Auf der Suche nach sich selbst

© Heyne

Nach der Lektüre des zweiten Bands des lose zusammenhängenden „Revelation-Space“-Zyklus muss ich ganz klar konstatieren: Alastair Reynolds hat mich infiziert. Und das war angesichts des doch sehr zähen Auftakts durch „Unendlichkeit“ so wirklich nicht zu erwarten. Was jedoch letztlich überzeugt, ist Reynolds Konzept.

Im Gegensatz zu einem Großteil der Konkurrenz, welche im Sci-Fi-Genre die Grenzen des derzeit Machbaren weit hinter sich gelassen hat, beinhalten die Bücher des Waliser Autors eine stets glaubwürdige und realistische Physik, die seine „Space Opera“ dem Leser auf gewisse Art und Weise bekannt erscheinen lässt. Seine Raumschiffe, nicht fähig Überlichtgeschwindigkeit zu erreichen, sind nicht mehr und nicht weniger als eine konsequente Weiterentwicklung der heutigen Raketen. Und mit diesen kennt sich der Physiker Reynolds, der neben seinem Schriftstellertum auch im wissenschaftlichen Bereich der Raumfahrt arbeitet, scheinbar bestens aus. Diese Atmosphäre des dreckigen, düsteren und doch so vertrauten Universums hat mich schließlich zu „Chasm City“ greifen lassen, mit dem Reynolds die klassische Science-Fiction aus „Unendlichkeit“ hinter sich lässt und stattdessen nun in den Gefilden von „Cyberpunk“ und „Noir“ wildert.

Obwohl im gleichen Universum wie der Vorgänger angesiedelt, präsentiert sich „Chasm City“ als eigenständiges Werk, das chronologisch vor den Ereignissen von „Unendlichkeit“ spielt und lediglich auf den Schauplatz sowie einige Figuren zurückgreift, um den bekannten Look beizubehalten. Dies vorweg als Information für all diejenigen, die mit der Aussicht auf eine Fortsetzung von der Resurgam-Expedition herangegangen sind. Sie werden dennoch mehr als entschädigt, bietet Reynolds doch nicht nur eine äußerst gelungene Mischung aus Chandler, Dick und Miéville, sondern gleichzeitig auch einen größeren Einblick in das komplexe Gefüge des „Revelation“-Universums.

Im Mittelpunkt der Geschichte steht der ehemalige Elitesoldat Tanner Mirabel, der nach einen 15jährigen Kryo-Schlaf im Orbit des Planeten Yellowstone erwacht und nur langsam seine Erinnerung zurückgewinnt. Das einzige was er sicher weiß: Er ist von Sky’s Edge hierhin gereist, um den Tod seines ehemaligen Arbeitgebers Cahuella, eines begeisterten Jägers und Waffenschmugglers, zu rächen. Sein Ziel: Argent Reivich, ein unsterblicher Aristokrat, der in Chasm City untergetaucht ist. Doch in den vielen Jahren der bewusstlosen Kälte hat sich hier viel verändert. Aus dem einstmals strahlenden Juwel des Epsilon Eridani Systems, dem Utopia der Menschheit, ist ein verrottender, baufälliger Moloch geworden, der sich fest in den Fängen der Schmelzseuche (Leser von „Unendlichkeit“ werden sich erinnern) befindet. Jede Form von Technologie, welche über die simple Mechanik hinausgeht, schmilzt wortwörtlich dahin. Millionen mit Nanotechnologie behandelter Menschen sind ihr bereits zum Opfer gefallen. Während der reiche Teil der Bevölkerung sich ihrer Implantate entledigen konnte oder als Hermetiker in der noch einigermaßen prächtigen Oberwelt, dem „Baldachin“, residiert, bleibt für alle anderen nur ein hoffnungsloses Dasein in der von Smog und Abgasen durchsetzten Unterwelt, dem „Mulch“.

Neben der immer noch nicht gebannten Gefahr durch die Schmelzseuche wird Tanners ohnehin schon gefährliche Ausgabe durch ein weiteres Hindernis erschwert. Offensichtlich ist er mit dem Haussmann-Virus infiziert worden, der von der gleichnamigen sektenähnlichen Religion entwickelt wurde, um alle Befallenen mittels Stigmata und regelmäßigen Visionen zu ihren Anhängern zu machen. Während Mirabel sich einen Weg durch die düsteren Abgründe von Chasm City sucht, erhält er immer wieder neue Einblicke in das Leben von Sky Haussmann, der einst Sky’s Edge seinen Namen gab und als Anführer einer von der Erde gestarteten Flottille zu den großen Pionieren der Menschheit zählt.

Doch bald regen sich bei Tanner Zweifel. Ist es wirklich nur das harmlose Haussmann-Virus oder steckt gar mehr dahinter? Warum sieht er nun Dinge aus Skys Leben, welche in keiner offiziellen Chronik verzeichnet sind? Die Suche nach Antworten auf seine Frage führt ihn nicht nur tief in den Kern von Yellowstone, sondern auch weit zurück in seine eigene Vergangenheit – wenn es denn überhaupt die seine ist…

Wie schon im Auftakt „Unendlichkeit“, so bedient sich Reynolds auch diesmal mehrerer Schauplätze und chronologisch verlagerter Handlungsstränge, um seine komplexe Geschichte zu erzählen. Im Gegensatz zum Erstling ist dieser Balanceakt diesmal jedoch auch vollends gelungen, stimmt die Gewichtung der einzelnen Rädchen, welche, immer mehr ineinander verzahnt, den Plot vorantreiben und ihn letztlich in einem mehr als stimmigen Finale abrunden. Auf dem Weg dorthin geizt Reynolds nicht mit Twists und Turns, die stets aufs Neue am Status Quo zweifeln und uns das soeben gelesene aus einem anderen Blickwinkel betrachten lassen. Auffällig dabei: Egal, welche Erzählebene man so eben betritt, der Rhythmus kommt an keiner Stelle aus dem Takt. Im Gegenteil: Ob im Dschungel von Sky’s Edge, dem vor Dreck triefenden „Schlund“ oder in der Düsternis der Siedlerschiffe – jeder Handlungsstrang fasziniert auf seine Art, trägt eine weitere Facette zum Renyoldschen‘ Universum bei. „Chasm City“ ist, trotz mehr als 800 Seiten, durchgängig spannend, seine Figuren, wenngleich in ihren Fähigkeiten hier und da überzeichnet, unheimlich lebensecht.

Als Freund klassischer „Hardboiled“-Geschichten fielen mir persönlich da vor allem die „Privat-Eye“-Anleihen bei Tanner Mirabel ins Auge, welche sich allerdings mit dem Sci-Fi-Umfeld in keinster Weise beißen, sondern vielmehr zur Dynamik beitragen und „Chasm City“ mit dieser gewissen Portion Coolness versehen. Überhaupt lässt sich die Atmosphäre im Buch mit dem Messer schneiden. Hinter jeder dunklen Ecke lauert das Unbekannte, jeder neue Bekannte Tanners wird scharf und misstrauisch beäugt. Wo er kann, sät Reynolds die Saat des Zweifels aus, was die vielen Kehren in der Geschichte umso eindrucksvoller macht und zur Vielschichtigkeit des Ganzen genauso beiträgt, wie die undurchschaubaren und moralisch schwer einzuordnenden Charaktere. Übertroffen wird all dies nur noch von der Kulisse, die fast schon selbst eine eigenständige Figur darstellt und, trotz Anleihen aus anderen bekannten Werken (z.B. Dicks „Blade Runner“, „Shadowrun“ oder auch „Star Wars“), durchgehend fasziniert. Da verzeiht man es dem Autor sogar, dass die große Überraschung am Schluss wohl viele Leser nicht überraschen wird bzw. in Punkto Aha-Effekt nur mäßig zündet.

Chasm City“ ist eine hervorragende Mischung aus knallharten „Noir“, visionärer „Space Opera“ und dystopischen „Cyberpunk“, die mich über mehrere Tage mit Erfolg in meinen Schlaf- und Essensgewohnheiten gestört und über die volle Distanz bestens unterhalten hat. Ein ganz starker, eindrucksvoller Roman, der viele Fragen beantwortet, aber noch genug offen lässt, um nach den weiteren Bänden des „Revelation-Space“-Zyklus gieren zu lassen.

Wertung: 90 von 100 Treffern

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  • Autor: Alastair Reynolds
  • Titel: Chasm City
  • OriginaltitelChasm City
  • Übersetzer: Irene Holicki
  • Verlag: Heyne
  • Erschienen: 12/2006
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 832 Seiten
  • ISBN: 978-3453522213

Sarah Jane – das Rätsel des Menschseins

© Liebeskind

Sarah Jane Pullman arbeitet als Polizistin in Farr, einem kleinen Kaff inmitten der USA. Als eines Tages ihr Chef und Förderer Cal Phillips verschwindet, beginnt nicht nur eine aufreibende Suche, sondern auch eine intensive Reise in Sarah Janes Vergangenheit. So entsteht eine Mischung aus Reflektion und Beichte, angefertigt von Sarah Jane selbst für ihren Freund Sid.

Sarah Jane erzählt von einer Mutter, die abzutauchen zur Profession gemacht hat, einem Vater der sich zu kümmern versucht, aber überfordert vom Leben ist, , vom Abrutschen in die Kriminalität, dem bedrohlichen Spiel mit Drogen, der Rettung durch den Eintritt in die Armee – statt ins Gefängnis einzufahren. Und immer wieder von Männern: Freundlichen, unzuverlässigen, verzweifelten und toxischen. Die Beziehung zu einem gewalttätigen Polizisten führt zu einem ebensolchen Ende. Mit Sarah Jane als Überlebender.

Das wird sie Jahre später einholen, gerade als sie als Interims-Polizeichefin das mysteriöse Verschwinden ihres Chefs und wohlmeinenden Beistandes Cal untersucht. Dessen Abwesenheit eng mit Sarah Janes Biographie zusammenhängt.

James Sallis gelingt es wieder auf rund 200 Seiten ein kleines Universum zu erschaffen. „Er konnte den Peloponnesischen Krieg in einem Satz zusammenfassen“, heißt es an einer Stelle. Das trifft auch auf den Autor zu. Sallis gelingen Lebensabrisse in wenigen Sätzen, selbst bei Figuren, die nur am Rande auftauchen. Die ewig suchende, herumirrende Sarah Jane, die erst spät einen Moment der Sicherheit erfährt, gerät ungleich komplexer. Sallis beherrscht die Kunst der Komprimierung. Zugleich poetisch und treffgenau gibt er seinen Lesern Raum, das brennende Unausgesprochene zu füllen und den Text weiterzuentwickeln.

Bloße Ermittlungsarbeit und stereotype Spannungsentwürfe spielen dabei kaum eine Rolle. Spannend ist die Sicht Sarah Janes aufs Leben, auf Möglichkeiten, Verweigerungen, verpasste Chancen und die ewig lauernde Unbehaustheit. Die menschliche Existenz als Monster, das sich selbst verspeist.

Alle Geschichten sind Geistergeschichten, über verlorene Dinge, verlorene Menschen, Erinnerungen, Heimat, Leidenschaft, Jugend, über Dinge, die darum ringen, von den Lebenden gesehen und anerkannt zu werden.


