um ein ruhiges, psychologisches Kräftemessen und Katz-und-Maus-Spiel, in dem die Gedanken der Gegenüber im Vordergrund stehen. Durch die konstanten Wechsel zwischen den Erzählebenen bleibt dabei das Tempo dennoch hoch, obwohl es zwischen all den falschen Fährten lange dauert, bis die Ermittler das vor ihnen ausgebreitete Puzzle zusammensetzen können.

Der Weg bis zur Auflösung ist für uns ein ziemlich düsterer und mitunter brutaler, da der Autor, wie bereits angedeutet, durchaus bildreich Tatorte und Handlungen des Mörders in Szene setzt. Die Tonalität passt sich hier eindeutig sowohl den Ereignissen als auch dem Setting selbst an, denn das winterliche London abseits der touristischen Hauptattraktionen kommt entsprechend trist und trostlos daher. Billingham nutzt Schauplätze und Jahreszeit geschickt aus, um bei seinem Publikum die gewünschten Bilder zu erzeugen, so dass man sich nicht selten dabei ertappt, wie Thorne selbst die Kälte zu spüren, dem überhaupt die Ermittlungen sichtlich zu schaffen machen.

Die Tränen des Mörders“ ist eindeutig keine Wohlfüllliteratur und will dies auch an keiner Stelle sein. Vielmehr zeigt der Roman deutlich und unzensiert die bösartigen Abgründe, in welcher der menschliche Geist abtauchen kann, welche Kräfte wirken können, wenn sich gewisse Konstellationen in der Vergangenheit zu deinen Ungunsten verschieben können. Billingham haut uns das unverblümt um die Ohren, nimmt keinerlei Rücksicht auf Etikette – und würde uns fast komplett vergessen lassen, dass hier tatsächlich ein Komiker die Feder geschwungen hat. Wäre, ja wäre da nicht dieser in all der Dunkelheit toll pointierte, zynische Humor, der dem Leser zwischendurch immer wieder ein Schmunzeln ins Gesicht zu zaubern vermag.

Die Auflösung ist letztlich schlüssig, wird jedoch etwas zu kurz und hastig abgehandelt und lässt leider auch ein paar Fragen (Wer war denn nun Caroline genau?) offen, was den Anschein erweckt, dass Billingham hier eventuell etwas unter Zeitdruck geraten ist. Das Gesamtergebnis trübt das nur bedingt. „Die Tränen des Mörders“ ist erneut eine gelungene Mischung zwischen Police-Procederual und Thriller. Keine Neuerfindung des Genres, aber eine nachtschwarze und schonungslose Variation des Bekannten, welche genau das liefert, was das Gros der Leser von einem Krimi erwartet – ziselierte und packende Spannung.

Wertung: 90 von 100 Treffern

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  • Autor: Mark Billingham
  • Titel: Die Tränen des Mörders
  • Originaltitel: Scaredy Cat
  • Übersetzer: Isabella Bruckmaier
  • Verlag: Goldmann
  • Erschienen: 08.2003
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 480 Seiten
  • ISBN: 978-3442455379

Von Kunst und vom Tod

© Piper

Es ist nun mehr als sechs Jahre her, seitdem ich mich in der kriminellen Gasse das letzte Mal mit Thomas Adcock beschäftigt habe – und mein Wunsch, er möge doch bitte hierzulande endlich wieder (auch als Print-Ausgabe) neu und in angemessener Ausstattung aufgelegt werden, ist bis heute unerfüllt geblieben. In der Hoffnung, dass nicht noch einmal so viel Zeit vergehen wird – und auch von einem gewissen ostwestfälischen Sturkopf geleitet – nutze ich daher an dieser Stelle mal wieder die Gelegenheit, um den New Yorker Autor zumindest etwas in das Scheinwerferlicht zu rücken, das er aufgrund seines Werks eigentlich verdient hat. Dieses hat, anders als das von so namhaften Kollegen wie James Lee Burke oder oder Michael Connelly, nie einen derart großen Eindruck auf dem deutschen Buchmarkt hinterlassen. Seltsamerweise, möchte man behaupten, den wirft man einen näheren Blick auf Adcocks Vita, so muss sich auch er hinter diesen namhaften Konkurrenz kaum verstecken.

Thomas Adcock wuchs zwar in seiner Geburtsstadt Detroit auf, verließ diese jedoch in jungen Jahren um als Polizeireporter und Journalist bis 1978 in Michigan und Minnesota erste Erfahrungen mit dem kreativen Schreiben zu sammeln, bevor es ihn schließlich nach New York zog. Hier arbeitete er einige Zeit in der Werbebranche, schrieb mehrere Hörspiele und Drehbücher für diverse Fernsehserien und veröffentlichte 1984 sein erstes Buch unter eigenem Namen. In „Precinct 19“ schildert er im Format eines Tatsachenberichts den Alltag der Polizei im gleichnamigen Revier in Manhattan. Ein Jahr später folgten schließlich die ersten Krimi-Kurzgeschichten für das „Ellery Queen’s Mystery Magazine“, wobei die Leser in „Christmas Cop“ (1986) erstmals Bekanntschaft mit dem New Yorker Cop Neil „Hock“ Hockaday machen. Der grimmige Ermittler gewinnt schnell die Herzen der Leser, die Geschichte selbst wird sogar für den Edgar Allan Poe Award nominiert, so dass bald weitere mit derselben Figur folgen. Vom Erfolg motiviert legt Adcock 1989 dann „Hell’s Kitchen“ (orig. „Sea of Green“) vor, den ersten Kriminalroman mit Hockaday, dessen irische Abstammung er im Verlauf seiner Serie größere Aufmerksamkeit zollen wird. So auch im vorliegenden zweiten Band der Reihe, „Feuer und Schwefel“, mit dem sich der Autor nicht nur gegenüber dem Vorgänger gesteigert, sondern auch die Auszeichnung mit dem Edgar Allan Poe Award für den besten Taschenbuchkrimi von 1992 wohlverdient hat.

Nach weiteren vier Hockaday-Romanen ist es im Krimi-Genre inzwischen ruhig um Thomas Adcock geworden, der jedoch über seine regelmäßigen, sehr lesenswerten (!) Beiträge im CulturMag den deutschen Lesern zumindest noch ein wenig erhalten blieben ist. Doch natürlich ist es gerade diese besagte New Yorker-Reihe, welche endlich wieder mehr Aufmerksamkeit verdient, zumal ihr Schöpfer zu den wenigen seiner Zunft gehört, die den Balanceakt zwischen dem klassischen Hardboiled und dem Thema des Serienmörders auf hohem literarischen Niveau begeistert. Und ein Serienmörder spielt tatsächlich auch in „Feuer und Schwefel“ eine gewichtige Rolle:

Frühling in New York, Anfang der 90er. Normalerweise eine Jahreszeit, in der sich selbst die Verbrecher eine Auszeit gönnen und das sonst so raue Hell’s Kitchen mit einem beinahe rustikalen Charme aufwartet, der selbst den ein oder anderen Touristen in die Gegend lockt. Für Neil „Hock“ Hockaday, den etwas abgehalfterten Detective von der SCUM-Patrol, ist es vor allem der beste Zeitpunkt, um endlich seinen langersehnten und wohlverdienten Urlaub zu nehmen. Gerade mal ein halbes Jahr ist es her, seit „Hock“ im Fall um den ermordeten Father Love ermittelt und dabei sein Leben aufs Spiel gesetzt hat und Ruhe daher dringend vonnöten. Doch erstens kommt es immer anders und zweitens als man denkt, denn ausgerechnet die Kunst soll seinen Plänen einen Strich durch die Rechnung machen. In diesem Fall verkörpert durch ein meisterhaftes, aber auch grauenerregendes Gemälde, welches die Fassade eines Gebäudes im alten New Yorker Stadtteil Coney Island ziert – und der Feder eines bekannten, aber auch berüchtigten heimischen Malers entstammt, den man auf den Straßen nur unter den Namen „Picasso“ kennt. Der Titel des Gemäldes: „Feuer und Schwefel“.

Ausgerechnet diesen „Picasso“, der in der Vergangenheit u.a. auch für die Gestaltung der Vergnügungsparks auf Coney Island verantwortlich zeichnete, inzwischen sich aber nur noch mit Gelegenheitsjobs und Betteln über Wasser hält, trifft „Hock“ eines Abends, scheinbar zufällig und in erregten Zustand an. Der ehemalige Künstler prahlt unverhohlen mit der Absicht, an denjenigen Rache zu nehmen, die für sein jetziges Leben verantwortlich sind. Notfalls auch mit Gewalt. Der Cop schenkt dem wirren Gefasel des offensichtlich Geistesgestörten keinerlei Beachtung und versucht den Vorfall schnell wieder zu vergessen. Bis er in seiner Lieblingskneipe auf ein Bild „Picassos“ stößt, das eine in grün gekleidete Frau porträtiert – und ausgerechnet diese einige Stunden später an derselben Stätte erschossen wird. Auf einmal häufen sich die Morde im Umfeld „Picassos“ und „Hock“ sieht sich gezwungen, selbst Ermittlungen anzustellen, um hinter das wahre Motiv der Taten zu kommen und dem blutigen Spiel ein Ende zu setzen …

Der versoffene, sture Cop. Die paragraphenreitenden Vorgesetzten. Das heruntergekommene, von Verbrechen und schrägen Typen durchsetzte Milieu. Ja, wenn man „Feuer und Schwefel“ nur einen kurzen, ungenauen Blick schenkt, so erwartet den Leser auch hier ein typischer Hardboiled-Vertreter nach Schema F, der sich vielleicht allenfalls durch den Schauplatz noch von seiner Konkurrenz unterscheidet und ansonsten gewohnte Kost bietet. Und es wäre dann am Ende genau dieser Oberflächlichkeit, mit dem er sich selbst einen Bärendienst erweisen würde, denn gerade in der Reihe vom Neil „Hock“ Hockaday steckt soviel zwischen den Zeilen, so viel Herz und Seele seitens des Autors, das man mit der obigen Einschätzung nicht weiter daneben liegen könnte. Adcocks Vergangenheit als Journalist, sie erweist sich bei der Konzeption dieser Reihe als echter Segen, schwitzen seine Krimis doch geradezu nur vor Atmosphäre und Authentizität, da hier eben kein Autor irgendwo im sonnigen Hawaii zum Stift gegriffen, sondern von der Welt direkt vor der Haustür berichtet hat. „Hocks“ Schrullen sind mitnichten irgendwelchen künstlerischen Einfällen ihres Erfinders geschuldet, sondern logische Begleiterscheinungen seines Umfelds und letztlich auch die Erkenntnisse aus Adcocks eigenen Beobachtungen als Polizeireporter.

Wie schon Michael Connelly, so gelingt es auch Thomas Adcock meisterhaft, diese Barriere zwischen Fiktion und Realität zu überwinden, persönliche Erfahrungen seiner Arbeit mit einfließen zu lassen, um den Leser nach und nach in das echte New York, das echte Hell’s Kitchen hineinzuziehen. In „Feuer und Schwefel“ präsentiert sich dies nicht mehr so sehr als kalter und ungemütlicher Ort wie im ersten Band – hier hat man beim Lesen unwillkürlich bibbernd den Rollkragen hochklappen wollen – sondern tatsächlich von seiner frühlingshaften Seite. Diese jahreszeitbedingte Hochstimmung schwappt sowohl auf uns als auch auf „Hock“ über, zumindest bis er immer tiefer in das abgründige Wirken des mysteriösen Maler hineingezogen wird. Und sich beharrlich weigert, sich ab sofort etwas anderem zu widmen. Wie ein Terrier beißt er sich an dem Fall und den Fersen der Verdächtigen fest, entwirrt mit scheinbar engelsgleicher Geduld nach und nach die Umstände und Hintergründe der Morde.

