Die Nackten und der Tote

© Ullstein

Ein Jahr nach dem Edgar Award prämierten Kriminal-Debütroman „In der Hitze der Nacht“ ließ John Dudley Ball seinen zweiten Band aus der Reihe um den schwarzen Detektiv Virgil Tibbs aus Pasadena folgen.

Totes Zebra zugelaufen“, so der deutsche Titel, brachte es hierzulande nur zu einer Veröffentlichung im Jahre 1967 beim Ullstein Verlag. Danach verschwand der Titel, wie auch die meisten restlichen Werke John Balls, komplett vom deutschen Büchermarkt. Selbst die Hoffnung, dass im Rahmen der Fischer Crime Classics Reihe einer der Bände eine Neuausgabe erfahren würde, währte schließlich, wie auch die Reihe selbst, nicht lange. Wer also gern heutzutage chronologisch die Fälle von Virgil Tibbs lesen möchte, muss weiterhin antiquarisch suchen. Aber diese Suche lohnt – ganz sicher.

Totes Zebra zugelaufen“ führt uns in die kalifornische Nudisten-Kolonie „Sun Valley Lodge“ Mitte der 60er Jahre. Dort ist ein fremder Mann nackt im Schwimmbecken aufgefunden worden. An sich nichts Ungewöhnliches an diesem Ort, nur ist dieser „Badegast“ tot und treibt mit dem Rücken nach oben. Ein Mord ist mehr als wahrscheinlich, wobei sich der Täter alle Mühe gegeben hat, eine Identifizierung zu erschweren, denn neben neben der Kleidung wurde ihm gleich auch noch das Gebiss entwendet. Nur soviel ist klar. Der Unbekannte ist kein Mitglied der Kolonie, sondern ein „Zebra“. (Um die Hüften herum ist er weiß, sonst braun. Bei einem Nudist fehlen diese Streifen.)

Für den ortsansässigen Sheriff ist dies ein mysteriöses Rätsel. Er zieht sogleich Virgil Tibbs von der Mordkommission zurate, der sich nicht nur aufgrund seiner Hautfarbe zwischen all diesen weißen Sonnenanbetern ziemlich fehl am Platz fühlt. Besonders die Nacktheit einer äußerst attraktiven Zeugin macht ihm sichtlich zu schaffen. Schnell kommt der sonst so kühle Denker ins schwitzen, zumal die Suche nach der Identität der Leiche ebenfalls früh in einer Sackgasse zu enden scheint. Bis schließlich ein Landpolizist der kalifornischen Polizei einen wichtigen Hinweis gibt und Tibbs damit auf die richtige Spur gebracht wird …

Nein, die Intensität und Wirkung des Erstlings erreicht „Totes Zebra zugelaufen“ leider nicht. Ein überdurchschnittlich guter Krimi ist er aber dennoch, was gleich mehrere Gründe hat. John Ball beweist auch diesmal viel Mut und scheut sich nicht vor Konfliktthemen. Nachdem es sein Schützling Virgil Tibbs zuvor noch mit rassistischen Cops im kleinen Südstaatenkaff Wells zu tun hatte, sieht er sich nun anderweitig ausgegrenzt. Seine Hautfarbe ist dabei weniger von Belang, als vielmehr die Tatsache, dass er sich angezogen auf dem Gebiet der Nackten bewegt. Ball, selbst einen großen Teil seines Lebens lang Nudist, führt der Gesellschaft hier geschickt, pointiert und mit viel Witz ihr falsches Denken vor, ohne groß mit der Moralkeule zu schwingen. Zwischen dem schwarzen Cop und den weißen Nudisten besteht, und das müssen beide Seiten schnell feststellen, eine schon fast ironische Gemeinsamkeit. Beide werden, der eine wegen der Hautfarbe, die anderen wegen ihres Lebensstils, abfällig beäugt. Das Intelligenz, Kompetenz und Charakterstärke aber vom äußeren Schein unabhängig sind, kann Tibbs erneut brillant unter Beweis stellen.

Auffällig ist dabei hier, dass er sich der Unterstützung der ortsansässigen Polizei sicher sein kann, welche die Fähigkeiten des schwarzen Ermittlers schätzt und sich auch nicht schämt, ihre eigene Unkenntnis einzugestehen. Hier ist er nicht einfach nur Virgil, sondern Mr. Tibbs. Geachtet und anerkannt, nimmt er sich in bester Holmes-Manier des Falles an, wobei der Leser (wie die Leiche) direkt zu Beginn ins kalte Wasser geworfen wird. Ball hält sich nicht allzu lang mit einer großen Einführung auf, sondern lässt den Detective mittels Deduktion und Kombinationsgabe wichtige Indizien noch am Tatort entschlüsseln. Während man selbst noch irritiert über Gründe und Motive rätselt, scheint Tibbs bereits sein Netz enger um den Täter zu ziehen.

Es ist die große Stärke dieses Autors, die Genialität seines Ermittlers herauszustellen, obwohl der Leser, dem die gleichen Hinweise zur Verfügung stehen, völlig im Dunkeln tappt. Ob man will oder nicht. Staunend sieht man Tibbs bei der Arbeit über die Schulter. Und obwohl das Buch (das in der Fassung von Ullstein wieder einige Kürzungen erfahren musste) gerade mal knapp 160 Seiten umfasst, und damit ein wenig mehr Umfang als eine Kurzgeschichte hat, fesselt der Plot von Beginn, überzeugt Ball mit Sprachstil und detaillierten Beschreibungen, die uns das Kalifornien der 60er Jahre vor den Augen wieder auferstehen lassen. Krimikenner mit dem genauen Blick werden übrigens dabei erkennen, dass sich hier eine gewisse Entwicklung von klassischen „Whodunit“ zum „Police Procedural“ vollzieht, den vor allem Ed McBain seit Mitte der 50er aus der Taufe gehoben hatte.

Totes Zebra zugelaufen“ ist der würdige Nachfolger eines großartigen ersten Bands, welcher zwar dessen Qualität nicht ganz erreicht, aber mit einem intelligenten, sehr scharfsinnigen Plot unterhält und neben dem eigentlichen Mordfall noch eine ganze Menge Tiefgang mitliefert. Ein kurzes, aber lohnendes Lesevergnügen, das, zumindest derzeit, zu moderaten Preisen aus zweiter Hand zu bekommen ist.

Wertung: 86 von 100 Treffern

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  • Autor: John Dudley Ball
  • Titel: Totes Zebra zugelaufen
  • Originaltitel: The Cool Cottontail
  • Übersetzer: Mechtild Sandberg-Ciletti
  • Verlag: Ullstein
  • Erschienen: 1967
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 160 Seiten
  • ISBN: –

Sherlock Holmes‘ letzte Verbeugung

© Insel

Schon der erste Blick auf das Cover der „Insel“-Ausgabe dürfte vielleicht den ein oder anderen interessierten Leser stutzig machen und irritieren, wird doch der legendäre Detektiv Sherlock Holmes in den meisten Medien, und dadurch auch im allgemeinen Verständnis, mit dem Viktorianischen Zeitalter in Verbindung gebracht – Droschken, Gaslichtlaternen, nasses Kopfsteinpflaster, der Gentleman in Frack und mit Zylinder auf dem Kopf. Es sind diese Bilder, welche unsere Erinnerungen an Sir Arthur Conan Doyles Helden beleben, weshalb das auf dem Deckblatt abgebildete Automobil für viele einen ungewohnten Stilbruch darstellt.

Fakt ist aber: Bei Veröffentlichung der Kurzgeschichtensammlung „Seine Abschiedsvorstellung“ im Jahr 1917 war die Regentschaft Königin Victorias schon lange beendet, befand sich das englische Empire in den Wirren des Ersten Weltkriegs verstrickt, welcher weiteren imperialen Bestrebungen einen Dämpfer verpasste und bis zum Kriegsende im November 1918 noch Millionen Menschen das Leben kosten sollte. Für viele bedeutete das Grauen an der Westfront nicht nur persönliches Leid, sondern auch ein Ende der Sicherheit. Trotz zahlreicher Konflikte, Missernten, Hungersnot und einer in Arm und Reich geteilten Gesellschaft – viele Zeitgenossen sahen das Viktorianische Zeitalter rückblickend als Ära des Reichtums und der Stabilität, als „gute alte Zeit“.

Für Sir Arthur Conan Doyle, der bereits 1893 entschied, das Leben seines Protagonisten Holmes zu beenden, da das regelmäßige Verfassen neuer Geschichten zu viel seiner Zeit in Anspruch nahm und er seine schriftstellerische Arbeit auf andere Werke konzentrieren wollte, war der von vielen geliebte Schnüffler mit der Lupe mittlerweile zu einem Mühlstein am Hals geworden, der lediglich aus finanziellen Gründen weitergetragen wurde. Der Ehrgeiz, der Fleiß und diese einstmals gewohnte komplette Hingabe – sie flossen längst vermehrt in andere Projekte (u.a. schuf er 1912 mit Professor Challenger eine zweite, sehr populäre Figur), was sich, wie auch der Tod von Doyles Sohn an der Front, in der Qualität der späteren Fälle niederschlug, welche heute, im Verbund mit dem letzten Sammelband „Sherlock Holmes‘ Buch der Fälle“, zu den am wenigsten bekannten und von Sherlockians auch am wenigsten geschätzten Geschichten zählen. Ein Grund sich ihnen erst gar nicht zu widmen? Mitnichten, denn auch wenn „Seine Abschiedsvorstellung“ nicht mehr die Klasse und die Brillanz der frühen Holmes-Fälle erreicht – ein Quäntchen des Flairs, der Stimmung und der Leichtigkeit konnte Doyle, der uns die deduktive Arbeitsweise einmal mehr mit überraschenden Wendungen kredenzt, in diese neue Zeit retten.

Folgende acht Kurzgeschichten sind in „Seine Abschiedsvorstellung“ enthalten:

  • Wisteria Lodge
  • Die Pappschachtel
  • Der rote Kreis
  • Die Bruce-Partington-Pläne
  • Der Detektiv auf dem Sterbebett
  • Das Verschwinden der Lady Frances Carfax
  • Der Teufelsfuß
  • Seine Abschiedsvorstellung

Bis auf die bereits 1893 geschriebene Geschichte „Die Pappschachtel“, welche vor allem in britischen Ausgaben des Kanons der Kurzgeschichtensammlung „Die Memoiren des Sherlock Holmes“ zugerechnet wird – amerikanische Verleger befanden die Geschichte damals aufgrund des Ehebruch-Themas als zu brisant und druckten sie erst später in der „Abschiedsvorstellung“ ab (die meisten deutschen Verleger haben diese Vorgehensweise übernommen) – sind alle weiteren Fälle zwischen 1908 und 1913 in unregelmäßigen Abständen im „Strand Magazine“ und später auch im „Collier’s Weekly“ veröffentlicht worden. Das damals enthaltene kurze Vorwort Doyles fehlt leider in der „Insel“-Ausgabe, wird aber durch die Anmerkungen im Anhang durchaus wettgemacht, welcher u.a. einzelne veraltete Begrifflichkeiten und Anspielungen erläutert, weshalb man auch gern während der Lektüre einer Geschichte darauf zurückgreift.

Die Zusammenstellung der Geschichten in dieser Anthologie ist – den großen Abständen in denen sie veröffentlicht worden geschuldet – bunt gemischt, wenngleich auffällig ist, dass sich Doyle vom ursprünglichen Ton entfernt, seine Figur Sherlock Holmes etwas massentauglicher gemacht hat. Zwar immer noch belehrend in seinen Ausführungen, fehlt hier doch zumeist diese gerade in frühen Geschichten und Romanen präsente emotionale Kälte und Distanz, welche den Detektiv nicht nur von allen anderen in seinem Umfeld (besonders Dr. Watson) unterscheidet, sondern ihn auch erst in die Lage versetzt, die Kunst der Deduktion bei der Lösung eines Falles anzuwenden. Das nun Holmes in „Seine Abschiedsvorstellung“ zeitweise sogar lächelt oder sich als mitfühlendes Wesen erweist, mutet dann schon fast seltsam an. Doyle hat anscheinend selbst gemerkt und versucht, dies in den Geschichten teilweise sogar zu erklären. Dennoch: Das Profil des früheren Kokain-süchtigen Holmes hat eindeutig an Ecken und Kanten verloren – und die Vermutung liegt nahe, dass man damit ein noch breiteres Publikum erreichen wollte.