Sätze wie Grabinschriften, die haften bleiben, die einen Sog erzeugen, der mitreißt, wenn man Sarah Jane auf ihren verschlungenen Pfaden folgt. Präsentiert mit einer liebevollen Ernsthaftigkeit, die weit entfernt ist von Zynismus oder einem ironischen Gestus, der das Geschriebene zur beiläufigen Banalität degradiert. Ein großartiges, eindringliches Buch, der beste Begleiter durch eine Nacht, die Sarah Jane selbst heraufbeschwört.

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Wertung: 90 von 100 Treffern

  • Autor: James Sallis
  • Titel: Sarah Jane
  • Originaltitel: Sarah Jane
  • Übersetzer: Kathrin Bielfeldt, Jürgen Bürger
  • Verlag: Liebeskind
  • Erschienen: 08.2021
  • Einband: Hardcover
  • Seiten: 216 
  • ISBN: 978-3954381371

 

Der lange Weg nach Norden

© Rowohlt

Wenn etwas nicht kaputt ist, repariere es nicht. Ganz nach dieser Erfolgsformel haben sich in den vergangenen Jahren viele Autoren und Autorinnen auf die höchsten Plätze der Bestsellerlisten katapultiert, in Sicherheit gewogen von der Erkenntnis, dass ihr Lesepublikum auch noch für den drölfzigsten, nach Schema F zusammengezimmerten Band in die Tasche greifen wird. Veränderung, Innovation, Experimente – alles unnötiger Ballast, welcher die eigene Klientel nur unnötig verschrecken oder im schlimmsten Fall gar überfordern könnte. Gut, hierin liegt natürlich eine gewisse Übertreibung meinerseits, aber es ist nicht wegzudiskutieren, dass manch einer inzwischen so gar kein Risiko mehr eingeht – was sich besonders dann zum Ärgernis entwickelt, wenn schon das eigentliche Fundament einer Serie nur den Tiefgang eines Nichtschwimmerbeckens im Hochsommer aufweist.

Was hat das nun mit Bernard Cornwell zu tun? Nun, er gehört zu jener raren Zunft von Schriftstellern, welche die Variation auf kleinstem Raum auf eine Art und Weise gemeistert haben, die insbesondere im Genre des historischen Romans bis heute seinesgleichen sucht. Obwohl auch er sich bei seinen Romanen aus der Reihe um die Söldnerseele Uhtred (oder auch bei der Figur Richard Sharpe) vor allem auf das Konzept des „Villain of the Week“ stützt, besitzt er doch gleichzeitig die erstaunliche Fähigkeit, dies stets in einem frischen, neuen und vor allem mitreißenden Gewand zu präsentieren, wodurch sich der Leser schließlich mehr als willig am Nasenring durch die Manege ziehen lässt. Mehr noch: Die Bücher stellen quasi das literarische Äquivalent zur Popcorntüte im Kino dar – einmal angefangen, kann man nicht anders, als, scheinbar vollkommen willenlos, alles weitere in sich hineinzustopfen. Und so war es dann auch für mich nur folgerichtig, nach dem Ritt mit dem „weißen Reiter“ nun den Weg zu den „Herren des Nordens“ mit anzutreten.

Der dritte Band beginnt knapp einen Monat nach der Schlacht von Ethandun (Edington) im Mai 878, in welcher es Alfred von Wessex endlich gelungen war, den dänischen Invasoren eine herbe Niederlage zuzufügen. Vom sächsischen Heer in einer alten Festung umlagert, hatten sie schließlich kapituliert und ihr Anführer Guthrum einem Frieden zugestimmt. Und nicht nur das: Guthrum ließ sich gar taufen, nahm den Namen Æthelstan an und erhielt im Gegenzug von seinem Paten Alfred die Anerkennung als König von East-Anglien. Seitdem sind die restlichen Dänen aus Wessex abgezogen und haben sich weiter nördlich des mittleren Merciens ihr eigenes „Danelag“ etabliert – ein raues Land, das bis an die Nordspitze Northumbriens reicht und von gleich mehreren Königen beherrscht wird. Uhtred, der beim Sieg bei Ethandum eine entscheidende Rolle gespielt hat, ist über seine eigene Belohnung mehr als verbittert, wurde er doch mit einem kleinen Stück Land abgespeist, das kaum vier Familien ernähren kann. Er fühlt sich wieder mal von Alfred verraten, kehrt Wessex kurzerhand den Rücken und reitet ebenfalls gen Norden, um endlich sein Erbe, die Bebbanburg, zurückzuerobern.

Ein Ziel, das sich nur mit einer Armee erreichen lässt, weshalb Uhtred auf seinem Weg den Sklaven Guthred befreit, Sohn des dänischen Grafen Hardnicut, dem es bestimmt sein soll über Northumbrien zu herrschen und wie Alfred, der Große, den Dänen eine vernichtende Niederlage beibringen will. Eine Aufgabe, welcher der naive Guthred nicht gewachsen zu sein scheint – zumindest auf den ersten Blick. Als Uhtred hinter die wahren Pläne des ehrgeizigen Grafensohns kommt, der immer mehr den Einflüsterungen der Priester erliegt, ist die Falle bereits zugeschnappt. Er wird gefangen genommen und an den Sklavenhändler Sverri verkauft. Als Ruderer auf einem Schiff beginnen für ihn nun Jahre der Gefangenschaft. Doch Uhtred gewinnt nicht nur in dem Iren Finan einen neuen Freund, sondern eines Tages auch die Freiheit. Und sinnt auf Rache …

Nach der Lektüre von „Das letzte Königreich“, dem Auftakt der sogenannten „Sachsen“-Saga, war noch nicht abzusehen, dass mir Cornwells Epos tatsächlich auf lange Sicht Freude bereiten könnte. Zu sehr war man geprägt von anderen Mittelalter-Titeln aus dem Bereich des historischen Romans, welche, bei aller Authentizität und genauer Recherche, dennoch nicht selten vor allem eine gewisse Gemütlichkeit ausstrahlen, von edlen Rittern berichten, die sich wiederum ein Leben lang mit ekelerregenden Bösewichten herumplagen müssen – zumeist vor der Kulisse eines kleinen Dorffleckens, dessen Häuserdächer im Glanz der Sommersonne zu leuchten scheinen. Nein, natürlich hat es schon andere Autoren wie Noah Gordon oder auch Umberto Eco gegeben, die sich hinsichtlich der wahren Verhältnisse um weit größere Akkuratesse bemüht haben – eine solche Konsequenz wie Bernard Cornwell, sie jedoch hat keiner vorgelegt. Uhtreds Welt besteht aus schlammverseuchten Weihern, von Regen durchweichten Wiesen, Fäkalien übersäten Burghöfen und blutdurchtränkten Schlachtfeldern. Hunde haben die Räude, das Vieh verreckt an Hunger auf den Feldern – und die Menschen, nun auch sie zeigen durch die Bank weg vor allem ein hässliches Antlitz, befinden wir uns doch im frühen Mittelalter, wo selbst die Könige in düsteren Hallen hausen, die man heutzutage allenfalls noch als Geräteschuppen verwenden würde.

Kurzum: Bernard Cornwell ist sehr daran gelegen, diese Zeit nicht künstlich zu verklären, um stattdessen eine längst vergangene Welt möglichst genau zum Leben zu erwecken, was im Umkehrschluss dann aber auch bedeutet, die sie besiedelnden Figuren ebenfalls entsprechend zu zeichnen. Von den adligen Familien abgesehen, welche im Dunstkreis ihrer Könige und Grafen um Aufmerksamkeit und Einfluss buhlen, interessiert sich kaum jemand im Volk der Sachsen oder Dänen für das Wirken der Mächtigen. Jeder Tag ist in erster Linie ein Kampf ums Überleben, ein Kampf darum Essen auf den Tisch zu bekommen oder sich etwaiger Gefahren – sei es tierischer oder menschlicher – zu erwehren. Hat man dies erst einmal verstanden, überträgt sich auch die Faszination von Uhtred auf den Leser, der immer wieder seine Bündnisse bricht und die Seiten wechselt, stets auf den eigenen Vorteil bedacht und mit dem langfristigen Ziel in Sicht, sein Erbe aus den Händen des verräterischen Onkel Ælfric zurückzugewinnen. Ihn als gutmütigen, empathischen Menschen zu skizzieren würde nicht nur seinem Umfeld zuwiderlaufen – es würde auch letztlich seine ganze Motivation torpedieren.

Fundament sind dabei für Cornwell stets vor allem die in der Angelsachsenchronik überlieferten Ereignisse, deren sichere Pfade er in „Die Herren des Nordens“ diesmal aber erstmals verlässt, gibt es doch gerade über die Geschehnisse in Mercien und Northumbrien aus dieser Zeit bis heute nur wenige geschichtliche Quellen. Ein Umstand, welcher selbst dem historisch bewanderten Leser kaum auffallen dürfte, macht zwar der Autor von dem Raum für dichterische Freiheiten, den das Dunkle Zeitalter zweifellos bietet, reichlich Gebrauch, ohne dabei jedoch die durch Fakten gesetzten Grenzen zu übertreten. Mehr noch: Cornwell geht im dritten Band nun nochmal weit näher auf den steigenden Einfluss der Religionen im Konflikt zwischen Sachsen und Dänen ein. Insbesondere die christliche Kirche hat nun in König Alfred einen mächtigen Befürworter, der es, trotz übertriebener Frömmigkeit und gesundheitlichen Problemen, im Verlaufe der letzten Jahre geschafft hat, die Sachsen unter sich zu vereinen – und viele Ungläubige zu Jesus Christus zu bekehren. Dass ausgerechnet Uhtred sich beharrlich weigert, sich taufen zu lassen, macht ihm gleich mehrere Feinde, die sich im vorliegenden Band nun mehr und mehr herauskristallisieren.

Da es auch auf dänischer Seite derer genug gibt, wird Uhtred zu einem Heimatlosen, der zwischen den beiden Kulturen und Völkern gefangen ist, sich mal der einen, mal der anderen zugehörig fühlt – und damit gleichzeitig ein perfektes Werkzeug darstellt, um den jeweiligen Gegner auszuspionieren. Sachsen und Dänen haben dabei eins gemeinsam: Sie unterschätzen Uhtred, der nicht nur ein gefürchteter Krieger, sondern vor allem ein listiger Stratege ist, welcher selbst aus einer verhängnisvollen Lage wie dem Sklavendasein noch seinen Vorteil zu ziehen vermag. So schließt er bei seinen Reisen durch die Nordsee – sie führen ihn unter anderem auch in das damalige Handelszentrum Haithabu im heutigen Schleswig-Holstein – neue Freundschaften, nutzt die Gier seiner Feinde für seine eigenen Zwecke aus. Macht ihn das sympathisch? Definitiv nein. Und auch sein Verhalten gegenüber den Frauen kann allenfalls als zweckmäßig bezeichnet, wenngleich im Hinblick auf Gisela vielleicht tatsächlich so etwas wie Liebe andeutet.