Adcock vermeidet es dabei, sich der üblichen Serienmörder-Elemente zu bedienen, so dass sich das Gesamtprodukt weit eher wie ein Police Procedural mit Hardboiled-Einschlag liest. Im Gegensatz zum Auftakt der Reihe fährt er zudem den Brutalitätsgrad etwas zurück, was vielleicht auch daran liegt, dass „Hock“ diesmal die wunderschöne Ruby zur Seite steht, welche nach seiner gescheiterten Ehe einen neuen Lichtblick im doch arg tristen Junggesellendasein darstellt. Dies scheint sich gleichzeitig auf seine Gewohnheiten auszuwirken, denn der einst einsame Wolf raucht und säuft nicht mehr annähernd soviel wie noch in „Hell’s Kitchen“. Ob dies jedoch so bleibt – der Ausgang des Romans macht dies mehr als fraglich. Bis zu diesem Ende liest sich auch der zweite Auftritt des New Yorker Cops wie aus einem Guss und – nicht unwichtig für dieses Genre – bleibt vor allem durchgehend spannend.

Im Dunstkreis von John Rebus, Harry Bosch und Dave Robicheaux dürfte auch Neil Hockaday in Deutschland sicher seine Leser finde – eine längst fällige Wiederveröffentlichung vorausgesetzt. Mit „Feuer und Schwefel“ kann sich Adcock nicht nur nochmal steigern, er bereitet auch den Boden für den dritten Band „Ertränkt alle Hunde“, der, über die Grenzen des Genres hinaus, zum Besten gehört, was über den andauernden Konflikt in Irland bis dato veröffentlicht worden ist. Doch dazu mehr an anderer Stelle.

Wertung: 91 von 100 Trefferneinschuss2

  • Autor: Thomas Adcock
  • Titel: Feuer und Schwefel
  • Originaltitel: Dark Maze
  • Übersetzer: Jürgen Bürger
  • Verlag: Piper
  • Erschienen: 01.1998
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 348
  • ISBN: Serien978-3492256759

Unterhalten wir uns über Angst …

© Lübbe

Maine, USA, in den späten 70er Jahren. Im Hause King herrscht Aufbruchstimmung. Nachdem er sich jahrelang mit diversen Nebenjobs nur notdürftig über Wasser halten konnte, bedeutet die Veröffentlichung von „Carrie“ für ihn den persönlichen Wendepunkt. Stephen King, der sich schon seit jeher immer in erster Linie als Schriftsteller verstanden hat, scheint nun endlich am Ziel seiner lang gehegten Träume angekommen.

Nicht nur, dass er finanziell von seinem Erstlingswerk profitiert (auch „Shining“ entwickelt sich, diesmal sogar gleich im Hardcover, als Riesenerfolg), es ermöglicht ihm im selben Zug, lang gehegte Ideen umsetzen, Manuskripte und Notizen weiter ausarbeiten zu können. Eine davon ist „The Stand – Das letzte Gefecht“, welches er später als sein persönliches Vietnam bezeichnen sollte, denn die Geschichte um einen todbringenden Virus schien auch den jungen Autor unheilbar zu infizieren, der sich stellenweise um Kopf und Kragen schrieb und schier kein Ende finden konnte. Eine Situation, welche sein Verlag Doubleday, der auf den Vertrag mit der Vorgabe eines Buchs pro Jahr pochte, zunehmend mit Sorgen betrachtete. King, der in naher Zukunft nicht mit der Fertigstellung seines Epos (bis heute ist es sein Roman mit den meisten Seiten) rechnete, schlug als „Entschädigung“ eine Sammlung seiner Kurzgeschichten vor. Einige davon waren bereits in der Vergangenheit in verschiedenen Magazinen (u.a. im „Penthouse“ und dem „Cavalier“) erschienen, andere hatte er gerade erst geschrieben. Ein Vorwort (das erste, von vielen die folgen sollten) sollte das Paket abrunden.

Der Vorschlag Kings stieß seitens des Verlags anfangs auf wenig Gegenliebe. Schon damals waren Kurzgeschichtensammlungen weit schwerer an den Mann zu bringen als Romane und so ganz schien mich man sich der Strahlkraft des Autors zudem noch nicht sicher. Am Ende willigte Doubleday doch ein, druckte eine kleine Auflage von ein bisschen mehr als 10.000 Exemplaren – und musste zügig nachsteuern, denn die Nachfrage war riesengroß. 1979 wurde die Sammlung in der Kategorie „Collection“ gar für den „World Fantasy Award“ nominiert. Das aus der Not geborene Experiment erwies sich letztlich als großer Erfolg – und King sollte dem Format der Kurzgeschichte auch in Zukunft (zum Glück für uns Leser) treu bleiben. Folgende Stories sind in „Nachtschicht“ enthalten:

  • Briefe aus Jerusalem

  • Spätschicht

  • Nächtliche Brandung

  • Ich bin das Tor

  • Der Wäschemangler

  • Das Schreckgespenst

  • Graue Materie

  • Schlachtfeld

  • Manchmal kommen sie wieder

  • Erdbeerfrühling

  • Der Mauervorsprung

  • Der Rasenmähermann

  • Quitters, Inc.

  • Ich weiß, was du brauchst

  • Kinder des Mais

  • Die letzte Sprosse

  • Der Mann, der Blumen liebte

  • Einen auf den Weg

  • Die Frau im Zimmer

In Angesicht des inzwischen so umfangreichen Werks von Stephen King wird sich jetzt vielleicht manch einer fragen, warum man sich unbedingt seine Kurzgeschichten aus den 70er Jahren zu Gemüte führen sollte. Eine Frage, die sich kurz und bündig beantworten lässt: Weil „Nachtschicht“ tatsächlich ein paar seiner besten Erzählungen beinhaltet, welche zudem noch vielfältigste Aspekte des Horros, aber auch anderer Genres bedienen. Den Anfang macht dabei „Briefe aus Jerusalem“, zu der ich an dieser Stelle nicht mehr viel schreiben möchte (meine Meinung lässt sich in der Rezension zur „Brennen muss Salem“-Ausgabe nachlesen). Dass es sich hierbei um eine Reminiszenz an die Werke Lovecrafts (und um eine Vorgeschichte von „Brennen muss Salem“) handelt, dürfte aber sowohl aufgrund des Schauplatzes und des zeitlichen Kontexts sowie der Erzählform (In Briefen wird von den Geschehnissen berichtet) klar erkennbar sein. Und auch das „De Vermis Mysteriis“, um das es in der Geschichte geht, wurde in der Vergangenheit bereits öfters von Lovecraft und anderen Autoren verwendet.

Einen starken, stilistischen Kontrast dazu stellt dann „Spätschicht“ dar, welche nicht nur zu den frühesten Werken Stephen Kings zählt, sondern sich fast als Archetyp des 70er Jahre Horrors präsentiert, wenn, ja wenn der Autor nicht auch unterschwellig die sozialen Missstände, insbesondere in Bezug auf die Arbeitsbedingungen, kritisieren würde. Die Aufräumarbeiten in einer alten Spinnerei müssen unter denkbar unwürdigsten Umständen stattfinden, was den autoritären Vorarbeiter aber nicht davon abhält, seine Untergebenen anzutreiben. „Spätschicht“ (1990 als „Nachtschicht“ mit u.a. Brad Dourif verfilmt) überzeugt vor allem durch seine unheimliche und klaustrophobische Atmosphäre, hinterlässt aber sonst keinen größeren Eindruck. Das gilt auch für „Nächtliche Brandung“, sozusagen ein Teaser zum kommenden „The Stand“, in der wir eine Gruppe von Jugendlichen zum Strand begleiten, wo einer ihrer Freunde als Menschenopfer verbrannt wird, um vermeintlich „Böse Geister“ zu besänftigen und deren Zorn von den Verbliebenen abzuwenden. Ein, wie wir wissen, nutzloses Unterfangen, denn gegen Captain Trips, das Supervirus A6, gibt es keine Heilung. So ist dann auch diese Geschichte wenig überraschend und bleibt entsprechend kurz im Gedächtnis.

Anders sieht das dann schon bei „Ich bin das Tor“ aus, in dem Stephen King Science-Fiction mit Horror verknüpft, wenn ein Astronaut, Rückkehrer einer Mission zur Venus, als Transportmittel für einen aggressiven Symbionten fungiert, der nach und nach die Kontrolle übernimmt. Eine gruselige, kompromisslose Geschichte, die etwaigen Hoffnungen bezüglich des Protagonisten ganz am Ende nochmal den Boden unter den Füßen wegzieht. Wer meint, damit schon den Höhepunkt in Punkto fehlendem Realismus gelesen zu haben, wird sich mit „Der Wäschemangler“ eines Besseren belehrt sehen, in der die titelgebende Maschine zum menschenfressenden Monster mutiert, dem sich nur zwei Menschen mutig mittels christlicher Teufelsaustreibung entgegenstellen. Wer in der Lage ist, sein Gehirn hier mal ein paar Minuten Ruhe zu gönnen, wird durchaus Spaß an dieser vollkommen absurden Geschichte haben, zu der Stephen King wohl seine eigene Vergangenheit (er arbeitete selbst eine Zeitlang als Bügler in einer Industriewäscherei in Bangor) maßgeblich inspiriert hat. Und für die King-Fans noch ein kleiner Hinweis bzw. eine weitere Verbindung: Auch „Carries“ Mutter und Barton Dawes („Sprengstoff“) haben in der Blue Ribbon Wäscherei ihre Finanzen aufgebessert.

Es folgen mit „Das Schreckgespenst“, „Graue Materie“ und „Schlachtfeld“ drei weitere äußerst kurzweilige und solide Geschichten, wobei erstere in gewisser Weise auch eine Blaupause für „Shining“ darstellen dürfte, dient doch auch hier der Vater als Parabolspiegel für das nicht greifbare Böse (in dessen Beschreibung fühlte ich mich an die Beschreibungen zu Beginn von „Cujo“ erinnert), wohingegen in „Graue Materie“ die Alkoholsucht zentrales Element der Erzählung ist und maßgeblichen Anteil an einer verhängnisvollen Verwandlung hat. Inwieweit Stephen King an dieser Stelle seine eigenen Dämonen beschrieben hat, kann nur erahnt werden. Es wird sicher eine Rolle gespielt haben. „Schlachtfeld“ kommt einmal mehr aus der Abteilung abstrus. Ein Profikiller sieht sich mit lebendig gewordenen und äußerst schießwütigen Spielzeugsoldaten konfrontiert. Erneut ein Beweis dafür, dass selbst eine völlig hanebüchene Ausgangssituation von einem King immer noch in ein spannendes und äußerst unterhaltsames Erlebnis umgeschmiedet werden kann.

Nach den Spielzeugsoldaten folgen nun die „Lastwagen“, welche gleich mehrere Menschen in einer Raststätte umzingelt haben und mit röhrenden Motoren darauf warten, die Fliehenden über den Haufen zu fahren. Bekloppt, oder? Mag sein, aber wieder für den Leser ein riesiger und bis zum (bitteren) Schluss äußerst mitreißender Spaß. Noch besser – und meines Erachtens eine der gelungensten Geschichten der Sammlung – ist „Manchmal kommen sie wieder“, in der ein High-School-Lehrer, der als Kind seinen Bruder an vier mörderische Jugendliche verloren hat, sich in der eigenen Klasse mit deren haargenauen Abbildern konfrontiert sieht. Und wieder beginnen die Morde und er muss sich den Albträumen seiner Vergangenheit stellen. Eine ganz starke Erzählung! Das gilt auch für „Erdbeerfrühling“, in der ein Serienmörder alle 7 bis 8 Jahre brutale Morde an der Universität begeht. Ein kurzer, aber äußerst gruseliger Horror-Trip, an dessen Ende eine gewisse Agatha Christie vielleicht ihre Freude gehabt hätte.

