Von Kunst und vom Tod

© Piper

Es ist nun mehr als sechs Jahre her, seitdem ich mich in der kriminellen Gasse das letzte Mal mit Thomas Adcock beschäftigt habe – und mein Wunsch, er möge doch bitte hierzulande endlich wieder (auch als Print-Ausgabe) neu und in angemessener Ausstattung aufgelegt werden, ist bis heute unerfüllt geblieben. In der Hoffnung, dass nicht noch einmal so viel Zeit vergehen wird – und auch von einem gewissen ostwestfälischen Sturkopf geleitet – nutze ich daher an dieser Stelle mal wieder die Gelegenheit, um den New Yorker Autor zumindest etwas in das Scheinwerferlicht zu rücken, das er aufgrund seines Werks eigentlich verdient hat. Dieses hat, anders als das von so namhaften Kollegen wie James Lee Burke oder oder Michael Connelly, nie einen derart großen Eindruck auf dem deutschen Buchmarkt hinterlassen. Seltsamerweise, möchte man behaupten, den wirft man einen näheren Blick auf Adcocks Vita, so muss sich auch er hinter diesen namhaften Konkurrenz kaum verstecken.

Thomas Adcock wuchs zwar in seiner Geburtsstadt Detroit auf, verließ diese jedoch in jungen Jahren um als Polizeireporter und Journalist bis 1978 in Michigan und Minnesota erste Erfahrungen mit dem kreativen Schreiben zu sammeln, bevor es ihn schließlich nach New York zog. Hier arbeitete er einige Zeit in der Werbebranche, schrieb mehrere Hörspiele und Drehbücher für diverse Fernsehserien und veröffentlichte 1984 sein erstes Buch unter eigenem Namen. In „Precinct 19“ schildert er im Format eines Tatsachenberichts den Alltag der Polizei im gleichnamigen Revier in Manhattan. Ein Jahr später folgten schließlich die ersten Krimi-Kurzgeschichten für das „Ellery Queen’s Mystery Magazine“, wobei die Leser in „Christmas Cop“ (1986) erstmals Bekanntschaft mit dem New Yorker Cop Neil „Hock“ Hockaday machen. Der grimmige Ermittler gewinnt schnell die Herzen der Leser, die Geschichte selbst wird sogar für den Edgar Allan Poe Award nominiert, so dass bald weitere mit derselben Figur folgen. Vom Erfolg motiviert legt Adcock 1989 dann „Hell’s Kitchen“ (orig. „Sea of Green“) vor, den ersten Kriminalroman mit Hockaday, dessen irische Abstammung er im Verlauf seiner Serie größere Aufmerksamkeit zollen wird. So auch im vorliegenden zweiten Band der Reihe, „Feuer und Schwefel“, mit dem sich der Autor nicht nur gegenüber dem Vorgänger gesteigert, sondern auch die Auszeichnung mit dem Edgar Allan Poe Award für den besten Taschenbuchkrimi von 1992 wohlverdient hat.

Nach weiteren vier Hockaday-Romanen ist es im Krimi-Genre inzwischen ruhig um Thomas Adcock geworden, der jedoch über seine regelmäßigen, sehr lesenswerten (!) Beiträge im CulturMag den deutschen Lesern zumindest noch ein wenig erhalten blieben ist. Doch natürlich ist es gerade diese besagte New Yorker-Reihe, welche endlich wieder mehr Aufmerksamkeit verdient, zumal ihr Schöpfer zu den wenigen seiner Zunft gehört, die den Balanceakt zwischen dem klassischen Hardboiled und dem Thema des Serienmörders auf hohem literarischen Niveau begeistert. Und ein Serienmörder spielt tatsächlich auch in „Feuer und Schwefel“ eine gewichtige Rolle:

Frühling in New York, Anfang der 90er. Normalerweise eine Jahreszeit, in der sich selbst die Verbrecher eine Auszeit gönnen und das sonst so raue Hell’s Kitchen mit einem beinahe rustikalen Charme aufwartet, der selbst den ein oder anderen Touristen in die Gegend lockt. Für Neil „Hock“ Hockaday, den etwas abgehalfterten Detective von der SCUM-Patrol, ist es vor allem der beste Zeitpunkt, um endlich seinen langersehnten und wohlverdienten Urlaub zu nehmen. Gerade mal ein halbes Jahr ist es her, seit „Hock“ im Fall um den ermordeten Father Love ermittelt und dabei sein Leben aufs Spiel gesetzt hat und Ruhe daher dringend vonnöten. Doch erstens kommt es immer anders und zweitens als man denkt, denn ausgerechnet die Kunst soll seinen Plänen einen Strich durch die Rechnung machen. In diesem Fall verkörpert durch ein meisterhaftes, aber auch grauenerregendes Gemälde, welches die Fassade eines Gebäudes im alten New Yorker Stadtteil Coney Island ziert – und der Feder eines bekannten, aber auch berüchtigten heimischen Malers entstammt, den man auf den Straßen nur unter den Namen „Picasso“ kennt. Der Titel des Gemäldes: „Feuer und Schwefel“.

Ausgerechnet diesen „Picasso“, der in der Vergangenheit u.a. auch für die Gestaltung der Vergnügungsparks auf Coney Island verantwortlich zeichnete, inzwischen sich aber nur noch mit Gelegenheitsjobs und Betteln über Wasser hält, trifft „Hock“ eines Abends, scheinbar zufällig und in erregten Zustand an. Der ehemalige Künstler prahlt unverhohlen mit der Absicht, an denjenigen Rache zu nehmen, die für sein jetziges Leben verantwortlich sind. Notfalls auch mit Gewalt. Der Cop schenkt dem wirren Gefasel des offensichtlich Geistesgestörten keinerlei Beachtung und versucht den Vorfall schnell wieder zu vergessen. Bis er in seiner Lieblingskneipe auf ein Bild „Picassos“ stößt, das eine in grün gekleidete Frau porträtiert – und ausgerechnet diese einige Stunden später an derselben Stätte erschossen wird. Auf einmal häufen sich die Morde im Umfeld „Picassos“ und „Hock“ sieht sich gezwungen, selbst Ermittlungen anzustellen, um hinter das wahre Motiv der Taten zu kommen und dem blutigen Spiel ein Ende zu setzen …

Der versoffene, sture Cop. Die paragraphenreitenden Vorgesetzten. Das heruntergekommene, von Verbrechen und schrägen Typen durchsetzte Milieu. Ja, wenn man „Feuer und Schwefel“ nur einen kurzen, ungenauen Blick schenkt, so erwartet den Leser auch hier ein typischer Hardboiled-Vertreter nach Schema F, der sich vielleicht allenfalls durch den Schauplatz noch von seiner Konkurrenz unterscheidet und ansonsten gewohnte Kost bietet. Und es wäre dann am Ende genau dieser Oberflächlichkeit, mit dem er sich selbst einen Bärendienst erweisen würde, denn gerade in der Reihe vom Neil „Hock“ Hockaday steckt soviel zwischen den Zeilen, so viel Herz und Seele seitens des Autors, das man mit der obigen Einschätzung nicht weiter daneben liegen könnte. Adcocks Vergangenheit als Journalist, sie erweist sich bei der Konzeption dieser Reihe als echter Segen, schwitzen seine Krimis doch geradezu nur vor Atmosphäre und Authentizität, da hier eben kein Autor irgendwo im sonnigen Hawaii zum Stift gegriffen, sondern von der Welt direkt vor der Haustür berichtet hat. „Hocks“ Schrullen sind mitnichten irgendwelchen künstlerischen Einfällen ihres Erfinders geschuldet, sondern logische Begleiterscheinungen seines Umfelds und letztlich auch die Erkenntnisse aus Adcocks eigenen Beobachtungen als Polizeireporter.

Wie schon Michael Connelly, so gelingt es auch Thomas Adcock meisterhaft, diese Barriere zwischen Fiktion und Realität zu überwinden, persönliche Erfahrungen seiner Arbeit mit einfließen zu lassen, um den Leser nach und nach in das echte New York, das echte Hell’s Kitchen hineinzuziehen. In „Feuer und Schwefel“ präsentiert sich dies nicht mehr so sehr als kalter und ungemütlicher Ort wie im ersten Band – hier hat man beim Lesen unwillkürlich bibbernd den Rollkragen hochklappen wollen – sondern tatsächlich von seiner frühlingshaften Seite. Diese jahreszeitbedingte Hochstimmung schwappt sowohl auf uns als auch auf „Hock“ über, zumindest bis er immer tiefer in das abgründige Wirken des mysteriösen Maler hineingezogen wird. Und sich beharrlich weigert, sich ab sofort etwas anderem zu widmen. Wie ein Terrier beißt er sich an dem Fall und den Fersen der Verdächtigen fest, entwirrt mit scheinbar engelsgleicher Geduld nach und nach die Umstände und Hintergründe der Morde.