Doch sind wir am Ende ehrlich. So lebendig auch Cornwell diese dunkle Zeit auf Papier bringt – deswegen allein lesen wir seine Saga natürlich nicht, denn die herausragendste, ja, beeindruckendste Fähigkeit legt der Brite einfach bei der Beschreibung seiner Schlachten an den Tag. Und auch hier weiß „Die Herren des Nordens“ einmal mehr auf allerhöchstem Niveau zu punkten. Die Belagerung Dunholms (das heutige Durham) ist derart spannend und plastisch in Szene gesetzt, dass uns selbst als Leser das Blut in den Ohren rauscht, wenn Uhtred und seine Kameraden, darunter auch der mutige Priester Beocca, beim Sturm auf die Holzbarrikaden ihr fürchterliches Kampfesgeheul anstimmen. Dass es im Verlaufe dieser Schlacht noch zu einigen überraschenden Wendungen kommt, setzt dem Ganzen dann die wohlverdiente Krone auf.

Spätestens jetzt sollte auch der letzte Leser dieses arrogante Arschloch Uhtred in sein Herz geschlossen haben, der natürlich am Ende wieder von seinem eigentlichen Weg abkommt, weil die Spinnerinnen am Fuße des Weltbaumes vorerst anderes mit ihm im Sinn haben. „Die Herren des Nordens“ ist der bis hierhin beste Teil einer in diesem Genre einzigartigen Romanreihe. Wer mehr über die Zeit von Alfred, dem Großen, über die Christianisierung Englands und über den jahrzehntelangen Konflikt zwischen Sachsen und Dänen wissen will – der kommt endgültig an Bernard Cornwell nicht mehr vorbei.

Wertung: 90 von 100 Trefferneinschuss2

  • Autor: Bernard Cornwell
  • Titel: Die Herren des Nordens
  • Originaltitel: The Lords of the North
  • Übersetzer: Karolina Fell
  • Verlag: Rowohlt
  • Erschienen: 01.2008
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 480
  • ISBN: 978-3499245381

Nobody’s hands are clean

© Goldmann

Obwohl der amerikanische Autor Joseph Kanon bereits im Jahr 1998 mit dem Edgar Allan Poe Award für das beste Romandebüt ausgezeichnet wurde („Die Tage von Los Alamos“), einen größeren Namen konnte er sich hierzulande trotz diverser weiterer Veröffentlichungen (übrigens zumeist mit Bezug zu unserer Hauptstadt Berlin) nicht machen, was vielleicht aber auch dem damaligen Zeitgeist geschuldet sein könnte.

Inzwischen sind, vor allem dank solcher Schriftsteller wie Volker Kutscher, historische Kriminalromane mehr und mehr gefragt, scheint die Auswahl an Titeln – mal von mehr, mal von weniger Qualität – welche sich mit der Weimarer Republik, dem Dritten Reich, aber auch dem Beginn des Kalten Kriegs und dem Leben zwischen den Blöcken beschäftigen, jährlich in die Höhe zu schnellen. Ein Trend, von dem viele Newcomer profitieren und der jetzt auch zum Anlass genommen sei, um auch Kanon die wohlverdiente Aufmerksamkeit zuteil werden zu lassen – denn soviel sei vorab gesagt, im Vergleich zu einem Großteil der doch oft im Hinblick auf die geschichtliche Recherche äußerst oberflächlich zusammengeschusterten Werken der Konkurrenz, hat der jahrelange Leiter der Verlage Houghton Mifflin und E. P. Dutton seine Aufgaben äußerst beeindruckend gemacht. Bestes Beispiel dafür ist der vorliegende Roman „The Good German“ (verfilmt von Steven Soderbergh mit u.a. George Clooney und Cate Blanchett in den Hauptrollen), welches den Leser zurück in das vom Krieg versehrte Berlin des Jahres 1945, genauer gesagt die Monate Juli und August führt.

Berlin, Deutschland, wenige Wochen nach der Kapitulation. Die in vier Zonen aufgeteilte Stadt besteht vielerorts nur noch aus Ruinen, in den immer noch täglich Leichen geborgen werden und Trümmerfrauen damit beschäftigt sind, zumindest die Zugänge zu den Häuserresten und die Straßen frei zu räumen. Genau in diese Zeit fällt nun die Potsdamer Konferenz, anlässlich der auch der amerikanische Journalist Jake Geismar nach Berlin zurückreist, um genau darüber zu berichten. Was seine Auftraggeber nicht ahnen – die Konferenz ist für Geismar nur der offizielle Vorwand, denn in erster Linie gilt seine Rückkehr (er lebte schon zuvor einige Jahre in der Stadt) seiner damaligen Geliebten Lena Brandt, die er mitten im Krieg verlassen musste. Ihr Verbleib ist ihm seitdem unbekannt und er hofft sehnlichst auf ein Wiedersehen. Dafür nimmt er vor Ort angekommen auch gewisse Risiken im Kauf, sucht gar die Bereiche Berlins auf, die unter sowjetischer Kontrolle stehen und von deren Besuch ihm die Kollegen eindringlich abraten. Lena bleibt aber verschwunden. Stattdessen sieht sich Geismar aber bald mit einem anderen Rätsel konfrontiert.

Als er sich mittels eines Tricks beim ersten historischen Treffen der Siegermächte im Potsdamer Schloss Cecilienhof einschleusen kann, wird er unwillentlich Zeuge von der Entdeckung einer angespülten Leiche im Uferschlamm des Heiligen Sees. Bei dem Toten handelt es sich zu seiner Überraschung um einen jungen amerikanischen Soldaten. Wie kommt er soweit in die russische Besatzungszone? Wieso sind seine Taschen randvoll mit Besatzungsmark gefüllt? Und wieso ist er überhaupt getötet worden? Jakes Neugier ist geweckt und steigert sich noch zusätzlich, als sowohl Befehlsträger der US-Armee und auch der Sowjets nichts unversucht lassen, diesen Vorfall unter den Teppich zu kehren. Da hier eindeutig eine Story lauert, betreibt Jake Geismar auf eigene Faust weitere Nachforschungen, während er gleichzeitig weiterhin Ausschau nach Lena hält. Schon nach kurzer Zeit wird ihm klar, dass beide seine Ziele eine Verbindung haben – und seine Ermittlungen nicht nur sich, sondern vor allem auch seine große Liebe in Gefahr bringen …

Bereits der Klappentext (und auch das Cover der Filmausgabe) deutet an, dass die Liebesbeziehung zwischen Jake Geismar und Lena Brandt im Mittelpunkt dieser Geschichte steht. Und ja, Joseph Kanon legt tatsächlich ein besonderes Augenmerk auf das Schicksal der beiden, die sich den veränderten Gegebenheiten nur schwer anpassen und insbesondere bei dem Thema persönliche Schuld nicht auf einen gemeinsamen Standpunkt einigen können. Eine Frage, die direkt nach dem Krieg vor allem auf deutscher Seite eigentlich niemand näher erörtern und stattdessen meist ein jeder lieber die Vergangenheit vergessen will.

Keine einfache Aufgabe in einem Land, das selbst über den organisierten Massenmord in den Konzentrations- und Arbeitslagern wie Dora-Mittelbau pflichtbewusst Buch geführt hat. Unterlagen, die nun in den Händen der Alliierten sind und als Grundlage für die so genannte Entnazifizierung dienen sollen. Wohlgemerkt sollen, denn unter dem Eindruck des immer noch erbitterten Widerstands der Japaner an der Pazifikfront, haben auch vermehrt die Amerikaner mehr Interesse daran, das kostbare Wissen der deutschen Wissenschaftler für sich zu nutzen, als diesen den Prozess zu machen. Einer davon ist ausgerechnet Lena Brandts Mann Emil, der sich in die Riege derjenigen eingereiht hat, die nur „ihre Arbeit gemacht“ und „Befehle befolgt“ haben.

Joseph Kanon hat sich bei „The Good German“ immens viel vorgenommen, das weit über das hinausgeht, was man sonst von einem historischen Kriminalroman gewohnt ist, denn nicht nur ist die Geschichte in seinen verschlungenen Handlungsfäden enorm komplex – der Autor hat das Berlin von 1945 auch so im Detail zum Leben erweckt, das hier die Grenzen zwischen Fakten und Fiktion immer wieder verschwimmen. Und das allerdings mit erstaunlich viel Fingerspitzengefühl, da es an keiner Stelle so wirkt, als wollte hier jemand auf Teufel komm raus so viel erlesenes Wissen wie möglich platzieren. Stattdessen geht der Plot eine äußerst überzeugende Symbiose mit den tatsächlichen historischen Ereignisse ein, wovon die Atmosphäre immens profitiert. Auch wenn es sich Kanon (gottseidank) verkniffen hat, in den Dialogen noch Berliner Schnauze einzubauen, ist er dem realen Antlitz und Lebensgefühl der zerstörten Hauptstadt des untergegangen Nazi-Regimes doch wohl so nah wie möglich gekommen.

Einem Antlitz (und das hat dann später auch Regisseur Steven Soderbergh erkannt), das sich natürlich als Schauplatz für eine noireske Kriminalgeschichte bestens eignet, da mit der Niederlage des Dritten Reichs nicht notwendigerweise gleichzeitig auch der Beginn einer Normalität eingegangen ist. Berlin ist weiter im Ausnahmezustand, während die Soldaten der Besatzungsmächte zwischen Siegestaumel, Kriegsdepressionen und Rachegelüsten pendeln, ein jeder vor allem auf den eigenen Vorteil bedacht zu sein scheint. Die bedingungslose Unterstützung der Einwohner, welche man während der späteren Luftbrücke an den Tag legen wird – sie ist noch weit entfernt. Stattdessen blüht der Schwarzmarkt, werden die Witwen der deutschen Soldaten auf den Strich geschickt und schon bereits neue Feindbilder kultiviert. Das Verhältnis zwischen den Amerikanern und den Sowjets ist vielerorts angespannt, es kommt immer wieder zu Zwischenfällen. Und Jake Geismar, einst selbst ein Berliner, hat große Schwierigkeiten, seine Stadt in diesem Menetekel der Zerstörung wiederzuerkennen.

Gerade die ersten knapp zweihundert Seiten von „The Good German“ gehören mit Sicherheit zum Besten, was ich in diesem Sub-Genre bis jetzt genießen durfte – und lesen sich nebenbei bemerkt fast wie eine inoffizielle Fortsetzung des ebenfalls empfehlenswerten Romans „Wer übrig bleibt, hat recht“ (allerdings ein Jahr später erschienen) von Richard Birkefeld und Göran Hachmeister, das, im letzten Kriegsjahr spielend, ebenfalls in Berlin angesiedelt ist und bereits einige Themen aufgreift, die nun in Kanons Roman einen größeren Stellenwert bekommen. Wie er in diesem ersten Drittel minutiös die Spannung aufbaut, geschickt Hinweise, aber auch falsche Fährten platziert, das zeugt sowohl von großem schriftstellerischen Können, aber auch von ebenso großer Kenntnis um die Geschichte Berlins. Wirklich sehr selten begegnet uns Lesern in einem historischen Kriminalroman ein von Beginn an so authentischer Schauplatz, der umso lebendiger wirkt, da die ihn bevölkernden Figuren bei Kanon nicht rein zur Staffage verkommen.

