Es hatte nach der Lektüre einige Tage gedauert, bis ich diese Rezension zu Robert Ludlums Auftakt der Bourne-Reihe in Angriff nehmen konnte – nicht zuletzt deshalb, weil die Lektüre, welche sich doch so gänzlich von der Verfilmung mit Matt Damon und Franka Potente in den Hauptrollen unterscheidet, auch noch nach der Beendigung auf den Leser einwirkt und aufgrund der vielen offenen Fragen Raum für Spekulationen lässt.
„Die Bourne-Identität“, 1980 erschienen und hierzulande erst unter dem Titel „Der Borowski-Betrug“ veröffentlicht, bietet für Kenner des Films erfrischend viel Neues und nimmt, vom Beginn einmal abgesehen, einen Verlauf, der sich in erster Linie an der Ära des Kalten Krieges und der für die USA so schwerwiegenden Niederlage in Vietnam orientiert. Eine Ausgangslage, die gerade für jüngere Leser der Smartphone-Generation das ein oder andere Hindernis darstellen dürfte, sind doch nicht nur die hier dargestellten Möglichkeiten der Kommunikation äußerst gewöhnungsbedürftig. Während andere Agentenromane des Genres dies mit typischen „Klassiker“-Charme wettmachen können, hat Ludlums Werk doch hier und da eindeutig etwas Staub angesetzt. Es bedarf einer gewissen Geduld, um unter der grauen Patina das geniale Konstrukt der Handlung zu entdecken, welches für damalige Verhältnisse sicherlich einzigartig war. Diese sei hier kurz angerissen:
Im Mittelmeer ziehen Fischer einen schwer verletzten Mann aus den stürmischen Fluten. Sein Körper ist mit Schusswunden übersät, eine schwere, tief gehende Kopfverletzung scheint irreparablen Schaden hinterlassen zu haben. Dennoch bringen die Seeleute ihn zu einem britischen Arzt, in dessen Obhut der namenlose Patient nach langer Zeit wieder zu Bewusstsein gelangt. Doch wer ist der Mann? Von wo kommt er? Und wer ist für seinen Zustand verantwortlich? Nur langsam dringen Erinnerungsfetzen durch die Amnesie, kehren Teile des Gedächtnisses zurück. Aber erst ein Implantat in seiner Hüfte gibt ihm den entscheidenden Hinweis – ein Bankschließfach in Zürich, das unter dem Namen Jason Bourne läuft.
Nach sechs Monaten der Regeneration macht er sich auf den Weg in die Schweiz, nur um relativ schnell feststellen zu müssen, dass auch dort gewisse Männer immer noch seinen Tod wollen. Bourne beweist nun ungeahntes Geschick und beeindruckende Fähigkeiten – sowohl im Kampf wie beim listenreichen Katz-und-Maus-Spiel. Mit Hilfe der jungen Marie St. Jacques, die er als eine Art Lebensversicherung zur Geisel nimmt, tritt er die Flucht nach vorne an. Stets getrieben von Furcht, Instinkt und dem festen Willen, die Wahrheit über seine Identität in Erfahrung zu bringen, jagt er jedem noch so kleinem Indiz hinterher. Doch die Suche nach der eigenen Vergangenheit wird auch zum Wettkampf mit dem Tod, denn Carlos, ein international agierender Auftragskiller, ist ebenso hinter ihm her wie Teile des US-amerikanischen Geheimdienstes.
„Cain ist für Charlie. Delta ist für Cain.“ Als Bourne den Sinn des Satzes begreift, der ihm immer wieder durch den Kopf geht, erkennt er schließlich wer und was er ist …
Auch wenn Jason Bourne bereits im TV-Mehrteiler „Agent ohne Namen“ Ende der 80er sein Filmdebüt feierte – richtig bekannt geworden ist die Geschichte um den unter Gedächtnisverlust leidenden Mann mit den vielen Eigenschaften erst durch Doug Limans cineastische Umsetzung aus dem Jahr 2002. Ein Erfolg, den sein Erfinder Robert Ludlum, der bereits im März des vorherigen Jahres an einem Herzinfarkt starb, nicht mehr miterleben durfte. Drei Kino-Fortsetzungen und weitere von Ghostwritern geschriebene Bücher künden von der immer noch großen Beliebtheit der Figur Jason Bourne, welche uns zwar wie James Bond in die Welt der Spionage führt, dem Leser aber einen schmutzigeren und weit weniger glamourösen Einblick in die Tätigkeiten und das Gegeneinander von Geheimdiensten, Agenten, Killern und Terroristen gewährt. Realismus heißt das Schlagwort der Bourne-Serie – und dem hat sich letztlich auch die Handlung unterzuordnen. Technische Gadgets, wunderschöne Frauen, nigelnagelneue Autos, auf hochglanzpolierte Stützpunkte größenwahnsinniger Bösewichte – all dies sucht man im Bourne-Universum vergebens. Stattdessen finden wir uns in dreckigen Gassen, dunklen Spelunken oder auf alten Bauernhöfen wieder, Spiegelbilder der Figuren, welche sie bevölkern. Und diese sind ebenfalls weitaus komplexer und düsterer angelegt, als man es sonst vom Genre des Polit- und-Agententhrillers gewohnt ist.