Es entbehrt dann nicht einer gewissen Ironie, dass die zu lösenden Fälle selbst um einiges düsterer geraten sind. Geschichten wie „Der Teufelsfuß“ oder „Die Bruce-Partington-Pläne“ haben nur noch wenig mit dem rätselhaften Spaß eines „blauen Karfunkels“ gemeinsam – sie sind ernster, dunkler, dreckiger und, in der Beschreibung des ausgeübten Verbrechens, auch drastischer und unverblümter geraten. Der Trend, welcher mit „Der Hund der Baskervilles“ und „Das Tal der Angst“ begann, er wird hier fortgeführt, was der Stimmung und auch dem Spannungsgehalt sicherlich zuträglich ist, gleichzeitig aber auch nochmal betont, dass der gemütlich im Arbeitszimmer in der Baker Street ausdiskutierte Fall der Vergangenheit angehört. Für mich zählen die beiden obigen Kurzgeschichten dann auch zu den Höhepunkten dieser Sammlung. Insbesondere „Der Teufelsfuß“ gehört schon allein aufgrund der Wahl des atmosphärischen Schauplatzes (ein abgelegenes Hochmoor nahe der Steilküste) zu Doyles besten Werken, wiewohl die Auflösung und Perfidität des Verbrechens das Setting noch übertrifft. Genau die richtige Lektüre für den stürmisch-verregneten Herbstabend vor dem Kamin, wohingegen Holmes in „Die Bruce-Partington-Pläne“ stattdessen deduktiv nochmal zur Höchstform aufläuft.

Im direkten Vergleich können die anderen Fälle dann leider nicht alle überzeugen, was nicht zuletzt auch daran liegt, dass Doyle hier streckenweise ein bisschen bei sich selbst klaut. Besonders „Wisteria Lodge“ weckt in Aufbau und Verlauf gewisse Erinnerungen: Der alte Mann mit der dunklen Vergangenheit. Die Flucht in ein anderes Land. Der über viele Jahre gehegte Wunsch nach Rache. Hier ist schon die ein oder andere Parallele zu „Das Zeichen der Vier“ zu erkennen, was den Lesegenuss für Neueinsteiger zwar nicht schmälert, Kennern des Kanons aber allenfalls ein wissendes Lächeln abringt. Weit besser gelingt dann der Abschluss mit der titelgebenden Erzählung „Seine Abschiedsvorstellung“, in der Holmes, welcher sich inzwischen im Ruhestand befindlich der Bienenzucht widmet, am Tag des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs nochmal für seine Majestät aktiv wird und einem deutschen Agenten mit gewohnter Nonchalance das Handwerk legt. Ein herrlich kurzweiliges und auch ein wenig wehmütig stimmendes Finale vor dem letzten Akt, der abschließenden Anthologie „Sherlock Holmes‘ Buch der Fälle“.

Seine Abschiedsvorstellung“ ist Sherlock Holmes‘ letzte tiefe Verbeugung („Sherlock Holmes‘ Buch der Fälle“ habe ich immer als nachgereichten Fanservice verstanden) vor seinem wie immer erstaunten Publikum. Und auch wenn der Detektiv inzwischen in die Jahre gekommen ist – auch Doyles spätes Werk hat sich das Prädikat des immer noch lesenswerten Klassikers redlich verdient, was allein schon daran deutlich wird, dass sich aktuell immer wieder zahlreiche Autoren daran verheben, den lockeren Stil des Originals zu kopieren. Den echten, den richtigen Sherlock Holmes – ihn konnte nur sein Schöpfer, Sir Arthur Conan Doyle.

Wertung: 85 von 100 Treffern

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  • Autor: Sir Arthur Conan Doyle
  • Titel: Seine Abschiedsvorstellung
  • Originaltitel: His Last Bow
  • Übersetzer: Leslie Giger
  • Verlag: Insel
  • Erschienen: 11/2007
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 318 Seiten
  • ISBN: 978-3458350200

Nachtrag: Ich habe mich bei der Verlinkung des Titels bewusst für die ältere Insel-Ausgabe entschieden, da sie – leider gibt es den Haffmans Verlag ja in dieser Form nicht mehr und die Kein & Aber Ausgabe ist ebenfalls vergriffen – vor allem optisch der äußerst lieblosen Fischer-Version vorzuziehen ist. Ansonsten sollte vor allem bei antiquarischen Stücken darauf geachtet werden, dass es sich um die Übersetzungen von Gisbert Haefs, Hans Wolf etc. handelt. Von gekürzten Ausgaben oder gar solchen, wo Holmes und Watson sich duzen, ist abzuraten.

Meine Name ist Poirot, Hercule Poirot

© Atlantik

Während sie in ihrer schriftstellerischen Tätigkeit immer größeren Erfolg verbuchen kann – mit „Alibi“ gelang ihr endgültig der große Durchbruch – verlaufen die 20er Jahre privat für Agatha Christie eher unglücklich. Aus beruflichen Gründen lässt ihr Mann sie häufig allein und Ende 1926 stirbt auch ihre geliebte Mutter, welche als erstes ihr schriftstellerischen Talent erkannt hatte und förderte. Dieses Ereignis, und die Tatsache, dass sie die Villa Ashfield, das Zuhause in dem sie aufgewachsen war, räumen muss, nehmen sie stark mit. Dem Geständnis ihres Mannes, er habe eine Affäre mit einer Golfpartnerin, folgt schließlich der totale Zusammenbruch.

Nach einem heftigen Streit zwischen den Eheleuten verlässt Agatha Christie am 3. Dezember 1926 das Haus und wird nach einer spektakulären Suchaktion erst zehn Tage später, unter einem falschen Namen, in einem Hotel in Harrogate aufgefunden – mit einem fast kompletten Gedächtnisverlust bezüglich des gesamten Zeitraums. Und auch im Anschluss kommt die Autorin nicht richtig auf die Beine, gerät zunehmend in Geldnot und bald auch aufgrund ihres Vertrages unter Zeitdruck, denn ein weiteres Buch muss dringend veröffentlicht werden. Doch Christie fehlen Muße und Ideen, um irgendetwas zu Papier zu bringen. Es scheint, als neige sich ihre Karriere dem Ende entgegen.

Ein rettender Einfall kommt dann von ihrem Schwager Campbell Christie, der ihr vorschlägt, doch einfach die im Jahr 1924 bereits im The Sketch Magazine (Ausgaben 1614 bis 1625) erschienenen Kurzgeschichten (zwölf an der Zahl) zu einem Roman zu verarbeiten. Campbell hilft ihr bei diesem „Recycling“ sogar, den Anfang und das Ende der einzelnen Erzählungen so zu verändern, dass sie besser in den Fluss (wenn man bei diesem Werk davon sprechen kann) des Romans passen – wohlgemerkt ohne dabei die Reihenfolge zu verändern. Als das Ergebnis, „Die großen Vier“, am 27. Januar 1927 veröffentlicht wird, entwickelt es sich in Rekordzeit zu ihrem bisher dahin größten Erfolg, wobei dieser vor allem auf zwei Gründe zurückzuführen ist: Der anhaltenden kontroversen Diskussion um den Vorgängerroman „Alibi“ und dem Aufruhr rund um ihr Verschwinden. Agatha Christie selbst urteilte rückblickend:

Ich habe einmal in einer Position, wo ich schreiben wollte, um Geld zu verdienen, gemerkt, dass ich es nicht kann – das ist so ein nervenaufreibendes Spiel. Hätte ich damals nur ein Manuskript im Ärmel gehabt, es hätte einen riesigen Unterschied gemacht. Das war die Zeit, als ich das scheußliche Buch „Die großen Vier“ produzierte und mich selbst zu „Der blaue Express“ zwang.“

Ihre nachträgliche Selbstkritik ist ebenso ehrlich wie zutreffend, denn „Die großen Vier“ gehört in der Tat zu ihren schlechtesten Werken, da es von Beginn an unter der nur folgerichtigen Inkohärenz leidet und sich in etwa so flüssig liest, wie es geschrieben wurde. Die Handlung – auch ein Begriff mit dem man hier vorsichtig sein muss – sei dennoch zum besseren Verständnis kurz angerissen:

Einige Monate nach den Ereignissen aus „Alibi“. Captain Hastings kehrt aus Argentinien nach London zurück, um dort seinen alten Freund Hercule Poirot in dessen Wohnung zu überraschen, der selbst gerade im Begriff ist, nach Südamerika abzureisen, gelockt von einem gut bezahlten Job des Multimillionärs Abe Ryland. Ihre Wiedersehensfeier wird allerdings von einem unbekannten Mann gesprengt, der vollkommen abgerissen und verwirrt wiederholt Poirots Adresse murmelt, um schließlich immer wieder Vieren auf ein Stück Papier zu schreiben. Bezieht er sich vielleicht auf die geheimnisvolle Organisation „Die großen Vier“, von welcher der belgische Detektiv Gerüchte gehört hat? Bevor sie viel mehr aus ihm herausbringen können, fällt der Mann in Ohnmacht und sie geben ihm Zeit zum Ausruhen – nur um ihn bei der Wiederkehr ermordet vorzufinden. Vergiftet durch Blausäure.

Poirot und Hastings beginnen gemeinsam Nachforschungen anzustellen und stoßen dabei auf ein international agierendes Verbrecherkartell, das nichts geringeres als die Weltherrschaft anstrebt und sich dabei als erstes den Sturz des britischen Empires zum Ziel gesetzt hat. An der Spitze der Organisation scheint ein Chinese namens Li Chang Yen zu stehen, der zusammen mit einer Französin, einem US-Amerikaner und einem Mann unbekannter Nationalität sämtliche Strippen zieht und Kontakte in die höchsten internationalen politischen Ämter hat. Letzterer ist dabei vor allem als eiskalter Vollstrecker tätig und führt das Ermittler-Duo durch diverse Verkleidungen immer wieder auf eine falsche Fährte. In Folge dessen kommt Poirot gleich mehrfach einen Schritt zu spät und muss dann stets am Fundort einer weiteren Leiche die Spur wieder mühsam aufnehmen. Dennoch: Die „Vier“ empfinden seine Einmischung alsbald als lästig – und Poirot und Hastings geraten plötzlich selbst in Lebensgefahr …

Bereits jetzt sollte dem geneigten Christie-Leser auffallen, dass „Die großen Vier“ so überhaupt nichts mit der Art von gemütlichen Kriminalroman zu tun hat, welche man gemeinhin sonst bei einem Titel aus der Poirot-Reihe erwarten dürfte. Oder um es noch deutlicher zu sagen: Es handelt sich hierbei in der Tat nicht um einen klassischen Whodunit, sondern um den eindeutig äußerst bemühten Versuch der Queen of Crime aus ganz viel Stückwerk irgendwie einen rasanten Agententhriller – ein Genre, das zum damaligen Zeitpunkt auch immer mehr Zulauf bekam – zusammenzubauen. Ein Versuch, den man auf ganzer Linie als gescheitert erklären darf, denn bis heute merkt man dem Werk die Hast an, in der dieses Buch wohl damals „verfasst“ worden sein muss. „Die großen Vier“ liest sich an keiner Stelle homogen, krankt an der episodischen Erzählweise, welche der Herkunft aus den Kurzgeschichten geschuldet ist und verhindert, dass überhaupt so etwas wie ein Lesefluss aufkommen kann. Sind die einzelnen Fälle für sich genommen noch irgendwie interessant, da Poirot sie einmal mehr mit der ihm eigenen Genialität und den „kleinen grauen Zellen“ zu lösen vermag, bilden sie im Verbund eine verwirrend, oftmals gänzlich unlogische Geschichte, die einen roten Faden einfach vermissen lässt.

