In der Zeit des Blumen tötenden Mondes

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Nun sitze ich hier, neben mir das gelesene Exemplar von David Granns True-Crime-Werk „Das Verbrechen“ und kämpfe im wahrsten Sinne des Wortes mit meinen Gefühlen und zwei komplett gegensätzlichen Problemen: Entweder bekomme ich überhaupt kein anständiges Wort zu „Papier“ oder es werden derer so viele, dass es den Rahmen einer vernünftigen, sachlichen Besprechung bei weitem sprengt. Dazwischen scheint es schlicht nichts geben zu können, denn die Lektüre dieses Buches wird mir sicher noch für lange, lange Zeit auf unangenehme Art und Weise in Erinnerung bleiben. Nicht aufgrund der Tatsache, dass es qualitativ irgendetwas an Granns schriftstellerischer und journalistischer Leistung auszusetzen gäbe, sondern vielmehr weil die behandelte Thematik einfach die eigene fassungslose Ungläubigkeit in einen Grenzbereich verschiebt, der emotional mitunter schwer zu verarbeiten – und noch schwerer in Worte zu fassen ist.

Wie heißt es so schön: Die Realität übertrifft jede Fiktion. Und nie ist dies wohl wahrer gesprochen worden, als im Zusammenhang mit Granns Auseinandersetzung und Aufarbeitung eines der düstersten und beschämendsten Kapitel der jüngeren US-amerikanischen Geschichte – dem hundertfachen Mord an den Osage-Indianern in den 1910er bis späten 1920er Jahren im gleichnamigen County des Bundesstaats Oklahoma. Hundertfach, das sagt und schreibt sich einfach so leicht dahin, weil es kaum greifbar und unpersönlich ist, keinerlei direkte Verbindungen zu den einzelnen Opfern herstellt. Und genau dies muss wohl auch Grann umgetrieben haben, der nämlich genau diesen Opfern mitunter bis in letzte bedrückende Detail (auch mit einer Vielzahl an Fotografien) ein Gesicht verleiht, mit unerschütterlicher Akribie das ganze Ausmaß dieses maßlosen Verbrechens ans Tageslicht zerrt, dessen Ursprünge sich in einem weiteren Verbrechen finden: der Vertreibung der Osage aus ihren eigenen Jagdgründen durch die weißen Siedler Ende des 19. Jahrhunderts.

Angetrieben von einer nie zu sättigenden Gier nach immer mehr Land und bar jeder Rücksicht für das Wohl der indigenen Bevölkerung, pferchte man viele der Indianer in kleinsten Reservaten zusammen, um sich anschließend das an Bodenschätzen und anderen Ressourcen reiche Gebiet selbst unter den Nagel zu reißen. Vor der indianischen Kultur, ihren Bräuchen und letztlich auch vor Menschenleben wurde keinerlei Halt gemacht. Schon zu dieser Zeit kostete diese brutale „Umsiedlung“ tausenden Osage das Leben, die, abgeschnitten von ihrer Jagdbeute, den Bisons, entweder an Hungertod starben oder ihrer Heimat Kansas den Rücken kehren mussten. Im Falle der Osage wurde ihnen ein neues Gebiet im Nordosten Oklahomas zugewiesen. Eine staubige, karge und steinige Landschaft, in der weder große Landwirtschaft möglich, noch sonst etwas von Wert zu vermuten war. Mit den Jahren erhielt die indigene Bevölkerung dann von Washington aus die Erlaubnis, hier auch in größeren Mengen Land aufkaufen zu dürfen, zumal sonst niemand daran irgendein Interesse zeigte. Was nun folgte entbehrt, zumindest anfangs, nicht einer gewissen Ironie.

Das auf den ersten Blick gänzlich wertlose, unfruchtbare Gebiet entpuppt sich nämlich als wahre Goldgrube, denn unterhalb des kahlen Bodens entdecken Geologen bald einige der größten Erdölvorkommen der Vereinigten Staaten. In einer Zeit, in der gerade die Industrie und insbesondere das Pferd ablösende, aufstrebende Automobil enorme Mengen dieses Rohstoffs benötigten, bedeutete diese Bodenschätze unvorstellbaren Reichtum. Und zum großen Verdruss der weißen Politiker, Geschäftsleute und Siedler waren die Osage aufgrund der geschlossene Verträge rechtmäßige Besitzer dieses Landstrichs – und damit auch deren Ressourcen. Eine erneute gewaltsame Vertreibung, wie schon in der Vergangenheit, war nun ohne weiteres nicht mehr möglich, weswegen die amerikanische Regierung diese Realität zähneknirschend akzeptieren musste.

Zumindest offiziell, denn mit der rasant steigenden Einnahmequelle der Osage durch die Bohrlizenzen, aber auch Gebühren für vergebene Pacht, erhöhte sich auch die Zahl der Neider unter den weißen Mitbürgern. Im Jahr 1923 waren die Osage aufgrund ihres Pro-Kopf-Einkommens de facto die reichsten Menschen der Welt. Auf Auktionen im County wurde zu Millionen Dollar Beträgen Land versteigert und die Presse schlachtete den steigenden Wohlstand der Ureinwohner journalistisch aus. Das Bild vom dekadenten, verschwenderischen Indianer wurde wo immer es ging kolportiert – Habsucht, Neid und erneute Gier auf Land waren die Folge.

Um diesen Entwicklungen ein Ende zu setzen und Weißen Zugriff auf das jeweilige Vermögen zu gewähren, verabschiedete die Regierung ein Gesetz, dass die Osage quasi entmündigte. Der „kindliche Indianer“ wurde per Dekret unter Aufsicht gestellt, die Verwaltung des persönlichen Vermögens an einen (natürlich weißen) Vormund übertragen, der selbst entscheiden durfte, wie viel Geld dem jeweiligen Osage zustand. In Folge dessen wurde nur noch kleine Summen an den eigentlichen Besitzer ausgezahlt, der ohnehin für fast alles einen höheren Preis zu zahlen hatte, als die Weißen. Mehr noch: Wie auf einem Markt wurden die hoch begehrten Titel als Vormund über einen oder mehrere Indianer gehandelt, die Position ausgenutzt, um sich zu bereichern. So bekam man unter anderem Provision bei Händlern, wenn das „Mündel“ dort zu besonders gepfefferten Beträgen Geld ausgab. All dies reichte aber nicht, um den Begehrlichkeiten und der Gier ein Ende zu setzen, denn immer noch lagen die „Headrights“ auf das Land bei den Osage. Und über diese und die damit verbundenen Förderlizenzen konnte erst entschieden werden, wenn der eigentliche Eigentümer verstorben war. Und hier beginnt die von David Grann erzählte, wahre Geschichte.

Mai, 1921. Der stark verweste Körper der 36-jährigen Anna Brown, eine der im Reservat nahe der Stadt Gray Horse lebenden Osage, wird in einem abgelegenen Tal gefunden. Und es soll nicht bei dieser einen Toten bleiben. Noch am gleichen Tag wird die Leiche von Charles Whitehorn nahe Pawhuska entdeckt, einem Cousin von Anna Brown. Beide sind offensichtlich durch Schusseinwirkung gestorben. Während man den Tod der Frau nach kurzen, oberflächlichen Ermittlungen als Selbstmord verbucht – als bekannte Alkoholkranke schien man mit dieser Erklärung zufrieden – kam Whitehorn eindeutig gewaltsam ums Leben. In der Gemeinde der Osage macht sich Unruhe und Angst breit, die sich bald als berechtigt erweist. Nur zwei Monate später stirbt auch Anna Browns Mutter Lizzie Q. Kyle an einer Vergiftung. Ihre beiden verbliebenen Töchter, Mollie Burkhardt und Rita Smith, bitten den selbsternannten „King of the Osage Hills“, den Indianerfreund William Hale um Unterstützung, der daraufhin Druck auf die lokalen Behörden ausübt und Privatdetektive engagiert, welche eine Verbindung der Fälle untersuchen sollen. Doch die Ermittlungen bleiben weitestgehend erfolglos – und das Sterben unter den Osage geht weiter.