Adcock vermeidet es dabei, sich der üblichen Serienmörder-Elemente zu bedienen, so dass sich das Gesamtprodukt weit eher wie ein Police Procedural mit Hardboiled-Einschlag liest. Im Gegensatz zum Auftakt der Reihe fährt er zudem den Brutalitätsgrad etwas zurück, was vielleicht auch daran liegt, dass „Hock“ diesmal die wunderschöne Ruby zur Seite steht, welche nach seiner gescheiterten Ehe einen neuen Lichtblick im doch arg tristen Junggesellendasein darstellt. Dies scheint sich gleichzeitig auf seine Gewohnheiten auszuwirken, denn der einst einsame Wolf raucht und säuft nicht mehr annähernd soviel wie noch in „Hell’s Kitchen“. Ob dies jedoch so bleibt – der Ausgang des Romans macht dies mehr als fraglich. Bis zu diesem Ende liest sich auch der zweite Auftritt des New Yorker Cops wie aus einem Guss und – nicht unwichtig für dieses Genre – bleibt vor allem durchgehend spannend.

Im Dunstkreis von John Rebus, Harry Bosch und Dave Robicheaux dürfte auch Neil Hockaday in Deutschland sicher seine Leser finde – eine längst fällige Wiederveröffentlichung vorausgesetzt. Mit „Feuer und Schwefel“ kann sich Adcock nicht nur nochmal steigern, er bereitet auch den Boden für den dritten Band „Ertränkt alle Hunde“, der, über die Grenzen des Genres hinaus, zum Besten gehört, was über den andauernden Konflikt in Irland bis dato veröffentlicht worden ist. Doch dazu mehr an anderer Stelle.

Wertung: 91 von 100 Trefferneinschuss2

  • Autor: Thomas Adcock
  • Titel: Feuer und Schwefel
  • Originaltitel: Dark Maze
  • Übersetzer: Jürgen Bürger
  • Verlag: Piper
  • Erschienen: 01.1998
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 348
  • ISBN: Serien978-3492256759

Sarah Jane – das Rätsel des Menschseins

© Liebeskind

Sarah Jane Pullman arbeitet als Polizistin in Farr, einem kleinen Kaff inmitten der USA. Als eines Tages ihr Chef und Förderer Cal Phillips verschwindet, beginnt nicht nur eine aufreibende Suche, sondern auch eine intensive Reise in Sarah Janes Vergangenheit. So entsteht eine Mischung aus Reflektion und Beichte, angefertigt von Sarah Jane selbst für ihren Freund Sid.

Sarah Jane erzählt von einer Mutter, die abzutauchen zur Profession gemacht hat, einem Vater der sich zu kümmern versucht, aber überfordert vom Leben ist, , vom Abrutschen in die Kriminalität, dem bedrohlichen Spiel mit Drogen, der Rettung durch den Eintritt in die Armee – statt ins Gefängnis einzufahren. Und immer wieder von Männern: Freundlichen, unzuverlässigen, verzweifelten und toxischen. Die Beziehung zu einem gewalttätigen Polizisten führt zu einem ebensolchen Ende. Mit Sarah Jane als Überlebender.

Das wird sie Jahre später einholen, gerade als sie als Interims-Polizeichefin das mysteriöse Verschwinden ihres Chefs und wohlmeinenden Beistandes Cal untersucht. Dessen Abwesenheit eng mit Sarah Janes Biographie zusammenhängt.

James Sallis gelingt es wieder auf rund 200 Seiten ein kleines Universum zu erschaffen. „Er konnte den Peloponnesischen Krieg in einem Satz zusammenfassen“, heißt es an einer Stelle. Das trifft auch auf den Autor zu. Sallis gelingen Lebensabrisse in wenigen Sätzen, selbst bei Figuren, die nur am Rande auftauchen. Die ewig suchende, herumirrende Sarah Jane, die erst spät einen Moment der Sicherheit erfährt, gerät ungleich komplexer. Sallis beherrscht die Kunst der Komprimierung. Zugleich poetisch und treffgenau gibt er seinen Lesern Raum, das brennende Unausgesprochene zu füllen und den Text weiterzuentwickeln.

Bloße Ermittlungsarbeit und stereotype Spannungsentwürfe spielen dabei kaum eine Rolle. Spannend ist die Sicht Sarah Janes aufs Leben, auf Möglichkeiten, Verweigerungen, verpasste Chancen und die ewig lauernde Unbehaustheit. Die menschliche Existenz als Monster, das sich selbst verspeist.

Alle Geschichten sind Geistergeschichten, über verlorene Dinge, verlorene Menschen, Erinnerungen, Heimat, Leidenschaft, Jugend, über Dinge, die darum ringen, von den Lebenden gesehen und anerkannt zu werden.


Sätze wie Grabinschriften, die haften bleiben, die einen Sog erzeugen, der mitreißt, wenn man Sarah Jane auf ihren verschlungenen Pfaden folgt. Präsentiert mit einer liebevollen Ernsthaftigkeit, die weit entfernt ist von Zynismus oder einem ironischen Gestus, der das Geschriebene zur beiläufigen Banalität degradiert. Ein großartiges, eindringliches Buch, der beste Begleiter durch eine Nacht, die Sarah Jane selbst heraufbeschwört.

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Wertung: 90 von 100 Treffern

  • Autor: James Sallis
  • Titel: Sarah Jane
  • Originaltitel: Sarah Jane
  • Übersetzer: Kathrin Bielfeldt, Jürgen Bürger
  • Verlag: Liebeskind
  • Erschienen: 08.2021
  • Einband: Hardcover
  • Seiten: 216 
  • ISBN: 978-3954381371

 

Prinz der Nacht

© Liebeskind

Edward Bunkers Debütroman „Lockruf der Nacht“ ist das nächste Opfer einer meiner regelmäßigen kreativen Durststrecken, ward er doch bereits vor einigen Monaten gelesen, ohne dass ich mich anschließend mit einer Rezension des Werks auseinandergesetzt hätte. Eine zeitliche Distanz, welche sich naturgemäß – und daher auch hier – rächt, wenn es darum geht die so lang zurückliegende Lektüre korrekt einzuordnen.

Doch so wenig aussichtsreich das Unterfangen auch sein mag, so notwendig ist es auch, denn Bunkers posthum (im Jahr 2008) veröffentlichtes Erstlingswerk ist ein Paradebeispiel des Pulp-Genres der frühen 60er Jahre, das im Gegensatz zu seinen späteren Romanen auch noch weit ungeschliffener, kantiger und roher daherkommt. Zwangsläufig möchte man behaupten, hat er doch seine ersten Schritte als Literat im Gefängnis von San Quentin gemacht, wo er gleich mehrfach in seinem Leben einsaß. Überhaupt lohnt an dieser Stelle ein kurzer Blick in die Autobiografie dieses Schriftstellers, um das vorliegende Buch entsprechend einordnen zu können.

Bunker, 1933 in Hollywood, Kalifornien geboren, wächst in schwierigen familiären Verhältnissen auf. Seine frühesten Kindheitserinnerungen handeln von der wechselseitigen Gewalt seiner Eltern, die nur durch das Eingreifen der Polizei unterbunden wird. Nach deren Scheidung landet er selbst im Heim, aus dem er flieht, nur um im Anschluss in immer noch strengeren Einrichtungen einkaserniert zu werden. Doch kein Ort kann ihn auf Dauer halten und selbst in der Disziplin einer Militärschule findet er keinerlei Heimat. Ganz im Gegenteil: Er kommt er stets aufs Neue mit dem Gesetz in Konflikt, greift schließlich sogar seinen Vater körperlich an und entwickelt ein tief empfundenes Misstrauen gegen jegliche Autorität und staatliche Institutionen. Wegen Ladendiebstahl muss er schließlich in den Jugendknast, wo er sich den Angriffen anderer junger Krimineller erwehren muss.

Obwohl weit jünger und kleiner als viele seiner Mitinsassen, lernt er seine Angst zu verstecken und erkennt, dass einem persönlich nur die Wahl zwischen Jäger und Beute bleibt. Er beschließt ersteres zu sein. Im Alter von sechzehn Jahren – inzwischen sitzt er im Los Angeles County Jail für Erwachsene ein – ersticht er einen anderen Insassen und erarbeitet sich damit endgültig den Ruf als furchtloser Mann. Nur ein Jahr später wird ihm dann die fragwürdige Ehre zuteil, der jüngste Insasse in eben jenem bereits erwähnten San Quentin State Prison zu sein. Hier nimmt er Kontakt zu Caryl Chessman auf, der in der Todeszelle auf die Vollstreckung seines Urteils wartet. Chessman, den Bunker schon aus früheren Jahren kennt, lässt ihm das erste Kapitel seines Buches („Cell 2455, Death Row“) zukommen, was diesen wiederum dazu inspiriert, seine eigenen Geschichten zu schreiben.

Seine Liebe zur Literatur soll fortan nicht mehr abbrechen, auch wenn er, nach viereinhalb Jahren auf Bewährung entlassen, bald aufgrund weiterer Straftaten erneut zu vierzehn Jahren Haft verurteilt wird, von denen er diesmal sieben – ebenfalls in San Quentin – absitzen muss. In dieser Zeit entsteht schließlich auch „Lockruf der Nacht“, dessen Manuskript über Jahrzehnte verschollen blieb, bis es durch Zufall kurz nach seinem Tod im Jahr 2005 entdeckt wurde. Ein Glücksfall, ist es doch sowohl unverwässertes Zeitdokument, als auch das erste Ausrufezeichen eines äußerst talentierten Autors, der hierzulande jedoch wohl den meisten eher aufgrund seiner kleinen Nebenrollen in Kinofilmen wie „Reservoir Dogs“, „Running Man“ oder „Tango & Cash“ ein Begriff ist. Insofern ist diese Rezension nun auch die passende und beste Gelegenheit, um eine andere Facette von Edward Bunker zu beleuchten.