Stattdessen ist man als Leser einer schon fast penetranten Hektik der Figuren unterworfen, die scheinbar vollkommen kopflos – und entgegen ihrem Charakter – von einem Ort zum nächsten hetzen. Hercule Poirot, der sonst am liebsten gar nicht erst sein Büro verlässt, um sein Schuhwerk sauber zu halten und in „Alibi“ bereits als alt und gebrechlich gezeichnet wurde, muss hier nun zwangsweise zum Actionhelden mutieren, dem nur noch eine Walther PPK und eine gepflegte Partie Baccara zu fehlen scheinen. Wenn die Bezeichnung „out of character“ je zugetroffen hat, dann wohl bei „Die großen Vier“. Da hilft es dann auch nichts, dass Christie die körperlichen Handycaps des Belgiers alle Nase lang erwähnt und diesen über jeden zweiten Schritt stöhnen lässt. Ganz im Gegenteil: Wenn er dann bei nächster Gelegenheit wieder wieselflink seinen Häschern entkommt, fühlt man sich – vollkommen zurecht – einfach am Nasenring durch die Manege gezogen.

Und in dieser wird leider auch vom Zirkus ein Programm geboten, das uns so gar nicht vom Hocker reißen will, da Christie – oder ihr Schwager – schlichtweg nicht erkannt haben, was einen Thriller eigentlich wirklich ausmacht und vollkommen falsche Schwerpunkte setzen. Und das obwohl sich fleißig bei den Genrekollegen bedient wird. Nicht nur findet der geneigte Leser hier gleich einige Parallelen zu Doyles Holmes-Geschichten „Das letzte Problem“ und „Seine Abschiedsvorstellung“, auch Li Chang Yen ist mehr als offensichtlich von Sax Rohmers Fu Manchu inspiriert worden – und damit vom britischen Ressentiment gegen die „gelbe Gefahr“, welche den armen, unschuldigen Engländer immer wieder gegen seinen Willen in die verraucht-exotischen Opiumhöhlen der Hafenviertel lockt, wo das Verbrechen unkontrolliert prosperieren kann – und in diesem Fall nebenbei noch gleich der Putsch gegen den Staat geplant wird. Die Art und Weise, wie die „Vier“ dabei ihr Ziel erreichen wollen, lässt selbst manchen Bond-Bösewicht im Rückblick feinfühlig und taktvoll erscheinen.

Apropos Bond. Es erscheint nur logisch, dass der finale Showdown uns in eine Alpenfestung in den Dolomiten führt, wo Poirot dem Oberbösewicht höchstpersönlich in einer von Sprengstoff gespickten Höhle (Ken Adam hätte seine Freude daran gehabt) entgegentritt. Was, damit habe ich zu viel verraten? Nun, ganz ehrlich, ich war nicht davon ausgegangen, dass sie das Buch dennoch lesen wollen. Das sollte man in der Tat nur dann anstreben, wenn man ein hartnäckiger Christie-Komplettist ist, nichts anderes mehr im Bücherschrank stehen hat oder sich einfach mal vor Augen halten will, wie man es eben nicht macht. Allen anderen rate ich tatsächlich hiervon die Finger zu lassen und stattdessen zu Eric Ambler oder dem eben erst wiederentdeckten John Mair zu greifen, der in „Es gibt keine Wiederkehr“ eine ähnliche Geschichte weit geschickter und gekonnter zu erzählen weiß.

Wertung: 68 von 100 Treffern

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  • Autor: Agatha Christie
  • Titel: Die großen Vier
  • Originaltitel: The Big Four
  • Übersetzer: Giovanni Bandini
  • Verlag: Atlantik
  • Erschienen: 09/2015
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 224 Seiten
  • ISBN: 978-3455650532

Die Geburtsstunde des Goldenen Zeitalters

© Fischer

Als Ende der 2000er Jahre der Fischer Verlag in Kooperation mit der Website „Krimi-Couch“ im Rahmen der Reihe „Fischer Crime Classics“ die Wiederveröffentlichung einiger klassischer Kriminalromane ankündigte, war die Vorfreude unter vielen Usern im damals noch recht lebendigen Forum entsprechend groß. Nicht nur waren einige der dort eingeplanten Autoren hierzulande seit langem vergriffen – auch an das Konzept einer inhaltlich verbundenen Serie hatten sich die Verlagshäuser seit der DuMont-Kriminalbibliothek kaum noch herangewagt. Eine Renaissance des Whodunits, sei sie auch nur so klein, hatte sich daher durchaus ein kleiner Teil der Leserklientel erhofft. Allein, diese Hoffnungen wurden enttäuscht, was rückblickend unterschiedliche Gründe gehabt haben dürfte.

In erster Linie war dies wohl der mangelnde (oder anders bzw. optimistischer kalkulierte?) Absatz der Titel, welcher der „Fischer Crime Classics“-Reihe nach bereits zwei kurzen Staffeln ein jähes Ende bescherte und nicht nur einem begrenzten Käuferkreis, sondern auch der Zusammenstellung und der austauschbaren, vollkommen einfallslosen Cover- und Buchrückengestaltung geschuldet war. Sticht beim fleißigen Sammler ein Titel von Pulp Master, aus Rotbuchs „Hard Case Crime“-Reihe oder aus eben der bereits genannten DuMont-Kriminalbibliothek schon im Regal heraus, gestaltet sich bei den Fischer-Büchern dieser Serie eine Suche in der hauseigenen Bibliothek eher schwierig.

Lieblos war ein Adjektiv, das daher im Zusammenhang mit diesen Neuauflagen – alle gedruckten Werke waren in Deutschland bereits schon einmal veröffentlicht worden – häufiger fiel. Meines Erachtens zurecht, denn mehr als zehn Jahre später sind die „Fischer Crime Classics“ auch dadurch vollkommen in Vergessenheit geraten – und damit leider gleichzeitig ein paar Spannungsromane, welche für Kenner der Geschichte des Kriminalromans (oder solche die es werden wollen) sicherlich von Interesse sein dürften. Nicht zuletzt auch wegen dem stets sehr ausführlichen und vor allem kenntnisreichen Nachwort von Lars Schafft, dem ehemaligen Betreiber der Krimi-Couch.

Dies ist im Fall des vorliegenden Titels wieder äußerst lesenswert, arbeitet es doch den besonderen Stellenwert von Edmund Clerihew Bentleys „Trent’s letzter Fall“ auf eine Art und Weise heraus, welche eigentlich eine zusätzliche Besprechung weitestgehend überflüssig macht. Da aber gerade dieser Titel für die Entwicklung des Genres von enormer Bedeutung ist, sei dennoch dieser Versuch gewagt, wobei ich mit einer kurzem Anriss der Handlung beginnen möchte:

England, Anfang der 1910er Jahre. Der freie Journalist, Künstler und Amateur-Detektiv Philip Trent wird von seinem Chefredakteur Sir James Molloy kontaktiert, welcher einen neuen Auftrag für ihn hat. Sigsbee Manderson, Multimillionär, Geschäftstycoon und Börsenspekulant, wurde tot im Obstgarten vor seinem Landhaus „White Gables“ aufgefunden. Weil die Wall Street tobt und Scotland Yard bei seinen Ermittlungen komplett im Dunkeln tappt, soll Trent seine Unterstützung anbieten. Diese wird in Person des alten Bekannten Inspector Murch sehr gerne angenommen, der den Privatschnüffler nicht nur einen Blick auf die Leiche gewährt, sondern ihn auch das Haus und den Rest des Grundstücks untersuchen sowie alle Beteiligten verhören lässt. Neben den Toten sind das unter anderem Mandersons Frau Mabel, seine beiden Sekretäre Calvin Bunner (Amerikaner und allein schon deswegen verdächtig) und John Marlowe, den Diener Martin und das Dienstmädchen Célestine. Nathaniel Cupples, ein weiterer alter Freund von Trent und angeheirateter Onkel, weilt zur selben Zeit noch in einem Hotel im Nachbardorf.

Nach und nach wird Trent immer mehr in den Fall hineingezogen, der sich nicht nur als schwierigster seiner Karriere herausstellen soll, sondern auch einige Überraschungen für ihn bereithält. So findet er bald heraus, dass die Eheleute alles andere als in Harmonie gelebt haben und sieht sich irgendwann auch von der Witwe mehr und mehr angezogen. Doch welches Spiel spielt sie wirklich? Und wer ist nun eigentlich der Mörder?

Bereits im Jahr 1941 titulierte der Autor Howard Haycraft den ersten Band der Reihe, der ironischerweise aber „Trent’s letzter Fall“ heißt, als „Eckpfeiler der Detektivgeschichte“ – und in der Tat stellt dieses Werk den Beginn einer neuen Ära da, die wir heute auch als „Golden Age“ des Kriminalromans bezeichnen. Zwar ebnet Bentleys Buch als Inbegriff des Cosys, des beschaulichen Landhauskrimis, vor allem einer Vielzahl bekannter Autoren wie Agatha Christie, Dorothy L. Sayers und John Dickson Carr den Weg – dennoch war es dem Autor vor allem wichtig seinen Detektiv nicht zwingend als kalten, rein logischen und damit auch künstlichen Übermenschen zu zeichnen – und sich damit natürlich auch so weit wie möglich von Doyles großem Sherlock Holmes zu entfernen, der zuvor den Kriminalroman wie kaum ein anderer – vor allem in Großbritannien – geprägt hat.

Trent versteht sich somit als Gegenentwurf zu dem Pfeife rauchenden Meisterdetektiv aus der Baker Street, was Bentley auch deutlich herausarbeitet. So ist der Privatschnüffler hier ein äußerst umgänglicher, ja, freundlicher und empathischer Zeitgenosse, dessen Vorliebe für Kriminalistik eher spielerischer Natur ist und somit beim Leser weit weniger intellektuell ausgerichtetes, aber weiterhin anspruchsvolles Miträtseln voraussetzt. Damit soll sich direkt zu Beginn ein heimeliges Wohlbehagen einstellen – eine willkommene Ablenkung vom Alltag, der sich zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Romans im Jahr 1913 zusehends unter den Schatten des drohenden kriegerischen Konflikts der damaligen Weltmächte verdüsterte. Eine Entwicklung, welche Bentley genauso konsequent ausblendet, wie jeglichen Schwermut, so dass sich „Trent’s letzter Fall“ vor allem wie ein kurzweiliges Kammerstück liest, ein literarisch abgebildetes, fast spielerisches Ringen zwischen Mörder und der Detektiv, welche natürlich immer Gentleman bleiben. Ohne es zu wissen, hatte er damit die Blaupause des Whodunit geschrieben, welcher vor allem in Großbritannien das Genre bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs weitestgehend dominieren sollte. Das „Golden Age“ der Detektivgeschichte – es war angebrochen.

Hierzulande ist Bentleys Name nur noch Krimi-Kennern geläufig, was insofern wenig verwundert, da sein Roman zwar eine neue Richtung eingeschlagen, aber in Punkto Spannung wenig neue Maßstäbe gesetzt hat. „Trent’s letzter Fall“ liest sich gefällig, bietet entschleunigende Kurzweil für den Sonntagnachmittag auf dem Sofa, kommt jedoch besonders zu Beginn nur ziemlich behäbig in Gang. Wem diese klassische, britische Gemütlichkeit liegt, wird an der altertümlichen, doch schönen Übersetzung bestimmt Gefallen finden und sich vor allem an Bentleys Talent zu Beschreibungen erfreuen können. Insbesondere seine stimmungsvollen Darstellungen des Landhauses bleiben in Erinnerung und projizieren ein gutes Bild vom Tatort. Dem ein oder anderen wird dabei vielleicht auffallen, dass der Autor mit Zitaten nicht geizt. Warum er dies tut, wird im Nachwort nochmal näher erläutert, das auch weitere tiefe Einblicke in die Gedankenwelt Bentleys gewährt. Dieser wiederum widmete sein Werk Gilbert Keith Chesterton, dem er übrigens 1936 als Präsident des elitären und bekannten Detection Clubs nachfolgte. Ihm folgte dreizehn Jahre später Dorothy L. Sayers, welche „Trent’s letzter Fall“ zu ihren Lieblingsromanen und wichtigsten Inspirationen zählte.

