Tears for Fears

© Goldmann

Seit genau 22 Jahren verdingt sich der in Solihull gebürtige Engländer Mark Billingham nun schon als Autor von Kriminalromanen – wohlgemerkt neben seiner weit länger ausgeübten Tätigkeit als Stand-Up-Comedian, welcher er in der Heimat auch in erster Linie seine große Bekanntheit verdankt. Eben jene Bekanntheit, zu der es auf dem deutschen Buchmarkt bis heute nicht wirklich gereicht hat, obwohl seine Werke seit dem Erstling „Der Kuss des Sandmanns“ fast durchgehend veröffentlicht worden sind.

Doch diese Kontinuität täuscht, denn anders als die im Stil durchaus vergleichbare Kollegin Val McDermid, scheint Billingham hierzulande weiterhin auf der Suche nach dem sicheren Hafen zu sein. Zu Beginn noch fester Bestandteil des Goldmann Verlags, gab es anschließend ein kurzes Stelldichein bei Heyne, nur um inzwischen – aufgeteilt zwischen Atrium und Kampa Verlag – veröffentlicht zu werden. Die Tatsache, dass man dabei bereits auf Deutsch erschienene Bücher wieder unter einem neuen Titel herausgebracht hat, schadet nicht nur der Übersichtlichkeit, sondern macht es meines Erachtens auch schwierig, Leser längerfristig an diesen Autor zu binden.

Und genau das wäre durchaus wünschenswert, zählt doch Mark Billingham zu den wirklich lesenswerten Vertretern der britischen Krimi-Szene, wobei hier insbesondere die frühen Bände aus der Reihe Detective Inspector Tom Thorne herausstechen, da sie den klassischen britischen Police-Procedural gekonnt mit Elementen des amerikanischen Psychothrillers erweitern. Nachdem der Auftakt in dieser Hinsicht vor allem durch seine subtile Herangehensweise sowie durch seine unerwartete Reife überraschen und überzeugen konnte, kristallisiert sich nun in „Die Tränen des Mörders“ die eigentliche Marschrichtung mehr und mehr heraus. Und die hinterlässt weit deutlichere Abdrücke im literarischen Kopfsteinpflaster, spart der Autor doch jetzt auch drastischere Szenen nicht aus, was eine gewisse Resistenz in der Magen-Darm-Flora des Lesers voraussetzt. Die Subtilität ist eindeutig einer derben Anschaulichkeit gewichen – wohlgemerkt aber ohne dabei qualitativ in das niveaulose Metzgermilieu von Fitzek, Carter und Co. abzutauchen. Billinghams großes Verdienst ist es, genau hier einen formvollendeten Spagat hinzulegen und mit einem Bein fest im Realismus verankert zu bleiben, was sich besonders in seinem Hauptprotagonisten, Tom Thorne widerspiegelt.

Der sieht sich in „Die Tränen des Mörders“ mit einer Umstrukturierung der Londoner Metropolitan Police konfrontiert, denn die Ereignisse des 11. September haben auch in der Hauptstadt des Vereinigten Königreichs ihren Widerhall gefunden. Mehrere so genannte „Crime Groups“ wurden gebildet und Thorne, verantwortlich für die „Serious Crime Group“, wird nun zumeist mit den Fällen betreut, die in kein Schema passen wollen oder mangels Indizienlage allgemein als unlösbar gelten. Aktuell handelt es sich dabei um zwei Morde an Frauen, welche innerhalb kürzester Zeit hintereinander begangen worden sind. Beide Opfer scheinen auf dem Heimweg den Zug genutzt haben und wurden erwürgt, womit sich allerdings die Ähnlichkeiten auch erschöpfen, denn die Mordmethode war jeweils eine gänzlich andere. Während die allein erziehende Mutter vor den Augen ihres dreijährigen Kindes qualvoll und brutal getötet wurde, ist mit der zweiten verhältnismäßig vorsichtig umgegangen worden. Zudem finden sich bei Letzterer auch Spuren von Körperflüssigkeit – und zwar Tränen.