Lockruf der Nacht“ führt uns in das Kalifornien des Jahres 1962, genauer gesagt nach Ocean View. Ernie Stark ist gerade erst aus dem Gefängnis entlassen worden und versucht seine Karriere als Kleinkrimineller voranzutreiben, als ihn Detective Lieutenant Patrick Crowley, der ihn bereits seinen längerem im Auge hat, vor die Wahl stellt: Entweder er findet heraus wer den örtlichen Dealer Momo Mendoza mit Drogen beliefert oder Crowley sorgt dafür, dass er wieder im Knast landet. Bei aller Ehre unter Ganoven, Stark hat keinerlei Bedarf nach einem weiterem Aufenthalt hinter schwedischen Gardinen und willigt ein, zumal er seine Chance sieht, selbst zu der großen Nummer aufzusteigen, für die er sich schon seit jeher hält. Keine einfache Aufgabe, da er, trotz immerwährender Selbstbeteuerungen, inzwischen längst selbst zum Junkie geworden ist und hoffnungslos an der Nadel hängt. Es bedarf einiger Raffinesse und noch mehr Skrupel, um Momos Vertrauen zu gewinnen, doch schließlich gelingt es ihm, dessen Interesse an einem großen Deal zu wecken und diesen anschließend auch erfolgreich durchzuziehen. Von jetzt an wird er als Momos Partner akzeptiert – die Drogenquelle jedoch, sie bleibt weiter ein Geheimnis. Kompliziert wird das Ganze durch Momos Frau, Dorie Williams, in der sich Stark selbst wiedererkennt und die ihre eigenen Gründe hat, den Dealer ans Messer zu liefern. Doch kann er ihr trauen? Stark muss jeden seiner Schritte vorsichtig abwägen, um am Ende lebend aus der Sache herauszukommen …

Es verwundert kaum, dass sich schon in dieser kurzen Inhaltsbeschreibung einige Parallelen zu Edward Bunkers eigenem Leben wiederfinden und natürlich fließen in die Figur Ernie Stark gleich mehrere Elemente aus dessen Biographie mit ein. Mehr noch als die Charakterisierung des Hauptprotagonisten fällt aber vor allem die messerscharfe Skizzierung des Drogenmilieus ins Auge, durch die der Leser vollkommen ungefiltert in das Nachtleben des Kaliforniens der 60er Jahre eintaucht. Bar jeder künstlichen Ausschmückung erwartet uns hier eine fast fotografische Wiedergabe der damaligen kriminellen Unterwelt, welche Bunker mit beinahe selbstverständlicher Ruhe porträtiert, ohne groß moralisch die Handlungen der Beteiligten zu hinterfragen. „Lockruf der Nacht“ will nicht polarisieren oder belehren – es bildet schlicht den Status Quo ab, mit dem sich alle Beteiligten inklusive des Detectives abfinden, ohne das eigene Schicksal groß zu bedauern. Es ist wie es ist – das scheint das übergeordnete Motto zu sein, dem sich auch der Autor selbst Zeit seines Lebens ausgeliefert sah und dementsprechend damit umgehen musste.

Rückblickend dürfte diese Lektüre daher für den ein oder anderen heutigen Leser ungewohnt unbequem daherkommen, taugt doch keine der Figuren irgendwie zum Sympathieträger oder Anti-Held. Allesamt sind auf ihre Art und Weise Verbrecher oder zumindest korrupt. Und wenn ein Leben genommen werden muss, um das eigene damit zu sichern, dann ist das eben so. Wer sich mit dieser Tatsache abfindet, vor dem wälzt sich ein Plot aus, der geradlinig wie ein kalifornischer Highway seinem Ende entgegensteuert und trotz der Düsternis, in der er sich bewegt, keinerlei Schwermut verströmt und – das sei besonders betont – seit seiner Entstehung keinerlei Staub angesetzt hat. So wie die Werke von Paul Cain oder Lawrence Block, so ist auch Bunkers „Lockruf der Nacht“ ein typisches Exemplar zeitloser Pulp-Fiction. Zwar durchaus eingebettet in den historischen Kontext, doch gleichzeitig von einer erschreckenden Aktualität, haben sich doch allenfalls gewisse Methoden, aber nicht die Zustände in diesen gesellschaftlichen Abgründen geändert.

Natürlich muss auch festgehalten werden: Ohne Kenntnis von Bunkers Lebenslauf verliert auch diese gänzlich fettfreie und schnörkellose Gangster-Geschichte etwas von ihrer Faszination. Wer sich jedoch klar macht, dass der Autor selbst durch diese dreckigen Straßen lief, sich dieselben Drogen durch die Adern gejagt und mit denselben Huren und Mafiosis verkehrt hat (mit dem mexikanischen Mafia-Boss Joe „Pegleg“ Morgan war er gar eng befreundet) – vor dessen Augen entfaltet dieser auf den ersten Blick so schlichte Roman noch eine weit tiefere, kantigere Dimension. Oder anders gesagt: Ohne Bunkers eigene Erfahrungen würde „Lockruf der Nacht“ nicht so gut funktionieren, wie er das tut.

Edward Bunkers Debüt ist ein schmerzhaft ehrliches und schroffes Zeitzeugnis, das wenig überraschend seitens des exzellenten Liebeskind-Verlages für das deutsche Lesepublikum entdeckt worden, allerdings mittlerweile auch schon wieder vergriffen ist. Allen Freunden des Pulp-Genres sei an dieser Stelle aber die antiquarische Suche unbedingt ans Herz gelegt. Es lohnt sich.

Wertung: 84 von 100 Treffern

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  • Autor: Edward Bunker
  • Titel: Lockruf der Nacht
  • Originaltitel: Stark
  • Übersetzer: Jürgen Bürger
  • Verlag: Liebeskind
  • Erschienen: 02.2009
  • Einband: Hardcover
  • Seiten: 224 Seiten
  • ISBN: 978-3935890618

Here I am after so many years Hounded by hatred and trapped by fear *

James Lee Burke-Strasse der gewalt

© Pendragon

„Straße der Gewalt“, im Original unter dem poetischeren Titel „Last Car To Elysian Fields“ erschienen, ist der dreizehnte Roman der Dave Robicheaux-Reihe. 2003 erschienen, markierte er seinerzeit das Ende der deutschen Übersetzungen der Romane James Lee Burkes. Vierzehn  Jahre später beendet Pendragon, beziehungsweise der verlässliche Übersetzer Jürgen Bürger,  diesen Zustand. 

Über Langeweile kann Dave Robicheaux nicht klagen. „Straße der Gewalt“ zeigt ihn wieder an mehreren Fronten ermittelnd. Zum einen muss er sich um seinen Freund Father Dolan kümmern, der zusammengeschlagen wurde und der augenscheinlich Ziel eines Mordauftrags ist, den der ehemalige IRA-Ver Max Coll ausführen soll. Coll erweist sich nicht nur als Soziopath reinsten Wassers, sondern auch als Robicheaux‘ Nemesis und gelegentlicher Retter.

Gleichzeitig versucht der rührige Polizist herauszufinden, was dem dunkelhäutigen Blues-Musiker Junior Crudup zugestoßen ist, der vor über einem halben Jahrhundert als Insasse der berüchtigten Angola-Justizvollzugsanstalt spurlos verschwand.

Dave gelingt es wieder spielend, sich mit der Mafia, konkurrierenden Gangstern und einer vermögenden Südstaatensippe anzulegen. Wie gewohnt tatkräftig unterstützt von seinem Kumpel Clete Purcell, verwandelt er Louisiana in einen Porzellanladen, in dem so lange Geschirr zerbrochen wird, bis sich aufgedeckte (Familien)-Geheimnisse und Leichen in der Auslage stapeln.

Am Ende gibt es so eine Art Mexican Standoff, bei dem jeder auf jeden zielt und man nach der Schießerei abzählt, wer noch stehengeblieben ist.

Vieles an „Straße der Gewalt“ ist großartig. James Lee Burke erzählt eindrücklich vom alltäglichen Rassismus in den USA, der sich durch die Jahrhunderte bis in die Gegenwart zieht und eine feste Größe ist. Er lässt die Grenzen zwischen Kriminalität und mitleidlosem Geschäftsgebaren verschwimmen. Der Roman taugt durchaus als finsterer Vermerk zu den Verfehlungen einer Gesellschaft, die Profit und Machtstreben als hohes  Gut ansieht.

Poetische Inklusionen von Meteorologie und Geographie gibt es zuhauf, James Lee Burke ist ein Meister darin, die Gemengelage seiner Bücher anhand von Wetterphänomenen und topographischen Gegebenheiten  höchst atmosphärisch kommentierend zu begleiten.  Vielleicht ein wenig zu häufig.

Zeigt sich hier doch eine Crux des Romans und liefert eine mögliche Erklärung, warum seinerzeit die Serie aus den deutschen Buchhandlungen verschwand.  Betrachtet man  „Straße der Gewalt“ unabhängig von den anderen Romanen der Serie, vom chaotischen „Chinatown“-Schluss und den gelegentlich ausufernden Landschaftsbeschreibungen abgesehen, ist es ein hervorragender Kriminalroman. Vielschichtig, spannend, die emotionale Klaviatur von Trauer, Liebe sarkastischem Witz bis zu tödlichem Hass virtuos spielend.