Im März 1923 – viele Osage sind bereits unter mysteriösen Umständen wie Trunksucht oder Schwindsucht ums Leben gekommen – sterben auch Rita Smith, ihr Mann William „Bill“ Smith und die Hausangestellte Nettie Brookshire bei einer Explosion, die ihr ganzes Haus zerstört. Durch die steigende Zahl an Morden alarmiert, wendet sich der Osage Tribal Council nun an die US-Regierung mit der Bitte um Hilfe auf Bundesebene. Da eines der Opfer, der im Februar 1923 ermordete Henry Roan Horse, auf ausgewiesenem Indianergebiet getötet wurde, hat jetzt das noch junge Bureau of Investigation (BOI, seit 1932 Federal Bureau of Investigation = FBI) eine gesetzliche Grundlage, um selbst investigativ tätig zu werden. Was die zum Teil verdeckt ermittelnden Agenten in den kommenden Monaten aufdecken sollen, ist nichts weniger als die größte Mordserie in der Geschichte der Vereinigten Staaten …

Mit dem Mord an Anna Brown beginnend, hat sich David Grann äußerst detailliert – und wie wir später zu unserem Erschrecken feststellen müssen, auch weit investigativer als die damaligen juristischen Ermittlungen – der tieftraurigen Geschichte der Osage angenähert, wofür ihm zwar nach eigenen Worten ein gut gefülltes Archiv an Aufzeichnungen, Zeugenaussagen, Agentenberichten, Zeitungsberichten und anderen Zeitdokumenten zur Verfügung stand, diese jedoch nicht selten von der Meinung des jeweiligen Verfassers getränkt wurden. Und obwohl es anfangs noch so scheint, als wären es nur Einzelschicksale gewesen, so wird bald mit jeder weiteren Seite von „Das Verbrechen“ klar, dass das Ausmaß des Verbrechens alle Vorstellungen sprengt und fast ein jeder auf irgendeine Art und Weise in diesen Sumpf aus Gewalt, Korruption, Rassismus und letztlich auch Mord verstrickt war. Ob lokale Politiker, Privatdetektive oder das Gesetz vor Ort, der Kreis der Verschwörer durchdrang alle Gesellschaftsschichten und war in seinem Bemühen, Beweise und Indizien verschwinden zu lassen, über Jahre äußerst erfolgreich. Gerade Zeugenaussagen aus den frühen Jahre der Mordserie bleiben auffällig vage, was, wie Grann herausarbeitet, auch daran lag, dass Verräter selbst mit dem Tod rechnen mussten.

In Bezug auf den Spannungsaufbau dieser Lektüre spielt David Grann diese unsichere Datenlage rund um die ersten Morde an den Osage in die Hände, denn wie damals in der Realität, so ist es auch für den Leser schwierig, anfangs einen Verantwortlichen auszumachen, geschweige denn überhaupt den Kreis der möglichen Täter einzuengen. Dies ändert sich erst im zweiten Abschnitt des Buchs, wo sich der Autor schließlich auf die Ermittlungen durch das BOI konzentriert, welches sich zu dieser Zeit gerade in einem strukturellen und personellen Umbruch befand. William John Burns, Begründer der gleichnamigen International Detective Agency, in den 10er Jahren des 20. Jahrhunderts nach der Pinkerton-Detektei die zweitgrößte Agentur für Privatermittlungen, hatte lange von seinem Ruf als „amerikanischer Sherlock Holmes“ profitiert, war aber als Leiter der Behörde den modernen Anforderungen inzwischen nicht mehr gewachsen. Nach einem Untersuchungsausschuss, u.a. wegen Einschüchterung der Presse und illegaler Beschattung von US-Senatoren, wurde er 1924 zum Rücktritt gezwungen. Sein Amt wurde von einem gewissen J. Edgar Hoover übernommen, der es bis zu seinem Tode im Jahre 1972 inne haben sollte.

Hoover, der als ausgeprägter Machtmensch später selbst die Grenzen der Gesetze mehrmals überdehnen bzw. überschreiten sollte, um auf seinem Posten verbleiben zu können, war der Ansicht, dass die Methoden der Bundesagenten überholt waren und dringend geändert werden mussten. Reichten vorher noch mündliche Berichte an die Vorgesetzten aus, hielt mit dem neuen BOI-Chef nun die Bürokratie – und damit auch eine neue Sorte Ermittler Einzug. Da Hoover aber bewusst war, dass insbesondere im Fall der Osage-Morde jegliche schlechte Presse seiner jungen Organisation einen Strich durch die Rechnung machen und der Wilde Westen Oklahomas mit Schreibtischhengsten allein nicht befriedet werden konnte, musste die Mischung stimmen. Und so wurde mit Tom Smith, einem ehemaligen Texas Ranger, nochmal einer der Revolverhelden alter Schule, mit diesem Fall betraut. Eine Entscheidung, die sich auszahlen sollte, denn obwohl sich Smith anfangs noch mit den Begleitererscheinungen moderner Polizeiarbeit schwer tat, sollte es am Ende seine Unerbittlichkeit sein, welche dem Recht zum Sieg verhalf.

Doch war tatsächlich Recht gesprochen worden? Nachdem wir erfahren, wer tatsächlich hinter einem Teil der Morde an den Osage gesteckt hat (eine schockierende Eröffnung) – und wir damit eigentlich das Ende dieser Lektüre erwarten – berichtet David Grann von seinen Begegnungen mit den Nachkommen der Opfer und fördert noch einmal Dinge zutage, die zwar letztlich rechtlich keinerlei mehr Bedeutung haben sollen, aber das ganze unfassbare Ausmaß noch genauer erahnen lassen, welches selbst den zartbesaitesten Leser in die Magengrube fahren dürfte. Wie der Autor diese Verbindungen herstellt, die Vielzahl an Hinweisen verfolgt und verknüpft, nötigt großen Respekt ab und ist vor allem für uns immer auf niederschmetternde, ja abscheuliche Art und Weise nachvollziehbar.

Fast vierzig Seiten, in denen u.a. die Quellen- und Bildnachweise aufgeführt werden, zeugen von Granns hervorragender Recherche, wobei wie bereits erwähnt besonders die vielen Fotos innerhalb des Buches ihren Teil dazu beitragen, die Brücke zwischen dem Damals und dem Jetzt zu schlagen. Das hinter jedem Mord ein Mensch und dessen Familie steht – dies war ihm offensichtlich unheimlich wichtig zu betonen. Und wenn ihnen damit letztlich auch juristisch keine Gerechtigkeit widerfährt – mit dieser Würdigung erhält der Stamm der Osage, wenn auch spät, endlich die ihm gebührende, historisch korrekte Aufmerksamkeit.

Falls es die Länge meiner Besprechung noch nicht deutlich gemacht haben sollte: David Granns „Das Verbrechen“ ist eines der qualitativ besten, informativsten, spannendsten, aber auch berührendsten True-Crime-Werke seit Truman Capotes „Kaltblütig“. Eine Abrechnung mit dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten und dem weißen Siedler, die ihren Widerhall nicht nur in aktuellen Geschehnissen innerhalb der USA findet, sondern das in vielen Medien verklärte Bild des romantischen Wilden Westens endgültig ins Reich der Märchen und Fabeln verweist. Eine Anklage und ein Fingerzeig für kommende Generationen, so etwas nie wieder zuzulassen und Taten und Täter zu benennen, um die Wahrheit ans Licht zu zerren.

Mein persönliches Buch des Jahres 2020 und eins, das ich allen Freunden meines Blogs unbedingt zur Lektüre empfehlen möchte.

Wertung: 94 von 100 Treffern

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  • Autor: David Grann
  • Titel: Das Verbrechen
  • Originaltitel: Killers of the Flower Moon
  • Übersetzer: Henning Dedekind
  • Verlag: btb
  • Erschienen: 11/2018
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 416 Seiten
  • ISBN: 978-3730600726

Der beste Freund des Menschen

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Gedanken wollen oft – wie Kinder und Hunde -, dass man mit ihnen im Freien spazieren geht.