Ganz im Gegenteil – sie sind fast allesamt ein wichtiges Triebmittel für die Handlung und bilden kaleidoskopartig die verschiedenen Interessensgruppen dieser Zeit ab. Von amerikanischen Abgeordneten aus dem Repräsentantenhaus, in dessen Wahlkreis die Industrie fest mit der IG-Farben verbunden ist bis hin zum jüdischstämmigen Militärjurist Bernie Teitel, der alle Hebel in Bewegung setzt, um die Verbrecher des Nazi-Regimes vor Gericht zu bringen – ein jeder hat andere Gründe in Berlin zu sein, um entweder politisches Kapital daraus zu schlagen, sich finanziell zu bereichern oder persönliche Rachegelüste zu befriedigen. Recht und Gerechtigkeit sind jetzt, direkt nach dem Krieg, ebenfalls nur leblose Ruinen und bröckelnde Fassaden – inhaltsleere Begriffe, die je nach Belieben von den Siegern ausgelegt werden können. Kanons größtes Verdienst ist es, dass er in diesem Gemengelage nie direkt Position bezieht und sich der Leser auch die entscheidende Frage des Buches am Ende selbst beantworten muss: Wer ist bzw. war der „Good German“?

Joseph Kanon ist mit „The Good German“ ein immersives, bildgewaltiges Katz-und-Maus-Spiel im Berlin der unmittelbaren Nachkriegszeit gelungen, das die Grenzen der Zeit vor den Augen des Lesers äußerst eindringlich überwindet und gleichzeitig auch das immer wieder hartnäckige Vorurteil widerlegt, US-Autoren könnten alles nur rein aus amerikanischer Sicht betrachten. Einziges Manko ist die doch etwas repetitive Einbindung der Liebesgeschichte, welche immer wieder unnötig das Tempo (und damit auch das Spannungsmoment) verschleppt und mitunter stark den Geduldsfaden strapaziert. Dennoch – eine Empfehlung für alle, die sich der eigenen Geschichte gerne im Gewand einer Kriminalgeschichte nähern.

Wertung: 90 von 100 Treffern

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  • Autor: Joseph Kanon
  • Titel: The Good German / In den Ruinen von Berlin
  • Originaltitel: The Good German
  • Übersetzer: Ulrike Wasel, Klaus Timmermann
  • Verlag: Goldmann
  • Erschienen: 02.2007
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 608 Seiten
  • ISBN: 978-3442464814

Ich liebe es, wenn ein Plan (nicht) funktioniert …

© dtv

Die Wiederentdeckung von Richard Starks „Parker“-Serie durch den Zsolnay-Verlag gehört für mich persönlich zu den positivsten Überraschungen in der Kriminalliteraturszene, war doch der unter anderem mit drei Edgar Awards ausgezeichnete und durch die Mystery Writers of America sogar zum „Grand Master“ ernannte Autor auf dem deutschen Buchmarkt viel zu lange in der Versenkung verschwunden.

Zsolnays Verdienst wird dabei allerdings ein wenig durch die zeitliche Abfolge der Veröffentlichungen geschmälert, was insbesondere die letzten drei Bände der Reihe um den Berufsverbrecher Parker betrifft, die gemeinsam eine lose Trilogie um den Überfall auf einen Geldtransport bilden. „Keiner rennt für immer“ stellt dabei den Auftakt dar, wurde aber auf Deutsch nach „Fragen Sie den Papagei“, dem mittleren Part, veröffentlicht. Ein Wahl, die wohl vor allem dem Inhalt geschuldet ist, kommt doch letztgenannter Titel wesentlich actionreicher und kurzweiliger daher, was den Neueinsteig für Leser natürlich erleichtert. Doch so „handlungsarm“ „Keiner rennt für immer“ in Anführungsstrichen auch ist – gerade die Planung des Coups und die sich im weiteren Verlauf ergebenden Schwierigkeiten bieten Parker beste Möglichkeiten, seine Stärken in Gänze auszuspielen, weshalb ich diesen Band auch für den gelungensten, weil homogensten der drei halte. Und auch zum besseren Verständnis sei jedem geraten, mit „Keiner rennt für immer“ die letzten Auftritte von Parker in Angriff zu nehmen.

Kurz zur Story: Das kleine Kaff Rutherford im US-Staat Massachusetts. Mit Sicherheit kein Ort, dem der Stadtmensch Parker unter normalen Umständen einen zweiten Blick gönnen würde. Doch die Umstände sind nicht normal, denn das Geld wird langsam knapp, so dass plötzlich eine im Rahmen einer Fusionierung aufgelöste Bank schon ein lohnenswertes Ziel darstellt. Kein Kapitalverbrechen des üblichen Kalibers für Parker und seine Komplizen Nick Dalesia und Nelson McWhitney, aber dennoch selbst für die Profis eine Herausforderung, da die Geldeinlagen mit gepanzerten Transportwagen abtransportiert werden. Und drei Mann reichen dafür einfach nicht aus. Parker wäre jedoch nicht Parker, hätte er nicht auch dafür bereits vorgesorgt. Über Elaine Langen, unglückliche Gattin des Bankchefs, und den ehemaligen Polizist Jake Beckham, der in der Bank tätig war, bis man ihn feuerte, kommt er in den Besitz der nötigen Informationen für den geplanten Coup. Abgesichert wird das Ganze schließlich durch den Arzt Dr. Myron Madchen, der Beckham, welcher nach Beendigung des Überfalls zu den Hauptverdächtigen zählen würde, ein Alibi verschaffen soll. So weit, so gut. Doch wann ist jemals schon etwas nach Plan gelaufen?

Schon recht bald erweisen sich einige der Beteiligten als Risikofaktoren, denn der Druck auf jeden einzelnen in dieser kriminellen Unternehmung wächst. Insbesondere Langen und Madchen beginnen Nerven zu zeigen, was wiederum die Neugier der äußerst tüchtigen Polizistin Gwen Reversa anfacht, die sich sogleich des Falls annimmt. Und als ob das noch nicht genug wäre, haben sich auch zwei Kopfgeldjäger an Parkers Fersen geheftet, welche sich ihrerseits Profit vom Überfall versprechen und zudem noch ein Hühnchen mit einem früheren Komplizen zu rupfen haben. Parker muss schließlich all seine Improvisationskünste ausspielen, um die vielen Amateure auf Kurs zu halten und den Raub durchzuziehen – doch auch er kann nicht überall zugleich sein …

Sie mögen Filme wie „Oceans Eleven“, wo am Ende die coolen Diebe mit blitzender Sonnenbrille aus dem Casino schlendern, während die Bullen an anderer Stelle ahnungslos die Hände in die Hüfte stemmen? Oder sie favorisieren Bücher, wo letztlich alles wie geschmiert läuft und der „Held“ schon vierzig Seiten vorher weiß, was am Ende wie, wo, wann und auf welche Weise passieren wird? Wenn dem so ist, dann lassen sie mal schön ihre Patschehändchen von Richard Starks „Parker“-Romanen, in denen sich der Autor so ziemlich jeden künstlichen Effekt verkneift und die knallharte Realität billiger Effekthascherei vorzieht. Das heißt wiederum: Auch wenn dem Leser detaillierte Einblicke in die Vorbereitungen des Verbrechens gewährt werden, impliziert dies noch lange nicht deren reibungslose Ausführung – im Gegenteil. Schon recht früh wird uns gewahr, dass Parkers Überfall scheitern muss, sind doch einfach zu viele Variablen im Spiel, um diese unter Kontrolle zu halten. Fans der Serie wird dies kaum überraschen, da in jedem Auftritt des Berufsverbrechers irgendwann irgendetwas schief geht. Und gerade hiervon lebt die Figur „Parker“, der immer dann aufblüht, wenn ihm die Polizei schon ganz nah im Nacken sitzt und der frustrierte Beobachter die Flinte ins Korn werfen will.

Wo andere Thriller der Moderne sich fleißig Twists und Turns bedienen, um letztlich eine Überraschung zu präsentieren, die man doch dann irgendwie hätte erahnen können, beziehen Starks Romane ihr Spannungselement aus den Fehlern seiner Protagonisten. Und dass diese weit unberechenbarer sind, als z.B. die Genialität eines Meisterdetektivs im Stile Lincoln Rhymes, erklärt vielleicht auch die fast fünfzig Jahre andauernde Erfolgsgeschichte von Starks Serienfigur. Ob im Zeitalter von Telefonzellen oder I-Phones, ob mit dem Notizblock oder dem Notebook. Parker ist ein zeitloses Phänomen, das heute noch genauso funktioniert wie Anfang der 60er Jahre und das nichts von seiner Faszination verloren hat. Ein eiskalter Profi, bei dem zwar selten alles reibungslos abläuft, der aber dennoch auch stets ein Ass im Ärmel hat bzw. einen Ausweg findet, um der ihn verfolgenden Justiz eine lange Nase zu drehen.

Moral, Skrupel, Gewissensbisse – sie sind dabei wie Freundschaft oder Liebe Schwächen, die sich Parker weder leisten kann noch will. Und er verzichtet selten darauf, seine jeweiligen Komplizen, für die er zumeist eine unberechenbare Größe bleibt, daran zu erinnern. Von diesem beständigen Gefahrenmoment lebt auch „Keiner rennt für immer“, da Parker, dessen Vornamen wir in keinem der vielen Bände erfahren haben, genauso wenig einzuschätzen ist, wie der letztliche Verlauf der Handlung. Und die kredenzt uns Richard Stark mal wieder auf unnachahmliche Art und Weise. Knapp, kurz, prägnant werden dem Leser die Sätze um die Ohren gehauen, spart sich der Autor jegliche Ausschweifungen und Nebenschauplätze. Hier bleibt kein Raum für Interpretationsansätze, sondern nur ein geradliniger, scharf geschnittener roter Faden, der sich, trotz etwas längerer Vorbereitungen und Planungen zu Beginn, kontinuierlich durch den Plot fräst, um am offenen Ende in einem actionreichen Paukenschlag zu münden. An dieser Stelle fällt der Vorhang, ist die Folge vorbei, wird der Leser quasi genötigt zu „Fragen sie den Papagei“ zu greifen, der inhaltlich direkt an das Finale dieses Buches anknüpft. Und wer darauf keine Lust hat – nun, dem kann ich auch nicht mehr helfen.

Für mich ist „Keiner rennt für immer“ ein Highlight in der langjährigen Reihe. Düster, diabolisch, lakonisch und eiskalt hat Stark hier noch einmal sämtliche Register gezogen. Ein „Hardboiled“-Vertreter im besten Sinne des Wortes mit einem Parker in Hochform. Kaufen – aufschlagen – lesen!

Wertung: 90  von 100 Treffern

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  • Autor: Richard Stark
  • Titel: Keiner rennt für immer
  • Originaltitel: Nobody runs forever
  • Übersetzer: Nikolaus Stingl
  • Verlag: dtv
  • Erschienen: 02.2011
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 288 Seiten
  • ISBN: 978-3423212663

Keine Ehre unter Dieben

© Pendragon

„Aufhören, wenn es am schönsten ist“, so sagt der Volksmund. Und gerade im Bezug auf die Kriminalliteratur ist an diesem Sprichwort durchaus etwas dran, gibt es doch genügend Beispiele in der langen Geschichte dieses Genres, welche von Autoren künden, die eben jenen Zeitpunkt verpasst, das Pulver verschossen und ihren Serienhelden/ihre Serienheldin zu Tode geritten haben.