Freunde des „Hardboiled“ und „Noir“ dürften wiederum bei „Der Mauervorsprung“ bestens unterhalten werden, das vollkommen ohne übersinnliche Elemente auskommt. Das Gefahrenelement – ein nur wenige Zentimeter breiter Vorsprung im 43. Stockwerk eines Hochhauses. Die Art Lektüre, bei der man das Buch unwillkürlich fester packt – um es dann bei „Der Rasenmähermann“ am liebsten an die Seite zu legen. Selbst für King-Verhältnisse war mir dieses benzingetränkte Gebrumme dann doch eine Spur zu albern und zu grotesk. Ja, auch hier gibt es einen verborgenen Subplot, den man mit etwas Aufmerksamkeit entdecken kann. Das ändert aber nichts daran, das mir diese Geschichte nicht wirklich positiv in Erinnerung geblieben ist. Ganz anders verhält es sich dann wieder mit „Quitters, Inc.“, welche insbesondere den Rauchern unter den Lesern ans Herz gelegt sei. Ob die danach noch zur Zigarette greifen werden, darf aber immerhin bezweifelt werden. Grandiose Geschichte!

Bei „Ich weiß, was du brauchst“ vermischt King Voodoo mit einem Schuss Romantik – oder ist es doch andersherum – kann mich dabei aber nicht überzeugen. Voll in seinen Fängen hat er mich dann dafür wieder in „Kinder des Mais“, an dessen Verfilmung sich vielleicht mal N. Night Shyamalan versuchen sollte, der sich im Aufbau einer sich immer mehr anspannenden Atmosphäre ja trefflich auskennt. Diese atemlose, gehetzte Flucht durch scheinbar undurchdringliche Maisfelder wird mir jedenfalls noch lange in Erinnerung bleiben. Hier ist man wirklich traurig, das es so schnell vorbei ist.

Jede Sekunde und Zeile auskosten sollte man bei der Lektüre von „Die letzte Sprosse“, in der Stephen King seine meines Erachtens – mit großem Abstand – beste Leistung in der ganzen Sammlung abliefert. All diejenigen, die ihn immer, wider besseren Wissens, als Unterhaltungsautor müde belächeln, sollten sie lesen, um zu erkennen, welch begnadeter, aber auch einfühlsamer Schriftsteller er in Wirklichkeit ist. Ein trauriges, melancholisches, tief berührendes Juwel, nach dessen Beendigung es automatisch einer längeren Pause braucht, um die nächsten Geschichten in Angriff zu nehmen. Diese sind alle ebenfalls von guter bis sehr guter Qualität.

Zu einen auf den Weg“ habe ich mich ebenfalls schon bei „Brennen muss Salem“ geäußert. In „Der Mann, der Blumen liebte“ wird der Leser geschickt auf die falsche Fährte geführt. Und in „Die Frau im Zimmer“ verarbeitete Stephen King den Tod seiner eigenen Mutter und setzt sich zugleich mit dem Thema Sterbehilfe auseinander.

Wenn man so nach oben hochscrollt, erscheinen mir das ziemlich viele Worte für eine schon so alte Kurzgeschichten-Sammlung, welche die meisten King-Fans wohl ohnehin schon kennen werden und die jüngeren vielleicht gar nicht mehr lesen mögen. Letzteres wäre aber, und soviel sollte hoffentlich deutlich geworden sein, ein Fehler, denn bereits in diesen frühen Erzählungen läuft der Meister des Horror, trotz ein paar Durchhängern, zur Höchstform auf. Sein Talent für die Kurzform, es hat diese Würdigung und eine Wiederentdeckung sicher verdient.

Wertung: 87 von 100 Treffern

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  • Autor: Stephen King
  • Titel: Nachtschicht
  • Originaltitel: Night Shift
  • Übersetzer: verschiedene
  • Verlag: Lübbe
  • Erschienen: 10.2010
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 448 Seiten
  • ISBN: 978-3404131600

Zwischen Leben und Tod

© Goldmann

In der Zeit, als auf der Internetseite Krimi-Couch noch ein reger Austausch mit anderen Krimi-Freunden (und vor allem Krimi-Kennern) möglich und gewollt war, konnte ich mir nicht nur erstmals einen richtigen Eindruck von der Vielschichtigkeit dieses Genres machen, sondern durfte dank vieler Tipps und Ratschläge auch Autoren und Autorinnen für mich entdecken, über welche ich sonst wohl erst Jahre später – oder vielleicht auch gar nicht – gestolpert wäre.

Einer von ihnen ist der Brite Mark Billingham, dessen Lebensgeschichte auf den ersten Blick so gar nicht dem Typus des üblichen Schreiberlings von Spannungsliteratur entspricht. Vom Mitglied einer Theatergruppe, über die Schauspielerei bis hin zum erfolgreichen Stand-Up-Comedian – der inzwischen in London lebende Billingham scheint der Inbegriff der Experimentierfreudigkeit und so ist es dann auch vielleicht fast folgerichtig, dass er irgendwann auch zur Feder greifen musste. Doch kann ein Komiker wirklich Krimi? Und was darf man als Leser hier erwarten?

Als Alternative zu Ian Rankin und Harlan Coben empfohlen, nahm ich damals seinen Debütroman „Der Kuss des Sandmanns“ mit einem gewissen Maß Skepsis in Angriff, zumal ich zudem Zeitpunkt der Serienmörder-Thematik bereits mehr als überdrüssig war und daher alten Wein in neuen Schläuchen befürchtete. Letztlich eine gänzlich unbegründete Besorgnis, denn Billingham legt hier nicht nur einen äußerst gelungenen Start für seinen späteren Serienheld Inspektor Tom Thorne hin – er brilliert auch mit einer gänzlich einzigartigen „Stimme“, die sich wohltuend von der Konkurrenz abzuheben vermag. Und das obwohl Thorne, zumindest auf den ersten Blick, als etwas griesgrämiger Einzelgänger, ganz in den Fußspuren seiner literarischen Vorgänger (wie eben John Rebus oder Alan Banks) wandelt. Wer jedoch genauer hinschaut und der Reihe treu bleibt – was sich insbesondere bei den frühen Werken unbedingt lohnt – darf die Bekanntschaft mit einer ziemlich einzigartigen Person machen, in dessen Ausarbeitung der Autor unheimlich viel Sorgfalt und Liebe steckt und die sich bei ihrem ersten Auftritt mit einem äußerst merkwürdigen Fall konfrontiert sieht:

Detective Inspector Tom Thorne steht am Krankenbett von Alison Willett, dem letzten Opfer eines eiskalten Mörders, der die Sondereinheit der Londoner Polizei seit Wochen auf Trab hält. Seine Ziele, immer Frauen, tötet er stets durch einen gezielten Druck auf die Halsschlagader. Nur Alison hat seinen Angriff überlebt, dafür aber jegliche Beweglichkeit einbüßen müssen. Komplett gelähmt und aufgrund des so genannten „Locked-In-Syndroms“ auch nicht in der Lage sich zu artikulieren, ist sie nun eine Gefangene ihres eigenen Körpers – und ironischerweise Thornes eigene Zeugin. Während dieser sich gemeinsam mit seinem Kollegen Dave Holland in diesen schwierigen Fall stürzt und immer mehr Personen im Umfeld der Morde seinen Verdacht erregen, kommen ihm langsam Zweifel. Auf den ersten Blick sieht es zwar so aus, als hätte der Täter bei Alison seinen ersten Fehler gemacht – doch was wenn dem nicht so ist? Ist sie vielleicht gar die einzige, bei dem der Mörder sein Ziel erreicht hat? Will er seine Opfer in diesen Zustand zwischen Leben und Tod versetzen?

Bald erhält Thorne selbst Nachrichten vom Mörder und aus einer professionellen Ermittlung wird plötzlich eine persönliche Vendetta, als er glaubt, die Identität des Schuldigen enthüllt zu haben …

Gefangen im Wachkoma, ohne die Möglichkeit sich zu mitzuteilen? Eine wahrlich schaurige Vorstellung und äußerst beklemmende Ausgangslage, mit der uns Mark Billingham gleich zu Beginn konfrontiert, ja, fast überrumpelt, denn anstatt dem Leser erst Zeit zu geben, Tom Thorne etwas näher kennenzulernen, wird dieser direkt ins kalte Wasser geworfen. Das Spiel ist schon von Anfang an in vollem Gang, wir haben entsprechend Schritt zu halten, wobei sich das in erster Linie auf den Verlauf der Handlung bezieht, kommt doch „Der Kuss des Sandmanns“ im ersten Drittel vergleichsweise gemächlich daher, was schlichtweg der Tatsache geschuldet ist, dass Billingham die Introduktion seines Hauptprotagonisten nun genauso peu à peu nachliefern muss, wie die Hintergründe der bereits begangenen Morde. Dass er sich hierfür vergleichsweise viele Seiten gönnt, bevor er den roten Faden beim eigentlichen Status Quo wieder aufnimmt, dürfte Freunde des Pageturning sicherlich abschrecken. Nichtsdestotrotz ist es aber genau diese detailgenaue Schreibe, welche aus einem stereotypen Serienkiller-Schinken eine nachhaltig überzeugende Geschichte macht.

Im Mittelpunkt steht, neben den eingeschlossen kreisenden Gedanken von Alison Willett, fast durchgängig Detective Inspector Tom Thorne, was eine durchaus weise Entscheidung war, denn es ist gerade dessen rauer Charme, dessen berufliche Besessenheit, welche, neben der Frage nach dem Mörder, die größte Sogkraft entwickelt. Im Gegensatz zu vielen anderen Erstauftritten berühmter Ermittler gelingt Billingham hier vom Fleck weg eine durchweg glaubhafte, unheimlich interessante Figur, über die wir zwar schon viel erfahren, welche aber auch viele Andeutungen unvollendet und für weitere Bände offen lässt.

Während Thorne, eher kleingewachsen und stets für einen guten Country-Song zu haben, die terrierähnliche Arbeitsauffassung noch mit seinem Kollegen John Rebus teilt, so hebt er sich doch mit dem Rest seiner Persönlichkeit wieder erfrischend von diesem ab – das sei explizit betont, da Billingham und Rankin doch immer gerne miteinander verglichen werden. Soll heißen: Wer mit dem einen nicht kann, sollte den anderen nicht zwangsläufig für sich ausschließen. Wenn man zwischen den Autoren Parallelen ziehen will, darf man das wiederum aber gerne beim Schauplatz tun, denn so wie Rankins heimliche Hauptfigur in der Rebus-Serie die schottische Stadt Edinburgh ist, so verhält es sich bei Tom Thorne mit Nordlondon, von dem man ein äußerst detailliertes und facettenreiches Bild erhält, das Billingham wohltuend abseits der üblichen Touristen-Hotspots beleuchtet.

Alles schön und gut, wird mancher fragen, doch was ist mit der Spannung? Ehrlicherweise muss man konstatieren, dass dieser naturgemäße Wunsch der Krimi-Leser hier über weite Strecken nur wenig bedient wird – auch weil das Duell zwischen Thorne und dem Mörder immer wieder von Rückblicken (so wird zum Beispiel auch von einem wichtigen Fall aus Thornes Karriere berichtet) unterbrochen wird und Billingham – anders als Rankin in seinen Büchern – die Ermittlungen über zwei Monate andauern lässt, wodurch sich ein zeitlicher Druck, das Rätsel lösen zu müssen, lange nicht aufbauen kann. Bis „Der Kuss des Sandmanns“ unvermittelt dramaturgisch Tempo aufnimmt und sich die Ereignisse auf eine Art und Weise überschlagen, dass an das Weglegen des Buchs nicht mehr zu denken ist. Spätestens wenn die eigentlichen Motive des Mörders ans Licht kommen, ist man Teil dieser atemlosen Jagd, die dann die geordneten Pfade eines Police-Procedurals verlässt – die eigentliche Polizeiarbeit wird Billingham in kommenden Werken weit intensiver betonen – um stattdessen zum Vollblut-Thriller zu mutieren, der zwar nicht an jeder Stelle überraschen kann, aber durch einige intensive Momente (Alison!) in Erinnerung bleibt.