Ob es dieses Zitat des bekannten deutschen Dichters Christian Morgenstern war, dass den im IT-Business tätigen David Wroblewski dazu inspirierte, über zehn Jahre an seinem Debütroman „Die Geschichte des Edgar Sawtelle“ zu schreiben, darf wohl stark bezweifelt werden. Dennoch könnte wohl kaum ein Satz dieses Buch besser beschreiben, welches die Beziehung und das Verhältnis von Mensch und Hund nicht nur in das Zentrum der Handlung stellt, sondern den Leser diese besondere Verbindung auch durch den Blick eines Kindes und inmitten der Wildnis der Natur erfahren lässt.

Inwieweit dieser literarische Ausflug gelungen ist – darüber scheiden sich augenscheinlich seit der Veröffentlichung die Geister. Wenngleich ein Interview mit Oprah Winfrey ausreichend war, um diesen Roman im Jahre 2008 nach ganz oben in die amerikanischen Bestseller-Listen zu katapultieren, so ist sich der Feuilleton in seiner Bewertung eher weniger einig. Und auch ich persönlich muss feststellen, dass sich dieses Erstlingswerk einer eindeutigen Beurteilung meinerseits hartnäckig widersetzt, der Grat zwischen meisterhaftem Wurf und esoterischem Geschwurbel mitunter ein äußerst schmaler ist.

Die Meinungen, sie kippen, wie auch in den vielen unterschiedlichen Besprechungen nachzulesen ist, in beide Richtungen, doch man lehnt sich nicht zu weit aus dem Fenster, wenn man behauptet: Eine gewisse Vorliebe für bildreiche Sprache und natürlich besonders für den besten Freund des Menschen, den Hund, sollte man von vorneherein schon mitbringen, um überhaupt mit diesem Stück moderner Literatur einen gemeinsamen Nenner zu finden. Ein Stück Literatur, das Wroblewski laut eigener Aussage so schrieb, wie er selbst seine Romane bevorzugt. Was bedeutet das nun genau für den Leser?

Im Mittelpunkt des Buches steht wenig überraschend der namensgebende Edgar Sawtelle. Ein stummer Junge von 14 Jahren, der allein über Gebärden mit seinen Eltern Gar und Trudy kommuniziert, welche auf einer abgelegenen Farm im amerikanischen Wisconsin eine seit Generationen bestehende Hundezucht betreiben. Edgar wird von früh an in die Arbeit mit den Hunden herangezogen und zeigt sich besonders geschickt darin, selbst schwierigere Vierbeiner-Kandidaten Gehorsam zu lehren – und somit auch für etwaige Verkäufer interessant zu machen. Der gute Ruf der Sawtelles ist inzwischen überregional, was alle Mitglieder der Familie mit Stolz erfüllt, allerdings auch die Anforderungen erhöht, denn die Arbeit mit den Hunden nimmt viel Zeit in Anspruch. Edgar verbringt den Großteil seiner Zeit mit der Hündin Almondine, die für ihn nicht nur einen menschlichen Freund ersetzt, sondern auch als willkommene Ablenkung von der täglichen Routine dient.

Obwohl die Tage lang und hart sind, so herrscht doch eine gewisse Idylle. Eine Idylle, welche jäh zerbricht, als eines Tages Gars Bruder Claude vor der Tür steht. Seit jeher hatten die beiden Geschwister ein äußerst schwieriges Verhältnis und Claude, der lange Jahre als Marine Dienst in Südkorea tat, scheint wenig geneigt dieses zu verbessern. Während die Atmosphäre zunehmend gereizter wird, zieht sich Edgar immer mehr zurück. Als er eines Tages seinen toten Vater in der Scheune des Hundezwingers auffindet, kann und will er nicht an einen Zufall glauben. Während Claude im Anschluss nicht nur den Platz des Familienoberhaupts, sondern auch den an der Seite von Edgars Mutter annimmt, wächst bei dem Jungen die Verzweiflung. Bei einem äußerst unglücklichen, von ihm verursachten Unfall kommt schließlich auch noch der hiesige Tierarzt ums Leben. Getrieben von seiner Schuld, schnappt Edgar sich drei der Hunde und flieht in die Wildnis …

Was so verheißungsvoll klingt, hat doch einen großen Haken, denn bis wir an der Seite unserer Partner mit der kalten Schnauze in die üppigen Wälder Wisconsins eindringen, heißt es erst einmal: „Sitz“, „Platz“, „Bleib“ und „Zuhören“. Insbesondere letzteres in einem irgendwann fast nicht mehr erträglichen Übermaß, denn Sawtelle, der in diesem Roman doch sehr offensichtlich autobiographisches verarbeitet hat, nimmt den Leser von Beginn an wortwörtlich an die kurze Leine und lässt uns äußerst eng bei Fuß laufen. Über viele, viele, ja viel zu viele Seiten schildert er in aller Ausführlichkeit die Kniffe und Tricks von Hundezucht und -training, dass einem irgendwann müde und hundselend davon wird. Abgelöst von gelegentlichen Rückblicken, welche die Anfänge der Hundezucht im Jahr 1919 unter Edgars Großvater schildern und, nun ja, in diesem Zusammenhang ebenfalls vor allem von Hunden zu erzählen wissen. Die Geduld, sie wird auf den ersten zweihundert Seiten von Wroblewskis Roman auf eine äußerst harte Probe gestellt und man bekommt ein wenig einen Eindruck davon, wie es sich anfühlen muss, auf einen gefüllten Napf (in diesem Fall, die im Klappentext angekündigte Flucht Edgars) zu starren und vergeblich auf das Kommando des Herrchens zu warten.

Wrobleswki, dass muss man dieser Stelle einfach mal wertneutral feststellen, will da schlichtweg zu viel auf einmal, verhebt sich beim Ansinnen, hieraus diese eine große Familiensaga zu machen. Als ob er dies selbst beim Schreiben festgestellt hat, versucht er das in verspielten Metaphern und ausufernden Schachtelsätzen zu Papier gebrachte mit einer ganzen Vielzahl symbolischer Bedeutungen zu unterfüttern (auch die Verweise und Anspielungen auf Shakespeares „Hamlet“ sind nur allzu deutlich), was dem ohnehin schon trägen Vorankommen des Plots jedoch ebenfalls wenig zuträglich ist. Das hätte wiederum einem etwas aufmerksameren Lektor eigentlich auffallen müssen, der an diesen Stellen schlichtweg viel zu selten den Rotstift angesetzt hat. Zum Schaden des Buches, das gerade durch die das Tempo verschleppenden Ausführungen viel Potenzial liegen lässt – und möglicherweise bereits zu diesem Zeitpunkt den ein oder anderen Leser endgültig verliert und zum Katzenliebhaber macht.

Von einem Abbruch der Lektüre muss dennoch abgeraten werden, denn Wroblewski bekommt nicht nur ab der Hälfte endlich die Kurve, sondern spielt auch überraschenderweise von jetzt auf gleich sein schriftstellerisches Können aus. Sieht man vom unlogischen Verhalten Edgars, Almondine allein aufgrund ihres Alters zurückzulassen ab, greifen mit dessen Flucht von der Farm die Zahnräder nun reibungslos ineinander. Fernab der Zivilisation scheint der Autor plötzlich in seinem Element, scheint er seinen Rhythmus gefunden zu haben. Der bleibt zwar weiterhin von gemächlicher Gangart, was wir aber aufgrund des Feingefühls mit der Wroblewski die Beziehung zwischen dem Jungen und seinen Hunden zeichnet, recht schnell vergessen. Mehr noch: Wir ertappen uns dabei, wohlwollend inne zu halten und die Naturbeschreibungen zu genießen, welche hier – inmitten der Wildnis – endlich nicht mehr zum Selbstzweck verkommen, endlich ihre Stärken ausspielen. Gemeinsam mit Edgar schlägt man sich durchs Unterholz. Schwitzend, hungernd, von Mücken zerstochen. Und wie der Junge, so werfen wir keinen zweiten Blick mehr zurück auf das Vorher, lernen wir zu vergessen, werden ein Teil dieser undurchdringlichen Natur und öffnen uns dem Abenteuer.