Doch zurück zum Krimi selbst und damit dem wichtigsten Punkt: Die Auflösung. Interessanterweise bricht Bentley für diese mit einigen der späteren (nicht immer streng ausgelegten; siehe „Alibi“) Regeln des Detection Clubs, denn er legt nicht alle Indizien offen, welche eigentlich benötigt werden, um als Leser selbst den Fall zu knacken. Er spielt schlicht unfair, was allerdings dem Plot geschuldet ist, der knapp in der Mitte eine Wendung erfährt, mit der so wohl die wenigsten gerechnet haben. Zumindest wenn sie meinem Rat folgen, nicht zuvor den Klappentext zu lesen, der ärgerlicherweise viel zu viel verrät. Ein weiterer Wermutstropfen ist zudem die tatsächlich unheimlich ätzende Liebesgeschichte, die einem irgendwann genauso auf den Keks geht, wie Trents mitunter affektiertes Gehabe.

Was bleibt am Schluss: Immer noch ein durchaus lesenswerter, früher Vertreter des klassischen Detektivromans, den alle Freunde des „Golden Age“ uneingeschränkt genießen dürften – und mit Adleraugen betrachten sollten, legt er doch das Fundament, auf dem Jahre später Agatha Christie und Co. ihre Erfolge bauen werden.

Wertung: 80 von 100 Treffern

einschuss2
  • Autor: Edmund Clerihew Bentley
  • Titel: Trent’s letzter Fall
  • Originaltitel: Trent’s Last Case
  • Übersetzer: Monika Elwenspoek
  • Verlag: Fischer
  • Erschienen: 02/2009
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 288 Seiten
  • ISBN: 978-3596182473

Der Mörder von Roger Ackroyd

© Atlantik

Bereits Mitte der 2000er hatte ich schon einmal damit begonnen, mich chronologisch durch die Hercule-Poirot-Reihe zu lesen und die Titel anschließend im Kontext zum Gesamtwerk entsprechend zu rezensieren – fast zwanzig Jahre später muss ich nun feststellen, dass ich diese Texte nicht mehr lesen kann, ohne mir verzweifelt die Haare zu raufen und bei jedem zweiten Satz den Rotstift anzusetzen. Ganz besonders fällt mir dies bei meinem alten Senf zu dem vielleicht wichtigsten Buch in der Karriere von Agatha Christie auf – „Alibi“.

Ihren heutigen Weltruf und Bekanntheitsgrad hat sie im großen Maße allein dieser einen Geschichte zu verdanken, welche sich zwar, wie ein Großteil der Whodunits aus dem Golden Age (die sogenannte Epoche von den 20ern bis 40er Jahren des 20. Jahrhunderts in Großbritannien), weitestgehend in den bis dato üblichen Grenzen des Genres bewegt, mit ihrer Auflösung aber auch gleichzeitig diese auf eine Art und Weise sprengt, welche bis zum heutigen Tag noch immer wieder neue Leser aufs Glatteis führen dürfte.

Als „Alibi“ im Jahr 1926 veröffentlicht wurde – nachdem Christie lange Jahre mit dieser Idee gespielt, das Risiko aber auch gefürchtet hatte (u.a. ihr Schwager und der damalige Lord Mountbatten hatten ihr zu einer ähnlichen Romankonstellation geraten) – zahlte sich der verwegene Ansatz der Handlung komplett aus. Es gab damals in England fast kaum eine Zeitung oder Zeitschrift, die sich nicht in irgendeiner Form diesem Buch widmete, wodurch es in der Öffentlichkeit zu dem Thema Nummer eins und damit auch zu Agatha Christie finalem Durchbruch wurde. Diese Hysterie, aber auch diese Menge an positiven und negativen Kritiken, hatte es so in Bezug auf die Spannungsliteratur das letzte Mal beim vermeintlichen „Tod“ des großen Sherlock Holmes gegeben. Während man jedoch beim Pfeife rauchenden Meisterdetektiv aus der Baker Street noch relativ einfach zur Analyse schreiten kann, ohne Gefahr zu laufen, das Lesevergnügen zu schmälern, ist dies in diesem Fall für den Rezensenten ein äußerst gefährlicher Drahtseilakt. Jeder kleine Hinweis könnte genau der entscheidende zu viel sein und damit der Lektüre von „Alibi“ die eben (leider nur) einmalige und einzigartige Wirkung rauben. Das ist auch dann der Grund, warum ich für dieses Werk ein zweites Mal zur Feder gegriffen habe.

Gerade viele Anhänger des „Noir“ – und auch manche der zeitgenössischen Autoren selbst, wie z.B. Raymond Chandler – kritisieren genau diese künstlich erzeugte Wirkung vehement, werfen Agatha Christie mangelnde Fairness oder gar Schummelei bei ihrer Erzählung vor. „Alibi“ – es polarisiert immer noch. Und auch wenn man sich tatsächlich über die limitierten Fähigkeiten der Autorin streiten kann – dieser hartnäckige, kritische Widerstand ist vielleicht gleichzeitig ein weiterer Beleg, wie gut, ja, wie genial das Konzept der Handlung weiterhin funktioniert. Und diese sei nun auch kurz, wie üblich, angerissen:

Das kleine verschlafene Nest King’s Abbot in England ist in Aufruhr. Der Tod der reichen Witwe Mrs. Ferrars lässt die Gerüchteküche hochkochen, zumal im Dorf seit langer Zeit das Gerücht die Runde macht, sie hätte einst ihren Mann umgebracht. Anfänglich hält deshalb auch jeder ihr Ableben für einen Selbstmord. Zumindest solange, bis der noch begüterte Roger Ackroyd, ein Witwer, welcher sich mit der Absicht trug Mrs. Ferrars zu ehelichen und Zweifel an der Suizid-Theorie äußerte, brutal erstochen wird. Verdächtige gibt es nun genug. Da ist zum einen Mrs. Cecil Ackroyd, die neurotische und hypochondrische Schwägerin Rogers, welche seit Jahren durch ihren extravaganten Lebensstil große Schulden angehäuft hat und finanziell arg in der Klemme steckt. Aber auch ihre Tochter Flora, Ackroyds Sekretär Geoffrey Raymond, Ackroyds Stiefsohn Ralph Paton und der Großwildjäger Major Blunt scheinen etwas zu verbergen und eine ungewisse, dunkle Vergangenheit zu haben.

Da man bei den Ermittlungen nicht weiterkommt, zieht man Monsieur Hercule Poirot hinzu, der sich vor einem Jahr aus seinem Berufsleben zurückgezogen hat und seitdem inkognito im Dorf lebt um Kürbisse züchten. Da sein treuer Freund Captain Hastings derzeit in Argentinien weilt, nimmt der belgische Meisterdetektiv diesmal die Hilfe des Landarztes Dr. Sheppard in Anspruch, aus dessen Perspektive dieser Fall auch erzählt wird …

Alibi“ spielt einige Monate nach dem (später erschienenen) Roman „Die großen Vier“ und präsentiert sich im gesamten Verlauf als typischer Vertreter des klassischen Landhauskrimis. Verschrobene Dorfbewohner, ein herrlicher Landsitz und ein ganzer Haufen düsterer Geheimnisse. Und irgendwo mittendrin – der Mörder. So weit, so bekannt, dürfte man nun meinen, aber Christie macht es dem Leser doch diesmal um einiges schwerer, sich überhaupt auf irgendeinen Verdächtigen einschießen zu können, weil es derer erstens viele sind und weil sich zumindest auf den ersten Blick keiner bzw. keine direkt als Täter anbieten möchte. Anstatt schon relativ früh, wie sonst in Poirot-Romanen üblich, falsche Fährten und Hinweise zu legen, nutzt die Autorin stattdessen den Raum, um die Besetzung dieses literarischen Kammerspiels in der Provinz näher zu charakterisieren und auszuarbeiten. Wohlgemerkt mit äußerst feiner Feder, denn wer selbst in einem kleinen Dorf aufgewachsen ist, wird wohl im Verhalten der Betroffenen gleich einige Ähnlichkeiten zu den eigenen Nachbarn entdecken dürfen.

Was darüber hinaus auffällt: Hercule Poirots erster Auftritt lässt lange auf sich warten, was Christie damit erklärt, dass der belgische Meisterdetektiv, inzwischen in höherem Alter, bereits in den Ruhestand gegangen ist. Meines Erachtens ein deutlicher Hinweis darauf, wie unsicher sie sich zum damaligen Zeitpunkt über diese Figur und deren Potenzial war. Gut möglich also, dass „Alibi“ die letzte Chance des Belgiers mit dem Eierkopf und den kleinen grauen Zellen war. Eine Vermutung, welche ich auch im folgenden Roman „Die großen Vier“ und dessen Entstehung bekräftigt sehe, aber dazu dann an passender Stelle mehr.

Fakt ist: Zurückgezogen das englische Landleben genießend und Kürbisse züchtend, hat Poirot in „Alibi“ eigentlich nichts mehr der Aufklärung von Verbrechen zu schaffen, entgegen des späteren Eindrucks, er könne ohne Ermittlungen nicht leben, gar komplett mit diesem Teil seines Lebens abgeschlossen. Erst die mehr als offenkundige Hilflosigkeit der Polizeikräfte in Bezug auf den Mord an Roger Ackroyd holen ihn letztlich aus der Lethargie, wobei Poirot dennoch verhältnismäßig wenig Raum innerhalb der Handlung eingeräumt wird und er sich in erster Linie aufs Beobachten beschränkt. Zumindest bis zum Ende, in dem er endlich aktiv werden und den, natürlich die ganze Zeit von ihm identifizierten Mörder, der Gerechtigkeit zuführen darf. Insbesondere diese letztere Passage dürfte den ein oder anderen Beobachter ein wenig an den im Geplänkel verborgenen Scharfsinn eines Inspector Columbo erinnern.

Bis dahin werden uns alle relevanten Fakten der vergangenen Ereignisse von dem Ich-Erzähler Dr. Sheppard präsentiert, der zwar seine eigenen Vermutungen anstellt, sich letztlich auf den genauen Hergang oder die Motive des Mörders aber keinen Reim machen kann. In Folge dessen kommt gerade in der ersten Hälfte das Spannungsmoment weitestgehend zu kurz, profitiert „Alibi“ eher von dem Witz und Charme der skizzierten Dorfbewohner, wobei sich hier besonders die Schwester des Doktors, Caroline Sheppard, ihre Meriten beim Leser verdienen dürfte. Es ist keine große Überraschung, dass sie – Christie bestätigt dies später selbst – in vielerlei Hinsicht als Blaupause für Mrs. Marple dienen sollte. Poirots Abwesenheit bedeutet im Umkehrschluss aber nicht, dass wir auch diesmal nicht wieder alle Werkzeuge zur Hand bekommen, um selbst das Geheimnis zu lüften. Wie genial jedoch Christie die Identität des Mörders verschleiert und uns damit zum zweifeln und verzweifeln bringt – das ist im Rückblick das größte Verdienst dieses Romans. Geschickt wird unsere Aufmerksamkeit abgelenkt, während direkt vor unserer Nase ein Indiz nach dem anderen verschoben wird. Der geschickteste Jahrmarktspieler könnte es nicht besser machen.

So ist es dann die finale Revelation, welche „Alibi“ aus der Masse der vielen anderen Kriminalromane heraushebt – und uns fassungslos, staunend und ehrfürchtig diesen Geniestreich, diesen äußerst erfindungsreichen Tabubruch bewundern lässt. Er reißt das Konzept der üblichen Kriminalerzählung aus seiner vorgegebenen (als felsenfest angenommenen) Verankerung und gibt ihr eine völlig neue Form. Viele mögen vorher diese Idee vielleicht schon gehabt haben, aber nur eine konnte sie wohl derart perfekt und stilsicher umsetzen: Agatha Christie, die „Queen of Crime“.

Alibi“ ist ohne Übertreibung eines der wichtigsten und besten Bücher aus ihrem riesigem Gesamtwerk. Ein Muss für alle Freunde des klassischen Whodunits – ohne Wenn und ohne Aber.