Ob getrieben durch stets aufeinanderfolgende Verträge mit dem Verleger, durch die schlichte Geldnot oder weil das Stammpublikum es nachdrücklich immer wieder fordert – oft bedeuten kommerziell erfolgreiche Krimi-Reihen für manchen Schriftsteller die kreative Sackgasse, aus der dieser gar nicht oder nur mit Mühe wieder herauskommt. Wallace Stroby, so scheint es, hat diese mögliche Gefahr nicht nur elegant umschifft, sondern parallel auch seine Protagonistin, die Berufsganovin Crissa Stone, mit einem ganz ähnlichen Problem konfrontiert. Im vierten Band muss sie in Bezug auf ihre persönliche Vergangenheit eine Entscheidung treffen und sich darüber klar werden, inwieweit sie das gegenwärtige Leben noch nachhaltig erfolgreich – und vor allem unversehrt – weiterführen kann. Oder ob nicht doch der Zeitpunkt gekommen ist, einen Schlussstrich zu ziehen. Eine Entwicklung, welche der Leser mit einem lachenden und einem weinenden Auge verfolgt, denn selbst wenn Stroby ein durchaus stimmiger und versöhnlicher Abschluss gelingt, so schleicht sich in diesen Abschied auch ein großes Maß an Wehmut, verlieren wir mit „der Roten“ doch einen der letzten Anti-Helden aus der Tradition von Richard Starks Parker oder Gary Disher Wyatt. Und manchmal verlangt es den Krimi-Freund eben genau nach diesen amoralischen Charakteren, flüstert uns eine verführerische Stimme leise ins Ohr: „Der Teufel will mehr“.

Hin und wieder erliegt auch Crissa Stone diesem Reiz des Bösen, diesem Gefühl von Aufregung und diesem anhaltenden Rausch, wenn ein Coup erst minutiös geplant und dann Schritt für Schritt ausgeführt wird. Und so ist es dann meist weniger das Geld, das sie lockt, als die Herausforderung der Tat an sich, wenngleich sie sich inzwischen eingestehen muss, dass längst nicht mehr alle nach den Regeln spielen und das Gefahrenpotenzial mittlerweile ein weit höheres ist als zum Beginn ihrer kriminellen Karriere. Dennoch zögert sie nur kurz, als der wohlhabende Kunstsammler Emile Cota über einen Kontaktmann mit ihr Verbindung aufnimmt und sie mit einem ganz besonderen Diebstahl beauftragt:

Cota konnte in der Vergangenheit illegal mehrere wertvolle Kunstschätze aus dem Irak erwerben und sieht sich nun von der neu eingesetzten Regierung des Landes – und damit den rechtmäßigen Besitzern – gezwungen, diese zurück in ihr Heimatland zurückzuführen. Der Multimillionär ist not amused. Er denkt gar nicht daran, auf diesen besonderen Teil seiner Sammlung einfach so zu verzichten und plant stattdessen, die Ware auf dem Weg zur Rückführung stehlen zu lassen, um die Versicherungssumme zu kassieren und die Antiquitäten direkt wieder an interessierte Käufer zu veräußern. Crissas Interesse ist geweckt, denn den Truck-Konvoi zu stoppen und inmitten der Einöde der Wüste nahe Las Vegas umzuladen, scheint nicht nur machbar, sondern sollte erfahrungsgemäß relativ lautlos und ohne Waffengewalt vonstatten gehen. Insbesondere letzteres ist der Diebin wichtig, welche Schusswaffen als ein notwendiges Übel erachtet, das aber bei richtigen Profis nicht zum Einsatz kommt. Das birgt wiederum in diesem Fall Konfliktpotenzial, denn ihr Partner bei dieser Unternehmung – der frühere Marine-Infanterist Randall Hicks – übernimmt nicht nur große Teile der Planung, sondern holt mit seinem ehemaligen Kameraden Sandoval auch einen unberechenbaren Heißsporn mit an Bord.

Während Crissa ihrerseits ein Team zusammenstellt, zu dem u.a. der eigentlich bereits im Ruhestand befindliche Fahrer Chance gehört, und gleichzeitig nach und nach die Tatsache akzeptieren muss, dass ihre große Liebe Wayne das Gefängnis wohl so schnell nicht mehr verlassen wird, rückt der Tag des Raubzugs immer näher. Über den zunehmenden Verlust der Kontrolle besorgt, rechnet Crissa insgeheim schon mit einem Scheitern, doch zum besagten Zeitpunkt scheint alles gut zu gehen. Bis plötzlich Schüsse fallen und sich damit eine verhängnisvolle Kette von Ereignissen in Gang setzt, in deren weiteren Verlauf sich die Rote einmal mehr ihrer Haut erwehren muss …

Mehr sei an dieser Stelle nicht verraten, wenngleich dies eher aus reiner Höflichkeit, denn aus Vorsicht geschieht, denn schon nach wenigen Seiten sollte der geneigte Krimi-Leser bereits erahnen können, welche Richtung dieser Plot einschlagen wird, erfindet Wallace Stroby hier doch das Genre wahrlich nicht neu, sondern bedient sich stattdessen altbekannter logischer Abfolgen des Noir. Natürlich kommt es zum Verrat und zu einem Zerwürfnis der Beteiligten, natürlich will jeder für sich allein mit dem Gewinn in den Sonnenuntergang reiten – und natürlich erweist sich Crissa Stone wieder als äußerst findig, wenn es darum geht, ihren Widersachern nicht zu viel von sich zu verraten. Und doch gewinnt dieses Element der Offensichtlichkeit erstaunlicherweise nicht an übermäßig Gewicht, denn Stroby gelingt es scheinbar mühelos, den Spannungsbogen hochzuhalten, was vor allem daran liegt, dass Crissa in „Der Teufel will mehr“ letztendlich mehr um ihr eigenes Leben, als um die Beute kämpft. Der für sie ungewohnte Kontrollverlust macht sie, trotz ihrer Erfahrung, zu einer Gejagten, die lange nur reagieren kann und fast hilflos beobachten muss, wie langjährige Konstanten ihres Lebens und ihrer Profession nun in Gefahr geraten.

Vermeintlich feste Stützen, wie der Auftragsvermittler Sladden brechen jetzt auf einmal weg und entblößen das fragile Fundament, auf dem sich Crissa Stone seit der Festnahme von Wayne ihr Leben aufgebaut hat. Und derart aus dem Gleichgewicht gebracht, braucht es eine gewisse Zeit, bis sie die Zügel wieder in die Hand nehmen kann, was den Leser, der sich vom hohen Tempo mitreißen lässt, auf der anderen Seite allerdings entgegenkommt, und der – derart in Beschlag genommen – nur sporadisch registriert, mit welch heißer Nadel die Handlung mitunter gestrickt wurde. Stroby vermag es erneut exzellent, die übersichtliche Menge der genreüblichen Werkzeuge so einzusetzen, dass wir ganz in diesem düsteren Katz-und-Maus-Spiel aufgehen und von der stets fast greifbaren Suspense durch das Buch gezogen werden. Die hohe Kunst, das Gefahrenmoment auch für die Serienfigur wirksam werden, uns um sie bangen zu lassen – er meistert sie scheinbar mühelos. Und das verleiht der Geschichte einen unheimlichen Drive, dem man sich schwer entziehen kann – und vor allem gar nicht entziehen will.

Crissa Stone derart am Scheideweg zu erleben, derart in ihrer Existenz bedroht zu sehen – das reicht schlicht und ergreifend einfach, um für 320 Seiten die Wirklichkeit außerhalb der Buchdeckel auszublenden und der eigenen Fantasie im Kopf den Rest der „Arbeit“ übernehmen zu lassen. Mehr noch: Dieses vorgezogene Requiem auf eine Verbrecherin geht uns trotz aller Simplizität wieder gehörig unter die Haut, wirkt nach – und hinterlässt uns durchgehend zufrieden und in dem Gefühl, was Besonderes in den Fingern gehalten zu haben.

Kommt also das Beste wie immer zum Schluss? Wenn ich ganz ehrlich zu mir selbst bin, muss ich diese Frage mit Nein beantworten, ist der Plot dafür doch viel zu geradlinig und durchsichtig, bedient sich Stroby im letzten Halali von Crissa Stone ein bisschen zu oft bereits bekannter Elemente und Gesetzmäßigkeiten. Allein – es kann den Gesamteindruck einmal mehr kaum trüben, denn auch der finale Auftritt liest sich wieder wie aus einem Guss, überzeugt durch äußerst elegante und stilistisch manchmal fast grazile Sicherheit, die selbst der Routine einen Glanz abringt, welcher einem Großteil der Konkurrenz verborgen bleibt. Wie schon ein Robert B. Parker vor ihm, so hat auch Stroby die Kunst auf kleinstem Raum gemeistert und trotzt einer doch schon so oft erzählten Geschichte auch dank der pointierten Dialoge neue faszinierende Facetten ab. Ein schönes, ein gutes Ende. Oder um es mit Bogarts Worten und vielleicht auch etwas Hoffnung in der Stimme zu sagen:

„Uns bleibt immer noch Paris.“

Wertung: 90 von 100 Treffern

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  • Autor: Wallace Stroby
  • Titel: Der Teufel will mehr
  • Originaltitel: The Devil’s Share
  • Übersetzer: Alf Mayer
  • Verlag: Pendragon
  • Erschienen: 02.2019
  • Einband: Klappenbroschur
  • Seiten: 320 Seiten
  • ISBN: 978-3865326461

Fünf Kugeln und Italien ist sauber

© Unionsverlag

Der übliche Schauplatz für Krimis, seien sie nun europäisch oder amerikanisch, ist die Großstadt. Denn die Stadt repräsentiert den Ort, an dem die kleinen, schmutzigen Ereignisse, in denen der Tod lauert, auf die großen Fragen unserer Zeit treffen.

Was Bruno Morchio in seinem Nachwort festhält, scheint gleichzeitig seine Maxime bei der Ausarbeitung des Debütromans „Kalter Wind in Genua“ gewesen zu sein, der sich deutlich erkennbar an den großen „Mittelmeerkrimis“ von Jean-Claude Izzo und Vásquez Montalbán orientiert und mit Bacci Pagano einen weiteren Privatdetektiv „alter Schule“ auf die große Bühne der Spannungsliteratur schickt.

In einem Genre voller schlechter Kopien bewahrt sich jedoch Morchio auf bemerkenswerte Weise seine Eigenständigkeit, was nicht zuletzt daran liegt, dass sein Protagonist mehr als nur das übliche Zugpferd für die kriminalistische Handlung verkörpert. Er steht hier beispielhaft für eine Stimme aus der Gesellschaft der Genueser Altstadt und erlaubt dem Leser damit einen Blick in das enge Geflecht düsterer Gassen, in dem der Kontrast von Licht und Schatten, Pracht und Verfall, schon fast sinnbildlich für das moderne Italien steht. Ein Blick, den eben jener Leser wohl in der Vergangenheit wenig genutzt hat, denn Morchio, dessen erste zwei Bücher beim Unionsverlag erschienen sind und der nun bei dtv verlegt wird, ist auf den Tischen vieler Buchhandlungen immer noch ein seltener Gast. Angesichts eines solchen eindrucksvollen Debüts kann man sich da nur verdutzt die Augen reiben.