Sind es etwa die Tränen des Mörders? Und handelt es sich vielleicht um zwei verschiedene Täter? Durch die gewonnenen Erkenntnisse erscheinen jetzt auch zwei frühere Frauenmorde plötzlich in einem völlig neuen Licht. Gemeinsam mit seinem Kollegen Dave Holland und Neuzugang Sarah McEvoy nimmt Thorne die Ermittlungen auf – und scheut dabei auch wieder nicht die Konfrontation mit seinen Vorgesetzten, denen langsam aber sicher die Geduld ausgeht …

Falls jemand nun schon auf den Geschmack gekommen und im Begriff ist, sich dieses Buch (aktuell nur antiquarisch) zuzulegen, der sei dringend darauf hingewiesen, bitte nicht den Klappentext oder die Inhaltsangabe auf der Rückseite zu lesen. Wer immer für diesen Text damals verantwortlich gezeichnet hat, scheint vom Sternzeichen her Spaßverderber zu sein. Anders lässt sich nicht erklären, warum hier gleich die halbe Handlung gespoilert und damit dem etwaigen Lesern ein Großteil des Vergnügens verdorben wird. Doch zurück zum Inhalt zwischen den Buchdeckeln. Was auch bei „Die Tränen des Mörders“ wieder gleich auffällt: Mark Billingham leistet sich auch diesmal relativ wenige Anfängerfehler und schreibt weiterhin wie ein „alter Hase“, was durchaus nicht selbstverständlich ist, wenn man einen Blick auf die Frühwerke anderer Genre-Kollegen wirft, wo doch der ein oder andere einen mehr als holprigen Start hingelegt hat.

Vielleicht liegt es daran, dass Billingham sich vom ersten Band an (den man übrigens vorher unbedingt gelesen haben sollte!) auf seinen Hauptprotagonisten Tom Thorne fokussiert und er eine klare Vorstellung davon zu haben scheint, wohin sich die Figur (zumindest grob) entwickeln soll. Und Thorne ist auch der Triebwagen vor dieser Geschichte, bestimmt durch sein Handeln den Fortschritt der Ermittlungen und bleibt auch abseits der kriminalistischen Entwicklung für uns als Leser durchweg interessant. Vergleiche mit Ian Rankins John Rebus – ebenfalls auf dem Buch platziert – sind dabei jedoch vollkommen unangebracht, Ähnlichkeiten gänzlich aus der Luft gegriffen. Vom Beruf abgesehen, könnten beide kaum unterschiedlicher sein. Nicht nur besticht Thorne durch einen grauenvollen Musikgeschmack (Country), sondern er geht auch wesentlich offensiver mit den sich ihm stellenden Problemen um. Während ein John Rebus allabendlich seine Geister in Drams von Whisky ertränkt, ist Thorne eher Mitglied der Abteilung Attacke, wirft sich bissig, übereifrig und oft am Rande des Zorns in seine Arbeit. Eine Eigenschaft, die auch in diesem Fall deutlich zutage tritt – und ihn mehr als einmal in Schwierigkeiten bringt.

Billingham nimmt sich viel Zeit für seinen (Anti-)Helden, gewährt uns vor allem in Hinsicht auf dessen Beziehung zu seinem Vater neue Einblicke, vergisst darüber hinaus aber nicht, auch die anderen Mitglieder der „Serious Crime Group“ mit einzubeziehen. Wenn man unbedingt Parallelen zu Rankin ziehen möchte, wären sie dann eher in dieser Richtung angebracht, denn wie der Schotte in seinen späteren Romanen, so beginnt auch Billingham bereits hier sein London um weitere Perspektiven zu erweitern (siehe auch die Ausführungen im Epilog). Dave Holland und Phil Hendricks spielen diesmal eine weit größere Rolle als noch im Vorgänger. Und mit Sarah McEvoy gelingt ihm auf Anhieb eine weitere interessante Neubesetzung, deren Handlungsstrang zudem eine gewisse Tragik in sich birgt. Ihr Miteinander deutet daraufhin, dass der Autor seine Arbeit in Punkto Recherche gemacht hat, umschifft er doch geschickt die üblichen Klischees von toughen Bullen mit Sonnenbrille, sondern zeichnet ein authentisches Bild der Polizeiarbeit. Diese Detailtreue findet sich auch in der Ausarbeitung des bzw. der Antagonisten wieder. Anstatt uns Leser wie ein Jeffery Deaver mit stets den gleichen Soziopathen aus dem Sessel holen zu wollen, soll Billingham auch in den kommenden Bänden ein gutes Händchen beweisen, wenn es darum geht, erschreckende und verstörende, aber auch glaubhafte Bösewichte aus dem Hut zu zaubern.