Wertung: 94 von 100 Treffern

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  • Autor: Agatha Christie
  • Titel: Alibi
  • Originaltitel: The Murder of Roger Ackroyd
  • Übersetzer: Michael Mundhenk
  • Verlag: Atlantik
  • Erschienen: 08/2014
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 288 Seiten
  • ISBN: 978-3455650044

Die frühen Abenteuer des Hercule Poirot

© Fischer

England, Mitte der 20er Jahre. Agatha Christie hat sich zwar inzwischen bereits einen Namen gemacht, wird aber immer noch mit großen Schriftstellern wie Sir Arthur Conan Doyle und Gilbert Keith Chesterton verglichen und ihr Werk entsprechend auch an deren gemessen. So mutet es fast als ob sie genau jenen nacheifern will, als sie mit „Poirot rechnet ab“ 1924 eine Kurzgeschichtensammlung vorlegt, in welcher der belgische Detektiv in elf kniffligen Fällen seinen detektivischen Spürsinn – und sein Partner Captain Hastings mal wieder eine Menge Geduld beweisen muss.

In Wirklichkeit ging dieser Impuls damals jedoch von Christies Lektor Bruce Ingram aus, der, beeindruckt von ihrem Debüt „Das fehlende Glied in der Kette“, sie dazu animierte, es ihren Vorbildern doch ebenfalls in knapperer Form gleichzutun. Eine Anregung, der sie der Überlieferung zu Folge nur äußerst widerwillig nachkam, zumal die ganze Vorbereitung des Buches unter äußerst schlechten Vorzeichen stattfand, entzündete sich doch an diesem Titel ein eskalierender Zwist zwischen der Autorin und ihrem Verleger John Lane. Mit ihm hatte sie erst ein paar Jahre zuvor, zu Beginn ihrer Karriere, einen Vertrag über sechs Bücher abgeschlossen, den sie nun nicht nur als ausbeuterisch erkannte, sondern der ihr im Fall von „Poirot rechnet ab“ auch die Auswahl der Geschichten für die Sammlung und deren Veröffentlichungsdatum diktierte. Allen hinsichtlich des finalen Titels konnte sich Christie durchsetzen und zudem festhalten, dass das Buch offiziell zu ihrem Sechs-Bücher-Vertrag gezählt wurde. Da die Geschichten zuvor bereits im Sketch-Magazine erschienen waren, kam es zu einer Verhandlung vor Gericht, welche die Autorin letztlich für sich entscheiden konnte. Das Tischtuch war jedoch endgültig zerschnitten, was man heute noch daran erkennen kann, dass auch jegliche Widmung in der Kurzgeschichtensammlung fehlt.

Umso erstaunlicher, dass sich die Stories – welche in verschiedenen Jahren von Poirots Karriere spielen, aber bis auf ein paar Ausnahmen (u.a. überquert er in „Der raffinierte Aktendiebstahl“ den Atlantik) vorwiegend im Umkreis von London angesiedelt sind – auch heute immer noch äußerst kurzweilig lesen und als Rätselspaß für zwischendurch einen durchaus guten Job machen. Poirot und sein Partner Captain Hastings, mittlerweile fester Begriff im Gesellschaftsleben der Hauptstadt, werden immer dann zu Rate gezogen, wenn ein Problem zu schwierig oder ein Fall zu mysteriös ist. Geschildert werden ihre gemeinsamen Ermittlungen dabei (in bester Watson-Manier) aus der Sicht des ehemaligen Soldaten, der sich nicht selten von seinem belgischen Freund unterschätzt fühlt und sich stets aufs Neue angesichts dessen offensichtlicher Eitelkeit die Haare raufen muss. Neben seinen kriminalistischen Fähigkeiten, so hat Poirot auch die Selbstverliebtheit auf ein ganz neues Niveau gehoben, was es für seine Mitmenschen zu ertragen gilt. Und das diesmal in den folgenden 11 Fällen:

  • Die Augen der Gottheit
  • Die Tragödie von Marsdon Manor
  • Die mysteriöse Wohnung
  • Das Mysterium von Hunter’s Lodge
  • Der raffinierte Aktiendiebstahl
  • Das Abenteuer des ägyptischen Grabes
  • Der Juwelenraub im Grand Hotel
  • Der entführte Premierminister
  • Das Verschwinden Mister Davenheims
  • Das Abenteuer des italienischen Edelmannes
  • Das fehlende Testament

Größere Ausfälle gibt es unter den einzelnen Geschichten keine. Ganz im Gegenteil: Ein paar gehören sogar zu den besten Kurzabenteuern des belgischen Detektivs, was interessanterweise dann auch eins zu eins für ihre ITV-Verfilmungen mit David Suchet in der Hauptrolle gilt. Hier ist zum Beispiel schon der Auftakt, „Die Augen der Gottheit“, zu nennen, in dem der Diebstahl eines legendären chinesischen Diamanten angekündigt und Poirot als Ratgeber hinzugezogen wird. Was folgt ist ein Katz-und-Maus-Spiel mit einer gut aufgelegten Spürnase, das natürlich gleichzeitig auch als Verbeugung vor dem großen Wilkie Collins zu verstehen, an dessen „Monddiamant“ sich Christie ganz unverblümt orientiert. Der zweite Streich folgt sogleich mit der Geschichte „Die Tragödie von Marson Manor“, welche, von einer gespenstischen und unbehaglichen Atmosphäre durchdrungen, eine Vogelflinte ins Zentrum von Poirots Interesse rückt. In „Das Mysterium von Hunter’s Lodge“ übernimmt stattdessen Hastings die Zügel, während der Detektiv selbst von einer Grippe ans Bett gefesselt ist. Der Fall rund um den Sohn von Baron Windsor (interessante Namenswahl seitens Agatha Christie) führt den etwas tolpatschigen Ex-Soldaten gemeinsam mit dem allgegenwärtigen Inspektor Japp in eine einsame Jagdhütte in den Mooren von Derbyshire – und den Leser damit in ein unheimliches, bedrohliches Ambiente.

Mit „Das Abenteuer des ägyptischen Grabes“ offenbart Agatha Christie erstmals ihr starkes Interesse an die Archäologie – einem Themenfeld, dem auch ihr späterer zweiter Ehemann Max Mallowan entstammt und das sich im Laufe der Zeit, neben der Schriftstellerei, zu ihrer anderen große Leidenschaft entwickelt. Poirot und Hastings reisen hier zu einer Ausgrabungsstätte nahe der Pyramiden von Gizeh, wo vermeintlich die Kräfte des Bösen am Werk sind und die sonst so sachliche Herangehensweise des Detektivs auf eine schwere Probe gestellt wird. Weitere Highlights sind „Der entführte Premierminister“ (Gegen Ende des Ersten Weltkrieges werden Poirot und Hastings in eine rasante Spionagegeschichte hineingezogen) sowie „Das Verschwinden Mister Davenheims“ (Poirot löst einen Fall, ohne sich vom Stuhl zu erheben) und „Das Abenteuer des italienischen Edelmannes“ (Ein Mord in einem geschlossenen Raum will aufgeklärt werden).

Wie schon in Christies Romanen, so stellt die Autorin auch hier die Kombinations- und Beobachtungsgabe des Lesers immer wieder vor einige Herausforderungen. Eifrig habe ich mich in die Fälle gestürzt, versucht mit Poirots Augen zu sehen und die kleinen grauen Zellen zu aktivieren, um Licht in die oft unlösbar wirkenden Fälle zu bringen. Ehrlicherweise muss ich gestehen, dass ich bei einem Großteil der Geschichten ähnlich ratlos war wie der gute Hastings, was wiederum für ihn oder gegen mich spricht. In jedem Fall ein Beleg dafür, wie gut Christie ihre Plots auch auf kleinstem Raum konstruiert bzw. konzipiert hat, denn Hinweise, welche der Schlüssel zur Lösung gewesen wären, findet (wer sich die Mühe macht) man im Nachhinein, wenn auch gut versteckt, immer. Dabei kommt natürlich, ganz in der Tradition des Whodunit, keine Spannung im wörtlichen Sinne auf, was der Kenner des Genres jedoch weiß und ihn wenig überraschen dürfte.

Poirot rechnet ab“ ist am Ende ein wirklich guter, eleganter und auch intelligenter Sammelband, der mit seinem vorzüglichen Humor und den schrägen Figuren bestens unterhält – und gleichzeitig das Verbrechen als Form der Unterhaltung gesellschafts- und salonfähig macht. Ein Leckerbissen für alle Fans der Queen of Crime und von klassisch-britischen Detektivgeschichten.

Wertung: 83 von 100 Treffern

einschuss2
  • Autor: Agatha Christie
  • Titel: Poirot rechnet ab
  • Originaltitel: Poirot investigates
  • Übersetzer: Ralph von Stedman
  • Verlag: Fischer
  • Erschienen: 09/2004
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 208 Seiten
  • ISBN: 978-3596167647

Nachtrag: In der ursprünglichen Fassung dieser Rezension habe ich behauptet, die Serie mit David Suchet wäre eine BBC-Produktion. Das ist natürlich Unsinn, zeichnet hierfür doch ITV verantwortlich. Vielen Dank an Joachim Feldmann für den Hinweis zur Korrektur.

They call me Mister Tibbs

© DuMont

Selbst in Kreisen von Buchhändlern und Krimi-Liebhabern wird der Name John Ball heute wohl zumeist auf Kopfschütteln stoßen. Der ein oder andere erinnert sich vielleicht, dass es im Mittelalter einen englischen Priester diesen Namens gegeben hat, der in seinen Predigten für die soziale Gleichheit aller Menschen und die Aufhebung der Standesgrenzen eintrat. Aber nur die wenigsten bringen ihn wohl mit dem Film, „In der Hitze der Nacht“, oder überhaupt mit dem Genre des Kriminalromans in Verbindung.

John Dudley Ball, so sein voller Name, ist in Vergessenheit geraten, seine Bücher um den schwarzen Detective Virgil Tibbs, sind seit ihrer Neuauflage im Rahmen der Dumont-Kriminalbibliothek, vom Büchermarkt verschwunden. Grund genug sein Erstlingswerk, das im Jahre 1966 mit dem Edgar Award für das beste Debüt ausgezeichnet wurde, nach längerem staubigen Aufenthalt aus dem Regal zu ziehen und nochmals zu lesen.

Das kleine Südstaatenkaff Wells, Mitte der 60er Jahre. Während schon offiziell die von Washington aus forcierte Rassentrennung gilt und Martin Luther King seine Mitstreiter zu letzten Gefechten aufruft, gilt hier immer noch die alte, weiße Ordnung. Auf den ersten Blick idyllisch und friedlich wirkend, brodelt unter der Fassade allgegenwärtiges Misstrauen und Rassenhass. Der amtierende Sheriff, ein ehemaliger Gefängniswärter, hat den Job nur wegen seiner fremdenfeindlichen Gesinnung bekommen. Und auch sonst hat kaum einer im Dienste des kleinen Polizeireviers eine entsprechende Ausbildung oder verfügt über die notwendigen Kenntnisse seines Berufs. Doch das ist soweit nicht von Belang, denn Wells ist eine sichere Stadt.

Alle Maßnahmen, besonders bezüglich der Verhinderung des Kontakts von Weißen und Schwarzen, wurden getroffen. Getrennte Toiletten, getrennte Wartesäle, getrennte Hotels und Restaurants. Das die Einrichtungen für Letztere zu Wünschen übrig lassen, ist hier selbstverständlich. Neger, diese Bezeichnung ist im Süden weiterhin gebräuchlich, sind einen Dreck wert. Auf den nächtlichen Streifen hält man lieber nach schlafenden Hunden Ausschau, über deren Wohlbefinden und Gesundheit man sich mehr Sorgen macht als um die Farbigen. Eine harmonische Kleinstadt also, wo man mit nachbarlicher Herzlichkeit und einer blauäugigen Haltung des Wegschauens den American Dream der 60er Jahre lebt. Zumindest so lange, bis ein Mord die sauber konstruierte Idylle erschüttert.