Doch das Gesetz der Serie fordert seine Opfer. Wieder einmal wird Robicheaux während seiner Ermittlungen, unaufmerksam und kaum sinnfällig, entführt und hochnotpeinlich verhört, wieder muss sich Clete Purcell wie ein Berserker aufführen und (mehrfach) verhaften lassen, wieder und wieder gibt Dave Robicheaux den verzweifelten, mittlerweile mehrfachen, Witwer, der mit seinen Alkoholproblemen kämpft. Und wie aus anderen Folgen bekannt tauchen auf: Der hassens- wie bemitleidenswerte Gangsterboss, den Robicheaux und Purcell seit Kindertagen kennen, böse Bullen, die unseren Helden ans Bein pinkeln möchten,  Glaubenskrisen, tote Ehefrauen, Alkoholismus und nicht zuletzt der unheimliche, prägende Psycho im Hintergrund.

Für sich genommen ist dies respektabel dargestellt und abgehandelt. Doch ist man halbwegs bewandert in Burkes Büchern, kommt einem vieles allzu bekannt vor. Wie von Burke zu erwarten mit handwerklichem Geschick abgehandelt. Leider auch mit Hang zu Geschwätzigkeit.

Es ist ein Zuviel, das dem Roman im Wege steht. Zu viel von allem, vor allem Bekanntem. Die Storyline um Junior Crudup hätte bereits alleine den Roman getragen. Max Coll, das düstere Spiegelbild Dave Robicheauxs, ist einer der ambivalentesten und interessantesten Charaktere, die Burke schuf. Hätte Potenzial gehabt. Leider verabschiedet er sich beiläufig, fast gelangweilt aus der Handlung.   Schade.

Trotzdem ist „Straße der Gewalt“ ein lesenswertes Buch. Das sich traut, seine Hauptfigur als fehlbaren Detektiv zu zeichnen, der sowohl in Herzens- wie Kriminalangelegenheiten mehr als einmal danebenliegt.

Warum nur ist das Herz aus Gold diesmal von einer Verpackung  ummantelt, die gleichzeitig den verbrauchten Charme maschineller Abwicklung ausstrahlt und dann noch mit überflüssigen Accessoires zugepflastert wurde?

Macht nix, trotzdem lesen und schauen, was Robicheaux, Purcell, Tripod, Alafair und Batiste (die letzten drei genannten kommen diesmal nur kurz zu Besuch)  als nächstes umtreibt. Dafür ist die Serie weiterhin gut.

* „The Prisoner“ von Gil Scott-Heron (Album: „Pieces Of A Man“, 1971)

Wertung: 73 von 100 Trefferneinschuss2

  •  Autor: James Lee Burke
  • Titel: Straße der Gewalt
  • Originaltitel: Last Car To Elysian Fields
  • Band 13 der Dave Robicheaux-Reihe
  • Übersetzer: Jürgen Bürger
  • Verlag: Pendragon
  • Erschienen: 03.02.2017
  • Einband: Paperback
  • Seiten: 519
  • ISBN:  978-3-86532-564-8

Been spending most their lives, living in the gangsta’s paradise …

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© Ullstein

„Die wichtigste Kriminalgeschichte der nächsten zehn Jahre“, schreibt die Zeitung „Scottish Mail“ über Gavin Knights Erstlingswerk „The Hood“, für das der Journalist (u.a. tätig für „Guardian“ und „The Times“), dessen Hauptinteresse der Bandenkriminalität in Großbritannien gilt, hunderte Stunden von Interviewmaterial ausgewertet und die polizeilichen Schilderungen realer Verbrechen in literarische Form verarbeitet hat.

Auch wenn diese Beurteilung dann doch die Bedeutung des Werks etwas überhöht – Knights Mischung aus Journalismus und Gangsterroman-Genre darf durchaus als Augenöffner für die Thematik des jugendlichen Terrors sein, der mitunter ganze Stadtteile betrifft und mancherorts inzwischen gar zu kriegsähnlichen Zuständen führt. Unterteilt ist der Erzählungsband dabei in drei Prosastücke, welche sich jeweils auf die Brennpunkte London, Manchester und Glasgow konzentrieren, in denen aus der Bekämpfung von Verbrechen eine Eindämmung seitens der Justizapparate geworden ist, die sich fast nur noch darauf konzentrieren, eine weitere Ausbreitung zu verhindern. Die „Hoods“ sind zu einem rechtsfreien Ort verkommen. Und Knight schickt den Leser direkt in das Herz der Szene.

Den Anfang macht East London. Hier, auf den Straßen der Themse-Metropole, herrscht ein vierzehnjähriger ehemaliger Kindersoldat aus Somali namens Troll. Er steht stellvertretend für eine ganze Generation von Teenagern, die durch Gewalt und Drogen durch das Raster der Gesellschaft gefallen sind, abgedrängt in eine Parallelwelt, in der nur das Recht des Stärkeren zählt, die Familie die Gang ist, die Vaterfigur ein Killer oder Mafiosi. Jugendliche werden rekrutiert, für den Drogen-Verteilungskampf auf die Straße geschickt oder bei Rache-Feldzügen gegen rivalisierende Banden an vorderster Front verheizt. Selbst Pilgrim – früher ein gefürchteter Gangleader und nun nach einigen Jahren Haftstrafe aus dem Gefängnis entlassen – zeigt sich von dieser neuen Qualität an zügelloser Gewalt erschüttert. Ehemals heilige Regeln, sie gelten nicht mehr…

In Manchester begleitet der Leser Detective Anders Svensson. Eine Figur, die auf einem Undercover-Ermittler basiert, den Knight bei seinen Recherchen längere Zeit begleitete und mit dem er inzwischen gut befreundet ist. Das ist insofern bemerkenswert, da sie die Tragik des Protagonisten unterstreicht, der über fast zwölf Jahre den Drogenbaron Merlin und dessen Vollstrecker, den eiskalten Auftragskiller Flow, verfolgt und für diese Manie sein Privatleben sowie die eigene Gesundheit aufs Spiel gesetzt hat…

Im letzten Handlungsstrang steht die Polizeianalystin Katryn McClusky im Mittelpunkt, welche die Gewaltspirale in Europas gefährlichster Stadt mithilfe eines Präventionssystems namens „Face-to-Face-Call“, das bereits in Boston erfolgreich eingeführt wurde, durchbrechen will. Hier werden die Täter mit den Angehörigen bzw. Hinterbliebenen ihrer Opfer konfrontiert und müssen sich in persönlichen Gesprächen deren Leid und Kummer stellen. Und es zeigt sich: Die Methode hat tatsächlich Erfolg. Aber auch nachhaltig?

Drogen-Kämpfe, Rachemorde, Polizeispitzel. Allein die Lektüre des Klappentexts legt nahe, Gavin Knights „The Hood“ in der Kategorie von David Simons epischen „Homicide“ einzuordnen, welches letztendlich als Blaupause für die erfolgreiche HBO-Fernsehserie „The Wire“ diente. Und in der Tat: Knight und Simon ähneln sich in ihrer Herangehensweise an das Sujet, verzichten beide auf künstliche Ausschmückungen und Zuspitzungen, um stattdessen den gesellschaftlichen Verfall eins zu eins, und von einer gewissen sachlichen Distanz geprägt, abzubilden. Das hat Vor- und Nachteile, da man zwar als Leser einen ungetrübten Einblick in eine Welt bekommt, welche einem sonst (glücklicherweise) verschlossen bleibt, aber auf der anderen Seite vergeblich nach eine richtiger Bezugsperson sucht, die es uns ermöglicht, auf einer persönlicheren Ebene mitzufühlen. Während da Simon mit seiner detaillierteren Ausarbeitung der einzelnen Personen seine Hausaufgaben gemacht hat, lässt Knights Werk dies vermissen. Detective Svensson aus Manchester mag so zwar in Wirklichkeit existieren, die Präsenz eines McNulty oder Wallander, mit denen „The Sunday Times“ einen Vergleich herstellen will, erreicht er aber nicht annähernd. Als Folge dessen hat mich dann auch dieser Erzählstrang am wenigsten beeindrucken können, nimmt man nur wenig Anteil an Svenssons Absturz.

Dafür ist der Einblick in die „Hoods“ selbst umso faszinierender, weil erschütternder. Knights Beschreibungen sprengen selbst schlimmste Vorstellungen, führen zu beunruhigenden Gedankengängen und werden wohl besonders die Einwohner in den nicht betroffenen Teilen der hier vorgestellten Städte ihr Zuhause mit anderen Augen betrachten lassen. Die moralische Wucht, mit der der Autor uns das Elend der Betroffenen nahe bringt, uns verdeutlicht, dass das der Alltag ist, lässt sich schwer schlucken und noch schwerer verdauen. Allen voran die Geschichte der zwei Sikhs, welche, auf ein besseres Leben hoffend, ihre Heimat hinter sich gelassen haben, um dann drogenabhängig in den Straßenschluchten zu landen, ist genauso ironisch wie tragisch. Vom Regen in die Traufe. Oder „ein Kreislauf der Scheiße“, wie Richard Price es in seinem Milieuroman „Clockers“ beschreibt. Die Unausweichlichkeit der Schicksale, sie ist es, die hier eindringlich und nachträglich beim Leser haften bleibt. Kleine Geschichten, wie die einer Ärztin, welche täglich Kinder und Jugendliche mit schwersten Wunden von Hieb -und Stichwaffen versorgen muss. Oder Eltern, die zwar eine Ahnung von der Gewalttätigkeit ihrer Kinder bekommen, dennoch aber einfach nicht mehr nachfragen wollen, da sie die Wahrheit nicht ertragen können.