Bacci Pagano, Kind einer ehrlichen und strebsamen Arbeiterfamilie, ist im fortgeschrittenen Alter zum zynischen Einzelgänger und Egozentriker geworden. Er meidet Menschenaufläufe genauso wie gefühlsmäßige Bindungen und widmet sich in seiner Freizeit lieber der klassischen Musik und guter Literatur. Es ist ein Ausgleich zu seinem dreckigen Job, denn als Privatdetektiv macht er stets aufs Neue Bekanntschaft mit den düsteren Abgründen der „Caruggi“, den engen Gassen von Paganos geliebter Heimatstadt, die er auf dem Sattel seiner amarantroten Vespa durchquert. Während eines routinemäßigen Überwachungsjobs wird er dabei auf ein großes Plakat aufmerksam, das in ungewöhnlicher und radikaler Weise für einen lokalen linken Radiosender wirbt. „Fünf Kugeln und Italien ist sauber“ ist darauf zu lesen, sowie die Aufforderung, sofort den Sender zu kontaktieren und das gewünschte Ziel zu nennen, welches mit einem Sturmgewehr exekutiert werden soll. Das hinter dieser PR-Kampagne sein alter Jugendfreund Samuele Lagrange steckt, erfährt Bacci erst kurze Zeit später, als dieser ihn für einen Job anheuern will.

Das betreffende Gewehr ist bei einem Einbruch gestohlen geworden und Lagrange fürchtet nun die Schließung seines Senders. Bacci stellt sofort Nachforschungen an, welche ihn auf die Spur eines gesuchten Terroristen führen, der offensichtlich den geplanten Besuch des Ministerpräsidenten Berlusconi in Genua für einen Anschlag nutzen will. Da kommt es äußerst ungelegen, dass sein zweiter Auftrag, bei dem Bacci für eine alteingesessene Reeder-Familie hinsichtlich Industriespionage ermittelt, ihn auch noch in die Kreise der Mafia führt. Während ganz Genua sich auf ein frostiges Weihnachtsfest vorbereitet, wird der Boden unter Bacci schneller heißer als ihm lieb sein kann …

Das „Kalter Wind in Genua“ der erste Roman aus der Feder des Italieners Bruno Morchio ist, mag man angesichts der routinierten Sicherheit, mit welcher er hier Form, Inhalt und Spannungsbogen verbunden hat, fast kaum glauben. Sein Erstling liest sich von der ersten bis zur letzten Seite wie aus einem Guss und trumpft dabei mit einem Facettenreichtum auf, der von den Trieben der Mafia, über Polizeiwillkür, illegale Einwanderer, Zwangsprostitution bis hin zum erstarkten italienischen Faschismus so ziemlich jedes aktuelle Thema des Mittelmeerstaates abdeckt.

Forsch geht er zur Sache, dieser Morchio, überrascht mit einem kämpferischen, treffsicheren Ton, der, wie die Zeichnung von Genua selbst, ganz den klassischen Motiven der alten Hardboiled-Größen verbunden ist, im Gegensatz zu diesen aber auch das politische nicht außen vor lässt. Berlusconi, der im Buch stets nur als „Ministerpräsident“ betitelt wird, sieht sich hier einer Dusche des Spotts ausgesetzt. Seine weit verzweigten, mafiösen Verbindungen deutet Morchio zwischen den Zeilen immer wieder an, ohne dabei den roten Faden der eigentlichen Handlung zu verlassen. Alles wird schlüssig miteinander verknüpft, die parallel laufenden Stränge gekonnt weiterverfolgt. Immer dann, wenn man gerade glaubt, Morchio habe sich in diesem Wirrwarr verzettelt, überrascht der Autor mit einer neuen intelligenten Verbindung.

Schon fast im Kontrast zu dieser politisch kämpferischen Ader stehen dann die liebevollen Beschreibungen von Genua, dessen komplexen Wandel er anrührend und äußerst bildreich wiedergibt. Diese kleine Stadt mit der großen historischen Vergangenheit ist es auch, die den Kern der Geschichte darstellt. Bruno Morchios Roman ist eine Hommage an seine Heimat, welche auf der Suche nach einer postindustriellen Zukunft und dabei zwischen Tradition und Fortschritt gefangen ist. Wind, Wetter, Gerüche und Geschmack. Sie bilden die Zutaten von denen dieses Buch lebt, es seine Sogkraft bezieht. Bacci auf seiner Vespa durch die düsteren, muffigen Häuserschluchten zu folgen, in kleinen Cafés zu speisen und den Mistral im Gesicht zu spüren. Das macht die Faszination aus, welche sich wie die Neugier an dieser Stadt langsam aber stetig einstellt. Mag sonst dieser Begriff schon ausgelutscht und abgedroschen sein. Hier darf man endlich wieder von Lokalkolorit, von regionalem Flair sprechen.

Was Bacci Pagano angeht. Morchio, der auf die Frage nach seinen literarischen Vorbildern Chandler nennt, hat seinen Protagonisten ganz in dessen Tradition gezeichnet, wenngleich er aber auch geschickt mit den Klischees spielt. Wie z.B. hier im Gespräch Baccis mit dessen Freund bei der Mordkommission, dem Vicequestore Commissario Salvatore Pertusielo:

(…)
„Was zum Teufel machst du denn hier?“
„Ich arbeite für die Firma Pellegrini.“
„Kümmerst du dich nicht mehr um diese Gewehrgeschichte?“
„Wenn ich nur an einem Fall arbeiten würde, ginge es mir wie Philip Marlowe.“
„Und wie erging es Philip Marlowe?“
„Immer pleite.“
(…)

Im Armenviertel der Stadt aufgewachsen, ist Bacci die raue Seite Genuas von Kindesbeinen an bekannt. Und wie fast jeder Private-Eye in der Geschichte des Kriminalromans hat er dort, in dieser modernden Düsternis, seine Kontakte und Informanten. Sollten diese nicht ausreichen, zögert aber auch Bacci nicht handgreiflich zu werden oder gar seine locker im Halfter sitzende Beretta zu ziehen, um an Informationen zu gelangen. Die Konfrontationen, zu denen es in jedem Hardboiled irgendwann unweigerlich kommt, fehlen auch hier nicht. Mehr als einmal muss der schnoddrige, übellaunige und oftmals unbeherrschte Detektiv Prügel einstecken. Das diese „gut gemeinten Ratschläge“ letztlich ignoriert werden, versteht sich natürlich von selbst.

Morchio ist die Ausarbeitung seiner Hauptfigur äußerst gut gelungen. Er spielt mit den genretypischen Klassizismen, ohne dabei ausrechenbar zu werden. In der Vergangenheit Baccis, der in den 68ern als vermeintlich gewalttätiger Regimekritiker festgenommen wurde und einige Jahre im Gefängnis verbracht hat, finden sich die Ursachen seiner heutigen Distanziert- und Ziellosigkeit. Wo bei anderen Krimikollegen sonst soziale und private Probleme zum Selbstzweck geworden sind, unterfüttern sie hier lediglich die authentische Lebensgeschichte eines Mannes, der zwar die in seiner Jugend angestrebten Ideale, nicht aber sich selbst aufgegeben hat. Es ist diese Glaubhaftigkeit, welche schon zu Beginn den Zugang zu diesem Roman herstellt, der mit einem spannenden, aber auch sehr bitteren Ende abschließt. Ein Ende, das nachdenklich macht, zur Diskussion anregt und gleichzeitig das I-Tüpfelchen auf ein exzellentes Buch setzt.

Kalter Wind in Genua“ ist ein scharfsinniger, wortgewandter Noir, der den Finger tief in die derzeitigen Wunden Italiens legt und mit einer für ein Debütwerk ungewöhnlichen Kaltschnäuzigkeit überrascht.

Wertung: 90 von 100 Treffern

einschuss2
  • Autor: Bruno Morchio
  • Titel: Kalter Wind in Genua
  • Originaltitel: Bacci Pagano – Una storia da caruggi
  • Übersetzer: Ingrid Ickler
  • Verlag: Unionsverlag
  • Erschienen: 02/2009
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 320 Seiten
  • ISBN: 978-3293204447

Recht oder Gerechtigkeit?

© Grafit

Goldfasan – so nannte man im Nationalsozialismus spöttisch die Amtsträger der NSDAP, insbesondere die politischen Leiter aufgrund ihr goldbraunen Uniformen mit goldfarbenen Knöpfen. Und es ist ein mehr als passender Titel für den zweiten Band von Jan Zweyers Trilogie um den Bochumer Polizeihauptkommissar Peter Goldstein, der sich, zwanzig Jahre nach dem in der Weimarer Republik spielenden „Franzosenliebchen“, in den Wirren des Alliierten Bombenkriegs mit einem ganz brisanten Mordfall konfrontiert sieht.

Es ist allerdings nur auf den ersten Blick alles Gold, was glänzt, denn in der „goldenen Stadt“ Herne – so genannt wegen der im Vergleich zu anderen Ruhrgebietsstädten geringen Zerstörungen und Verlusten – hat sich Goldstein längst seines ursprünglichen Namens entledigt und, dem Zeitgeist entsprechend, in Golsten unbenannt. Eine äußerst folgerichtige Entscheidung, wenn man die Ereignisse des Vorgängers kennt (was unbedingt empfehlenswert ist, um viele der Zusammenhänge und Anspielungen zu verstehen), in denen sich der Ermittler, bei aller Gewitztheit, vor allem als ziemlicher Opportunist erwies. Zweyer greift diesen Faden äußerst gekonnt auf und vermittelt ein Bild davon, wie einfach man – ohne die Ideologie des Nazi-Regimes zu verinnerlichen – Teil dieses verbrecherischen Kreislaufs werden konnte, der im vorliegenden Roman aus dem „einen Volk“ mit dem „einen Führer“ längst eine zerrüttete und zerbrochene Gesellschaft gemacht hat, in der jeder den anderen bespitzelt und verrät, um die eigene Haustür vom Fußtritt der Gestapo zu verschonen. Und damit genauer zum Plot von „Goldfasan“:

Herne, 22. März 1943. Die Schlacht von Stalingrad ist vorbei und obwohl Goebbels alle propagandistischen Hebel in Bewegung setzt, um die Deutschen vom glorreichen Endsieg zu überzeugen, ahnen selbst hochrangige Nationalsozialisten, dass nicht nur dieses Gefecht, sondern auch der Krieg verloren ist. Während der skrupellose Geschäftsmann Wieland Trasse seine Beziehungen spielen lässt, um vor der endgültigen Niederlage noch so viel wie möglich von den „konfiszierten“ Reichtümern der polnischen Bevölkerung abzuschöpfen, meldet seine Tochter, inzwischen verheiratet mit dem stellvertretenden Kreisleiter der NSDAP in Herne, Walter Munder (eben jener Goldfasan), das Verschwinden ihrer Haushaltsgehilfin Martina Slowacki – ebenfalls eine Zwangsarbeiterin aus Polen. Eine pikante Angelegenheit, die normalerweise eine harte Strafe für denjenigen zur Folge hat, der seiner „Aufsichtspflicht“ nicht nachgekommen ist. Doch Munder hat Beziehungen und so kann er Kriminalrat Saborski überzeugen, diesen Fall mit der nötigen Diskretion zu behandeln.