Der Kuss des Sandmanns“ ist ein beeindruckender Erstling, weil Mark Billingham aus dem Nichts kommend hier mit einer traumwandlerischer Sicherheit in der Skizzierung seiner Charaktere auftrumpft und dann nebenbei auch noch eine äußerst innovative Idee, anders als viele seiner amerikanischen Kollegen, unmittelbar und intensiv vermittelt, ohne das die Authentizität darunter leidet. Ein unheimlich lohnenswerter Start in eine lohnenswerte Reihe, deren Faden dankenswerter Weise der Atrium-Verlag bereits vor einiger Zeit wieder aufgenommen hat.

Wertung: 91 von 100 Treffern

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  • Autor: Mark Billingham
  • Titel: Der Kuss des Sandmanns
  • Originaltitel: Sleepyhead
  • Übersetzer: Helmut Splinter
  • Verlag: Goldmann
  • Erschienen: 10.2002
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 416 Seiten
  • ISBN: 978-3442452279

The truth is for those who seek it

© Heyne

„Als würden Caleb Carr und Frederick Forsyth aufeinandertreffen.“

So das Zitat von Lee Child, welches dick und fett auf der Rückseite der deutschen Ausgabe von Christopher Hydes „Die Weisheit des Todes“ aus dem Heyne Verlag prangt, um damit – branchenüblich – den bis dato hierzulande eher unbekannten kanadischen Autor einem größeren Publikum schmackhaft zu machen. Doch kann der Roman diesem Vergleich tatsächlich standhalten oder verbirgt sich auch hier hinter, wie so oft, nur der Versuch, ein lahmes literarisches Pferd zumindest zum humpeln zu bringen?

Bereit seit Jahren auf meinem überbordenden SUB dümpelnd, habe ich mir Hydes Werk nun endlich mal zu Gemüte geführt, um genau dieser Frage auf den Grund zu gehen, nur um abschließend mit Begeisterung feststellen zu dürfen – selten haben sich Reklame und Inhalt derart treffend gedeckt, wie bei „Die Weisheit des Todes“. Einem Buch, das sicherlich rückblickend zu meinen größten positiven Überraschungen der letzten Jahre gehören wird.

Da leider auch dieser Titel bereits seit Jahren nicht mehr lieferbar und aufgrund des geringeren Bekanntheitsgrad des Schriftstellers in Deutschland auch in naher Zukunft kaum mit einer Neuauflage zu rechnen ist, wird sich vielleicht manch einer fragen, welchen Sinn aktuell eine ausführliche Besprechung überhaupt macht. Wer allerdings schon länger zu den Besuchern dieses Blogs zählt, der weiß, dass Aktualität für mich kein Qualitätskriterium darstellt und es sich zudem in der Vergangenheit immer mal wieder ausgezahlt hat (Stichwort z.B. James Lee Burke), auch ältere Perlen aus dem Bereich der Kriminalliteratur ins Scheinwerferlicht etwaiger Leser, oder noch wichtiger, möglicher Verlagshäuser zu ziehen. Hyde hätte es mit Sicherheit verdient, denn wie er seine fiktive Handlung mit den realen Geschehnissen rund um das Attentat an John F. Kennedy verwebt – das kann sich wahrlich sehen und vor allem lesen lassen.

Besagte Handlung setzt zwei Tage vor dem Besuch des Präsidenten John F. Kennedy in Dallas an. Wir schreiben den 20. November 1963. Während die ganze texanische Stadt im Ausnahmezustand ist und insbesondere die Polizeikräfte fast gänzlich mit den Vorbereitungen der Sicherheitsmaßnahmen vorbereitet sind – Kennedys Auftritt in Chicago war zuvor bereits aufgrund von Gerüchten über ein mögliches Attentat abgesagt worden – hat Detective Sergeant Horatio „Ray“ Duval vom Dallas Police Department ganz andere Probleme: Zum einen ist da eine grausam verstümmelte männliche Leiche, welche in einem alten Kühlschrank auf der örtlichen Müllhalde gefunden wurde und der man offensichtlich post mortem Arme und Beine hat, nur um sie danach wieder mit Draht am Körper zu befestigen. Zum anderen ist da sein persönlicher Gesundheitszustand. Duval wurde erst kürzlich eine kongestive Herzkrankheit diagnostiziert, welche heute zwar therapierbar ist, Mitte der 60er Jahre aber nicht heilbar war und letztendlich das Todesurteil bedeutete. Er weiß nicht, wie lange er noch zu leben hat. Und zu allem Überfluss steht jetzt in der kommenden Woche auch der Fitnesscheck an. So oder so – Duval bleibt also nicht mehr viel Zeit.

Das Opfer, ein homosexueller (zum damaligen Zeitpunkt war diese sexuelle Ausrichtung noch strafbar) Antiquitätenhändler und Antiquar, der offensichtlich sein Geld vor allem durch illegale Transaktionen und Betrügereien verdiente, hatte nicht nur eine unübersichtliche Liste von Liebhabern, sondern in der Vergangenheit auch schon den ein oder anderen Geschäftspartner über den Tisch gezogen. Könnte es sich also um eine Tat aus Rache handeln? Duvals erste Ermittlungen führen alle in eine Sackgasse. Und überhaupt deuten die Umstände der Tat eher auf einen Ritualmord hin. Als er bei einem Besuch zuhause von seinem Vater erfährt, dass es in den 30er Jahren nahezu identische Fälle im Norden Texas gegeben hat, ist seine Neugier geweckt. Bei den Opfern hier handelte es sich jedoch fast durchgehend um zehn bis zwölfjährige Mädchen. Die meisten von ihnen waren schwarz.

Duval, der inzwischen ziemlich sicher ist, es mit einem Serienmörder zu tun zu haben, macht es nun zu seiner letzten Aufgabe, ihm das Handwerk zu legen. Eine beinahe aussichtslose Mission, sind doch alle vorhandenen Spuren inzwischen seit Jahren kalt. Zudem kann er nicht mit Unterstützung durch seine Behörde rechnen, denn auch im Texas der 60er Jahre interessiert sich niemand wirklich für das Schicksal von ein paar getöteten schwarzen Mädchen. Ganz im Gegenteil: Ein Großteil der Kollegen trägt in der Freizeit immer noch stolz die weiße Kapuze. Während drei Schüsse am Dealey Plaza John F. Kennedys Leben auslöschen und um ihn herum eine ganze Stadt in Aufruhr gerät, treibt Duval unerbittlich seine Nachforschungen voran. Ein Wettlauf mit dem Tod beginnt, im wahrsten Sinne des Wortes …

Ich bin ganz ehrlich: Ohne die Empfehlung meines ehemaligen Krimi-Couch-Kollegen Jürgen Priester wäre wohl dieser Titel schon aus mehreren Gründen nicht in meinem Regal gelandet. Neben dem absolut gruseligen Cover, das wohl eher Freunde von Tom Clancy ansprechen dürfte, sind es eben genau die obige Kurzbeschreibung wie auch der Prolog des Buches, welche vor allem eine Sache erwarten lassen – mehr vom ewig blutigen Gleichen. Ein brutaler Psychopath von Serienmörder, der seine Opfer ritualisiert anordnet und nur als „das Monster“ bezeichnet wird – das klingt nicht wirklich nach höchster, literarischer Krimi-Kunst oder einem Werk, das in irgendeiner Art und Weise das Genre bereichern könnte. Nach der Lektüre von „Die Weisheit des Todes“ bleiben mir jedoch nur zwei Dinge zu sagen: So kann man sich irren. Und gut, dass ich Jürgens Empfehlung gefolgt bin. Christopher Hyde, der seit Jahren unter vielen verschiedenen Namen seine Bücher unter das vor allem US-amerikanische Volk bringt, ist mit diesem lupenreinen Thriller ein Riesenwurf gelungen, der mir nebenbei bemerkt auch gleich aus einer Vielzahl von Gründen noch lange im Gedächtnis bleiben wird.

Zuallererst ist da das Setting zu nennen: Hyde gelingt es hervorragend die Stimmung des Dallas der 60er Jahre einzufangen, seinen Blick über die Stadt schweifen zu lassen, welche, vor allem von der Öl- und Baumwollindustrie geprägt, zu diesem Zeitpunkt auch das drittgrößte Technologiezentrum der Vereinigten Staaten war. Die Bevölkerung hatte sich zwischen den 50er und 60er Jahre mehr als verdoppelt – und mit dem Geld kam naturgemäß vermehrt auch Korruption und die organisierte Kriminalität in die Metropole. In „Die Weisheit des Todes“ vor allem zusammengeführt durch die historische Figur Jack Ruby, Sohn polnisch-jüdischer Einwanderer und Nachtclub- und Stripteaselokalbesitzer, der stets enge Verbindungen zu lokalen Mobstern pflegte und als Mörder des Kennedy-Attentäters Lee Harvey Oswald in die Geschichte gegangen ist.

Er spielt nicht nur eine wesentliche Rolle bei Duvals Ermittlungen, sondern ist auch ein Beispiel fürs Hydes Geschick, das reale Dallas mit der fiktiven Handlung zu verbinden, welche immer wieder die geschichtlichen Ereignisse kreuzt (daher der passende Forsyth-Vergleich) und den Cop u.a. Zeuge werden lässt, wenn man John F. Kennedy, zu diesem Zeitpunkt bereits tot, unter dem Schutz des Secret Service und gemeinsam mit einer völlig verstörten Jackie Kennedy ins Parkland Memorial Hospital einliefert. Nur eine von vielen Szenen, die nachhaltig Eindruck hinterlässt und in seiner plastischen Schilderung beileibe nichts für Zartbesaitete ist.

Hyde sucht diese Schockeffekte aber nicht, sondern macht immer wieder deutlich, dass wir uns im Raum dessen bewegen, was laut Zeugenaussagen von den damaligen Geschehnissen überliefert ist. Allein diese Erkenntnis reicht, um die Wirkung seiner Worte auf uns, den Leser, nochmal zu verstärken. Selbiges gilt übrigens auch für die Mordserie selbst, welche es tatsächlich ebenfalls gegeben hat und die bis heute unaufgeklärt ist. Hier nimmt sich der Autor die künstlerische Freiheit für einen anderen Ausgang, doch bis wir dorthin gelangen, ist es vielleicht für manchen ein langer Weg, denn polizeiliche Untersuchungen müssen in dieser Ära noch ohne den modernen CSI-Schnickschnack auskommen.

So nimmt Hyde sich viel Zeit, um Ray Duval und sein Umfeld zu zeichnen. Zeit, die aber gut investiert ist, denn mir ist schon lange nicht mehr ein so authentischer Ermittler in einem Spannungsroman begegnet. Auch weil es zur Abwechslung mal einen nachvollziehbaren Grund für die zynische Menschenfeindlichkeit des Protagonisten gibt, der sich inmitten seiner rassistischen Kollegen und aufgrund seines unvermeidlichen Schicksals einfach irgendwann einen Scheißdreck dafür interessiert, was andere von ihm denken. Er hat schlicht nichts mehr zu verlieren. Und es ist auch dieser zunehmende Fatalismus, gepaart mit einen zunehmenden inneren Frieden, der ab der Hälfte das Spannungsmoment befeuert – und, soviel sei verraten, in einem klaustrophobischen, düsteren Finale mündet, das sich in seiner gewaltsamen Konsequenz nicht hinter Caleb Carrs „Die Einkreisung“ verstecken muss.