Wroblewskis Botschaft hinter dieser Geschichte aus Schuld und Rache, Liebe und Hass, Eifersucht und Neid – sie braucht Zeit, um sich zu entfalten und lohnt letztendlich doch, da viele Passagen – so wie das Zusammentreffen mit dem exzentrischen Henry Lamb, der Edgar Zuflucht gewähnt und ihm und seinen Hunden das Herz öffnet – in Erinnerung bleiben. Ob der Autor an dieser Stelle nicht einfach die Feder hätte beiseite legen sollen oder Edgar dann unbedingt nochmal für ein gewaltgeladenes Wiedersehen den Weg zurück antreten muss – darüber kann man sicher trefflich streiten. Das ungewöhnlich „laut“ inszenierte Finale beißt sich in jedem Fall mit dem zuvor doch sehr melancholischen und ruhigen Ton der Geschichte. Möglich aber, dass der gute Mann hier schon eine potenzielle Verfilmung im Hinterkopf hatte.

Was bleibt nun von der Lektüre? „Die Geschichte des Edgar Sawtelle“ ist von großen, auch qualitativen Kontrasten geprägt. Feinsinnig, traurig, teilweise gar herzzerreißend und dann doch wieder überambitioniert, schwafelnd und am Rande des Kitsches. Die Wahrheit liegt hinsichtlich einer Bewertung wohl irgendwo in der Mitte und muss von jedem selbst „erlesen“ werden.

Wertung: 78 von 100 Treffern

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  • Autor: David Wroblewski
  • Titel: Die Geschichte des Edgar Sawtelle
  • Originaltitel: The Story of Edgar Sawtelle
  • Übersetzer: Barbara Heller, Rudolf Hermstein
  • Verlag: btb Verlag
  • Erschienen: 04/2011
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 704 Seiten
  • ISBN: 978-3442742561

+++ Vorschau-Ticker „Non-Crime“ – Winter 2019/Frühjahr 2020 – Teil 1 +++

Nachdem ich bereits für den Kriminalroman meinen ganz persönlichen Blick in die nahe Zukunft geworfen habe, widmet sich die kriminelle Gasse diesmal dem breit gefächerten Feld der modernen Unterhaltungsliteratur. Und wie üblich hat sich die Liste auf beinahe magische Art und Weise einmal mehr gefüllt, denn auch im Bereich der Belletristik erwarten uns im kommenden Halbjahr gleich mehrere interessante Titel. Die ersten zehn kommen u.a. aus den Verlagshäusern Aufbau, btb, Hanser und Suhrkamp.

Sind da irgendwelche Bücher dabei, die auch euch Krimi-Fans da draußen interessieren könnten? Welchen Roman werdet ihr euch kaufen?

  • Louis Begley – Killer’s Choice
    • Hardcover, November 2019, Suhrkamp Verlag, 978-3518428795, 220 Seiten, 22,00 €
    • Crimealley-Prognose: Wenn man sich die Inhaltsbeschreibung des neuen Louis Begley so durchliest, hätte dem Buch wohl auch die Etikettierung Spannungsroman ganz gut gestanden. Der Autor greift hier den Faden von Ein Leben für ein Leben wieder auf. Abner Brown, sein alter Widersacher, ist inzwischen tot, doch jemand scheint sein Ableben rächen zu wollen. Und so gerät Ex-Marine und Bestsellerautor Jack Dana ins Visier eines Syndikats gewissenloser Gangster. Der Vorgänger ist an mir vorbeigegangen, doch ich bin angefixt genug, um diesen nachzuholen und auch Killer’s Choice ganz genau im Auge zu behalten.
  • David Diop – Nachts ist unser Blut schwarz
    • Hardcover, September 2019, Aufbau Verlag, 978-3351037918, 160 Seiten, 18,00 €
    • Crimealley-Prognose: Ein schwarzer Soldat, der an der Seite der Franzosen im Ersten Weltkrieg kämpft und angesichts des Grauens im Schützengraben langsam verroht und alle moralischen Grenzen über Bord wirft. Das ist sicherlich eine Geschichte mit Potenzial – und vor allem eine, die in dieser Konstellation sicher noch nie angegangen wurde. Ich bin in jedem Fall sehr angefixt und werde mir Diops Novelle sicher zulegen.
  • William Melvin Kelley – Ein anderer Takt
    • Hardcover, September 2019, Hoffmann und Campe Verlag, 978-3455006261, 304 Seiten, 22,00 €
    • Crimealley-Prognose: Ein wiederentdeckter Roman, der leider immer noch nichts von seiner Aktualität verloren hat. Im Jahr 1957 kommt es zu einem Aufstand der afroamerikanischen Bevölkerung im Südstaaten-Kaff Sutton. Aus der Revolte wird ein Exodus – und das von Weißen regierte Amerika, weiß nicht wie es regieren soll. Seit Steinbeck, Faulkner, O’Conner, Burke und Co. habe ich ein Faible für Literatur aus und über den Süden der USA. Im Fahrwasser von Underground Railroad sicherlich ein Buch, dass seine Leser finden dürfte.
  • Jonathan Lee – Freude
    • Taschenbuch, März 2020, btb Verlag, 978-3442718863, 380 Seiten, 10,00 €
    • Crimealley-Prognose: Auf Jonathan Lee bin ich erst durch seinen Roman High Dive aufmerksam geworden.  Der ehemalige Anwalt kehrt hier in seinem aktuellen Buch Freude in „sein“ Milieu zurück und erzählt die Geschichte eines mysteriösen Freitods in einer Londoner Anwaltskanzlei. Warum stürzte die erfolgreiche Juristin Joy Stephens 12 Meter tief und was bedeutet ihre Tat für die Menschen um sie herum? Die Antworten auf diese Fragen herauszufinden, könnte am Ende ein lohnenswerter literarischer Ausflug sein.
  • Phillip Lewis – Rückkehr nach Old Buckram
    • Hardcover, November 2019, btb Verlag, 978-3442758456, 450 Seiten, 20,00 €
    • Crimealley-Prognose: Lewis‘ Roman um eine späte Heimkehr in die blauen Berge von North Carolina vermittelt schon in seiner Inhaltsbeschreibung soviel Sehnsucht, dass ich mich unwillkürlich dazu bewogen fühle, selbst den Weg nach Old Buckram anzutreten. Nicht nur weil ich gute Landschaftsmalerei in einem Roman sehr zu schätzen weiß, sondern auch weil die Aufarbeitung der eigenen familiären Vergangenheit immer ganz besondere Geschichte zutage fördert.
  • Daniel Mason – Der Wintersoldat
    • Hardcover, Juli 2019, C.H. Beck Verlag, 978-3406739613, 430 Seiten, 24,00 €
    • Crimealley-Prognose: Auch in Der Wintersoldat bewegen wir uns wieder im Umfeld des Ersten Weltkriegs, diesmal im felsigen Gebiet der Karpaten, wo der Wiener Medizinstudent Lucius, welcher sich freiwillig zum Dienst gemeldet hat, gemeinsam mit einer jungen Nonne die vielen schwerverletzten Soldat von der Front versorgen muss. Einer davon soll alsbald wieder in den Kampf geschickt werden – und hier trifft Lucius eine verhängnisvolle Entscheidung. Mehr brauche ich nicht zu wissen, um zu entscheiden: Das Buch wird sicher gekauft.
  • Delia Owens – Der Gesang der Flusskrebse
    • Hardcover, Juli 2019, hanserblau, 978-3446264199, 464 Seiten, 22,00 €
    • Crimealley-Prognose: Delia Owens Debütroman wird zwar in der Vorschau recht zurückhaltend beworben, drückt aber in der Kurzbeschreibung genau die richtigen Knöpfe, um in meiner Auswahl zu landen. Das ruhige Küstenstädtchen, das Mädchen aus dem Marschland, ein mysteriöser Tod, die wilde Natur der Salzwiesen und Sanddünen – perfekte Zutaten für die Art archaischer Kriminalgeschichte, wie ich sie liebe.
  • Lauren Groff – Florida
    • Hardcover, Oktober 2019, Hanser Berlin Verlag, 978-3446264106, 320 Seiten, 23,00 €
    • Crimealley-Prognose: Kurzgeschichten über das wilde, schöne, gleißend helle Florida, über Zorn, Furcht und Einsamkeit zwischen den Glades und Miami. Nicht nur weil ich gerade aktuell literarisch wieder in Florida weile (Nick Stones Voodoo) – ein Buch, das sicher in der ganz, ganz engen Auswahl landet.
  • Peter Heller – Der Fluss
    • Hardcover, August 2019, Nagel & Kimche Verlag, 978-3312011346, 312 Seiten, 22,00 €
    • Crimealley-Prognose: Die von mir sehr geschätzte Andrea O’Brien hat auf ihrem Blog Krimiscout eine richtige Lobeshymne auf dieses Buch gesungen. Unabhängig davon, wäre ich aber wohl so oder so Feuer und Flamme gewesen. Thematisch geht es auch in diesem Roman wieder um den Mensch inmitten der Wildnis und die Kurzbeschreibung weckt bei mir mehr als nur eine Erinnerung an Dickeys Flussfahrt. Auf diese literarische Kanufahrt auf dem kanadischen Maskwa-River freue ich mich besonders.
  • Marlon James – Schwarzer Leopard, Roter Wolf
    • Hardcover, Oktober 2019, Heyne Hardcore Verlag, 978-3453272224,  960 Seiten, 28,00 €
    • Crimealley-Prognose: Wenn man sich die Rezensionen so durchliest, scheinen sich an diesem Fantasy-Epos, in dem Marlon James viele Elemente der afrikanischen Mythenwelt verarbeitet, die Geister zu scheiden. Der Auftakt einer Trilogie aus der Feder des geborenen Jamaikaners ist meinerseits ein Schuss ins Blaue. Oder besser gesagt ins Schwarze, denn Schwarzer Leopard, Roter Wolf verspricht nachtfinstere, rohe und mitunter brutale Literatur. Ob die letztlich nachhaltig wirkt oder nur auf Schockeffekt gebürstet wurde – ich werde mich wohl davon selbst überzeugen.