Krieg direkt vor der Haustür. Das ist das Stichwort. Und Gavin Knight nutzt jedes Mittel aus, um diesen realistisch und unzensiert auf Papier zu bringen. Ein Unterfangen, was ihm gelingt, wenngleich sich „The Hood“ äußerst holprig liest und nie zum „Pageturner“ wird – was ich, in Unkenntnis der originalen Ausgabe, jetzt einfach mal der Übersetzung anlasten würde, wenn Jürgen Bürger nicht sonst immer so eine sichere Bank wäre. Auch wenn ein Buch mit dieser Thematik in in erster Linie enthüllen und nicht unterhalten will – der sperrige Stil  erweist „The Hood“ leider in diesem Fall einen Bärendienst.

So ist „The Hood“ am Ende eben nicht die „wichtigste Kriminalgeschichte“, aber in jedem Fall ein wichtiges Buch, welches ein noch wichtigeres Thema solide, sachlich und gebührend beleuchtet. Und das allein ist wohl zumindest dem deutschen Leser zu wenig. Anders lässt es sich jedenfalls nicht erklären, warum dieses im März des Jahres 2012 hierzulande erschienene Werk nicht mal ganze drei Jahre später schon vergriffen war und nicht mehr gedruckt wird.

Wertung: 81 von 100 Treffern

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  • Autor: Gavin Knight
  • Titel: The Hood
  • Originaltitel: Hood Rat
  • Übersetzer: Jürgen Bürger
  • Verlag: Ullstein
  • Erschienen: 03.2012
  • Einband: Broschiertes Taschenbuch
  • Seiten: 297 Seiten
  • ISBN: 978-3550088988

 

Würde mit schmutzigem Gesicht

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© Liebeskind

„City of brotherly love
Place I call home
Don’t turn your back on me
I don’t want to be alone“

Diese Strophe aus Neil Youngs Song über die Stadt der brüderlichen Liebe mag vielleicht inhaltlich nicht allzu viel hergeben, gibt dafür aber äußerst treffend den Ton dieses über alle Maßen gefühlvollen und doch gleichzeitig mitunter harten Stücks Literatur wieder, dem man nicht so wirklich abnehmen will, ein Erstlingswerk zu sein.

Bereits in meinem Geburtsjahr 1983 erschienen, hat es inzwischen beinahe ein Vierteljahrhundert auf dem Buchrücken und wirkt dennoch auch heute noch wie frisch zu Papier gebracht. Von einem Alterungsprozess wagt man nicht zu sprechen. Im Gegenteil: Es scheint mit der Zeit noch gereift zu sein und vielleicht diese gar gebraucht zu haben, was u.a. ein Grund sein könnte, warum erst 2011 eine Übersetzung ins Deutsche stattfand – die, das sei vorweg bemerkt, besser nicht sein könnte, was einmal mehr auch Jürgen Bürger zu verdanken ist, der sich derzeit wieder bei James Lee Burke für Pendragon verdient macht. „God’s Pocket“ ist jedoch beim Liebeskind Verlag erschienen. Und ich bin beinahe versucht zu sagen, zwangsläufig, denn wenn es darum geht herausragende Autoren und ihre Bücher zu ent- bzw. wiederentdecken, darf man hier inzwischen fast eine Art Monopol für sich beanspruchen.

Mit Pete Dexter hat man in jedem Fall einen Schriftsteller an Land gezogen, der sich im Grenzgebiet zwischen Spannungsroman und klassischer Unterhaltungsliteratur äußerst wohlfühlt und von Kritikern beider Seiten – und das ist eher selten – wohlmeinend bis überschwänglich gelobt wird. Dem Klischee vom Krimi als schmuddelige, triviale Zwischendurchlektüre nimmt er hier auf nicht ganz vierhundert Seiten auf eindrucksvolle Art und Weise den Wind aus den Segeln, ja, gibt diesem nicht mal einen Fußbreit Raum, sondern bekräftigt sprachlich kraftvoll einmal mehr die Durchlässigkeit der Grenzen dieses sträflich unterbewerteten Genres. Zwar ist auch hier ein Mord der Ausgangspunkt, doch was Dexter im weiteren Verlauf damit macht, das ist – um es mit den Worten eines ehemaligen Bundesligatrainers zu sagen – ganz großes Tennis. Und damit zum Inhalt:

Anfang der 80er Jahre, der Stadtteil God’s Pocket (das in der Realität Devil’s Pocket heißt und auch auf diesem basiert) im Süden der Stadt Philadelphia. Ein ehemals gänzlich irisches Viertel, das zwar im Verlauf der Gentrifikation seine Attraktivität etwas steigern und durch den anschließenden Zuzug den ein oder anderen zahlungskräftigen Eigentümer oder Mieter anlocken konnte, sich im Kern seine raue Natur aber bewahrt hat. Hier leben die hart schuftenden Außenseiter, die geprügelten Hunde, die Zocker, Verlierer und die Trinker. Nachts sind die Straßen in der Hand desjenigen, der bereit ist, sie sich zu nehmen. Und auch die Polizei lässt sich nur dann blicken, wenn es nicht wirklich anders geht. Was diesmal der Fall ist, denn auf der Baustelle des Holy Redeemer Hospitals wartet der Leichnam des 22-jährigen Leon Hubbard, der, laut Aussage seines Vorarbeiters Coleman Peets, bei einem bedauerlichen Unfall ums Leben kam. Eine Erklärung, die vor allem in den Augen von Officer Eisenhower äußerst zweifelhaft ist, dem die nervöse Zurückhaltung der anderen Baustellenarbeiter während Peets Befragung nicht entgeht und diesen dezent darauf hinweist, dass die Sache so einfach nicht aus der Welt zu schaffen ist.

Eine prophetische Bemerkung, den Hubbards Ableben, der tatsächlich durch eine Eisenstange auf den Hinterkopf sein Ableben fand, wirft nach und nach größerer Kreise im trüben, dreckigen Teich God’s Pocket. Während fast alle, einschließlich sein Stiefvater Mickey Scarpato – ein Tiefkühllasterfahrer, der sich mit krummen Touren und Pferdewetten sein Gehalt aufbessert – dem unberechenbaren und seine Mitmenschen drangsalierenden Rotzbengel keine Träne hinterher weinen, will Leons Mutter Jeanie nicht an einen Unfall glauben. Und so lange der genaue Hergang nicht aufgeklärt ist, das ahnt auch Mickey, wird sich keine Normalität – insbesondere in ihrem Sexleben – mehr einstellen. Gezwungenermaßen nutzt er seine Kontakte zur Unterwelt von God’s Pocket, um den Schuldigen ausfindig zu machen. Eine folgenschwere Entscheidung, insbesondere für Mickey selbst.

Jeanie hat sich zu diesem Zeitpunkt längst von ihrem Lebensgefährten distanziert und setzt stattdessen alle Hoffnungen in den Journalisten Richard Shellburn, seit Jahren Liebling der kleinen Leute und das Aushängeschild der Daily Times von Philadelphia, der aber mittlerweile zunehmend von den Erfolgen der Vergangenheit lebt und ohne Unterstützung seines Gehilfen Billy kaum noch eine vernünftige Kolumne auf Papier bekommt. Die Begegnung mit der attraktiven Jeanie holt Shellburn nun jedoch aus seinem Tief. Noch einmal hievt er seinen Hintern hoch, um selbst zu recherchieren. Doch zu diesem Zeitpunkt ist Mickeys Maschinerie bereits schon voll im Gang …

Von der „Würde mit schmutzigem Gesicht“ schreibt Richard Shellburn in seinem Artikel über das Ableben von Leon Hubbard – und es ist auch diese Würde, welche Dexters Roman anhaftet. Eine stille, karge und spröde Würde. Geschliffen und kalt wie Eis, aber gleichzeitig doch trüb, wie ein dunkler, nebliger Schleier, der über allem liegt, alles durchdringt, was in God’s Pocket geschieht. Nein, dieser Roman ist keine einfache Lektüre. Nichts, was man zwischen Feierabend und heimischen Sofa in der U-Bahn mal eben anlesen und genießen kann. Überhaupt ist der Genuss in erster Linie denjenigen vorbehalten, die eine Vorliebe für lakonische und zynische Sprache mitbringen. Für diejenigen, die es wertschätzen, wenn Worte nicht nur eine Ansammlung von Sätzen bilden, um zu erzählen, sondern schon für sich genommen genug Gefühl transportieren, um die Distanz zwischen Leser und Buch zu überbrücken. Denn das tun sie. Seite für Seite.