Mit „Die Weisheit des Todes“ hat Christopher Hyde einen nachtschwarzen Hardboiled-Thriller abgeliefert, der dem durchgekauten, faden Serienkiller-Thema endlich wieder ein paar neue Impulse verleiht und nebenbei noch eines der wichtigsten Ereignisse in der US-amerikanischen Geschichte behandelt, ohne sich in simplen Voyeurismus zu verlieren oder dadurch die eigentliche Handlung zu überladen. Ein sprachlich, inhaltlich und auch im Spannungsaufbau hoch zu lobendes Werk, nach dem sich eine antiquarische Suche mal so wirklich lohnt.

Wertung: 92 von 100 Treffern

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  • Autor: Christopher Hyde
  • Titel: Die Weisheit des Todes
  • Originaltitel: Wisdom of the Bones
  • Übersetzer: Helmut Gerstberger
  • Verlag: Heyne
  • Erschienen: 06/2009
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 448 Seiten
  • ISBN: 978-3453431010

Schwarzes Gold und schwarze Seelen

© Goldmann

Ende Dezember 1996. Nach sechs Jahren in Frankreich kehrte Ian Rankin mit seiner Familie wieder nach Edinburgh zurück und zog in ein angemietetes Haus, dessen Besitzer den größten Teil des Jahres in London lebten, es allerdings über Weihnachten selbst brauchten. Um das Fest der Liebe nicht unter freiem Himmel verbringen zu müssen, kamen die Rankins über die Feiertage bei der Verwandtschaft in Belfast und Lincolnshire, später bei Freunden in der Nähe von York unter. Und genau hier las der Autor in der „Times“ die Vorankündigung einer Buchbesprechung, welche in etwa wie folgt lautete: „Der beste Krimi des Jahres 1997 ist bereits erschienen – nächste Woche verraten wir, wie er heißt!“

Rankins damals neuestes Buch, „Das Souvenir des Mörders“ (engl. „Black and Blue“), sollte Ende Januar ausgeliefert werden. Intensives Daumendrücken begann, welches letztlich belohnt wurde: Der achte Roman um Inspector John Rebus wurde tatsächlich von der „Times“ gekürt und im folgenden November gar als bester Krimi des Jahres 1997 mit dem „Gold Dagger Award“ ausgezeichnet. Darauf folgte die Nominierung für den Edgar Allan Poe-Award, welcher jedoch am Ende an James Lee Burke ging. Doch ein Stein war ins Rollen gebracht, Rankins Name schlagartig auch über die Grenzen Großbritanniens bekannt geworden, was im Nachhinein die Frage aufwirft, was zum Teufel an „Black and Blue“ so anders war als an den früheren Büchern des schottischen Autors? Ein Blick auf den Umfang des Buches und in die Kurzbeschreibung der Handlung lassen da bereits einige Rückschlüsse zu:

Für Detective Inspector John Rebus kommt es wieder mal dicke. Nach seinen letzten Alleingängen, bei denen er auch einigen hohen Herren auf die Zehen getreten hat, ist der schroffe Einzelgänger vom „heimatlichen“ Revier St. Leonard’s nach Craigmillar versetzt worden, welches die hier tätigen Beamten nur „Fort Apache“ nennen. Ein Abstellgleis für unbequeme Cops wie Rebus, der zwischen all den Problemfällen entweder weitestgehend gemieden oder mit Häme überschüttet wird. Und als ob das noch nicht genug wäre, steht die Presse tagein tagaus vor seinem Haus, um ihn mit einem alten Fall aus dem Jahr 1977 zu konfrontieren. Damals, Rebus war noch Constable unter seinem Vorgesetzten Detective Inspector Lawson Geddes, war er an der Festnahme von Leonard Spaven beteiligt, der später, als Mörder verurteilt, im Gefängnis eine Schriftstellerkarriere hingelegt und eines Tages schließlich Suizid begangen hat. Bis zu seinem Tod beteuerte er seine Unschuld. Und mehr noch: Er klagte Geddes und Rebus an, ihn in eine Falle gelockt zu haben. Nachdem nun auch Geddes per Selbstmord aus dem Leben geschieden ist, soll nun Letzterer vor der Kamera Stellung nehmen. Ist der Tod seines ehemaligen Vorgesetzten ein Schuldeingeständnis? Hatte Geddes, besessen von der Vorstellung Spaven zu überführen, Beweise gefälscht?

Rebus, der in der Vergangenheit bereits Zweifel hatte, verweigert jegliche Aussage und setzt insgeheim seinen Kollegen Detective Sergeant Brian Holmes auf den alten Fall an, um diesen aufzurollen und endlich Klarheit zu gewinnen. Er selbst hat alle Hände mit einem aktuellen Mord zu tun.

Ein Erdölarbeiter ist gefesselt aus einem hoch gelegenen Fenster gestürzt und die Spuren am Tatort lassen die Mittäterschaft von Andrew „Tony El“ Kane vermuten. Ein sadistischer, unberechenbarer Schläger, der bisher für Joseph „Uncle Joe“ Toal, die Nummer eins der Gangsterbosse in Glasgow, gearbeitet hat. Will dieser jetzt seine „Geschäfte“ nach Edinburgh ausweiten? Rebus beißt in den sauren Apfel und nimmt Kontakt zum Gangster „Big Ger“ Cafferty auf – sein alter, endlich hinter Schloss und Riegel sitzender Erzfeind, der ihm tatsächlich zu einem Treffen mit „Uncle Joe“ verhilft. Der streitet jedoch jede Kenntnis von dem Mord an dem Erdölarbeiter ab. Mehr noch: Tony El soll angeblich inzwischen selbstständig und in Aberdeen arbeiten. Für Rebus die Gelegenheit zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: Seinem herrischen Vorgesetzten Ancram gen Norden zu entfliehen und nebenbei seine eigene kleine Privatermittlung voranzutreiben, denn wie früher bei Geddes, so ist auch für ihn ein ungelöster Fall zu seiner persönlichen Muße geworden:

Seit einiger Zeit treibt ein Bibel zitierender Serienmörder namens „Johnny Bible“ sein Unwesen in Schottland. Sein Tatmuster: Frauen auflauern, sie vergewaltigen und anschließend erdrosseln. Eines der Opfer war John Rebus bekannt. Doch was noch merkwürdiger ist: Bereits Ende der 1960er Jahre hat es schon einmal einen Mehrfachkiller gegeben, der drei Opfer in Glasgow auf identische Art und Weise umbrachte. Die Presse nannte ihn damals „Bible John“. Ist dieser nun nach all den Jahren wieder aktiv geworden? Oder hat er einen Nachfolger gefunden? Und wenn ja und der echte „Bible John“ noch lebt – wie wird er auf diesen Nachahmer reagieren? Für den Lowländer Rebus werden die Nachforschungen in den Highlands des Nordostens zu einem Wettrennen gegen die Zeit …

Edinburgh. Glasgow. Aberdeen. Die Shetland-Inseln. Eine Bohrinsel hunderte von Meilen draußen in der rauen Nordsee – mit „Das Souvenir des Mörders“ setzt Ian Rankin den bereits in „Ein eisiger Tod“ begonnenen Trend fort und erweitert den Aktionsradius seines Detectives um ein vielfaches. Und nicht nur hinsichtlich der Schauplätze stößt Rankin mit seiner Rebus-Saga in neue Dimensionen vor. Auch die Art und Weise wie der Schriftsteller die verschiedenen Handlungsstränge miteinander verknüpft und entwickelt, das Blickfeld seines Ermittlers erweitert, macht deutlich, dass die Lehrzeit endgültig abgeschlossen und der Ton für künftige Romane gefunden ist. Beschränkten sich die ersten Bände noch im klassischen Muster auf einen einzigen zentralen Kriminalfall, den es zu lösen galt, sind die Grenzen zwischen Gut und Böse in „Das Souvenir des Mörders“ nun aufgelöst oder verschwommen. Den einen Mörder, ihn gibt es so nicht mehr. Stattdessen hat sich die Welt, hat sich das Verbrechen globalisiert, ist weit weniger greifbarer geworden. Da arbeitet die Politik Hand in Hand mit den Großkonzernen, schmieren gut organisierte Banden einen korrupten Justizapparat, lässt sich die Presse vor den Karren ihrer freigiebigen Gönner aus der High Society spannen. Und mittendrin John Rebus, der hier nochmal an Statur gewinnt, weil sein Ruf, seine berufliche Zukunft und letztlich sogar sein Leben vom Autor aufs Spiel gesetzt werden.

Ein Kniff, mit dem Ian Rankin der Serie nicht nur neues Leben einhaucht und den negativen Begleiterscheinungen der Routine entgegenwirkt, sondern auch gleichzeitig den epischen Charakter seiner Romane unterstreicht, welche sich, ganz im Stil des großen Vorbilds James Ellroy, nunmehr eher wie eine schottische Chronik denn wie klassische Krimis lesen. Natürlich ist mit dieser Ausrichtung auch eine gewisse Gefahr verbunden, da vielleicht eben gerade Liebhaber des typischen britischen Spannungsromans den zentralen roten Faden vermissen, über die vielen Querverbindungen stolpern oder die flachere Kurve des Spannungsbogens bemängeln. In meinen Augen übertreffen die Vorteile dieser Entscheidung aber bei weitem die Nachteile – auch weil uns Ian Rankin trotz anderer Herangehensweise die elementaren Zutaten nicht vorenthält und seine Handlung mit vielen überraschenden Wendungen spickt, ohne sich dabei künstlicher Effekte bedienen zu müssen.

Im Gegenteil: Reales Tagesgeschehen und fiktive Geschichte werden in genau der richtigen Dosierung vermischt und sorgen im Verbund mit der ökonomischen Schreibweise für den gewohnt authentischen Grundanstrich. Wo andere Krimi-Schriftsteller in jedem ihrer Bücher neue Kaninchen aus dem Hut zaubern müssen, da legt Ian Rankin Wert auf Konstanz. Figuren wie Jack Morton, Brian Holmes, Gill Templer oder Siobhan Clarke sind mehr als nur Füllmaterial – ihre Biographien werden sorgsam gepflegt und ebenso sorgfältig erweitert, wodurch aus einer schlichten Besetzung vertraute Personen werden, an deren Schicksal man ebenso Anteil nehmen kann, wie an dem des Hauptprotagonisten.

Wenngleich eine solche Verwendung des Stammpersonals im Krimi-Kreisen nicht gänzlich unüblich ist (siehe z.B. Michael Connelly), so ist ein anderer Trick Rankins jedoch umso gewagter: Mit Bible John gibt erstmals eine real-existierende Figur, und dann auch noch ein bis heute nicht gefasster Serienmörder, ihr Stelldichein in der Serie, deren Beschreibung sich, von der fiktiven Identität mal abgesehen, eins zu eins mit dem echten Vorbild deckt. Dieses hat tatsächlich zwischen Februar 1968 und Oktober 1969 drei Frauen getötet, um danach von der Bildfläche zu verschwinden. All diese Elemente heben „Das Souvenir des Mörders“ zwar von seinen Vorgängern ab, begründen aber meiner Meinung nach letztlich nicht den Erfolg dieses Kriminalromans, dem ohne eine letzte fehlende Zutat wohl möglich weniger Aufmerksamkeit zuteil geworden wäre. Und diese Zutat lautet „Wut“.