In der Hitze der Nacht wird der Organisator der kommenden Musikfestspiele tot auf der Straße aufgefunden. Und mit einem am Bahnhof wartenden fremden Schwarzen hat man schnell einen Hauptverdächtigen bei der Hand. Als dieser sich dann allerdings als Polizist aus Kalifornien mit Namen Virgil Tibbs herausstellt, der in seinem Morddezernat in Pasadena den Ruf eines professionellen und kompetenten Ermittlers genießt, droht die halsstarrige Haltung der Einheimischen gegenüber Schwarzen bald widerwillig Risse zu zeigen. Denn es ist Tibbs, der in dem mysteriösen Fall als einziger den Überblick behält und den richtigen Spuren folgt.

Man lehnt sich nicht zu weit aus dem Fenster, wenn man forsch behauptet, dass „In der Hitze der Nacht“ zu den wichtigsten Werken in der Geschichte des Kriminalromans zählt. Nicht nur das Buch selbst, auch die sich eng an der literarischen Vorlage orientierende Verfilmung von United Artists aus dem Jahre 1967, mit Sidney Poitier als Virgil Tibbs und Rod Steiger als Chief Gillespie, wurde mit Preisen, darunter zwei Oscars (für den besten Film und den besten Hauptdarsteller Steiger), überhäuft. In einer Zeit, wo man, besonders in der Literatur, vor vielerlei Dingen die Augen verschloss, hat John Ball den Finger tief in die Wunde gelegt. Er zeigt ein zerrissenes Amerika, mit einem Norden, in dem bereits ein neues Verständnis der Hautfarbe herrscht, während der Süden seine alten Ressentiments noch immer mit Eifer pflegt. Mit Tibbs‘ Ankunft in Wells kommt es zu einer Konfrontation zweier Welten und Wertvorstellungen, die nicht einer gewissen, wenn auch tragischen, Komik entbehrt.

Auf der einen Seite die Polizeikräfte von Wells, ungeschult, ohne jegliche Erfahrung und auf beschämende Weise ideenlos. Auf der anderen Seite Virgil Tibbs, ein moderner und in seiner Heimat angesehener Ermittler, der nun gemeinsam mit Kollegen, die ihn für Abschaum und mit dieser Meinung nicht hinter dem Berg halten, einen Mord aufklären soll. Mit nicht selten beißendem Spott und Hohn stellt Ball hier die Sinnlosigkeit des Rassendenkens bloß. Von der scheinbaren Überlegenheit der Weißen bleibt sehr schnell nicht mehr als offensichtliche Inkompetenz, aus der sich manche der Dorfbewohner nur noch mit blindwütiger Gewalt zu retten versuchen. Wo sonst klischeehafte Charaktere die Krimihandlung bevölkern, scheint Ball äußerst genau beobachtet zu haben. Und auch Virgil Tibbs selbst ist alles andere als perfekt. Sein anfangs zur Schau gestellter Gleichmut ob der vielen Anfeindungen und Demütigungen, weicht im weiteren Verlauf schließlich Frustration und Zorn, denn ein Versagen in diesem Fall, würde allein ihm in die Schuhe geschoben werden. Und Tibbs ist, vielleicht ungewöhnlich für einen Schwarzen in dieser Zeit, sehr von sich eingenommen:

Den Bartstoppeln nach zu urteilen, würde ich sagen, er war die ganze Nacht auf den Beinen. Wenn er nach Hause gegangen wäre, um seine Schuhe zu wechseln, hätte er sich höchstwahrscheinlich auch rasiert. Daß er sich regelmäßig rasiert, sieht man an den kleinen Schnitten unter seinem Kinn.“

Ich habe keine Schnitte gesehen„, erwiderte Gillespie in provozierendem Ton.

Ich sitze tiefer als Sie, Chief Gillespie„, antwortete Tibbs, „und auf meiner Seite was das Licht besser.“

Sie scheinen sich ihrer Sache ja mächtig sicher zu sein, was, Virgil?“ gab Gillespie zurück. „Übrigens ist Virgil ein ziemlich ausgefallenen Name für einen schwarzen Jungen wie Sie. Wie nennt man Sie denn zu Hause, wo Sie herkommen?“

Dort nennt man mich Mr. Tibbs“, antwortet Virgil.

In der Hitze der Nacht“ überzeugt mit einem stetig spannender werdenden Fall, der nicht nur bemerkenswert intelligent konstruiert wurde, sondern den der Leser auch durch die Augen vieler Beteiligter und somit aus mehreren moralischen Blickwinkeln verfolgen kann. Gerade aber Tibbs‘ Gedanken bleiben, für einen Detektivroman ungewöhnlich, undurchschaubar. Seine Ermittlungen führt er für sich, manchmal unter Ausschluss des Lesers, der in dieser Zeit das Handeln anderer Figuren verfolgt und nur dank derer erfährt, wo sich Tibbs überhaupt befindet. Umso erstaunlicher, dass Ball dennoch dem geschickten Beobachter alle Details zur Hand gibt, um den Fall selbst lösen zu können. Die Mehrheit wird sich allerdings, vertrauend auf Tibbs‘ Brillanz, die er wie der große Sherlock Holmes in kleinen Proben seines Scharfsinns unter Beweis stellt, zurück lehnen und unterhalten lassen.

Virgil Tibbs‘ erster Fall ist ein bis über die letzte Seite hinaus beeindruckender Krimi, der mit seinem genialen, selbstbewussten Ermittler und dem letztlich bewegendem Tiefgang auf ganzer Linie zu überzeugen weiß. Ein Klassiker unter den Detektivromanen und ein Juwel innerhalb der Dumont-Kriminalbibliothek, den ich jedem Freund von intelligenter und gesellschaftskritischer Literatur nur ans Herz legen kann.

Wertung: 96 von 100 Treffern

einschuss2
  • Autor: John Dudley Ball
  • Titel: In der Hitze der Nacht
  • Originaltitel: In the Heat of the Night
  • Übersetzer: Beate Felten-Leidel
  • Verlag: DuMont Kriminal-Bibliothek
  • Erschienen: 1997
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 175 Seiten
  • ISBN: 978-3770138326

Wer anderen eine Grube gräbt

© Atlantik

Aller guten Dinge sind drei. Nachdem ihr Debütwerk, „Das fehlende Glied in der Kette“, sowie der erste Band aus der Tommy-und-Tuppence-Beresford-Reihe, „Ein gefährlicher Gegner“, zwar beide positive Resonanz erfuhren, aber der große literarische Durchbruch bis dato ausgeblieben war, ließ Agatha Christie im Jahr 1923 mit „Mord auf dem Goldplatz“ den zweiten Kriminalroman um Hercule Poirot und seinen Freund Captain Hastings folgen – und hatte damit nun endlich den lang ersehnten Erfolg. Nicht zuletzt wohl auch deshalb, weil Zeitungen, wie z.B. „The Times“, den belgischen Detektiv jetzt in einem Atemzug mit der bisherigen Ikone, Sherlock Holmes, nannten, was dem Bekanntheitsgrad der noch neuen Figur enorm zugute kam.

Persönlich begannen für Agatha Christie die frühen 20er Jahre jedoch weniger erfreulich. In ihrer Ehe mit Oberst Archibald Christie begann es zu kriseln, weil er sie zum einen berufsbedingt häufig allein ließ und zum anderen eine, laut ihren eigenen Worten „an Sucht erinnernde Vorliebe“, für das Golfspiel entwickelt hatte. Wenn er überhaupt einmal zuhause weilte, verbrachte er den Großteil seiner Freizeit auf den Golfplatz, weswegen sich Agatha Christie bald als „Golf-Witwe“ bezeichnete. Ihren Frust verarbeitete sie daraufhin kurzerhand in dem vorliegenden Roman, dessen Widmung natürlich als ironischer Wink mit dem Zaunpfahl an den Gatten interpretiert werden kann. Archibald hatte nie viel Interesse an ihrer Schreiberei gezeigt und letztlich sollte die Autorin den Konkurrenzkampf mit dem Sport Golf auch verlieren. Im Jahre 1926 gestand er ihr einer Affäre mit seiner neuen Golfpartnerin, die er nach ihrer Scheidung sogar heiratete. Agatha Christie nahm nie wieder einen Golfschläger in die Hand und mied fortan auch jeglichen Golfplatz.

Vor diesem Hintergrund ist es umso erstaunlicher, dass „Mord auf dem Golfplatz“ mit Sicherheit zu ihren besten Werken mit dem Protagonisten Hercule Poirot zählt, der hier nicht nur einen seiner kniffeligsten Fälle zu lösen hat, sondern auch – als einziger Roman der Reihe – fast ausschließlich im Norden Frankreichs spielt, wo Christie als junge Frau selbst einige Zeit lebte. Die Handlung nimmt ihren Anfang im fiktiven Dorf Merlinville-sur-mer, das laut Poirots eigenen Worten irgendwo zwischen Boulogne und Calais liegt:

Nachdem Poirot und Hastings, die sich mittlerweile in London eine Wohnung teilen, ein Brief erreicht, überqueren sie den Kanal, um sich mit Monsieur Renauld zu treffen, der, hier ansässig, sein Leben in Gefahr glaubt und um die dringende Unterstützung des bekannten Detektivs bittet. Poirot, dessen kleine graue Zellen schon lange nicht mehr gefordert wurden und der von den unspektakulären Fällen der letzten Zeit genug hat, kommt trotz aller Eile zu spät. Noch bevor er mit seinem Mandanten ein Wort wechseln kann, wird dieser tot in einer ausgehobenen Grube auf dem nahe gelegenen Golfplatz gefunden, während man seine Ehefrau gefesselt und geknebelt im Schlafzimmer entdeckt. Alle Indizien scheinen eigentlich klar auf einen Einbruch hinzudeuten. Und auch für den arroganten Ermittler der Sûreté, Monsieur Giraud, scheint der Fall gelöst. Niemand anderes als der Sohn, Jack Renauld, der für den Abend kein Alibi aufzuweisen hat, kann die Tat begangen haben. Doch Poirot selbst kommen Zweifel, die sich auch schon nach kurzer Zeit als berechtigt erweisen sollen …

Das liest sich auf den ersten Blick wie jeder andere typische Vertreter des klassischen Whodunits, aber „Mord auf dem Golfplatz“ birgt durchaus einige Besonderheiten. Nicht nur kommt der vorliegende Roman weit düsterer daher als die sonst eher gemütlichen Titel dieses Sub-Genres – mit Monsieur Giraud setzt Christie zudem auch einen zweiten „Hahn“ in den Stall, der sich von vorneherein gegen Poirots Teilnahme sperrt und diesem extrem feindlich gesinnt ist. Der Belgier, üblicherweise selbst gewohnt, die Bühne allein für sich zu beanspruchen, zeigt sich anfangs äußerst irritiert darüber, sein Scheinwerferlicht teilen zu müssen und ist derart in dem Konkurrenzkampf gefangen, dass er dadurch fast den eigentlichen Fall vergisst. Christie gibt sich hier viel Mühe, das Kräftemessen der zwei Egomanen in Szene zu setzen und geizt dabei weder mit Situationskomik noch mit einer gewaltigen Portion britischen Humors. Konkurrenz belebt in diesem Buch nicht nur das Geschäft, sondern vor allem die Handlung. Und sorgt letztlich auch dafür, dass der Belgier mit dem eiförmigen Kopf zur Höchstform aufläuft. Ihm spielt dabei vor allem sein gutes Gedächtnis in die Karten, denn sein Wissen über vergangene Fälle mit ähnlichem Tathergang soll sich bei der Lösung als äußerst nützlich erweisen.