Dieser beauftragt wiederum niemand geringeren als Peter Golsten, Hauptkommissar der Herner Polizei. der zugunsten seiner Karriere inzwischen längst auch der SS beigetreten ist und diese Entscheidung vor sich selbst damit legitimiert, lediglich seinem Land und dessen Gesetzen zu dienen – weshalb die Uniform des SS-Hauptsturmführers auch zumeist im Schrank hängen bleibt. Saborski sieht daher in dem prinzipientreuen und verlässlichen Golsten die perfekte Wahl, der zu Beginn tatsächlich in erster Linie Arbeit nach Vorschrift abliefert, um dieses unangenehme Vorkommnis möglichst schnell zu den Akten legen zu können. Doch schon bald überschlagen sich die Ereignisse, denn kurze Zeit hintereinander werden zwei Leichen entdeckt. Der Körper einer Frau, angespült an der örtlichen Schleuse des Rhein-Herne-Kanals. Die andere, die eines Säuglings, aufgefunden im Unterholz des Gysenberger Waldes. Golsten vermutet gleich einen Zusammenhang und weitet, entgegen seiner Anweisungen, die Ermittlungen rund um die Familie Munder aus und stößt dabei auf einige Widersprüche.

Während er sich immer tiefer in den Nachforschungen verstrickt, droht gleichzeitig an anderer Stelle Gefahr. Sein Schwiegervater, ein erklärter Gegner des Nazi-Systems, gewährt seit einigen Tagen dem kommunistischen Juden Heinz Rosen in seinem Kaninchenstall Zuflucht. Als Golsten davon erfährt, sieht er sich endgültig mit den Folgen seines beruflichen Tuns konfrontiert und wird zu einer Entscheidung gezwungen …

Bereits im Auftakt der Trilogie gelang es Jan Zweyer äußerst nachdrücklich ein geschichtlich authentisches Bild des Kohlepotts während der Ruhrbesetzung im Jahr 1923 zu zeichnen und dabei subtil kommende Ereignisse anzudeuten. „Franzosenliebchen“ brillierte daher vor allem durch seine regionale Verankerung sowie die glaubwürdige Schilderung eines Milieus, das so wirklich existiert – und letztlich auch den Boden für den Aufstieg der Nationalsozialismus bereitet hat. Beim Spannungsbogen musste der Leser jedoch noch ein paar Abstriche machen, da Peter Goldstein zwar durchweg beharrlich, aber wenig kreativ auf Spurensuche ging und man das Ermittlungsziel letztlich aufgrund der vielen interessanten Details auf dem Weg dorthin gerne mal aus den Augen verlor. In „Goldfasan“ kann Jan Zweyer hier weitere Punkte gut machen. Nicht nur dass wir hier Schulter an Schulter mit SS und Gestapo die Türen so genannter „Volksverräter“ eintreten und jedem Leser guten Herzens angesichts des gezeigten mit jeder Seite unbehaglicher wird – auch der weitverzweigte, stimmig erzählte Mordfall überzeugt mit einer irritierend klaustrophobischen Suspense, welche vor dem Hintergrund aktueller Geschehnisse wie dem schrecklichen Attentat in Halle die übliche Distanz zur Fiktion mühelos durchbricht.

Über eine Länge von etwa 350 Seiten vergessen wir schlichtweg die Tatsache, dass es sich bei „Goldfasan“ um einen Kriminalroman handelt, so plastisch, so nah werden die Ereignisse rund um das Verschwinden von Martina Slowacki an uns herangetragen. Und während vergleichbare Bücher uns dann doch sehr oft den moralisch standhaften Gegner inmitten des bösen Nazi-Regimes präsentieren, erlaubt sich Zweyer auch in diesem Punkt keinerlei künstlerische Freiheiten. Peter Golsten ist ein Polizist, wie er so sicherlich existiert haben kann und wird. Jemand welcher zugunsten der eigenen Karriere schon recht früh über all die Begleiterscheinungen von Hitlers Machtergreifung hinweggesehen hat – und dies, so weit wie möglich, selbst im Deutschland des totalen Kriegs (kurz zuvor ausgerufen durch Joseph Goebbels im Sportpalast) immer noch tut. Während täglich alliierte Bomberverbände Herne überfliegen, die Bevölkerung in einem routinierten Ablauf in die Schutzbunker hastet und die letzten Kommunisten, Juden und Edelweißpiraten aus ihren Häusern gezerrt werden, ist Golsten immer noch der festen Überzeugung, mit seiner Arbeit der Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen. Dass es diese im Rechtssystem des Dritten Reichs schon lange nicht mehr gibt, das weigert er sich beharrlich so lange wie möglich zu sehen.

Beispielhaft steht hier eine Szene in der (inzwischen übrigens unter Denkmalschutz stehenden) Teutoburgia-Siedlung in Herne, wo Golsten an der Spitze eines Gestapo-Trupps eine von ihm angeordnete „korrekte Hausdurchsuchung“ bei guten Bekannten durchführt, an dessen Ende sowohl Großvater als auch der jüngste Spross der Familie in Haft genommen werden, weil nicht nur der Feind-Sender BBC gehört wurde, sondern eine schriftliche Nachricht samt Waffe auch auf eine Unterstützung der hiesigen Edelweißpiraten hindeutet. Während um ihn herum alles auf den Kopf gestellt wird, verfolgt Golsten das Verhalten seiner Kollegen zwar mit Abscheu, rührt aber letztlich keinen Finger, um sie davon abzuhalten. Nein, als Sympathieträger taugt diese Figur wirklich nicht und doch ist sie letztlich der logische Schlüssel zu der Handlung, die sich eins zu eins in ein leider allzu reales Stück deutscher Geschichte einbettet. Zweyer zeigt uns eine Welt, in der Opportunismus und Kollaboration längst reflexartige Ausprägungen geworden sind, in der man ohne Scheuklappen keinen Fuß mehr vor die Tür setzt und seinen moralischen Kompass so kalibriert hat, das er stets in die gewünschte Richtung zeigt. Peter Goldstein ist weder Widerständler noch glühender Nationalsozialist – er ist die gefährliche Verkörperung dessen, was auch heute wieder die Gesellschaft bedroht: Ein Pragmat, der das Beste für sich und seine Familie will und schlichtweg in Kauf nimmt, dass dafür die „anderen“ über die Klinge springen müssen.

Je näher sich Goldstein der Wahrheit in diesem Fall nähert, desto mehr setzt sich das verbrecherische System in Bewegung, um diese zu vertuschen und stattdessen die üblichen Sündenböcke zu präsentieren, weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Verbrechen im Nationalsozialismus von einem Nationalsozialisten begangen – so etwas gibt es nicht. Und so bleibt Goldstein schließlich auch tatenlos, als der vermeintliche Täter unter den üblichen Verdächtigen gesucht, gefunden und verurteilt wird. Obwohl Goldstein an dieser Stelle schließlich Tränen der Scham über die Wangen laufen, so können sie uns doch nicht davon überzeugen, dass Goldstein dieses Spiel nicht bis zum bitteren Ende des Krieges weiter mitspielen wird. Was, auf „Franzosenliebchen“ zurückblickend, auch nur konsequent ist. Trasse, Saborski und Goldstein – sie alle machen sich mehr oder weniger zum Helfershelfer dieses korrupten Regimes und führen den Begriff Gerechtigkeit letztlich gänzlich ad absurdum. Nicht Justitia ist es, die im Dritten Reich blind ist.

Die Lektüre von „Goldfasan“ – ich habe sie mit zitternden Fingern und einem ganz dicken Kloß im Hals beendet, was schon allein für die Qualität dieses wirklich ausgezeichneten und klugen Kriminalromans spricht, der, als kleines, aber unheimlich intensives, lokales Kammerspiel inszeniert, die ganz großen Themen auf eine Weise schriftlich entlarvt und verbildlicht hat, dass diese noch lange im Gedächtnis haften bleiben.

Und wie erschreckend ist es, dass wir im Jahre 2019 tatsächlich wieder über diese Themen in einem aktuellen Zusammenhang sprechen müssen.

Wertung: 90 von 100 Trefferneinschuss2

  • Autor: Jan Zweyer
  • Titel: Goldfasan
  • Originaltitel:
  • Übersetzer:
  • Verlag: Grafit
  • Erschienen: 10.2009
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 352
  • ISBN: 978-3894256050

Diese Seefahrt, die ist lustig …

© Heyne

Womöglich konnte man schon bei meiner Besprechung zum ersten Band der „Gentleman-Ganoven“-Reihe zwischen den Zeilen herauslesen *hust*, dass ich eine beinahe überbordende Begeisterung für Scott Lynchs Werke mitbringe, weil sie sich nicht nur erfrischend innovativ von der üblich servierten Fantasy-Kost abheben, sondern auch auf emotionaler Ebene an Gefühlen rühren, die vom Großteil der Romane – auch außerhalb des Genres – gar nicht mehr erreicht werden. Protagonisten sind inzwischen einfach zu oft nur noch das Triebmittel für den Plot, das Gefährt, welches den nach Schema F gepflasterten Spannungsbogen abzufahren und allenfalls als Identifikationsfigur für den Leser zu dienen hat. Sich genauer mit seinen Figuren zu beschäftigen, ihnen über den bloßen Steckbrief hinaus ein Profil zu verleihen, sie zum Leben zu erwecken – diese, manchmal dann halt auch Seiten kostende Mühe, wollen sich manche Autoren schlichtweg nicht mehr machen. Ein Weg, der den Genickbruch für auch diese Serie dargestellt bzw. sie zu einem Schicksal als schlichte Erbauungsliteratur verdammt hätte. Scott Lynch hat diesen Weg zum Glück für den Leser nicht eingeschlagen – im Gegenteil.

Hätte manch schnäubischer Kritiker „Die Lügen des Locke Lamora“ noch wohlwollend als Eintagsfliege abtun können, unterstreicht der nachfolgende Band „Sturm über roten Wassern“ noch einmal dick und fett, dass wir es hier bei Lynch mit einem absoluten Ausnahme-Talent zu tun haben. Und mit vielleicht einem der interessantesten Autoren, der im Bereich Fantasy in den letzten Jahren zur Feder gegriffen hat. Hohe Ehren, mit denen ich gewöhnlich vorsichtiger bin, aber angesichts dieses abermals mehr als gelungenen zweiten Wurfs bleibt mir schlichtweg nichts anderes mehr übrig, als eine Lobeshymne anzustimmen. Und zwar so laut wie möglich, damit noch weit mehr Leser die Reihe um Locke Lamora und seine Gentleman-Ganoven für sich entdecken.

Unter diesen Ganoven haben die Abenteuer in Camorr einen hohen Blutzoll gefordert – nur ein Grund warum Locke Lamora und sein bester Freund Jean Tannen der Stadt den Rücken gekehrt und auf der Suche nach neuen Jagdgründen nach Tal Verrar gezogen sind. Diese Stadt, auf mehreren Inseln treppenartig erbaut, ist bekannt für ihr Glücksspiel und beherbergt unter anderem das elitärste und am besten bewachte Spielkasino – den Sündenturm. Da nur die größte Gaunerei ihrer würdig ist, fassen die zwei den Geldtresor des Kasinos ins Auge, in dem neben den Schätzen des örtlichen Paten Requin auch der halbe Geldadel sein Gold eingelagert hat.

Über zwei Jahre basteln Locke und Jean an ihrem Plan bis sie schließlich die volle Aufmerksamkeit Requins haben, den man nun geschickt zu täuschen versucht. Normalerweise kein Problem für die beiden gerissenen Lügner, würden ihnen nicht die auf Rache sinnenden Soldmagier von Karthain im Rücken sitzen und der Archont der Stadt sie nicht für seine eigenen Zwecke einspannen wollen. Plötzlich sehen sich die zwei vergiftet und damit in der Hand des Letzteren und müssen für diesen in See stechen, um dort einen Angriff der Piraten zu provozieren. Für die nautischen Nichtskönner Locke und Jean kein einfaches Unterfangen, das sie mehr als einmal an den Rand des Todes bringen soll … auch darüber hinaus?