Und wie schaut es beim Spannungsbogen aus? Wenn man zu Kritik ansetzen möchte, bietet sich leider an diesem Punkt die größte Angriffsfläche, denn Billingham bringt sich mit der Konzeption der Morde ein bisschen selbst in Bedrängnis, entnimmt viel zu früh ein elementares Gefahrenmoment aus der Handlung und lässt damit unnötig Dampf aus dem Kessel. Konkreter kann ich leider an dieser Stelle nicht werden, ohne zu viel zu verraten. Aber soviel sei gesagt: Der Autor legt den Hebel dann auch wieder recht schnell um, verengt seinen Fokus noch mehr auf Thorne und baut so erneut eine Suspense auf, die dann auch den Leser durchgängig bis zum Ende trägt, wenngleich dieser keine packende oder gar actionreiche Jagd erwarten sollte. Es handelt sich vielmehr um ein ruhiges, psychologisches Kräftemessen und Katz-und-Maus-Spiel, in dem die Gedanken der Gegenüber im Vordergrund stehen. Durch die konstanten Wechsel zwischen den Erzählebenen bleibt dabei das Tempo dennoch hoch, obwohl es zwischen all den falschen Fährten lange dauert, bis die Ermittler das vor ihnen ausgebreitete Puzzle zusammensetzen können.

Der Weg bis zur Auflösung ist für uns ein ziemlich düsterer und mitunter brutaler, da der Autor, wie bereits angedeutet, durchaus bildreich Tatorte und Handlungen des Mörders in Szene setzt. Die Tonalität passt sich hier eindeutig sowohl den Ereignissen als auch dem Setting selbst an, denn das winterliche London abseits der touristischen Hauptattraktionen kommt entsprechend trist und trostlos daher. Billingham nutzt Schauplätze und Jahreszeit geschickt aus, um bei seinem Publikum die gewünschten Bilder zu erzeugen, so dass man sich nicht selten dabei ertappt, wie Thorne selbst die Kälte zu spüren, dem überhaupt die Ermittlungen sichtlich zu schaffen machen.

Die Tränen des Mörders“ ist eindeutig keine Wohlfüllliteratur und will dies auch an keiner Stelle sein. Vielmehr zeigt der Roman deutlich und unzensiert die bösartigen Abgründe, in welcher der menschliche Geist abtauchen kann, welche Kräfte wirken können, wenn sich gewisse Konstellationen in der Vergangenheit zu deinen Ungunsten verschieben können. Billingham haut uns das unverblümt um die Ohren, nimmt keinerlei Rücksicht auf Etikette – und würde uns fast komplett vergessen lassen, dass hier tatsächlich ein Komiker die Feder geschwungen hat. Wäre, ja wäre da nicht dieser in all der Dunkelheit toll pointierte, zynische Humor, der dem Leser zwischendurch immer wieder ein Schmunzeln ins Gesicht zu zaubern vermag.

Die Auflösung ist letztlich schlüssig, wird jedoch etwas zu kurz und hastig abgehandelt und lässt leider auch ein paar Fragen (Wer war denn nun Caroline genau?) offen, was den Anschein erweckt, dass Billingham hier eventuell etwas unter Zeitdruck geraten ist. Das Gesamtergebnis trübt das nur bedingt. „Die Tränen des Mörders“ ist erneut eine gelungene Mischung zwischen Police-Procederual und Thriller. Keine Neuerfindung des Genres, aber eine nachtschwarze und schonungslose Variation des Bekannten, welche genau das liefert, was das Gros der Leser von einem Krimi erwartet – ziselierte und packende Spannung.

Wertung: 90 von 100 Treffern

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  • Autor: Mark Billingham
  • Titel: Die Tränen des Mörders
  • Originaltitel: Scaredy Cat
  • Übersetzer: Isabella Bruckmaier
  • Verlag: Goldmann
  • Erschienen: 08.2003
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 480 Seiten
  • ISBN: 978-3442455379

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