 

Der Rest ist Schweigen

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Lange Küstenlinien, felsige Inseln und majestätische Berge. Maine ist nicht nur der größte der Bundesstaaten, aus denen sich die Region New England zusammensetzt, sondern auch eins der beliebtesten Touristenziele im Nordosten der USA, welches seinen Reiz aus den bisweilen rauen Landschaften, dem historischen Charme der kleinen Orte und vor allem dem „Indian Summer“, der Zeit der beeindruckenden Blätterfärbung, bezieht.

So ist es wenig verwunderlich, dass es gerade dieses bunte Schauspiel ist, was wir hierzulande mit Maine verbinden – und weniger der Winter, der streng und von langer Dauer oftmals den Frühling gänzlich überspringt und lediglich von Anfang Juni bis Mitte September die Nächte frostfrei lässt. Monatelang sind Seen und Flüsse mit Eis bedeckt, Städte wie Bangor (u.a. Wohnort von Autor Stephen King) infolge der klirrenden Kälte durchschnittlich 125 Tage im Jahr unzugänglich.

Kurzum: Ein Ort, an dem sich der Mensch noch nach der Natur auszurichten, die Wildnis die Herrschaft noch nicht gegen die vordringende Zivilisation verloren hat. Und genau hier spielt Gerard Donovans Roman „Winter in Maine“, der, vom Feuilleton und Hobbylesern gleichermaßen gefeiert, zu den beeindruckendsten literarischen Kleinoden gehört, die ich in den letzten Jahren zu lesen die Ehre hatte. Die Handlung des gerade mal knapp zweihundert Seiten umfassenden Buchs sei daher an dieser Stelle kurz angerissen:

Julius Winsome lebt zurückgezogen in einer Hütte in den tiefen Wäldern Maines, wo er es sich in der behaglichen Wärme eines Kaminofens gemeinsam mit der Hinterlassenschaft seines Vaters, 3282 katalogisierten Büchern, für ein Leben fernab anderer Menschen eingerichtet hat. Ein Leben, welches lange Zeit ebenso gleichförmig wie einsam war, bis vor vier Jahren die liebenswerte Claire in eben dieses trat. Auf ihr Anraten folgte schließlich auch der lebhafte Pitbullterrier Hobbes. Die Idylle scheint perfekt, bis Claire ihn plötzlich stillschweigend und ohne Angabe näherer Gründe verlässt. Zurück bleibt Hobbes, dem nun Julius‘ ganze Liebe gilt. Doch auch dieses Glück soll nicht lange währen.

Als Hobbes eines Tages bei einem seiner Streifzüge offensichtlich vorsätzlich erschossen wird, bleibt Julius erschüttert zurück. Er vergräbt sich in seinen Büchern, insbesondere Shakespeares gesammelten Werken, welche ihn gedanklich bei der Suche nach den Mördern seines Hundes ebenso begleiten wie ein weiteres Erbstück seiner Familie: Ein Scharfschützen-Gewehr aus dem Ersten Weltkrieg. Julius, der lange den Kriegsgeschichten seines Großvaters gelauscht und dessen Schießfertigkeiten inzwischen ebenfalls erlernt hat, legt sich auf die Lauer, wartet, lauscht, während der dichte Schnee unbeeindruckt von all den Geschehnissen die Wälder Maines unter seinem weißen Mantel bedeckt. Bald dringen die vermeintlichen Schuldigen ins Revier von Julius vor – und werden von diesem mit kalter Ruhe und Präzision erschossen. Ein Tod ist gerächt. Oder um es mit Shakespeare zu sagen: „Der Rest ist Schweigen.

Nun, man kann eine Rezension epochal aufbauen, in mehrere Teile gliedern, einzelne Versatzstücke des Romans interpretieren und analysieren, Textstellen zitieren und am Ende ein die vorherigen Themen berücksichtigendes Fazit ziehen. Man kann es sich aber auch einfacher machen und schlichtweg konstatieren: „Winter in Maine“ ist großartig. „Winter in Maine“ ist einzigartig. „Winter in Maine“ ist Pflichtlektüre.

Gerard Donovan hat hier mehr als nur eine weitere Geschichte über einen Einsiedler und Einzelgänger auf Rachefeldzug geschrieben, hat „Walden“ nicht bloß kriminell „gewürzt“, um niedere Instinkte zu bedienen. Nein, ihm gelingt die große Kunst, Kraft und Können auf knapp zweihundert Seiten zu komprimieren, wobei jedes Wort, treffsicher wie die Kugeln des Mörders, genau auf das Herz des Lesers gerichtet ist, welches es mit der schneidenden Kälte des eisigen Winterwinds umschließt und bis zum Schluss der Lektüre nicht mehr loslässt. Hier ist erzählerische Dichte fühlbar, fließt die Sprache wie ein Fluss über die Seiten, gemächlich, gelassen und doch mäandernd. Jeder Satz, jede Silbe, ein Ausdruck des Lebensgefühls von Julius, ein Beweis seines Einklangs mit sich, der Literatur und der Natur. Und doch auch gleichzeitig Beleg für die Einsamkeit, dem Fehlen von Liebe, welche Julius nur kurz verspüren darf. Sein Erlebnisse in „Winter in Maine“ stehen sinnbildlich für den ewigen Kreislauf der Natur, für den Zusammenhang von Geburt und Tod, für Liebe und Hass – für den Gewinn und den letztendlichen Verlust. Die Endlichkeit aller Dinge, unaufhaltsam wie die Jahreszeiten, sie lässt sich nicht umgehen, was auch Julius erkennen muss, der sich – und das ist das Paradoxon der Geschichte und damit gleichzeitig auch das des menschlichen Lebens – anderen öffnen muss, um das Gefühl von Zusammenhalt, von Freundschaft, von Liebe zu erfahren, nur um diese im Anschluss daran gleich wieder zu verlieren.