Weniger nützlich ist diesmal Captain Hastings, der sich Hals über Kopf in die in dem Mordfall verwickelte Dulcie Duveen verliebt, was wiederum im weiteren Verlauf die Freundschaft zwischen ihm und Poirot auf eine harte Probe stellt. Später wird Hastings seine große Liebe heiraten und mit ihr gemeinsam nach Argentinien ausreisen, womit sich Agatha Christie einen persönlichen Wunsch erfüllt, die dieser Figur bereits seit dem ersten Roman überdrüssig geworden war und ihn von der Bildfläche verschwinden lassen wollte. Wie Arthur Conan Doyle, der Sherlock Holmes in den Reichenbachfällen entledigte, um ihn auf Druck der Leserschaft doch wieder zum Leben zu erwecken, so holt aber auch die Queen of Crime Poirots etwas naiven, aber gutmütigen Partner schon früh wieder zurück an dessen Seite. Schon im übernächsten Band der Reihe, „Die großen Vier“, wird er erneut mit von der Partie sein und erst 1937 für längere Zeit aus der Serie verschwinden, um dann sein Comeback und den letzten Auftritt erst wieder im Finale, „Der Vorhang“, zu feiern. Obwohl daher ein Großteil der Hercule-Poirot-Romane ohne Captain Hastings auskommt, ist er, wie Dr. Watson bei Sherlock Holmes, bis heute fest in unserer Erinnerung verwurzelt.

Und was tut sich in Punkto Spannungsmoment? Nun, wie jeder guter Rätselkrimi, so lebt auch dieser – der übrigens nur (wir wissen ja auch jetzt warum) wenige Zeit auf dem Golfplatz spielt – von den geschickt ausgelegten falschen Spuren und überraschenden Wendungen, wobei sich Agatha Christie hier eindeutig von Sir Arthur Conan Doyles Kurzgeschichte „Abbey Grange“ (siehe „Die Rückkehr des Sherlock Holmes“) sowie dessen Roman „Das Tal der Furcht“ inspirieren ließ. Das tut dem Lesevergnügen aber keinen Abbruch, denn wie geschickt und ausgekocht Poirot auch diesmal wieder die losen Fäden verknüpft, das weiß selbst fast hundert Jahre nach der Veröffentlichung des Romans noch zu begeistern. Mehr noch: Frönt Christie in ihren Krimis zumeist eher einer beschaulichen Gangart, entwickelt sich dieser Whodunit gegen Ende hin zu einem fesselnden Pageturner, den man auch für alle guten Worte nicht mehr aus der Hand legen möchte.

Mord auf dem Golfplatz“ – das ist ein herrlich unterhaltsames Krimi-Kammerspiel von der ersten bis zur letzten Seite, das erstaunlich viele Haken schlägt und uns bis zum Schluss gekonnt im Dunkeln tappen lässt. Ein echtes Muss für alle Freunde der Queen of Crime und eine uneingeschränkte Empfehlung für alle Liebhaber des klassischen britischen Krimis aus dem Golden Age.

Wertung: 93 von 100 Treffern

einschuss2
  • Autor: Agatha Christie
  • Titel: Mord auf dem Golfplatz
  • Originaltitel: The Murder on the Links
  • Übersetzer: Gabriele Haefs
  • Verlag: Atlantik
  • Erschienen: 04/2016
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 240 Seiten
  • ISBN: 978-3455651003

Journey into Fear

© Atlantik

In vielerlei Fällen übersteigt der Bekanntheitsgrad einer Verfilmung, den der literarischen Vorlage – und hier bildet auch „Von Agenten gejagt“ (Orig. „Journey into Fear“) keinerlei Ausnahme.

1943, mitten während des Zweiten Weltkriegs, kam diese Umsetzung von Eric Amblers gleichnamigem Thriller – der auf den Deutsch den Titel „Die Angst reist mit“ erhielt – in die Kinos und konnte, trotz der vergleichsweise übersichtlichen Spiellänge von gerade mal 68 Minuten, nicht zuletzt auch aufgrund der starken Besetzung sein Publikum überzeugen. So spielt hier unter anderem Orson Welles, der zwei Jahre zuvor mit „Citzen Kane“ von sich Reden machte, eine der tragenden Hauptrollen und teilte sich die Regie mit Norman Forster, welcher wiederum Krimi-Kennern als Regisseur der Charlie-Chan-Streifen ein Begriff sein dürfte. Doch verdient nun auch das Buch denselben Klassiker-Status wie die erste Leinwandversion (1975 erschien eine weitere, kanadische Produktion mit u.a. Donald Pleasance und Ian McShane)?

Diese Frage kann, soviel sei vorab schon mal gesagt, besten Gewissens mit einem kräftigen „Ja“ beantwortet werden, denn einmal mehr gelingt es dem englischen Autor scheinbar mühelos, aus einer vergleichsweise äußerst alltäglichen und unspektakulären Ausgangssituation ein unfassbar spannendes, intelligentes Kammerspiel zu skulptieren, das einen Großteil moderner Spionagekrimis mühelos hinter sich lässt und äußerst gekonnt die Brücke zum klassischen Whodunit schlägt. Gekonnt und wohlgemerkt gewollt, denn die Reminiszenzen an ein paar der ganz großen Vertreter des Golden Age of Crime sind mehr als offensichtlich, was dem Werk allerdings nicht nur ein größeres Publikum eröffnet, sondern auch unterstreicht, wie vielschichtig und vor allem genreübergreifend der Kriminalroman mit dem richtigen Schriftsteller an der Feder sein kann. Der bedient sich beim Aufbau seiner Handlung auch bei sich selbst und präsentiert dem Leser einen Protagonisten, der Ambler-Kennern in seinen Charakteristika vielleicht etwas bekannt sein dürfte.

Frühjahr 1940, Istanbul. Während die Truppen des Dritten Reichs erbarmungslos ihre Macht über das bereits eroberte Polen festigen und hinter den Kulissen die Planungen für die Eroberung der Benelux-Staaten („Fall Gelb“) und von Frankreich („Fall Rot“) laufen, rüsten sich die Alliierten ihrerseits für den erwarteten Angriff. Unter ihnen ist auch die noch relativ junge türkische Republik, die zwar bis zum August 1944 außenpolitisch ihre Neutralität bewahren sollte, der aber dennoch daran gelegen war, militärisch auf Abschreckung zu setzen. Aus diesem Grund reist der englische Ingenieur Graham von der Rüstungsfirma Cator & Bliss (schon bekannt aus Amblers Erstling „Der dunkle Grenzbezirk“ und „Anlass zur Unruhe“) in die Stadt am Bosporus. Er soll die notwendigen Daten sammeln, um die Kriegsschiffe der türkischen Marine mit neuen Geschützen ausstatten zu können und mit diesen Informationen nach England zurückkehren. Ein Routineauftrag für Graham, der vor seiner Abreise noch die Gastfreundschaft der Türken genießt und, von einem mysteriösen Beobachter in einem Nachtclub mal abgesehen, einen schönen letzten Abend in der Metropole verbringt. Doch dieser soll jäh enden.

Als Graham in sein Hotelzimmer zurückkehrt, wird direkt auf ihn geschossen. Er überlebt nur knapp, zeigt sich typisch englisch empört und glaubt in seiner Naivität lediglich einen Einbrecher überrascht zu haben. Doch als sein türkischer Verbindungsmann Kopeikin ihn ins Bild setzt, eröffnet sich ihm die ganze Ernsthaftigkeit der Situation. Der versuchte Raubüberfall war in Wirklichkeit ein fehlgeschlagenes Attentat auf ihn. Oberst Haki vom türkischen Geheimdienst setzt ihn in Kenntnis, dass bereits zuvor ein Anschlag auf ihn vereitelt wurde und die deutschen Agenten mit aller Macht verhindern wollen, dass Graham zeitnah England erreicht und damit die Aufrüstung der Türken vorantreibt. Obwohl sich der schrullige Ingenieur noch weiterhin gegen die ihn so absurde Vorstellung wehrt, Beteiligter in einem Spionage-Katz-und-Maus-Spiel zu sein, muss er dennoch tatenlos zusehen, wie seine Fahrt mit dem Orient-Express verhindert und er stattdessen an Bord eines Dampfschiffs gebracht wird, das ihn über die griechischen und italienischen Häfen bis nach Südfrankreich transportieren soll.

Die kurze Planänderung gelingt und Graham erreicht das Schiff. Er ist in Sicherheit, so scheint es. Oder haben seine Verfolger diesen Schritt vielleicht auch vorausgesehen? Arbeitet gar einer der anderen Passagiere auch für die Deutschen? Für den Engländer beginnt eine „Journey into Fear“ …

Die Angst reist mit“ kann natürlich in gewisser Weise als Verbeugung Eric Amblers vor der großen Agatha Christie verstanden werden, welche im Jahrzehnt zuvor mit Werken wie „Mord im Orient-Express“ (1934) und „Tod auf dem Nil“ (1937) den „Closed-Room-Mystery“-Roman John Dickson Carrs aus dem klassischen englischen Landhaus erfolgreich in einen neuen, beweglichen Schauplatz transportiert hatte. Und so erinnert gerade die Konstellation auf der Fähre stark an diese Vorbilder, zumal sich dem Leser ein ähnlich diverses Ensemble an möglichen Verdächtigen präsentiert. Recht schnell ist klar – irgendjemand an Bord spielt ein falsches Spiel und versucht Graham noch vor dem Erreichen seines Ziels zu töten. Doch bloß wer? Neben Josette, der aufdringlichen und anhänglichen Kabarett-Tänzerin, welche der Ingenieur bereits in Istanbul kennengelernt hatte, sind dies unter anderem ihr reizbarer Geschäftspartner (Zuhälter wäre wohl passender) Josè, der türkische Tabakhändler Kuventli, der vom Kommunismus begeisterte, französische Geschäftsmann Monsieur Mathis und seine Frau sowie der alte, deutsche Archäologe Dr. Fritz Haller samt dessen Gattin.

Insbesondere die Anwesenheit des Letzteren trägt maßgeblich zu der angespannten Stimmung zwischen den Schiffsreisenden bei, die Hallers Mitfahrt inmitten des Krieges als Affront ansehen und dessen Nähe demonstrativ meiden. Sehr zum Missfallen Grahams, der den einzigen freien Platz ausgerechnet am Tisch des Deutschen in Anspruch nehmen muss. Eric Ambler erweist sich hier – einmal mehr – als ausgezeichneter Beobachter und Charakterzeichner, vermenschlicht den kriegerischen Konflikt in Person der unterschiedlichen Figuren, welche, abseits üblicher Nationalitätenklischees, die politischen und gesellschaftlichen Zustände ihrer jeweiligen Heimatländer widerspiegeln. Das hier insbesondere, verkörpert durch Graham selbst, das britische Empire auch nicht ungeschont davon kommt, spricht für das ehrliche Ansinnen des Autors. Für England ist der Krieg, trotz des Überfalls der Deutschen auf Polen und dem damit ersichtlichen Irrtums Chamberlains nach der Konferenz in München, scheinbar immer noch weit weg und eine allenfalls abstrakte Gefahr. Eine geistige Maginot-Linie scheint jeden Gedanken daran abzuwehren, auch die westlichen Länder könnten nun in naher Zukunft ins Visier von Hitlers Expansionsplänen geraten. Und überhaupt, Mord? Ein dreckiges Geschäft und doch nichts für europäische Gentlemen.

Es ist nicht das erste Mal, dass Ambler einen vollkommen naiven, gutgläubigen Menschen mit den Gefahren der politischen Verwerfungen in Mitteleuropa konfrontiert – aber noch nie zuvor hat sich der Autor so viel Zeit genommen, diese Konfrontation mit der Wirklichkeit in der Gefühlslage seines Protagonisten abzubilden. „Die Angst reist mit“ ist ein mehr als passender Titel, denn mit jeder Meile, die das Schiff zwischen sich und Istanbul bringt, passiert genau das Gegenteil von dem, was sich Graham erhofft hat. Anstatt sich sicherer zu fühlen, droht ihn zunehmend die Panik zu überwältigen, beobachtet er die anderen Passagiere mit steigender Skepsis – und eben Angst. Und genau diese überträgt Ambler äußerst geschickt auf den Leser, der sich mit diesem Jedermann und dessen aufsteigender Furcht und den quälenden Gedanken relativ leicht identifizieren kann. Graham ist kein Profi, ist nicht abgeklärt und hat entsprechend auch keinerlei Kontrolle über diese Situation, woraus wiederum der Plot, trotz dem viele Seiten nichts passiert und vor allem die Dialoge zwischen den Passagieren in Mittelpunkt stehen, seine zunehmend beklemmende Suspense bezieht.