Rankins Sohn Kit war im Juli 1994 auf die Welt gekommen und in den kommenden Monaten darauf schwer krank geworden. Längere Autofahrten zur Kinderklinik nach Bordeaux wurden zur Regel, der Autor aufgrund der schleppenden Genesung seines Sohns zunehmend ungeduldiger. Hinzu kam sein schlechtes Französisch, mit dem er sich bei den Ärzten schlecht verständlich machen konnte, weshalb er oft mit mehr als Fragen als Antworten von diesen Fahrten zurückkam. Rankin zog sich auf den Dachboden des alten Bauernhauses zurück, der außer einem Computer, ein paar Stadtplänen und Fotos von Edinburgh komplett leer war – und plötzlich hatte er wieder die Kontrolle, wenn auch nur über ein fiktives Universum. Hier konnte er Gott spielen. Hier beherrschte er die Sprache. Und er benutzte Rebus als Sandsack, ließ physische und psychische Schläge auf ihn einhämmern. In Folge dessen wurde „Das Souvenir des Mörders“ sein bis hierhin dunkelster und härtester Roman. Der achte Auftritt von John Rebus – er war Ian Rankins persönliches Ventil.

Rankins Gefühle finden ihren Widerhall in John Rebus‘ Welt, der angezählt Treffer kassiert, einen K.O. wegsteckt, um sich dann doch wieder wie ein lästiger Terrier in die Arbeit zu stürzen und dort Resultate erzielt, wo andere längst aufgegeben hätten. Es ist diese Menschlichkeit, diese Mischung aus innerer Verletzlichkeit und schottischem Starrsinn, welche die üblichen Barrikaden zwischen Leser und Geschichte überwindet und das Gelesene so nachhaltig auf uns wirken lässt.

Das Souvenir des Mörders“ ist Ian Rankins bis hierhin bester und in allen Belangen größter Roman – ein schulmeisterliches Beispiel, wie eine schlüssige und packende Krimi-Lektüre auszusehen hat. Fernab jeglicher „Highlander“-Romantik. Schroff. Kantig. Zynisch. Menschlich. Tragisch. Traurig. Schon vorher, aber jetzt endgültig: Rankin ist eine Klasse für sich!

Wertung: 93 von 100 Treffern

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  • Autor: Ian Rankin
  • Titel: Das Souvenir des Mörders
  • Originaltitel: Black and Blue
  • Übersetzer: Giovanni Bandini, Ditte Bandini
  • Verlag: Goldmann
  • Erschienen: 05.2005
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 608 Seiten
  • ISBN: 978-3442446049

Dead before dying

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© Aufbau

Seit über dreizehn Jahren wird der südafrikanische Schriftsteller Deon Meyer nun hierzulande bereits veröffentlicht – und rückblickend betrachtet muss man dies als eine absolute Erfolgsgeschichte bezeichnen, hat er doch nicht nur unheimlich viele Leser in Deutschland für sich gewonnen, sondern auch gleichzeitig dafür gesorgt, dass Kriminalromane aus der „Regenbogennation“ inzwischen vom heimischen Buchmarkt nicht mehr wegzudenken sind bzw. nicht mehr nur als Exot, sondern als etablierter Schauplatz wahrgenommen werden.

Ein großes Verdienst, welches wiederum der Qualität dieses Autors geschuldet ist, der – anfänglich noch vom Aufbau-Verlag als „südafrikanischer Mankell“ plakatiert – den Vergleich mit den ganz Großen des Genres mitnichten zu scheuen braucht. Ganz im Gegenteil: Insbesondere die Gegenüberstellung mit dem Erfinder von Kurt Wallander hinkt, da meines Erachtens Meyer weit facettenreicher und wandlungsfähiger daherkommt, als der sicherlich Maßstäbe setzende, aber irgendwann auch viel zu schwermütige und zähflüssig schreibende Schwede. Eine Meinung, über die sich streiten lässt und die sicherlich nicht jedermann teilt, welche aber das Kaliber des vorliegenden Autors unterstreichen soll, der mir, bei allem Erfolg, in Leserkreisen immer noch zu sehr unter dem Radar segelt. Ein Umstand, den diese Besprechung ja vielleicht zumindest in geringem Maße ändern kann, wenngleich sie eine Überarbeitung bedurfte, da ich – zehn Jahre nach meiner ersten Lektüre des Buches – mit den damals angelegten Maßstäben sowie der letztlichen Ausarbeitung nur bedingt zufrieden war. Insofern: Auf ein Neues, bei diesem inzwischen doch etwas älteren Titel, endete doch die Apartheid gerade mal zwei Jahre vor der Erstveröffentlichung von „Der traurige Polizist“. Ein Ende der Apartheid, das jedoch nicht das Ende von Rassismus und Ungerechtigkeit implizierte, was sich auch im Plot widerspiegelt, welcher hier kurz angerissen sei:

Mat Joubert, Captain bei der Mordkommission der South African Police, ist nur noch ein Schatten seiner selbst. Der Tod seiner Ehefrau vor gut zwei Jahren – sie starb als Drogenfahnderin in einem Undercover-Einsatz – hat ihn völlig aus der Bahn geworfen, seinen Elan erstickt und droht ihn nun auch beruflich zu erledigen, da seine Leistungen im Dienst zunehmend unter den Depressionen leiden. Gedanken an Selbstmord kommen ihm und konkretisieren sich, als er einen Kollegen im Einsatz gefährdet und eine Abmahnung erhält. Soll er dem Ganzen ein Ende bereiten? Bevor er sich zu einer Entscheidung durchringen kann, kommt es zu einem Wechsel an der Spitze der Mordkommission in Kapstadt. Mit Colonel Bart de Wit bekleidet nun ein Schwarzer den Posten des Abteilungsleiters. Als Protegé der ANC hat er, trotz fehlender Erfahrung in praktischer Polizeiarbeit, jegliche Freiheiten und nutzt diese von Beginn an, um in seinen Augen für Gleichheit in der Truppe zu sorgen. So wird allen Detectives ein spezielles Trainingsprogramm für mehr körperliche Fitness verordnet. Joubert, mit mittlerweile miserabler Aufklärungsquote, Raucherlunge und Übergewicht, ist ihm besonders ein Dorn im Auge. Er wird auf strikte Diät gesetzt und zu der Polizeipsychologin Hanna Nortier geschickt.

Während er sich nur langsam aus seinem seelischen Loch herausarbeitet und überdies noch Gefühle für Hanna Nortier zu entwickeln beginnt, versetzt eine mysteriöse Mordserie ganz Kapstadt in Aufregung. Die Mordwaffe: Eine deutsche Mauser aus dem 19. Jahrhundert. Die Opfer: Auf den ersten Blick nicht miteinander in Verbindung zu bringen. Die Ausführung: Eiskalte Hinrichtung. Ausgerechnet Joubert wird nun mit der Leitung der Ermittlung betraut. Für ihn die letzte Chance als Cop und als Mensch einen Neuanfang zu schaffen …

Deon Meyers zweiter Roman (Sein Erstling „Wie Met Vuur Speel“ ist bis dato noch unübersetzt) „Der traurige Polizist“ erschien – wie alle seine Werke – zuerst in Afrikaans, unter dem Namen „Feniks“, um anschließend ins Englische (hier lautet der Titel „Dead before Dying“) und von dort wiederum ins Deutsche übersetzt zu werden. Ein durchaus ungewöhnlicher Vorgang, welcher aber wohl nicht zum Schaden des Buches war, wirkt doch die vorliegende Übersetzung trotz der doppelten Übertragung mehr als stimmig und scheint kein bisschen der originalen Essenz verloren zu haben. Und diese ist vielleicht nicht das, was man angesichts der obigen Kurzbeschreibung erwarten würde, denn trotz der mittlerweile endgültig zu Tode gerittenen Serienmörder-Thematik hat dieses Werk aber mal so gar nichts mit den 0815-Thrillern der Neuzeit gemein.

Während die Konkurrenz nichts unversucht lässt, um sich gegenseitig mit immer perfideren Mordmethoden und noch kränkeren Soziopathen zu übertreffen, bleibt Meyer mit beiden literarischen Beinen ganz fest auf dem Boden. So sehr Matt Joubert auf den ersten Blick all den anderen von Verlusten getroffenen, depressiven Ermittlern auch ähnelt – Deon Meyer verwehrt sich hier jeglicher künstliche Ausschmückungen, nimmt sich viel Zeit für seinen Protagonisten und schildert dessen Situation rundweg glaubhaft. Und diese ist vor allem zu Beginn des Buches äußerst verzweifelt, so dass sich relativ schnell ein enger Bezug zu Joubert herstellt, was insofern erstaunt, da er eigentlich nicht allzu viele sympathische Züge mit sich bringt.

Gekennzeichnet vom Verlust seiner Frau pflegt er die Verwahrlosung seiner eigenen Person mit genauso viel Hingabe, wie das Selbstmitleid, was nicht nur auf Seiten seines neuen Vorgesetzten Bart de Wit Zweifel aufkommen lässt, ob er für den Polizeidienst überhaupt noch taugt. Joubert ist gebrochen, zurechtgestutzt, am Boden. Und doch ist da auch irgendetwas zwischen all dem Schmerz, das uns hinschauen lässt, das den Leser bannt – inmitten all der Dunkelheit, denn „Der traurige Polizist“ kultiviert – wie der Name schon vermuten lässt – eine äußerst gedrückte und düstere, ja manchmal beinahe noireske Stimmung, welche wiederum nur dann überrascht, wenn man nicht weiß, dass Deon Meyer u.a. John D. MacDonald zu seinen großen Vorbildern zählt. MacDonald gehörte zu den Spannungsautoren, welche Anfang der 70er den Hardboiled in eine neue Ära führten. Weg von Fedora, Trenchcoat und dem getriebenen Private-Eye, hin zu Romanen, die mehr „plot driven“ waren und weit komplexere Figuren beinhalteten. Meyer greift diesen Faden auf, legt wie MacDonald unheimlich viel Wert auf die Dreidimensionalität der Charaktere und versucht – wie dieser mit dem vom Vietnam-Krieg verunsicherten Amerika der damaligen Zeit – das Südafrika nach Ende der Apartheid gesellschaftskritisch zu erfassen.

Sprachlich ist das – ebenfalls wie bei MacDonald – ein absolutes Vergnügen für den Leser, den Deon Meyer mit unvergleichlicher Stimme in seine Geschichte zieht. Und das mit einer Beiläufigkeit, welche angesichts der Tatsache, dass es sich hier erst um sein zweites Buch handelt, umso mehr beeindruckt. Meyer beherrscht das Handwerk – wohlgemerkt ohne stilistisch große Experimente wagen. Oder besser wagen zu müssen, denn „Der traurige Polizist“ liest sich auch ohne Staffage und Schnörkel wie aus einem Guss. Auch weil der Plot Seite um Seite mehr Atmosphäre und vor allem Südafrika atmet, funktioniert der Roman doch nur deshalb so gut, eben weil er in Kapstadt angesiedelt und würde – an einen anderen Schauplatz verlegt – ein Gros seiner Intensität verlieren. Diese reißt im Verlauf der Lektüre jegliche Barrieren zwischen Leser und Buch nieder, und entlädt sich in einem verstörenden Finale, welches schwer schlucken lässt und wohl nur ganz eiskalte Herzen nicht berührt. Meyers Feingefühl für die richtige und doch auch folgerichtige Auflösung – es kann gar nicht hoch genug gelobt werden.

Die Bewerbung von „Der traurige Polizist“ als simpler Thriller – das ist Understatement pur, denn dieses Werk ist soviel mehr als das. Ein filigraner und doch auch mitunter brachialer, gefühlvoller und eiskalter Police Procedural, der die Veränderungen im neuen Südafrika aufs Trefflichste abbildet und gleichzeitig im Segment der anspruchsvollen Spannungsliteratur neue, tiefe Fußspuren hinterlassen hat. Und für alle, die Deon Meyer bereits kennen: Ja, auch dieses Frühwerk ist unbedingt lesenswert – und das nicht nur, weil die spätere Serienfigur Bennie Griessel hier ihren ersten kleineren (und doch auch für die Geschichte wichtigen) Auftritt hat.