Winter in Maine“ ist von poetischer Schönheit, von einer Melancholie durchdrungen, die ebenso nachdenklich macht, wie sie uns rührt, weil es keine abstrakte Geschichte ist, die uns Donovan hier erzählt, sondern man als Leser einem Faden folgt, dessen letztendlicher Ausgang genauso nachvollziehbar wie drastisch ist. Das liegt vor allem daran, dass kein Loblied auf die Selbstjustiz gesungen, Mord weder juristisch noch emotional gerechtfertigt wird. Stattdessen gewährt uns der Autor einen Blick in die Veränderungen von Julius‘ Seele und dessen Gedankengänge, welche sich, präzise wiedergegeben, gefühlvoller Schilderungen versagen. Ob bei den Erinnerungen an seine Jugend, wo er Shakespeare wortweise lernen musste oder bei den Rückblicken auf die kurze Beziehung zu Claire – Donovan fasst sich konsequent kurz und knapp, hebt die ökonomische Schreibweise auf ein neues Level, in dem jedes Kapitel in seinem geringen Umfang nur das für den Leser wirklich wesentliche erzählt. Wohlgemerkt ohne dabei eine Wertung vorzunehmen bzw. moralisch einen Standpunkt zu vertreten.

Wo sonst ein Element des Roman diesen aus der Masse hervorhebt, ist es im Falle von „Winter in Maine“ die Stimmigkeit des Ganzen. Von der aufgeladenen, stimmungsvollen Atmosphäre über die Schönheit der Sprache bis hin zu den mit feiner Feder gezeichneten Landschaftsbildern – Donovans Werk ist von ungewöhnlicher Raffinesse und Einsicht. Ein Buch der inneren Einkehr, das kontroverse Gefühle hervorruft und den Leser über die volle Distanz mit eiskalter Hand gefangen hält. Und schon jetzt ein moderner Klassiker, der ohne wenn und aber ins das Regal eines jeden Bibliophilen gehört.

Wertung: 91 von 100 Treffern

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  • Autor: Gerard Donovan
  • Titel: Winter in Maine
  • Originaltitel: Julius Winsome
  • Übersetzer: Thomas Gunkel
  • Verlag: btb
  • Erschienen: 08.2014
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 240 Seiten
  • ISBN: 978-3442747597

Chronik eines Gescheiterten

© btb

Edward Hoppers „Nighthawks“ (frei übersetzt: „Nachtschwärmer“) ist nicht nur eines der populärsten Bilder des 20. Jahrhunderts (es wurde oft kopiert und noch öfter zitiert), sondern gehört auch zu meinen persönlichen Favoriten, was insofern erwähnenswert ist, da ich mich ansonsten für Kunst kaum interessiere und noch weniger Ahnung von der Thematik habe. Fakt ist jedenfalls: Hoppers Komposition der Farben spricht mich genauso an, wie die Grundstimmung des Bilds, das drei in einer Bar sitzende Gäste zeigt, welche aneinander vorbeischauen und allem Anschein nach ihren eigenen Gedanken nachhängen.

Während draußen bereits die Nacht hereingebrochen ist, tauchen die Lampen des „Phillies“ alles in ein kühles, grelles Licht, das die Einsamkeit der Figuren noch unterstreicht. Durch die Theke von ihnen getrennt, geht der Barkeeper seiner Arbeit nach. Seine Aufmerksamkeit gilt dem rauchenden Mann vor ihm, der seinerseits die Frau neben sich kaum wahrzunehmen scheint. Abseits von ihnen sitzt ein weiterer Mann, mit der Rückenpartie zum Betrachter. Sein Hut hängt tief im Gesicht, sein Blick ist nach unten gerichtet. Meiner Ansicht nach ist es letztlich er, der die Popularität von „Nighthawks“ begründet. Einsam und in der hellen Ausleuchtung des Diners auch irgendwie exponiert, fungiert er als Fragezeichen für den Betrachter. Wer ist dieser Mann? Wo kommt er her? Warum wirkt er so niedergeschlagen?

Interpretationsansätze und -möglichkeiten gibt es sicherlich genug. Kein anderer hat für mich jedoch bisher eine passendere Hintergrundgeschichte geliefert als Richard Yates, der in seinem dritten Roman „Ruhestörung“, welcher im Jahr 1975 veröffentlicht worden ist, die Geschichte vom Absturz John Wilders erzählt. Und der erinnerte mich mehr als nur einmal, an den Mann auf dem bekannten Bild.

Wir schreiben den September des Jahres 1960. Wilder ist ein unauffälliger, durchschnittlicher New Yorker aus der Mittelschicht, mäßig talentiert, und doch beruflich recht erfolgreich im Verkauf von Anzeigen. Zuhause wartet eine auf ihn liebende Frau täglich auf seine Rückkehr aus dem Büro. Und am Wochenende entfliehen sie zumeist, gemeinsam mit ihrem zehnjährigen Sohn, dem Trubel des Big Apple und fahren aufs Land. Kurzum: Alles scheint gut und Wilder (der regelmäßig dem Alkohol frönt und sich auch immer mal wieder in einer heimlich gemieteten Wohnung mit anderen Frauen vergnügt) ein zufriedenes Leben zu führen. Doch die Idylle trügt … und etwas droht, die Ruhe zu stören.

Statt nach seiner Rückkehr von einem Arbeitstermin in Chicago wieder direkt die Wärme des Eigenheims anzusteuern, ruft er diesmal aus einer Telefonzelle seine Frau Janice an, um ihr mitzuteilen, dass er nicht nach Hause kommen kann. Ihre Frage nach dem Warum beantwortet er kurz und knapp: „Willst du es wirklich wissen, Schatz? Weil ich Angst habe, dass ich euch umbringen werde, deswegen. Euch beide.“ Einige Stunden später findet ihn sein Freund Paul Borg in einer Hotelbar. Wilder hat mehrere Whiskey zu viel Blut, ist mit dem Nerven am Ende und wirkt unberechenbar. Schließlich wird er, nicht ohne vorher noch dessen Frau aufs Übelste zu beleidigen, von Paul direkt ins Bellevue Hospital verfrachtet. Da es jedoch das Wochenende des Labor Day ist, wo ganz Amerika, einschließlich der Ärzteschaft, feiert und frei hat, überstellt man ihn zügig und ohne längere Erklärungen in die Psychiatrie. Hier, in der geschlossenen Station für gewalttätige Männer, zwischen Patienten in Zwangsjacken, Verbrechern, Verrückten und einem hünenhaften Schwarzen ausgeliefert, der mit freudiger Willkür seine Spritzen setzt – hier beginnt der tiefe und bodenlose Fall Wilders …

Richard Yates „Ruhestörung“ wird heute als eines seiner weniger guten Werke bezeichnet, wobei auch dabei die meisten Kritiker einen großen Bogen um das Wort „schlecht“ machen, schrieb der amerikanische Autor doch in solch literarischen Höhen, dass ein solches Adjektiv schlichtweg fehl am Platz wirken würde. Dennoch bin ich insofern geneigt zuzustimmen, dass es wohl Werke wie eben dieser dritte Roman waren, die Yates‘ dauerhaften Ruhm und Erfolg verwehrten. Seine sich durch alle Werke ziehende überaus pessimistische Ansicht vom Leben sowie die fortwährende Entmystifizierung des „American Dream“ stehen im krassen Gegensatz zum zuversichtlichen, gutgläubigen US-Amerikaner, dem ein Blick auf das flatternde Stars-and-Stripes-Banner zu reichen scheint, um voller Hoffnung in die Zukunft zu blicken. Diese Illusion vom lohnenden Happyend, dem letztendlichen Erreichen aller Träume – sie zerschlägt Yates mit einer Beiläufigkeit, welche zwar großen Anklang im Umfeld der Autorenkollegen fand, ihm aber den Beifall des Publikums versagte. Sein ernüchternder Realismus zieht sich wie ein Leitmotiv durch alle seine sieben Romane und Kurzgeschichten, und ist immer auch ein Abbild von Yates‘ eigener Biographie, was in „Ruhestörung“ wieder besonders stark zutage tritt.