Hinzu kommt Amblers feine Feder bei der literarischen Illustration seiner Schauplätze. Ob das lärmende, nie stillstehende Istanbul oder der glutheiße Hafen von Saloniki – hier sind wir erneut mittendrin statt nur dabei, entsteht vor unseren Augen die Mittelmeerregion der 40er Jahre und das damalige Lebensgefühl wieder auf. Und mit ihnen die letzte Ausgelassenheit vor einem weltumspannenden Krieg, der in wenigen Monaten auch die Etappenziele dieser Schiffsreise mit in den Konflikt hineinziehen wird. Wie Ambler diese scheinbare unvermeidbare Abfolge der Ereignisse durch einen Monolog des Monsieur Mathis wieder auf den Punkt bringt – das ist von beklemmender, unbehaglicher Brillanz. Grandios auf welch intelligentem Niveau dieser fantastische Schriftsteller auch in seinem sechsten Roman unterhält, er am Ende nochmal in bester Bond-Manier (Herr Fleming scheint Ambler wohl auch aufmerksam gelesen zu haben) die Handlung verdichtet.

Die Angst reist mit“ gehört vollkommen unbestritten zu den besten Titeln aus dem an herausragenden Romanen nicht armen Lebenswerk Eric Amblers. Ein atmosphärisch unheimlich stimmiger, den blinden Nationalismus erneut entblößender Thriller, der es tatsächlich schafften dürfte, sowohl Freunde von Agatha Christie als auch Anhänger von John Le Carré gleichsam zu begeistern. Ein Spagat, den so wohl nur auch dieser Ausnahmeschriftsteller hinzulegen imstande war. Ich möchte weniger für eine Wiederentdeckung plädieren, als vielmehr dafür, diesen Autor endlich die ihm gebührende Präsenz im Buchhandel einzuräumen, welcher er seit jeher eigentlich verdient.

Nachtrag: Eric Ambler wird inzwischen vom Atlantik-Verlag neu aufgelegt.

Wertung: 92 von 100 Trefferneinschuss2

  • Autor: Eric Ambler
  • Titel: Die Angst reist mit
  • Originaltitel: Journey into Fear
  • Übersetzer: Matthias Fienbork
  • Verlag: Atlantik
  • Erschienen: 07/2017
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 320
  • ISBN: 978-3455651126

Auferstanden von den Toten …

© Insel

London, 1893. In der gesamten Stadt, dem Herzen des damals weltumspannenden britischen Empires, herrschten Entrüstung, schwelten Zorn und Wut. Menschen brachten mit Trauerbändern die Schwere ihres Verlusts und ihre Enttäuschung zum Ausdruck, belagerten die Türen zum „Strand Magazine“, so dass man als Ausstehender zur Auffassung gelangen konnte, der Premierminister höchstpersönlich sei wie ein räudiger Hund auf offener Straße erschossen worden. Grund für die niedergedrückte Stimmung war aber der Tod von jemanden, der eigentlich nie gelebt hat: Sherlock Holmes.

Nach dem sein Schöpfer, Arthur Conan Doyle, bereits Ende des Jahres 1891 seines Protagonisten, und der damit zunehmenden Reduzierung seines Werks auf allein diesen, überdrüssig wurde, plante er zielgerichtet dessen Ableben, welches er in „Das letzte Problem“ schließlich auf Papier umsetzte. Abgedruckt in eben jenem, später harsch kritisierten „Strand Magazine“, ließ er Sherlock Holmes und seine Nemesis, den „Napoleon des Verbrechens“ Professor Moriarty, in den reißenden Wogen der Schweizer Reichenbach Fälle ihr Ende finden. Zurück blieb lediglich eine Art Abschiedsbrief an Dr. Watson, welcher sich gleichzeitig auch an die treue Leserschaft richtete. Allen Bitten zum Trotz – selbst Doyles eigene Mutter bekniete ihn um weitere Geschichten – das Kapitel Sherlock Holmes schien beendet.

Die Frage bleibt bis heute unbeantwortet, ob Doyle den großen Detektiv je hätte wiederkehren lassen, wäre er nicht 1900 an Typhus erkrankt und nach Norfolk gereist. Dort lernte er Bertram Fletcher Robinson kennen, der aus Devonshire kam, und auf Dartmoor aufgewachsen war. Es war Robinson, welcher Doyle von den alten Legenden seiner Heimat erzählte, unter denen sich auch einige Gruselgeschichten um einen Geisterhund befanden. Diese inspirierten den Autor, der Dartmoor kurz darauf selbst aufsuchte, für einen neuen Roman, der wiederum einen Helden in der Form eines Detektivs brauchte, welcher die mysteriösen Vorgänge im düsteren Moor untersuchen konnte. Und wer wäre dafür besser geeignet gewesen als Sherlock Holmes? Der Rest ist aus heutiger Sicht Literaturgeschichte.

In „Der Hund der Baskervilles“ (1902 veröffentlicht), Doyles bis heute bekanntestem Buch, das chronologisch vor dem Reichenbach Vorfällen spielt, feierte der Mann mit dem Deerstalker und der Meerschaumpfeife ein beeindruckendes und auch finanziell einträgliches Comeback, dem der Autor in den folgenden beiden Jahren dreizehn Kurzgeschichten folgen ließ. Die erste, „Das leere Haus“, revidierte nicht nur Holmes‘ Tod, sondern lieferte gleichzeitig eine Erklärung für dessen langjährige Abwesenheit. Weitere Geschichten waren:

  • Der Baumeister von Norwood
  • Die tanzenden Männchen
  • Die einsame Radfahrerin
  • Die Abtei-Schule
  • Der schwarze Peter
  • Charles Augustus Milverton
  • Die sechs Napoleons
  • Die drei Studenten
  • Der goldene Kneifer
  • Der verschollene Three-Quarter
  • Abbey Grange
  • Der zweite Fleck

Die Rückkehr des Sherlock Holmes“, ein 1905 erschienener Sammelband, fasst diese nun zusammen, wobei ich heutigen Lesern besonders die Ausgaben von Kein+Aber und dem Insel Verlag ans Herz lege, welche, durch die zwar altmodischere, aber auch authentischere Übersetzung von Werner Schmitz, dem originalen Ton von Doyle weit näher sind als andere Fassungen. Vor allem die grausige Angewohnheit des „Duzens“ zwischen Sherlock Holmes und Dr. Watson glänzt hier glücklicherweise durch Abwesenheit. Das ist bei weitem aber nicht der einzige Grund, warum ein Griff zu diesem Klassiker auch mehr als hundert Jahre später noch lohnt.

In Zeiten blutrünstiger Splatter-Thriller und forensischer Such-Orgien ist „Die Rückkehr des Sherlock Holmes“ eine erfrischend nostalgische Rückbesinnung auf die Anfänge des Kriminalromans, in denen Mord nicht das einzige Verbrechen war, das es aufzuklären galt und der Leser tatsächlich noch selbst seinen Kopf benutzen durfte, um den Ermittlern bei den Lösung des Rätsels zuvorzukommen (Was bei Sherlock Holmes zugegebenermaßen ein schweres Unterfangen ist). Gepaart mit der unverwechselbaren Atmosphäre des Molochs Londons bieten die Geschichten kurzseitige, aber doch stets ansprechende und fordernde Unterhaltung, die, nicht selten mit typisch britischen Humor versehen, die Nachforschungen als Katz-und-Maus-Spiel zwischen Jäger und Gejagtem präsentiert. Und die Fangquote keiner Katze war wohl je besser als die von Sherlock Holmes. Das trifft selbst auf seine späteren Abenteuer zu, wenngleich man der allgemeinen Kritik zustimmen muss, welche die Werke der zweiten Schaffensperiode qualitativ doch mit gewissem Abstand hinter denen der ersteren einordnet. Wahr ist: Nach Holmes‘ vermeintlichen Tod hat Doyle nie wieder ganz diese alte Magie erreicht, diesen besonderen, unverfälschten Funken Genialität, der die Figur des großen Detektivs zu so etwas einzigartigem gemacht hat. So fehlt neben der bemerkenswerten Leichtigkeit auch schlichtweg das Flair der frühen Geschichten.

Nass glänzendes Kopfsteinpflaster. Undurchdringlicher Bodennebel. Laut klappernde Droschken in finsteren Gassen. Dämmrig-träges Gaslaternenlicht. Diese Szenerie des viktorianischen Londons, in dem auch Jack the Ripper unbestraft mordete, gehörte 1903, während der Veröffentlichung von „Das leere Haus“, längst in vielen Teilen der Vergangenheit an. Wo früher Holmes von loyalen Laufburschen seine Nachrichten und Telegramme durch die Stadt tragen ließ, da wird nun immer öfter auf das Telefon zurückgegriffen. Und auch das Geräusch von Pferdegespannen ist vielerorts dem Brummen der Automobile gewichen. Die größte Stadt der damaligen Welt hatte einen gewaltigen Schritt in die Moderne getan und Sherlock Holmes einige Mühe Schritt zu halten. So sehr sich Doyle bemühte – die Erfolge der Vergangenheit ließen sich lediglich kommerziell und nicht literarisch wiederholen. Das lag auch daran, dass der Autor die Bekanntheit seiner Figur zuletzt vor allem dafür nutzte, um den dadurch erworbenen Profit in andere Projekte zu stecken. Vor allem seinem Interesse für Spiritismus widmete er nun wesentlich mehr Zeit und Aufmerksamkeit als Sherlock Holmes, der nach seiner Wiederkehr aus der Schweiz plötzlich auch nicht mehr dem Kokain verfallen war – und damit, neben der letzten, eigentlichen Schwäche, ebenfalls einen gewissen Reiz verlor.

All das wird vor allem dem „Sherlockian“ auffallen, welcher den Holmes‘-Kanon auswendig und natürlich jegliche Hintergründe über deren Entstehung kennt. Gelegenheitsleser werden dies höchstwahrscheinlich kaum bemerken, was wiederum aber auch daran liegt, dass, trotz gerechtfertigter Kritik, Doyle selbst in „Die Rückkehr des Sherlock Holmes“ nochmal einige Highlights zu setzen weiß. Diese sind, neben Holmes‘ überraschender Wiederauferstehung und dem fesselnden Duell mit dem Scharfschützen Sebastian Moran in „Das leere Haus“, vor allem „Der Baumeister von Norwood“, „Die einsame Radfahrerin“, „Die Abtei-Schule“ und „Der goldene Kneifer“.

Arthur Conan Doyles dritter Kurzgeschichten-Sammelband „Die Rückkehr des Sherlock Holmes“ hält zwar nicht das Niveau seiner Vorgänger, ein Klassiker des Kriminalromans ist er dennoch. Ein Muss für alle Freunde der guten, alten „Whodunit“-Geschichten, die es sich am liebsten bei herbstlich-ungemütlichem Wetter und dampfenden Earl Grey im kuscheligen Ohrensessel für ihre Lektüre bequem machen wollen.

Wertung: 88 von 100 Treffern

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  • Autor: Sir Arthur Conan Doyle
  • Titel: Die Rückkehr des Sherlock Holmes
  • Originaltitel: The Return of Sherlock Holmes
  • Übersetzer: Werner Schmitz
  • Verlag: Insel
  • Erschienen: 11/2007
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 461 Seiten
  • ISBN: 978-3458350194

Nachtrag: Ich habe mich bei der Verlinkung des Titels bewusst für die ältere Insel-Ausgabe entschieden, da sie – leider gibt es den Haffmans Verlag ja in dieser Form nicht mehr und die Kein & Aber Ausgabe ist ebenfalls vergriffen – vor allem optisch der äußerst lieblosen Fischer-Version vorzuziehen ist. Ansonsten sollte vor allem bei antiquarischen Stücken darauf geachtet werden, dass es sich um die Übersetzungen von Gisbert Haefs, Hans Wolf etc. handelt. Von gekürzten Ausgaben oder gar solchen, wo Holmes und Watson sich duzen, ist abzuraten.