Wertung: 93 von 100 Treffern

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  • Autor: Deon Meyer
  • Titel: Der traurige Polizist
  • Originaltitel: afrikaans: Feniks / englisch: Dead before Dying
  • Übersetzer: Ulrich Hoffmann
  • Verlag: Aufbau
  • Erschienen: 04/2014
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 452 Seiten
  • ISBN: 978-3746630502

Wer hat Angst vorm bösen Wolf?

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© Goldmann

Am dritten Teil der Reihe um den Edinburgher Detective Inspector John Rebus werden sich wohl die Geister der Fans dieser Serie scheiden, denn zum ersten und einzigen Mal verschlägt es den eigenwilligen Ermittler nach London. Ein Handlungsort den manch einer – auch aufgrund der Verwurzelung von Rebus in Edinburgh – unpassend finden könnte, doch in der Vergangenheit des Autors finden wir die Gründe für diese Wahl.

Ian Rankin, der während des Schreibens selbst noch eine zeitlang in der Hauptstadt, genauer gesagt in Tottenham gewohnt hat und dort wenig glücklich war, verarbeitet in „Wolfsmale“ (engl. „Tooth & Nail„) seine Erlebnisse mit dem krassen Materialismus der Thatcher-Ära und geht dabei auch näher auf das schwierige Verhältnis zwischen Schotten und Engländern ein. Die dicht unter der Oberfläche lauernden Ressentiments dürfen hier beide Seiten ausleben, was nicht nur zur Dramatik der Handlung entscheidend beiträgt, sondern den Roman auch zu einem der amüsantesten Vertreter der Reihe macht. Die Story setzt einige Zeit nach dem letzten Roman „Das zweite Zeichen“ ein:

John Rebus hat sich mal wieder in die Nesseln gesetzt und im nicht ganz ausgenüchterten Zustand seinen Chef mit dessen ungeliebten Spitznamen konfrontiert. Die „Strafe“ dafür folgt auf den Fuß, denn Chief Superintendent „Farmer“ Watson schickt seinen DI nach London, wo er die Ermittlungen in einer mysteriösen Mordserie unterstützen soll. Und der Yard hatte zwar auch einen Experten angefordert, aber nicht unbedingt mit dem Erscheinen dieses „Jocks“ aus dem wilden Norden gerechnet, dessen Sprache sie kaum verstehen und der sich auch gleich wenig Freunde unter den Londoner Polizisten macht. Dem Einzelkämpfer Rebus schlägt allerorten herablassender Argwohn und Verachtung entgegen, was dieser wiederum mit stoischer Gelassenheit und geistigen Bemerkungen kommentiert. Allein im Leiter der Ermittlungen, dem pragmatischen George Flight, findet er einen Verbündeten. Gemeinsam nehmen sie die Spur des so genannten „Wolfsmannes“ auf, der immer brutaler vorzugehen scheint und Rebus nur wenig Zeit lässt, sich in der ungewohnten Umgebung zurechtzufinden. Als die Abstände zwischen den Morde kürzer werden, überschlagen sich für Rebus auch privat bald die Ereignisse…

Auch wenn Rankin, meiner Meinung nach unnötigerweise, auf den Zug der Serienmörderplots aufspringt – der Autor hatte zum damaligen Zeitpunkt gerade Thomas Harris‘ Hannibal-Lector-Reihe für sich entdeckt –  der Schreibstil bleibt einzigartig und kann auch diesmal aufs Beste unterhalten. War der Vorgänger noch durch seine Düsternis gezeichnet, ist es hier besonders der treffende Humor, der ins Auge fällt und das London, das durchaus nicht von seiner schönsten Seite gezeigt wird, zur Bühne des zwar knurrigen, aber nicht charmelosen Inspektors macht. Über die herrlichen Wortgefechte von Engländern und Schotten gerät der eigentliche Krimifall fast in den Hintergrund, der auch diesmal zugegebenermaßen nicht ganz so überzeugen kann. Der Wolfsmann bleibt etwas blass und das Element der Bedrohung und Gefahr vermag uns Leser nicht ganz zu erreichen.

Das fällt jedoch kaum ins Gewicht, da Rankin in punkto Charakterzeichnung erneut eine Meisterleistung abliefert und die bereits lieb gewonnenen Edinburgher Kollegen durch ebenso interessante Londoner Vertreter ersetzt. Auch Rebus beginnt eine neue Affäre, diesmal mit einer Psychologin, während er sich gleichzeitig mit seiner Ex-Frau und der pubertierenden Tochter auseinandersetzen muss (Es ist übrigens das erste und letzte Mal, dass Rankin eine Sexszene im Detail näher schildert, was er später, auch auf Anraten seines Agenten, der Fantasie des Lesers überließ). Der Autor fügt dies alles zu einem in sich stimmigen Plot zusammen, welcher uns über die Identität des Mörders stets im Unklaren lässt und dessen Auflösung mich zu überraschen wusste. Was das Buch am Anfang an Längen zuviel hat, fehlt dann leider etwas gegen Ende, das Rankin etwas überhastet, aber dafür umso actionreicher (Stichwort: Verfolgungsjagd) auf Papier bringt.

Wolfsmale“ ist wie seine Vorgänger ein absolut kurzweiliger, unterhaltsamer Krimi-Thriller-Mischling, dem man die Lehrjahre des Schreibers zwar noch weiterhin anmerkt, welcher aber erneut das gewisse Etwas mitbringt und mich – vor allem auch durch die Marotten des John Rebus – endgültig zu einem glühenden Anhänger dieses schottischen Autoren bekehrt hat.

Übrigens: „Wolfsmale“ ist auch wegen dem ersten kleinen Auftritt von Morris Gerald Cafferty alias „Big Ger“ denkwürdig. Eine Figur, die im weiteren Verlauf noch eine sehr wichtige Rolle als Rebus‘ ganz persönlicher Moriarty zu spielen hat.

Wertung: 90 von 100 Treffern

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  • Autor: Ian Rankin
  • Titel: Wolfsmale
  • Originaltitel: Tooth & Nail
  • Übersetzer: Ellen Schlootz
  • Verlag: Goldmann
  • Erschienen: 07.2001
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 320 Seiten
  • ISBN: 978-3442446094

The Road to Dark Hollow

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© Ullstein

Mehr als acht Jahre ist die Lektüre von „Das dunkle Vermächtnis“ nun her und dennoch hat sie sich als Erlebnis äußerst hartnäckig in meiner Erinnerung festgesetzt, was vor allem daran liegt, dass ich bis dato nichts vergleichbar düsteres gelesen hatte. Oder um es anders zu sagen: Mitte der 2000er Jahre war John Connolly mein Thomas Harris, mein ganz persönlicher Abstieg in die Tiefen der seelischen und menschlichen Finsternis, mein „First Encounter“ mit der schonungslosen Brutalität des ursprünglichen Bösen.

Schon der Auftakt der „Charlie-Parker“-Reihe deutete das enorme Potenzial des irischen Autors an – mit diesem zweiten Band schreibt er sich meines Erachtens endgültig in die erste Liga der „Thriller“-Prominenz. Und auch wenn viele weitere Romane in der Zeit nach diesem Buch den großen Eindruck vielleicht etwas relativierten – im großen Pool der Hardboiled-Literatur schwimmt dieses Werk für mich doch weiterhin ganz weit mit oben und an zentraler Position. Es bleibt also zu hoffen, dass dieses „Vermächtnis“ weitergegeben und in nicht allzu ferner Zukunft wieder unter den lieferbaren Titeln weilen wird. Doch nun zum Buch selbst und dem Grund für all dies Lob:

Es ist gut ein Jahr her, dass Charlie „Bird“ Parkers Familie durch die Hand eines psychopathischen Serienmörders den Tod gefunden hat. Der Detective des NYPD hatte nach diesem Schicksalsschlag seiner Arbeit den Rücken gekehrt und auf der Jagd nach dem „Fahrenden Mann“, so der Name des Mörders, eine Spur des Blutes hinterlassen. Die Art und Weise, in der er Selbstjustiz verübte, führte zu einer Ächtung durch seine Kollegen, worauf er schließlich den Dienst quittierte. Zurückgezogen im alten Haus seines Großvaters in Maine lebend, verdingt er sich nun als Privatdetektiv und hilft auch alten Freunden gern mal aus. So treibt er für Rita Ferris bei ihrem Ex-Mann, dem stadtbekannten Schläger Billy Purdue, dessen ausstehende Alimente ein… und katapultiert sich damit ohne sein Wissen in ein Gewirr aus Gewalt, Rache und Hass.

Rita wird kurz danach samt Sohn tot aufgefunden und Billy, der Hauptverdächtige, der zuvor die Mafia um Geld erleichtert hatte, flieht in den Norden. Mafiosi, Bullen und zwei mysteriöse Killer dicht an seinen Fersen. Parker, von Billys Unschuld überzeugt, versucht ihn zu finden und wird im Verlauf dieser Jagd mit der Vergangenheit konfrontiert. Denn in den dunklen Wäldern von Maine treibt „Caleb Kyle“ sein Unwesen. Ein mysteriöser Serienmörder, dem im Jahr 1965 schon sein Großvater, selbst Polizist, auf der Spur war … sein dunkelstes Vermächtnis.

„Weltklasse“ – das war das Prädikat, mit dem ich damals, noch atemlos und unter den Eindrücken meines Leseerlebnisses stehend, Connollys zweiten Bird-Roman bedacht hatte. Eine Bewertung, die sich heute etwas maßlos liest und zudem von der Jugend des (vielleicht leichter zu beeindruckenden?) Lesers kündet, der sich inzwischen zu solchen Superlativen eher nicht mehr hinreißen lässt. Dennoch: Vergleichsmöglichkeiten gab es auch da bereits derlei viele. Und was einst stimmte, hat auch heute noch Gültigkeit, denn in der Tat war „Das dunkle Vermächtnis“ eine besondere, über alle Maßen intensive Erfahrung, die sich nicht nur aus jugendlicher Unerfahrenheit, sondern vor allem durch das sprachliche Können des Autors speiste. Während der Vorgänger sich oftmals noch die ein oder andere langatmige Passage gönnt, mangelnde Zielstrebigkeit und Nebenschauplätze den Lesefluss stören, da liest sich sein Nachfolger wie aus einem Guss – und das obwohl Connolly einmal mehr der Handlung ein paar Stränge zu viel zumutet und in Punkto Realismus weiterhin gewaltig Abstriche macht. Doch ganz ehrlich – wen stört das, wenn es in einem so nachtschwarzen, sogkräftigen Cocktail serviert wird, von dem man immer noch ein weiteres Glas haben und runterstürzen muss. Wohl wissend, dass der Griff danach mehr die Sucht nach dem Rausch, als nach dem Geschmack ist.

Und wie der alkoholische Drink, so ist auch diese Lektüre tatsächlich nur etwas für Erwachsene, bei denen selbst „trinkfeste“ Quereinsteiger durch die Wucht, mit der Connolly das Böse auf die Welt niederprasseln lässt, ins Straucheln kommen dürften. Für Zartbesaitete – das sei an dieser Stelle unbedingt nochmal betont – ist auch „Das dunkle Vermächtnis“ absolut nicht geeignet, auch wenn der Roman noch so vermeintlich harmlos beginnt. Und bereits dieser Beginn entscheidet darüber, ob man sich auf die Lektüre einlassen kann und will, mutet uns doch Connolly nicht nur drastische Szenen, sondern auch einige Zufälligkeiten zu. Wer hier grundsätzlich mit der Lupe nach Logiklücken sucht und einen geerdeten, realistischen Plot zur Voraussetzung für den Spaß an einem Buch macht – nun, der wird recht früh auf der Strecke bleiben. Lässt man sich darauf jedoch ein, saugt uns Parkers zweiter Auftritt geradezu in die Handlung, welche der Autor mit traumwandlerischer Brillanz verdichtet und mit einer bis unter die Gänsehaut kriechenden Atmosphäre auflädt, die sich wie ein Dunstschleier mit beklemmender Wirkung auf die Lungen des Lesers legt.