Ich habe nicht genug von seinen Werken gelesen, um dies eigentlich behaupten zu können und lehne mich dennoch aus dem Fenster und sage: Dies ist Pete Dexters persönlichstes Buch. Nicht nur weil die Figur Richard Shellburn wie er selbst Journalist ist und diesem am Ende ein ähnliches Schicksal ereilt (mehr will ich an dieser Stelle nicht verraten). Und nein, nicht nur weil dieser Schauplatz God’s Pocket seinem altem Revier als Schreiberling so nahe kommt. Nein, ich äußere dahingehend die Vermutung, weil hier augenscheinlich niemand mit Skript gearbeitet oder gar mehrere Anläufe gebraucht hat. Alles wirkt, als wäre es direkt vom Kopf durch die Hand und die Feder auf die Seiten geflossen. Ohne Verzögerung und ohne einen Moment des Zweifels, ob die eingeschlagene Richtung jetzt stimmt oder das Schicksal einer Person doch anders aussehen sollte. Stattdessen wohnt allem eine Sicherheit inne. Sicherheit für genau den richtigen Rhythmus, für genau den richtigen Satz zur richtigen Zeit. Dexter braucht dafür keinen Spannungsbogen, keinen Klimax, auf den die Handlung zusteuern muss – er nimmt das Leben, den Alltag, wie er kommt. Mit all seinen zerbrochenen Hoffnungen und Selbstzweifeln, mit Selbstbetrug, mit der Suche nach Liebe und mit den Ausbrüchen von Gewalt.

Nichts davon geht am Leser spurlos vorbei. Die Trauer der Mutter ist, trotz Kenntnis der Umtriebe ihres missratenen Sohnes, bar jeder Ironie und nachvollziehbar. Das Streben von Mickey nach mehr Anerkennung oder mehr Geld, sein Scheitern im Kampf um eine Liebe, die vielleicht gar nie eine war – es ist ebenso grotesk und ungelenk wie tragisch. God’s Pocket, das wird von Beginn an klar, lässt einem keine andere Chance. Macht die Menschen, zu dem was sind. Formt ihre Gedanken und Träume auf die gleiche Weise, wie es letztere verblassen lässt. Dexter braucht nur wenige Seiten, um uns in dieses Milieu eintauchen zu lassen, das er zwar offensichtlich genau studiert hat, jedoch nie im Stile einer Studie präsentiert wird. So ist der Realismus eher Resultat als angestrebtes Ziel. Eine unmittelbare Folge von den Geschehnissen, die Dexter präsentiert und niemals inszeniert. Mal mit rabiatem Ernst und mal mit trockenem, unverwässertem Witz:

(…) „Typen wie den habe ich schon so manche Dinge machen sehen …“, sagte Mickey. „Ich meine, er weiß nichts, und das ist schon okay, solange man sicher ist, dass er nichts weiß. Wie jetzt zum Beispiel, wo er dort steht und sich auf die Schuhe pinkelt. Der Wind bläst unterm Anhänger durch, aber er merkt es nicht mal, wegen der ganzen Geräusche, an die er nicht gewöhnt ist. Aber wenn du jetzt da rausgehst und ihm sagst, dass er sich gerade auf die Schuhe pisst, dann legt er dich um, nur um dir zu zeigen, dass er weiß, was er tut.“

„Das ist der Grund“, sagte Bird, „warum der liebe Gott dir und mir ein Gehirn gegeben hat. Damit wir eben nicht aussteigen und ihm sagen, dass er sich gerade auf die Schuhe pinkelt.“ (…)

Es sind immer wieder Dialoge wie dieser, welche die schwermütige Tragik für kurze Zeit unterbrechen, diese allerdings nie ganz vertreiben können. Und das ist auch gut so, denn „God’s Pocket“ sollte und musste genau diese Art von Buch sein. Kein Blick in die Gesellschaft, sondern aus ihr heraus. Heraus aus einem kleinen Viertel, deren Menschen vergessen wurden und in dem eben diese darum kämpfen, dass ihrer gedacht wird – und von Dexter respekt- und würdevoll dabei unterstützt werden.

God’s Pocket“ ist mitunter nicht immer leicht zu ertragen, geht ans Herz, an die Nieren, beschäftigt den Verstand, will sich querstellen und einen anderen Weg gehen. Es ist aber eben auch sprachlich herausragend, tiefsinnig und rasiermesserscharf ehrlich – ein schmutziger Roman „Noir“, der wirkt und nachwirkt. Und der Fingerzeig eines Genres, das verkörpert durch diesen Titel schmunzelnd zu bemerken scheint: „Ja, ich mag auf den ersten Blick schmuddelig sein – aber ich werfe den Blick genau dahin, wohin niemand schauen will. Und ich tue es so, dass ihr mitblicken müsst.“

Wertung: 91 von 100 Treffern

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  • Autor: Pete Dexter
  • Titel: God’s Pocket
  • Originaltitel: God’s Pocket
  • Übersetzer: Jürgen Bürger, Kathrin Bielfeldt
  • Verlag: Liebeskind
  • Erschienen: 02.2010
  • Einband: Hardcover
  • Seiten: 368 Seiten
  • ISBN: 978-3935890700

I’m hearing only sad news from Radio Africa*

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© Rowohlt Polaris

Südafrika hat in den letzten Jahrzehnten einige hervoragende Schriftsteller*innen hervorgebracht, Paul Mendelson gesellt sich mit seinen bislang beiden auf Deutsch erschienen Romanen um den Polizei Colonel Vaughn De Vries erfolgreich hinzu. Geschickt verbindet er die Geschichte eines sich wandelnden Landes mit  einer spannenden Kriminalhandlung.

Südafrika, Januar 1994. Kurz vor den ersten Wahlen, die nach dem allgemeinen Wahlrecht durchgeführt wurden, und die faktisch das Ende der Rassentrennung bedeuteten, wird Vaughn de Vries, Captain der South African Police, Zeuge eines Massakers. Begangen von seinem Vorgesetzten und einigen Kollegen. Die Opfer sind dunkelhäutig, von unterschiedlichem Geschlecht und Alter. Ihr einziges Vergehen: Zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen zu sein.   De Vries ist entsetzt, doch in einer Mischung aus Angst um seine Familie und Existenz sowie Feigheit, Unsicherheit (auch und gerade in seiner Weltanschauung)  und Ohnmachtsgefühl, hängt er den Vorfall nicht an die große Glocke. Ein Skandal bleibt aus. Bei den Wahlen verfehlt Nelson Mandelas ANC knapp die Zweidrittelmehrheit und bildet mit Frederik Willem de Klerks  National Party und der Zulu-Partei Inkatha Freedom Party eine Regierung der Nationalen Einheit.

21 Jahre später ist Vaughn de Vries zum Colonel aufgestiegen, Nelson Mandela ist seit zwei Jahren tot, der ANC besitzt immer noch die absolute Mehrheit im Parlament und wird von Skandalen und internen Machtkämpfen erschüttert. Kriminalität, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus existieren weiterhin in großem Ausmaß.

An der Polizeiarbeit hat sich wenig geändert. De Vries und sein ihm unterstellter Kollege  Don February sollen den Mord an der schwerreichen Industriemagnatin und Kunstmäzenin Taryn Holt aufklären, die in ihrer Villa erschossen wurde. Ein auffällig arrangierter Tatort und Manipulationen an der Leiche lassen die Ermittlungen von Beginn an zu einem schwierigen Unterfangen werden.   Da Holt ein Ausstellung kontroverser Kunst geplant hat, die fundamentalistische Kirchgänger in Rage bringt, ihr Privatleben sich sehr diffus gestaltete und finanzstarke Erbinnen zahlreiche Neider auf den Plan rufen, müssen die beiden Polizisten an verschiedenen Fronten nach Tatverdächtigen suchen. Bis sich ein ebenfalls ermordeter, psychisch labiler Drogenfreak auf dem Silbertablett als Täter anbietet. Doch gerade das macht Colonel De Vries misstrauisch. Und er stößt bald auf eine mörderische politische Gemengelage, die bis in hohe Regierungskreise reicht.   Außerdem löst sich ein Schatten aus dem Jahr 1994, der sämtliche Beteiligte an dem Massaker, dessen Zeuge DeVries wurde, auslöscht. Er selbst steht auch auf der Todesliste.

Mit James McClure, Deon Meyer, Mike Nicol, Richard Kunzmann, Roger Smith  und vor allem Malla Nunn gibt es bereits seit Jahren hochinteressante und spannende Autor*innen aus Südafrika. Paul Mendelson gesellt sich mit seinen beiden Kriminalromanen   zu dieser Riege. Mendelson, der zuvor hauptsächlich als vielbeschäftigter Schöpfer von Büchern über Karten- und Glücksspiele reüssierte, wirft mit „Die Straße ins Dunkel“ einen genauen und ernüchternden Blick auf zwei Jahrzehnte sich wandelndes Südafrika. Explizit auf jene Stellen, an denen sich die geweckten Hoffnungen, die mit dem Ende der Apartheid und der Etablierung eines pluralistischen, demokratischen Systems einhergingen, nicht erfüllten.

Eine exorbitant hohe Kriminalitätsrate, der angstgepaarte Rassismus manch weißer Einwohner, die um Pfründe, Sicherheit, Komfort und  Auskommen bangen, der von Hass über die die jahrhundertlange Unterdrückung geprägte Rassismus in Teilen der schwarzen Bevölkerung sowie die üblichen Probleme wie Korruption, Vetternwirtschaft und Machtgier, machen nicht nur der Justiz zu schaffen. Doch der Mord an Taryn Holt führt Vaughn de Vries und Don February in ein finsteres politisches Geflecht, in dem Verbündete und Gegner kaum auseinanderzuhalten sind.