Wie Wilder war Richard Yates ein starker Alkoholiker, der, trotz vieler Entziehungsversuche, sein Leben lang in exzessiven Mengen trank und dieses schließlich dadurch sogar beendete, als er 1992 an seinem eigenen Erbrochenen erstickte. Und wie Wilder war Yates in psychiatrischer Behandlung und Patient des Bellevue Hospitals. All das, was den amerikanischen Autor (auch aus seiner eigenen Sicht) scheitern ließ, lässt er hier seinem Protagonisten widerfahren, der ebenfalls glaubt, etwas Großes, Einmaliges erreichen zu können, Filmproduzent zu werden, Hollywood im Sturm zu erobern – und der letztlich mit jedem versuchten Ausbruch aus der Routine des ihm inzwischen so verhassten Familienlebens die Schlinge nur enger zieht, den Treibsand nur noch mehr dazu einlädt, ihn fester zu packen. Schon mit dem ersten Auftritt Wilders ist dem Leser klar, dass der Fahrstuhl in dem er steckt, allein in eine Richtung fahren kann – nach unten. Immer wieder ist es seine Trunksucht, die zuvor aufgewandte Mühen zermalmt, um ihn sich sogleich wieder in Hoffnungen verrennen zu lassen, die nichts als Luftschlösser sind. Wilders Geschichte liest sich somit als Chronik des Scheiterns, wobei Yates gänzlich darauf verzichtet diese mit Pathos und literarischem Zuckerguss zu versüßen.

Stattdessen erwartet uns in „Ruhestörung“ eine trockene, lakonische und distanzierte Sachlichkeit. Nachtschwarz, hoffnungslos, desillusionierend, und doch nicht ohne ein gewisses Gespür für Situationskomik und Witz, welches den Leser die Aneinanderreihung von Enttäuschungen mit einem lachenden und einem weinenden Auge verfolgen lässt. Nicht selten musste ich für kurze Zeit lauthals auflachen, um schon einen Absatz später ernüchtert zu schlucken, weil Yates den Schutzpanzer des Betrachters beharrlich malträtiert. Gerade seine Fähigkeit das Scheitern im kleinen Rahmen darzustellen, die Fehler im Alltag, die Unfähigkeit zur Umkehr in einfachsten Situationen zu betonen, macht seine Bücher so wirkungsvoll – und damit, trotz des düsteren Grundtenors, so lesenswert.

Ruhestörung“ liest sich wie eine rohe Abrechnung, wie ein verbitterter, aber auch zielgerichteter Rundumschlag eines Zeit seines Lebens Verkannten, der uns durch John Wilder gleichzeitig einen Blick in das eigene Befinden erlaubt. Er tut dies nicht als typischer allwissender Erzählender, sondern bodenständig und behutsam. Wir dürfen nur sehen, was Wilder sieht, fühlen, was er selbst fühlt. Wenn dieser einmal mehr vom Ärztepersonal zu Boden gerungen und narkotisiert wird, geht für uns das Licht gleichermaßen aus. Bis dieser wiederum erwacht und mit den Worten „Entschuldigen Sie. Können Sie mir sagen, wo ich bin?“ den Gang in den Abgrund auf ein Neues antritt. Einmal, zweimal, dreimal. Ein stilistischer Kunstgriff, der Wilders Höllenritt nicht nur glaubwürdiger macht, sondern seine geschädigte Psyche auch wesentlich intensiver wirken lässt.

Mit „Ruhestörung“ hat Richard Yates sein vielleicht düsterstes und eindringlichstes Werk abgeliefert. Eine „Tour de Force“ in den Untergang, die uns am Ende mit bitterem Geschmack in eine Wirklichkeit entlässt, welche der Wilders – in vielen Facetten – immer noch ähnelt. Ganz, ganz große, zierlose und geradlinige Literatur – höllisch gut erzählt.

Wertung: 93 von 100 Treffern

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  • Autor: Richard Yates
  • Titel: Ruhestörung
  • Originaltitel: Disturbing the Peace
  • Übersetzer: Anette Grube
  • Verlag: btb
  • Erschienen: 04.2012
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 315 Seiten
  • ISBN: 978-3442744268

+++ Der Vorschau-Ticker – Winter 2017/Frühjahr 2018 – Teil 1 +++

Es gibt ehrlich gesagt nicht viel, was ich diesem scheußlichen Aprilwetter da draußen momentan abgewinnen kann. Vor allem da ich in meiner Urlaubswoche eigentlich geplant hatte im Garten tätig zu werden. Aber es gibt ja bekanntlich zwei Seiten der Medaille – was in diesem Fall heißt: Nutze ich halt die Zeit für eine gute Lektüre. Und was ist noch besser als ein Buch? Richtig. Ein ganzes Regal davon, das man kontinuierlich weiter befüllen kann. Wie passend, dass inzwischen schon nach und nach die Verlage damit rausrücken, für welche Titel wir unserer Sucht in naher Zukunft wieder nachgeben dürfen. Den Anfang macht dabei – wie so oft – die Verlagsgruppe Random House, weshalb auch mein erster Vorschau-Ticker für das Halbjahr ab September auf diese einen näheren Blick wirft. Hier also ohne viel weiteres Gefasel die ersten vier Bücher, die es in meine äußerst enge (okay, hoffentlich enge ;-) ) Auswahl geschafft haben. Kleiner Hinweis: Wie immer werden die belletristischen Titel nochmal separat beleuchtet.

Mit „Korrupt“ geht Mike Nicols Reihe um die Agentin Vicky Kahn in die zweite Runde (Bad Cop war bereits im Februar 2015 erschienen) – und ich habe ehrlicherweise nicht mal den Auftakt gelesen. Warum der Titel trotzdem auf dem Wunschzettel landet? Nun, zum einen weil ich die „Rache“-Trilogie von Nicol noch in äußerst guter Erinnerung habe. Und zum anderen weil sich Südafrika in den letzten Jahren fast zu so etwas wie meinem Lieblingsschauplatz für Kriminalromane gemausert hat, was exzellenten Autoren wie eben Nicol, aber auch Malla Nunn, Deon Meyer, Andrew Brown oder Roger Smith zu verdanken ist. Ob Vicky Kahn das Potenzial hat mich über „Bad Cop“ hinweg zu begeistern – abwarten. Die Inhaltsbeschreibung des Nachfolgers macht aber zu neugierig, um diesen außer acht zu lassen.

Der nächste Titel ist einer aus der „Jawoll-endlich“-Kategorie, denn John Hart gehört für mich zu den besten Autoren dieses Genres, was nicht nur die zwei Edgar-Award-Auszeichnungen untermauern, sondern auch die von mir gelesenen Bücher eindrücklich und nachhaltig bewiesen haben. Und selbst wenn dem nicht so wäre: „Redemption Road – Straße der Gewalt“ fällt von der Inhaltsbeschreibung her einfach voll in mein Beuteschema. Schön, dass Hart nach fünf Jahren Schaffenspause nun endlich wieder für Nachschub sorgt. Ein ganz, ganz dicker Muss-Kauf!