Beklemmend auch deswegen, weil es schwer fällt, nicht um Parkers Haut zu fürchten, der das Zugpferd der Geschichte ist und ein echter Typ, welcher sich hinter den Marlowes, Archers oder auch Kenzies dieser Welt nicht verstecken muss. Er trägt schwer am Verlust seiner Familie, ist streckenweise dem Wahnsinn nicht allzu fern und droht die Reinheit seiner Seele endgültig zu verlieren. Eine Seele, die ohnehin nur noch von einer harten, aber auch dünnen Schale aus Zynismus zusammengehalten wird. Seine Reise in die finsteren Welten von Caleb Kyle ist auch gleichzeitig ein andauernder Kampf gegen den endgültigen Fall, der verzweifelte Versuch, sich wieder in einen Menschen aus Reue und Mitleid zu verwandeln, seine blinde Wut für etwas Gutes einzusetzen. Nicht einfach, wenn einen die Dämonen aus der Vergangenheit plagen, was im Falle von John Connolly wortwörtlich zu verstehen ist, denn die bereits in „Das schwarze Herz“ angedeuteten übernatürlichen Elemente sind hier noch weit mehr ausgeprägt. Folgerichtig, möchte man fast sagen, wandeln wir doch durch die feucht-nebligen Wälder und kleinen Siedlungen von Maine, wo uns schon Stephen King in diversen seiner Werke das Fürchten lehrte.

Und wie bei Stephen King, so stellt sich auch in „Das dunkle Vermächtnis“ der Protagonist nicht allein den finsteren Mächten. Parkers alte Freunde, Angel (große Klappe) und Louis (Hitman mit Hirn), Einbrecher bzw. professioneller Killer außer Dienst, stehen ihm einmal mehr als Waffenbrüder zur Seite. An ihnen scheint der Autor besonderen Gefallen gefunden zu haben, tobt er sich in ihrer Charakterisierung doch über die Maßen aus und schreckt nicht davor zurück, dem Effekt zu liebe auch Überzeichnungen in Kauf zu nehmen. Dennoch: Das schwule Pärchen ist für mich das Salz in der Suppe, da beide ihre Skrupel schon lange über Bord geworfen haben und sich selbst für die dreckigste Arbeit nicht zu schade sind. Das sorgt für erfrischende Abwechslung, haben sie doch mit dem üblichen Helden nichts gemein, sondern – ganz im Gegenteil – wären angesichts humanerer Gegner wohl die eigentlichen Bösewichte. Im Angesicht eines Caleb Kyle muss Parker jedoch auf ihre Hilfe zurückgreifen. Und es ist ja auch nicht der ungeschickteste Schachzug, Feuer mit Feuer zu bekämpfen. Die „few bodies along the way“ nimmt man dafür halt in Kauf.

Liest man obige Beschreibung, sollte man meinen durch die Bank groteske Figuren vorgesetzt zu bekommen. Interessanterweise stellt sich dieser Eindruck bei der Lektüre jedoch nicht ein. Stattdessen gewinnen Handlung und vor allem die Umtriebe des diabolischen Gegenübers mit jeder Seite mehr Macht über uns, während sich der Spannungsbogen in luftige Höhen dehnt und Connolly es versteht, schon beinahe liebevoll detailliert, noch die kleinste Auseinandersetzung in eine Belastungsprobe für unser Nervenkostüm zu verwandeln. Ob Parkers Atem in der kalten Waldluft, vorbeifliegende Projektile in der Nacht oder dunkle Schatten in noch dunkleren Ecken – all das wird derart eindringlich in Szene gesetzt, dass selbst behutsame Leser am Ende ihres literarischen Trips tiefe Leseknicke im Buchrücken vorfinden dürften. Eine Szenerie mit Spannung aufzuladen – kaum einer vermag dies so elegant wie John Connolly.

Im Verlauf der Reihe wird der irische Autor – soviel sei vorab verraten – dieses Niveau nicht immer halten können, wobei sich vor allem sein Wunsch, das archaische Böse stets neu erfinden zu wollen, irgendwann als Zwickmühle erweist. In seinen Anfängen ist die Serie um Parker aber so mit das Beste was das Hardboiled-Genre hervorgebracht hat. Und „Das dunkle Vermächtnis“ unterstreicht dies mit einer Wucht, der man sich einfach nicht entziehen kann. Ganz, ganz großes Kino und unbedingtes Muss für Freunde des härteren Stoffs.

Wertung: 97 von 100 Treffern

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  • Autor: John Connolly
  • Titel: Das dunkle Vermächtnis
  • Originaltitel: Dark Hollow
  • Übersetzer: Jochen Schwarzer
  • Verlag: Ullstein
  • Erschienen: 02.2006
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 472 Seiten
  • ISBN: 978-3548263915

Der Apfel fällt weiter weg vom Stamm

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© dtv

Alafair Burke – mit Sicherheit kein Name, der wie Donnerhall durch die Buchhandlungen in deutschsprachigen Landen schallt. Wie auch, sind doch mit „Online wartet der Tod“ (engl. „Death Connection“) und „Manhattan 212“ (engl. „212“) erst zwei Bücher dieser in Wichita, Kansas aufgewachsenen Schriftstellerin übersetzt worden (Ihre Kooperation mit Mary Higgins Clark nicht mitgezählt). Der ein oder andere Krimikenner wird ob des Namens dennoch hellhörig werden. War da nicht mal etwas mit einer Alafair als Protagonistin?

Wer sich, wie ich selbst, zu den Anhängern des großen Krimi-Autors James Lee Burke zählt, weiß, dass es sich hier um niemand geringeren als seine eigene Tochter handelt. Bereits in der seit Ende der 80er Jahre laufenden Reihe um den Südstaaten-Cop Dave Robicheaux hatte sie als gleichnamige Ziehtochter des Ermittlers schon ungewollt von sich Reden gemacht. Nun tritt sie, zumindest was das Genre angeht, selbst in die Fußstapfen ihres Vaters. Ein Grund, nein, streng genommen, sogar DER Grund, warum „Online wartet der Tod“ in meinem Regal landete, hätten mich doch Titel und auch Inhaltsangabe sonst nur wenig reizen können. Auch mein Bauchgefühl sprach deutlich von einem Titel, „den ich nicht unbedingt haben muss“. Um es kurz zu machen: Ab sofort werde ich darauf wieder hören, denn bei aller Objektivität – die Fußstapfen sind diesmal erheblich zu groß.

Im Mittelpunkt der Geschichte steht die gerade zum Detective beförderte Polizistin Ellie Hatcher, welche, sonst im Dezernat für Betrug und Diebstahl tätig, nun von der Mordkommission des NYPD angefordert wird, um einen vermeintlichen Serienmörder dingfest zu machen. Seine Jagdgründe: die Internet-Kontaktbörse „FirstDate.com“. Das glaubt zumindest der leitende Ermittler Flann McIllroy, der, trotz des Abstands von einem Jahr, zwischen zwei seiner Mordfälle die Verbindung in FirstDate sieht. McIllroy, aufgrund seiner Beliebtheit bei den Medien in Kreisen des NYPD eher ein gemiedener Außenseiter, glaubt in der attraktiven Ellie, welche zudem selbst aufgrund der mysteriösen Umstände beim Tod ihres Vaters in den Medien keine Unbekannte ist, den perfekten Lockvogel gefunden zu haben, um den Täter eine Falle zu stellen. Doch er hat sowohl Ellie als auch den Täter unterschätzt. Forsch übernimmt die junge Detective die Nachforschungen … und sieht sich bald mit einem Gegenüber konfrontiert, der jeden ihrer Schritte vorherzusehen scheint.

Wo liegt das Motiv für die Morde? Wie ist FirstDate involviert? Die Suche nach den Antworten auf diese Fragen bringt nicht nur Ellie selbst in größte Gefahr …

Zugegeben: Was auf den ersten Blick wie der typische Mainstream-Aufguss des x-mal durchgekauten Serienmörder-Themas erscheint, entpuppt sich doch (gottseidank) recht bald als weit komplexerer Polizeiroman, der uns mit soziopathischen Super-Bösewichten verschont und Ellies Ermittlungen stattdessen als schweißtreibende Arbeit darstellt. Und nicht nur in dieser Hinsicht kommt Alafair Burke ganz nach ihrem Vater. Auch ihre Heldin trägt gleich ein paar autobiographische Züge in sich. Angefangen beim Geburtsort Wichita bis hin zum Themenfeld Online-Kontaktbörse, wo Burke ihren späteren Ehemann kennenlernte. Hier enden aber dann auch die Parallelen zu James Lee Burke, der stilistisch einfach in einer ganz anderen Liga spielt. Das fängt bereits mit dem Schauplatz des Geschehens an. Während man beim Vater die von Spanischen Moos bewachsenen Bäume vor sich zu sehen, die feucht-warme Hitze der Bayous auf der Haut zu spüren glaubt, hinterlässt das New York seiner Tochter keinerlei bleibenden Eindruck. Im Gegenteil: Die Story hätte genauso gut in Chicago oder L.A. angesiedelt sein können. Vom Showdown einmal abgesehen fehlt es hier leider gänzlich an Atmosphäre, krankt der Handlungsort an der Austauschbarkeit und dem Mangel an Flair.

Dabei kann man Alafair Burke nicht einmal handwerkliche Mängel vorwerfen. Ihre Schreibe liest sich flüssig, temporeich. Die leicht lakonische Ader und der trockene Humor zünden an den vorgesehenen Stellen. Und Ellie Hatcher ist weit von einer (mittlerweile) nervigen Alleskönnerin wie Amelia Sachs entfernt … und doch, irgendetwas, die gewisse Würze, dieser eigenständige Stil, die „intensive Ausstrahlung“ (von Ex-Krimi-Couch-Kollege Jürgen Priester hervorgehoben) – sie fehlen mir hier. „Online wartet der Tod“ macht viel richtig, hebt sich aber auch nirgendwo von der Konkurrenz ab. Einen triftigen Grund das Buch unbedingt lesen zu müssen sucht man vergebens. Stattdessen spult Alafair Burke ihren gefälligen, in sich stimmigen Plot routiniert herunter ohne große Glanzpunkte zu setzen, was aber wohl dem Fast-Food-Krimi-Junkie weder auffallen noch groß stören wird.

Denjenigen Lesern, die sowohl Vater wie Tochter gelesen haben, wird der qualitative Unterschied allerdings nicht entgehen. Und das stattdessen gerade Ersterer seit dem Jahr 2002 vom deutschen Verlagsweisen bezüglich weiterer Übersetzungen gänzlich ignoriert wurde, stößt angesichts der vorliegenden Lektüre (und dem Cameo-Auftritt von Dave Robicheaux in „Online wartet der Tod“) dann besonders bitter auf.

So bleibt am Ende ein netter, kurzweiliger Krimi für das Wartezimmer, die Bushaltestelle oder die nächste Zugfahrt. Statt einem „vielversprechenden“ (O-Ton Jürgen Priester) ersten Auftritt bleibt insgesamt leider nur ein Buch, von dem ich mir zu viel versprochen habe. Daher: Lieber Dtv-Verlag, danke für diese Vorspeise. Aber ich bleibe lieber beim Hauptmenü und das heißt James Lee Burke.

Wertung: 79 von 100 Treffern

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  • Autor: Alafair Burke
  • Titel: Online wartet der Tod
  • Originaltitel: Dead Connection
  • Übersetzer: Susanne Wallbaum
  • Verlag: dtv
  • Erschienen: 08.2011
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 464 Seiten
  • ISBN: 978-3423213141