Mendelson lässt sich Zeit für die Entwicklung seines Haupterzählstrangs. Er schickt seine Ermittler auf einen beschwerlichen Weg, auf dem sich falsche Fährten, Stillstand, Widerstände und zähes Ringen um Erkenntnisse ein aufreibendes Stelldichein geben. Es dauert, bis sich die wahren Hintergründe peu a peu offenbaren. Das hätte ein langatmiges Unterfangen werden können, doch Mendelson gelingt es, das Interesse wach zu halten. Die Verästelungen ergeben Sinn, schaffen einen Prüfstand fürs literarische Personal, offenbaren Motivationen, Hintergründe und Konstellationen.

Ob streitbare Pathologin, engagierte und couragierte Künstlerin, loyaler Polizist, gewissenloser Handlanger mit Befugnissen oder bigotte Christenmenschen, Vaughn de Vries ist an vielen Fronten unterwegs. Und ist selbst eine höchst ambivalente Figur. Der Bure nennt sich selbst einen „Rassisten“. Er ist kein gewaltbereiter Radikaler, sondern ein alltäglicher, der halt Namen von dunkelhäutigen Kollegen nicht aussprechen kann und von einer indifferenten Angst heimgesucht wird, dass eine Gesellschaft ohne Rassentrennung seine Existenz gefährdet.  Andererseits ist seine oberste Priorität, Kriminalitätsopfern Gerechtigkeit zuteilwerden zu lassen.  Dabei interessieren ihn weder gesellschaftliche Positionen noch Hautfarbe. Weswegen de Vries auch von seinen farbigen Vorgesetzten geschätzt wird. Trotz aller Vorbehalte.

Vaughn de Vries ist wahrlich kein Sympathieträger, dafür eignet sich eher sein Adlatus Don February, aber eine facettenreiche Figur, die von ihrem Autoren auf eine frustrierende und trotzdem entlarvende Reise in die finstere politische Gegenwart Kapstadts geschickt wird. „Die Straße ins Dunkel“ hält geschickt die Waage zwischen Polizei- und (gesellschafts)politischem Roman. Lediglich der Part, der 1994 seinen Anfang nahm und in der Lynchjustiz 2015 endet, wird etwas unentschlossen in die Handlung eingebunden. Zwischenzeitlich fast gänzlich in den Hintergrund gedrängt, nimmt er erst zum Ende hin an Fahrt auf und wirft Vaughn De Vries auf sich selbst zurück. Das passt inhaltlich sehr gut, hätte aber etwas mehr an Vertiefung und dramatischer Wucht vertragen können.  Abgesehen von dieser kleinen Einschränkung ist der im Präsens verfasste Roman formal wie inhaltlich ein feines Stück Literatur, gewohnt eloquent übersetzt von Jürgen Bürger.

* Aus „Radio Africa“ von Latin Quarter (Album: „Modern Times“, 1985)

Wertung: 82 von 100 Trefferneinschuss2Autor: Paul Mendelson

  • Titel: Die Straße ins Dunkel
  • Originaltitel: The Serpentine Road
  • Übersetzer: Jürgen Bürger
  • Verlag: Rowohlt Polaris
  • Erschienen: 16.12.2016
  • Einband: Paperback
  • Seiten: 395
  • ISBN: 978-3-499-27241-7

Die Trägödie eines lächerlichen Machtmenschen

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© Liebeskind

Mit der ersten aktuellen Rezension dauert es noch ein wenig, deshalb gibt es zum zweiten Mal Grüße aus der Vergangenheit. Nach dem Verriss eines grottigen(!) Buches als nächstes ein Griff ins Schatzkästchen, welches das großartige Buch eines ebensolchen Autors enthält. Pete Dexters Romane kann man gar nicht genug loben. „Paris Trout“ verdient gerade jetzt besondere Aufmerksamkeit. Der Roman spielt zwar in den beginnenden Fünfzigern des vergangenen Jahrhunderts, doch der skrupellose, soziopathische Geschäftsmann Paris Trout findet etliche Pendants in der Gegenwart. Manchmal sogar in der Position eines Präsidenten. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zwar zufällig, aber treffend.

20 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung erscheint Pete Dexters „Paris Trout“ zum zweiten Mal und endlich in adäquater Aufmachung auf Deutsch. Bereits 1989 wurde der Roman unter dem Titel „Tollwütig“ von Goldmann veröffentlicht, als Buch „zum“ Stephen Gyllenhaal-Film, der, trotz ausgezeichneter Kritiken und einer illustren Besetzung (u.a. Dennis Hopper in der Titelrolle, Barbara Hershey, Ed Harris), hierzulande ziemlich unterging, und sein bescheidenes Dasein in den Regalen der hiesigen Videotheken fristete. Jetzt ist „Paris Trout“ zurück auf dem deutschen Buchmarkt und bekommt hoffentlich die Aufmerksamkeit, die ihm gebührt.

Paris Trout ist ein Ehrenmann, zumindest er selbst hält sich dafür. Seine Umwelt betrachtet ihn eher als Patriarchen, der seine Geschicke mit starrem Sinn leitet. Jemand, der davon überzeugt ist, dass er der Welt nichts schuldet, doch die Welt ihm alles. Eine Auffassung , die er auch noch vertritt, nachdem er die 14-jährige Rosie Sayers und ihre Pflegemutter Mary McNutt, während eines ungerechtfertigten Versuchs, Schulden einzutreiben, niedergeschossen hat. Das Mädchen stirbt im Krankenhaus, Mary überlebt schwerverletzt. Dem Staatsanwalt des kleinen Ortes Cotton Point im südlichen Georgia bleibt nichts übrig, als Anklage zu erheben, auch wenn es sich bei den Opfern „nur“ um Schwarze handelt.

Obwohl sich Paris Trout mit Harry Seagraves den besten Anwalt vor Ort nimmt, wird er zu einem bis drei Jahren Arbeitslager verurteilt. Doch anstatt das geringfügige Urteil anzunehmen, wird aus Trout ein besessener Kämpfer in eigener Sache. Mitleidlos von Beginn an, misshandelt er seine Frau mehrfach schwer und verliert mental immer mehr den unsicheren Boden unter seinen Füßen. Die Menschen um ihn herum nehmen seinen schleichenden geistigen Zusammenbruch wohl wahr, unternehmen aber nichts dagegen, da Trout das Wohl der dörflichen Gemeinschaft nicht nachhaltig stört. Er ist wie eine Geschlechtskrankheit, die zwar schmerzt und juckt, über die man aber in der Öffentlichkeit kein Wort verlieren würde.

Das ändert sich erst, als auch das Finanzamt Forderungen an Trout stellt, denn dieser um sich selbst kreisende menschliche Staat im Staat, hat es zeitlebens versäumt, Steuern zu bezahlen. Der Druck nimmt zu, bis das nahezu Unvermeidliche geschieht: Während der Hundertfünfzigjahrfeier explodiert das wandelnde Pulverfass namens Paris Trout. Anschließend werden ein paar Krokodilstränen verdrückt. Danach geht’s weiter wie zuvor.

Paris Trout“ ist eine gesellschaftliche Dystopie im Gewand eines spannenden Thrillers. Exemplarisch führt Dexter mit dem Südstaatennest Cotton Point eine Gemeinschaft vor, die im Schatten eines düsteren Mannes steht. Paris Trout füllt die Seiten des Romans wie eine negative Nemesis, und das nicht, weil er so eine imposante, mächtige Erscheinung darstellt, sondern weil er exemplarisch dasteht für ein anti-soziales Schreckensbild, das die Bevölkerung des Ortes in ihren Alpträumen heimsucht. Ein Gemischtwarenhändler und Geldverleiher, der Menschen nur nach ihrem Marktwert beurteilt. Bzw. nach dem Nutzen, den sie ihm bringen können, was besonders seine Frau Hanna schmerzhaft zu spüren bekommt. Wird dieser Nutzwert in Frage gestellt, oder droht gar der Verlust, wird Trouts fragiles Ego erschüttert, beginnt zu wanken und bricht in sehr nachvollziehbarer Zwangsläufigkeit am Ende auseinander.

Selten hat ein Protagonist seine Umwelt derart dominiert wie Paris Trout. Selbst, wenn er körperlich nicht anwesend ist, beschäftigt, infiltriert  seine Denkungsart die anderen Figuren des Romans. Dabei ist es nicht nur die Angst vor einem unberechenbaren Menschen, die Lethargie und Unsicherheit provoziert, sondern auch der Wunsch im Status Quo verharren zu können; jener Erstarrung, die scheinbar klare Grenzen festlegt und eben jene angsterzeugende Unsicherheit ausschließt. Dass dies eine große Lüge ist, müssen auch die wohlsituierten Einwohner Cotton Points schmerzhaft erfahren. Die anderen wissen es bereits. Neben allem anderen ist „Paris Trout“ ein Buch über Rassismus.

Dexters Roman handelt jedoch nicht von jener krawalligen Form, die von weißen Kapuzen mit hohlen Verlautbarungen, brennenden Kreuzen und hingerichteten Menschen weithin sichtbar ins Land getragen wird; sein Metier ist die schleichende Diskriminierung in ihrer alltäglichsten Form. Klar gibt es lockere Sprüche über „Nigger“, aber insgesamt scheint die schwarze Bevölkerung integriert in den gesellschaftlichen Kontext. Solange jeder weiß, wo er hingehört, und seinen Platz akzeptiert. Wie verlogen und grausam eine derartige Justierung in Wirklichkeit ist, führt Dexter durch die Kunst der Auslassung vor. So regt sich niemand darüber auf, dass Trout für den Mord an einem jungen Mädchen mit läppischen 3 Jahren Gefängnis bestraft wird – von denen ein Großteil sowieso unter den Tisch fallen würde, da Trout ja ein Stützpfeiler der Gesellschaft ist.