Eine Frage, die man sich im Buch gleich mehrmals stellt, denn wie schon sein Vorgänger ist auch „Sturm über roten Wassern“ mit einer großen Portion Dramatik beseelt, die wir Leser den einfach nur wundervollen Figuren dieser Geschichte verdanken. Für die hat sich die Ausgangslage völlig geändert. Aus den vormals jugendlichen Draufgängern, welche in den Tag gelebt oder sich Kopf über ins Abenteuer gestürzt haben, ist nach dem Fiasko in Camorr nicht viel geblieben. Besonders auf Lockes Schultern lasten die herben Verluste an Freunden und Verbündeten schwer. Die Freundschaft Jeans und Lockes scheint dadurch aber nur noch enger geworden zu sein und sie ist es auch, welcher dieser Roman in großem Maße seine Glaubwürdigkeit verdankt. Ein paradoxer Begriff, wo wir es doch hier mit Fantasy zu tun haben, aber es ist die einzigartige Stärke des Autors, uns Leser dies schnell vergessen zu lassen. Und das tun wir nicht selten tief berührt, denn auch dieser Band spart nicht an sehr packenden und drastischen Szenen, von denen jedoch keine einzige zum Selbstzweck verkommt.

Wenngleich Scott Lynch noch zu Beginn seine Schwierigkeiten hat, das Feld für den komplexen Handlungsverlauf zu bereiten, so findet er doch recht bald wieder zu dieser schon fast unheimlichen Leichtigkeit zurück, um die ihm viele Worldbuilder dieses Genres sicherlich beneiden werden. Parallel zum Schiff unserer liebgewonnen Helden nimmt die Story Fahrt auf, wobei für die ganz junge Generation der Leser der Seegang allzu rau daherkommt, denn neben knackiger und kinoreifer Action mit einer gesunden Portion Blut geizt „Sturm über roten Wassern“ erneut nicht mit derbster Fäkalsprache. Ich würde fast behaupten, dass diese hier mit einer noch größeren Hingabe gepflegt wird. Ein Umstand übrigens, der wie die Faust aufs Auge passt, besonders während der Abenteuer aus See, welche natürlich im „Fluch-der-Karibik“-Milieu wildern und doch dank Lynchs genialen Einfällen immer wieder völlig neu anmuten. Überhaupt hat dessen Fantasywelt schon jetzt nach zwei Bänden mehr Ecken und Kanten als manch ein ganzes vollständiges Epos (Ja, ich spreche von Dir, „Das Schwert der Wahrheit“). Statt seine „Helden“ auf der Queste schon in einem Buch eine hunderte Kilometer große Karte durchqueren zu lassen, lüftet er, einem Echtzeit-Strategiespiel gleich, nur nach und nach den Nebel, stets darauf bedacht, jede einzelne Ecke mit Leben zu füllen.

Und reich an Leben ist diese Ecke der Welt in die Locke und Jean diesmal gezogen sind – insbesondere Gauner und Kriminellen haben rund um den Fuß des Turms von Tal Verrar Hochkonjunktur, was wiederum dem dynamischen Duo aus dem Untergrund von Camorr die Eingewöhnung ziemlich einfach macht. Natürlich haben sich unsere beiden so ungleichen Freunde wieder ein mehr als würdiges Opfer für ihre Gaunereien ausgesucht. Nie sind es die Habenichtse, die einfachen Bürger, die das Interesse unseres Meisterdiebes erwecken, sondern die Reichen und Mächtigen, die sich auf Kosten ihrer Mitmenschen bereichern, welche ausgeraubt und auf ein kleineres Maß zurückgestutzt werden sollen (Robin und Big John lassen grüßen). Dass dabei so manches Mal etwas schief geht, dass unser Protagonist weitere tragische Verluste hinnehmen und Niederlagen einstecken muss und seinen Stolz herunterzuschlucken gezwungen ist, ähnelt zwar dem Aufzug des ersten Bandes gar sehr, ändert aber letztlich nichts daran, dass wir uns als Leser dem dramatischen Verlauf nicht einmal für eine kleine Pinkelpause entziehen können.

Scott Lynch deutet mit „Sturm über roten Wassern“ eindrucksvoll an, dass er noch mehr als eine Patrone im Magazin hat. Das zweite Abenteuer des Gentleman-Ganoven vermag all die hohen Erwartungen, welche sich nach dem grandiosen Debütroman eingestellt hatten, zu erfüllen, sieht man von einem kleinen Manko einmal ab: Lynch hält sich nicht mit einer Zusammenfassung der Ereignisse des Vorgängerbandes auf, was es Neueinsteigern schwer bis unmöglich machen wird, die Beweggründe der Figuren und ihre Handlungsweisen nachzuvollziehen. So eine kleine „Nachlässigkeit“ sei ihm für dieses stimmige Mantel-und-Degen-Abenteuer mit Oceans-Eleven-Anleihen aber großzügig verziehen.

Wertung: 90 von 100 Treffern

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  • Autor: Scott Lynch
  • Titel: Sturm über roten Wassern
  • Originaltitel: Red Seas under Red Skies
  • Übersetzer: Ingrid Herrmann-Nytko                                  
  • Verlag: Heyne
  • Erschienen: 06.2008
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 944 Seiten
  • ISBN: 978-3453531130

Wer hat Angst vorm bösen Wolf?

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© Goldmann

Am dritten Teil der Reihe um den Edinburgher Detective Inspector John Rebus werden sich wohl die Geister der Fans dieser Serie scheiden, denn zum ersten und einzigen Mal verschlägt es den eigenwilligen Ermittler nach London. Ein Handlungsort den manch einer – auch aufgrund der Verwurzelung von Rebus in Edinburgh – unpassend finden könnte, doch in der Vergangenheit des Autors finden wir die Gründe für diese Wahl.

Ian Rankin, der während des Schreibens selbst noch eine zeitlang in der Hauptstadt, genauer gesagt in Tottenham gewohnt hat und dort wenig glücklich war, verarbeitet in „Wolfsmale“ (engl. „Tooth & Nail„) seine Erlebnisse mit dem krassen Materialismus der Thatcher-Ära und geht dabei auch näher auf das schwierige Verhältnis zwischen Schotten und Engländern ein. Die dicht unter der Oberfläche lauernden Ressentiments dürfen hier beide Seiten ausleben, was nicht nur zur Dramatik der Handlung entscheidend beiträgt, sondern den Roman auch zu einem der amüsantesten Vertreter der Reihe macht. Die Story setzt einige Zeit nach dem letzten Roman „Das zweite Zeichen“ ein:

John Rebus hat sich mal wieder in die Nesseln gesetzt und im nicht ganz ausgenüchterten Zustand seinen Chef mit dessen ungeliebten Spitznamen konfrontiert. Die „Strafe“ dafür folgt auf den Fuß, denn Chief Superintendent „Farmer“ Watson schickt seinen DI nach London, wo er die Ermittlungen in einer mysteriösen Mordserie unterstützen soll. Und der Yard hatte zwar auch einen Experten angefordert, aber nicht unbedingt mit dem Erscheinen dieses „Jocks“ aus dem wilden Norden gerechnet, dessen Sprache sie kaum verstehen und der sich auch gleich wenig Freunde unter den Londoner Polizisten macht. Dem Einzelkämpfer Rebus schlägt allerorten herablassender Argwohn und Verachtung entgegen, was dieser wiederum mit stoischer Gelassenheit und geistigen Bemerkungen kommentiert. Allein im Leiter der Ermittlungen, dem pragmatischen George Flight, findet er einen Verbündeten. Gemeinsam nehmen sie die Spur des so genannten „Wolfsmannes“ auf, der immer brutaler vorzugehen scheint und Rebus nur wenig Zeit lässt, sich in der ungewohnten Umgebung zurechtzufinden. Als die Abstände zwischen den Morde kürzer werden, überschlagen sich für Rebus auch privat bald die Ereignisse…

Auch wenn Rankin, meiner Meinung nach unnötigerweise, auf den Zug der Serienmörderplots aufspringt – der Autor hatte zum damaligen Zeitpunkt gerade Thomas Harris‘ Hannibal-Lector-Reihe für sich entdeckt –  der Schreibstil bleibt einzigartig und kann auch diesmal aufs Beste unterhalten. War der Vorgänger noch durch seine Düsternis gezeichnet, ist es hier besonders der treffende Humor, der ins Auge fällt und das London, das durchaus nicht von seiner schönsten Seite gezeigt wird, zur Bühne des zwar knurrigen, aber nicht charmelosen Inspektors macht. Über die herrlichen Wortgefechte von Engländern und Schotten gerät der eigentliche Krimifall fast in den Hintergrund, der auch diesmal zugegebenermaßen nicht ganz so überzeugen kann. Der Wolfsmann bleibt etwas blass und das Element der Bedrohung und Gefahr vermag uns Leser nicht ganz zu erreichen.

Das fällt jedoch kaum ins Gewicht, da Rankin in punkto Charakterzeichnung erneut eine Meisterleistung abliefert und die bereits lieb gewonnenen Edinburgher Kollegen durch ebenso interessante Londoner Vertreter ersetzt. Auch Rebus beginnt eine neue Affäre, diesmal mit einer Psychologin, während er sich gleichzeitig mit seiner Ex-Frau und der pubertierenden Tochter auseinandersetzen muss (Es ist übrigens das erste und letzte Mal, dass Rankin eine Sexszene im Detail näher schildert, was er später, auch auf Anraten seines Agenten, der Fantasie des Lesers überließ). Der Autor fügt dies alles zu einem in sich stimmigen Plot zusammen, welcher uns über die Identität des Mörders stets im Unklaren lässt und dessen Auflösung mich zu überraschen wusste. Was das Buch am Anfang an Längen zuviel hat, fehlt dann leider etwas gegen Ende, das Rankin etwas überhastet, aber dafür umso actionreicher (Stichwort: Verfolgungsjagd) auf Papier bringt.

Wolfsmale“ ist wie seine Vorgänger ein absolut kurzweiliger, unterhaltsamer Krimi-Thriller-Mischling, dem man die Lehrjahre des Schreibers zwar noch weiterhin anmerkt, welcher aber erneut das gewisse Etwas mitbringt und mich – vor allem auch durch die Marotten des John Rebus – endgültig zu einem glühenden Anhänger dieses schottischen Autoren bekehrt hat.

Übrigens: „Wolfsmale“ ist auch wegen dem ersten kleinen Auftritt von Morris Gerald Cafferty alias „Big Ger“ denkwürdig. Eine Figur, die im weiteren Verlauf noch eine sehr wichtige Rolle als Rebus‘ ganz persönlicher Moriarty zu spielen hat.

Wertung: 90 von 100 Treffern

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  • Autor: Ian Rankin
  • Titel: Wolfsmale
  • Originaltitel: Tooth & Nail
  • Übersetzer: Ellen Schlootz
  • Verlag: Goldmann
  • Erschienen: 07.2001
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 320 Seiten
  • ISBN: 978-3442446094