Obwohl ebenfalls Amerikaner, fehlt der US-typische Pathos hier fast gänzlich. Robert Ludlum lässt von Beginn an keinen Zweifel daran, dass Jason Bourne mit dem üblichen, moralisch erhabenen Helden, nichts gemein hat. Sein Handeln hat wenig gemeinnützige Züge, sondern ist vielmehr vom Instinkt geleitet, gleich einem Tier, das zum Jäger werden muss, um nicht selbst erlegt zu werden. Dies beeinflusst letztlich auch den Bezug des Lesers zum Hauptcharakter, dem man nicht wirklich mögen kann, da er uns dazu eigentlich kaum Anlass gibt. Auf der anderen Seite fasziniert die Amnesie der Figur, die aufgrund ihrer unbekannten Vergangenheit auch für uns Beobachter über lange Zeit unvorhersehbar bleibt. Plötzliche Wendungen und Erkenntnisse überraschen Leser und Hauptfigur gleichermaßen, lassen nur nach und nach ein größeres Bild in den vielen Puzzleteilen entdecken. Und selbst dies bleibt unscharf.
Die Faszination Jason Bourne, sein Reiz, liegt letztlich in der Einsamkeit der Figur. Er kann weder auf die geballte Macht eines Britischen Secret Service zurückgreifen, noch teilt er den Wissensstand seiner Gegner, die ihm, in der Person des Killers Carlos und dessen weltumspannenden Organisation, immer einen Schritt voraus sind – trotzdem gelingt es ihm nach und nach, den Spieß umzudrehen, mit kleinen, gezielten Hieben, seine Verfolger aus der Deckung zu locken. Immer wieder meistert er brenzlige Situationen, muss er Entscheidungen treffen, in Unkenntnis davon, ob ihn diese auf den richtigen oder falschen Weg führen. Doch gibt es diese Wahl für Bourne überhaupt? Ludlum lässt die wahren Wesenszüge nur sporadisch durchblitzen, zeigt uns einen gespaltenen Protagonisten, der sich und uns die Frage stellt, ob man durch das Wiedererlangen der verlorenen Vergangenheit auch wirklich ein anderer Mensch werden oder dem Schicksal am Ende doch nicht entrinnen kann.
Die Art und Weise, wie Ludlum Bourne um Facetten bereichert und Erfahrungen ergänzt, in immer wieder mögliche Richtungen wendet und dreht – das liest sich unheimlich spannend und packend, bildet gar das Fundament des ansonsten eher flachen Spannungsbogens, den der Autor mit Actionsequenzen garniert, die kurz aber dafür umso drastischer geraten sind. Sprachlich reißt Ludlum zwar keine stilistischen Bäume aus. Seine atmosphärische Schreibe passt aber zum doch sehr intensiven und gefühlsbetonten Plot, der mitunter schwierig zu durchschauen ist. Besonders am Anfang ist Aufmerksamkeit gefragt, um die vielen verschachtelten Zusammenhänge überblicken zu können. Wenige gute Arbeit leistet Ludlum in Punkto Dialoge. Vor allem die Konversationen zwischen Jason und Marie schaben haarscharf am Kitsch vorbei und beißen sich mit der ansonsten äußerst naturalistisch gestalteten Handlung. Überhaupt erachte ich die Figur Marie St. Jacques (zumindest für diesen ersten Band der Reihe) als vollkommen überflüssig. Da hat mir Franka Potentes Interpretation der Marie im Film weit besser gefallen.
„Die Bourne-Identität“ ist eine gelungene Mischung aus Agenten-Thriller und „Hardboiled“-Action, die dank der unvorhersehbaren Geschichte und der schwer einzuordnenden Hauptfigur immer wieder aufs Neue in den Bann zu ziehen weiß. Ein kühles, schroffes, aber äußerst komplexes Werk, das allen Freunden anspruchsvollerer Spannungsliteratur nur ans Herz gelegt werden kann. Ich freue mich bereits auf die Fortsetzung „Das Bourne-Imperium“. Schließlich sind noch einige Rechnungen zu begleichen…
Wertung: 88 von 100 Treffern
- Autor: Robert Ludlum
- Titel: Die Bourne-Identität
- Originaltitel: The Bourne Identity
- Übersetzer: Heinz Zwack
- Verlag: Heyne
- Erschienen: 08.2016
- Einband: Taschenbuch
- Seiten: 656 Seiten
- ISBN: 978-3453438583