Selbst der eigentlich redliche Anwalt Harry Seagraves  beklagt die Ungerechtigkeit seinem Mandanten gegenüber, dass Bilder der operierten Schusswunden Rosie Mayers als Beweismittel vor Gericht zugelassen werden, anstatt das niedrige Strafmaß quasi als Sieg zu feiern. Stattdessen rücken Trouts Auffassungen in den Fokus, der jede Bestrafung seiner Handlungen als Affront gegen seine Redlichkeit begreift und alle, die ihm  vermeintliches Unrecht nicht ersparen konnten, in die breite Phalanx seiner imaginären Feinde einreiht. Vor denen er sich durch Glassplitter auf dem Boden um sein Bett, einer Stahlplatte unter seiner Matratze und anderen, ähnlich wahnwitzigen Methoden zu schützen versucht. Dass er dabei nicht erkennt wie behutsam seine Mitmenschen mit ihm umgehen, aus Angst und Sorge in den dunklen Strudel seiner Wesenheit hineingezogen zu werden, ist ein weiteres Zeugnis seines instrumentell-dissozialen Verhaltens.

Dexter gelingt das Kunststück im Spiegel von Paris Trouts gestörter Persönlichkeit, selbst  scheinbar unbedeutende Nebenfiguren mit einer Tiefenschärfe auszuloten, die ihresgleichen sucht. Das er dabei niemals unglaubwürdig wirkt und sich in ausufernde Geschwätzigkeit flüchtet, ist ein weiterer Verdienst des Romans, der als spannendes und analytisches Gesellschaftsportrait ausgezeichnet funktioniert. Dass das mit traditioneller Spannungsliteratur wenig zu tun hat, dürfte mittlerweile eigentlich klar sein. Es gibt kaum Ermittlungen, der Täter ist von Anfang an bekannt, Polizisten spielen bestenfalls als zögerliche Handlanger eine Rolle, oder sind nach ihrem Abschied aus dem Polizeidienst derart korrumpiert, dass sie ohne Umschweife und große Gewissensbisse zu Killern werden. Je besser die Bezahlung, desto größer die Loyalität. Solidarität in einer Männerwelt.

Dass die Chance zum Ausbruch aus festgestanzten Verhaltensmustern den Frauen zukommt, liegt eigentlich auf der Hand. Denn sie spielen mit Regeln, handeln, wenn der männliche Part noch in Überlegungen feststeckt, ob eine mögliche Aktion der gesellschaftlichen Reputation schaden könnte. Selbst dann wenn der Betroffene genau weiß, dass diese Gesellschaftsform kaum bewahrenswert ist. Selbst Hanna Trout, die als starke und autarke Frau begonnen hat, ihre Selbständigkeit unter der Fuchtel Trouts nach und nach verloren hat, schafft es sich zu befreien. Ob es ihr allerdings je gelingen wird, ihn auch aus ihren Alpträumen auszuradieren, bleibt offen.

Pete Dexter hat mit „Paris Trout“ ein ungewöhnlich vielschichtiges Buch vorgelegt, das mehrmaliges Lesen geradezu einfordert. Denn ist angefüllt mit Geschichten, Perspektiven, kleinen Randbemerkungen, die es allesamt wert sind entdeckt und erforscht zu werden.

„Regeln?“ fragte Ward Townes.
„Strafen“, erklärte der Zimmermann. „Wenn jemand gegen die Regeln verstößt, muss er den Preis dafür zahlen.“
„Welchen Preis?“ fragte Townes.
„Einen halben Dollar“, sagte der Zimmermann.“

Paris Trout jedenfalls ist nicht bereit auch nur einen Cent zu bezahlen.

Ein Meisterwerk, komplex und atemberauend“ schreibt die Los Angeles Times laut Klappentext. Und sie hat verdammt Recht damit.

Wertung: 90 von 100 Trefferneinschuss2Autor: Pete Dexter

  • Titel: Paris Trout
  • Originaltitel: Paris Trout
  • Übersetzer: Jürgen Bürger
  • Verlag: Liebeskind
  • Erschienen: 07.2008
  • Einband: Hardcover
  • Seiten: 416
  • ISBN: 978-3935890540

Ein Cop in Teufels Küche

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© Piper

„Hell’s Kitchen“ ist ein Buch aus meiner persönlichen Rezensions-Mottenkiste. Schon vor ein paar Jahren von mir besprochen und rezensiert, möchte ich den Titel nochmal ins Scheinwerferlicht rücken, auch oder gerade weil eine Neuauflage der Neil-Hockaday-Reihe momentan nicht in Sicht ist. Antiquarisch sind die Bände (1-3 bei Piper erschienen, 4 bei Haffmans, 5 und 6 bisher nicht übersetzt) noch relativ günstig zu erwerben. Für wenig Geld kriegt man damit ein paar der besten und wütendsten Hardboiled-Titel, welche den Big Apple bisher unsicher gemacht haben.

Der New Yorker Staddteil „Hell’s Kitchen“. Über viele Jahre war es eine der rauhesten Gegenden des Big Apples und das Revier der irischen Einwanderer. Ende der 80er Jahre hat sich hier einiges verändert.

Die Einwohner sind längst nicht nur noch Iren und aus dem treffenderen „Hell’s Kitchen“ hat man das besser klingende Clinton gemacht. Nun ist es ein sogenanntes In-Viertel. Neu-Reiche, Yuppies, Künstler und die jungen Erfolgreichen sind bereit eine Menge Knete für die Mieten abzudrücken, um den historischen Charakter des Viertes genießen zu können. Die letzte Bastion der Alteingesessenen wird dabei langsam aber stetig ins soziale Abseits gedrängt. Für sie wird der alte Name des Viertels immer der einzig Wahre bleiben.

In diesem Schmelztiegel von Armut, Gewalt und Verfall zieht Neil Hockaday, genannt „Hock“, Detective der SCUM-Patrol, seine Runden. Selbst hier aufgewachsen, ist er nach seiner Scheidung zurückgekehrt, um als anständiger Bulle in einer Welt von korrupten Kollegen das Böse zumindest ein wenig einzudämmen. Und schon bald gerät er an einen Fall, der all seine Fähigkeiten erfordert. Er wird abgestellt den schwarzen Prediger Father Love zu beschützen, dem in Regelmäßigkeit Drohungen während der Kollekte zugegangen sind. Was anfangs wie ein Routine-Auftrag klingt, bringt Hock passenderweise bald in Teufels Küche.

Im weiteren Verlauf wird nicht nur ein alter Freund und Spitzel erwürgt in der Nachbarwohnung aufgefunden, sondern auch ein verdächtiger Miteintreiber segnet samt Eispickel im Bauch in Hocks Badewanne das Zeitliche. Eine Verbindung der Fälle scheint außer Frage zu stehen. Hock putzt Klinken, schmiert Spitzel und führt Gespräche, bis er sich schließlich der unheilvollen Wahrheit nähert, die ihn wohl ebenso sehr überrascht wie den bis dahin gebannten Leser.

Thomas Adcocks` Debüt ist ein klassisches Exemplar des „Hardboiled“-Genres, das aber wohl durchaus auch noch im Bereich des „Krimi-Noir“ eingeordnet werden könnte. Die Welt in Adcocks Büchern ist düster, ist dreckig. Und der Plot geht weit über den allgemeinen Spannungsaufbau eines Krimis hinaus. Vielmehr ist es eine detaillierte Milieustudie, die nicht nur den Finger in eine (immer noch) klaffende Wunde New Yorks legt, sondern mithilfe trockensten Humors und gleichzeitig erschütternder Ehrlichkeit am Moralverständnis des Lesers rührt.

Hell’s Kitchen“ zieht einen tief hinein in eine Welt hinter der Wall Street und den gleißenden Wolkenkratzern. Eine Welt, in der Armut und Tod alltäglich sind und damit ein Störfaktor, ein schwarzer Fleck auf der weißen Weste, den es aus Sicht der Politiker zu entfernen gilt. Die Figuren und die Orte sind authentisch, glaubhaft, was durch den inhaltlich unheimlich aufschlußreichen Epilog noch untermauert wird. Knisternde Spannung, Verfolgungsjagden und Blutströme wird man hier erfolgslos suchen. Adcocks Erfolgsrezept liegt stattdessen im gelungenen Wechsel zwischen Momenten der eindringlichen Ruhe und Szenen mit knisternder, atemloser Action. Und nicht zuletzt in einem treffenden Ende, das den Leser mit einem seltsamen Gefühl im Magen zurücklässt.

Hell’s Kitchen“ ist ein tolles Debüt aus den Spätachtzigern, das allen Fans des Hardboiled-Genres nur ans Herz gelegt werden kann, dem Leser allerdings auch das ein oder andere Mal das gewisse Quentchen Geduld abverlangt.

Wertung: 90 von 100 Trefferneinschuss2

  • Autor: Thomas Adcock
  • Titel: Hell’s Kitchen
  • Originaltitel: Sea of Green
  • Übersetzer: Jürgen Bürger
  • Verlag: Piper
  • Erschienen: 11.1997
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 381
  • ISBN: 978-3492-25674-2