Noch weitaus länger warte ich nun schon auf eine Übersetzung von „Lay Down My Sword And Shield“ aus der Feder des großen James Lee Burke. Noch im August diesen Jahres erhört mich Heyne Hardcore endlich und bringt die deutsche Übersetzung „Zeit der Ernte„. Auch wenn Hackberry Holland für mich persönlich immer im Schatten von Dave Robicheaux stehen wird – auf seinen ersten, richtigen Auftritt freue ich mich sehr. Und selbst für den Fall, dass ich damit der Professionalität gänzlich den Rücken kehre: Die Cover von Heyne Hardcore muss ich einfach mal loben – sehen richtig stark aus und passen perfekt zum jeweiligen Inhalt. Das gilt übrigens auch für die TB-Neuauflage von „Mississippi Jam„, welche ebenfalls dieses Jahr, allerdings im Dezember, erscheinen wird. Da das Auge manchmal mitliest und Burke bei mir ne Sonderstellung hat, packe ich mir den Titel wohl dann sogar mal doppelt ins Regal.

Alte Freunde“ macht von der Aufmachung weniger her, was mir allerdings auch vollkommen wurscht ist, so lange die Story zwischen den Buchdeckeln liefert. Und das hat John Niven bei den von mir gelesenen Bücher bis dato noch jedes Mal getan. Auch hier werde ich wohl tief in die ausgefranste Tasche greifen und zuschlagen.

Und was lässt euch den Geldbeutel zücken?

  • Mike Nicol – Korrupt (Taschenbuch, Januar 2018 – btb Verlag – 978-3442715923)
  • Inhalt: Bring Linda Nchaba nach Südafrika zurück! So lautet der Auftrag an Agentin Vicky Kahn, die sich um die Sicherheit des Staates kümmern soll. Dass Linda nicht nur Expertin in Sachen Kindesentführung, sondern auch ein Topmodel mit besten Verbindungen zum Sohn des südafrikanischen Präsidenten ist, macht die Sache nicht einfacher. Auch, als Vicky beobachten muss, wie Linda am Amsterdamer Flughafen außer Gefecht gesetzt wird. Und sie ihre wichtigste Kontaktperson in Berlin tot auf dem Küchenfußboden findet. Kopfschuss. Vickys Instinkt sagt ihr: Such das Weite! Aber leider ist auch ihr eigener Geliebter in den Fall verwoben …
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© btb

  • John Hart – Redemption Road – Straße der Vergeltung (Hardcover, September 2017 – C. Bertelsmann Verlag – 978-3570103104)
  • Inhalt: Ein Junge wartet mit einer Waffe auf den Mann, der seine Mutter getötet hat. Eine Polizistin, die in Schwierigkeiten steckt, wird nach einer brutalen Schießerei mit ihrer Vergangenheit konfrontiert. Nach dreizehn Jahren im Gefängnis wird ein Polizist in die Freiheit entlassen – doch für wie lange?
    John Hart beschreibt eine Stadt am Abgrund. Ihre Einwohner scheinen alle auf der Straße der Verdammnis unterwegs zu sein.
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© C. Bertelsmann

  • James Lee Burke – Zeit der Ernte (Paperback, Klappbroschur, August 2017 – Heyne Hardcore – 978-3453271012)
  • Inhalt: Eine texanische Kleinstadt an der Grenze zu Mexiko. Als Hackberry Holland im Jahr 1967 aus dem Koreakrieg zurückkehrt, wird er von vielen Seiten zu einer politischen Karriere gedrängt. Doch der Anwalt setzt sich stattdessen für einen mexikanischstämmigen Landarbeiter ein, der kurz vor seiner Freilassung im Gefängnis ermordet wird. Bald kommt es zu handfesten Auseinandersetzungen mit der Polizei und gewaltbereiten Rednecks.
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© Heyne Hardcore

  • John Niven – Alte Freunde (Hardcover, November 2017 – Heyne Hardcore – 978-3453269446)
  • Inhalt: Zwei alte Schulfreunde. Craig war früher der charismatische Anführer, zu dem alle aufschauten und der zum Rockstar avancierte. Alan stand stets im Abseits, war Mitläufer. Dreißig Jahre später haben sich die Vorzeichen radikal geändert. Alan ist erfolgreicher Gourmetkritiker und Bestsellerautor, während sich Craig als Obdachloser auf Londons Straßen rumtreibt. Das Schicksal führt die beiden wieder zusammen. Alan greift seinem alten Freund unter die Arme und versucht ihn wieder auf die richtige Bahn zu bringen. Und bald ist nichts mehr so wie es war.
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© Heyne Hardcore

 

+++ Der Vorschau-Ticker – Frühjahr/Herbst 2017 – Teil 4 +++

Stillstand ist bekanntlich Rückschritt und deswegen „Feuer frei!“ für den vierten Teil meines persönlichen Vorschau-Tickers, der sich mit der ersten Hälfte meiner heiß erwarteten Random-House-Titel befasst und gleich mehrere Titel beinhaltet, die es ganz sicher in mein Regal schaffen werden.

Auf Ian Rankins „Ein kalter Ort zum Sterben“ freue ich mich besonders. Der ein oder andere wird es schon zwischen den Zeilen gelesen oder auch von mir gewusst haben – der Edinburgher Autor ist neben James Lee Burke und dem großen Sir Arthur Conan Doyle mein unangefochtener Lieblingsautor im Spannungsbereich. Und die Serie über den kauzig-schroffen John Rebus liegt mir unheimlich am Herzen. Hoffe da bei jedem neuen Fall, dass es nicht der letzte ist. Eine Krimi-Welt ohne Rebus, Siobhan oder Big „Ger“ Cafferty möchte ich mir gar nicht vorstellen. Wer die Serie noch nicht kennt, dem sei als Quereinstieg „Das Souvenir des Mörders“ empfohlen, das Ende März neu aufgelegt wird. Der aktuelle Titel (Nr. 21 der Reihe) könnte zwar durchaus auf demselben Level unterhalten – es ist meines Erachtens hier aber immer schade, wenn man als Neuling die ganzen Querweise und Anspielungen auf die Geschehnisse früherer Bände überliest.

Im Bereich des „True Crime“ erscheint im April bei btb der verheißungsvolle Titel „Das Verbrechen„, welcher sich mit der Mordserie an einem Indianer-Stamm in den 20er Jahren beschäftigt – einer der ersten großen Fälle des FBI. Setting, zeitlicher Kontext sowie die Umstände der Morde. All das klingt durchweg interessant und lesenswert. Und seit Capotes „Kaltblütig“ habe ich an (guter) „True-Crime“-Literatur ohnehin einen Narren gefressen. Ein Buch, das ich mir definitiv holen werde.

Der Komplettist in mir wird wohl auch zu „Das Böse vergisst nicht“ greifen, dem Abschluss von Roberto Costantinis Trilogie, von der ich bisher nur Band eins (mit Wonne) gelesen habe. Fraglich aber, ob ich nicht – wie bei Band zwei, der zeitgleich mit dem HC des dritten Bands erscheint – auf das Taschenbuch warten werde. Das Libyen von 2011 ist jedenfalls mal ein Schauplatz, der mir im Krimi so nicht begegnet ist. Bin gespannt, was Constantini aus der Ausgangslage gemacht hat.

Luca D’Andreas „Der Tod so kalt“ wird in der Vorschau ja ausgiebig mit Lobeshymnen überschüttet, die, wenn man daran glaubt, das Buch als nächsten großen Ausnahme-Krimi preisen, an dem zudem gleich mehrere deutsche Verlage Interesse gehabt haben sollen. Für mich hat so ein Vorab-Gepreise immer ein gewisses Geschmäckle, wenngleich ich nicht verhehlen kann, dass mich der Klappentext durchaus anspricht. Klingt nach einer Lektüre im Stil von Thomas Willmanns „Das finstere Tal„. Und wenn es ähnlich gut wird, hat sich ein Kauf mit Sicherheit rentiert. Wird also nach jetzigem Stand den Weg in mein Regal finden.

Ob das für Bracken MacLeods „Im finsteren Eis“ gilt, ist eher unsicher. Der Titel fällt in die Kategorie der Bücher, die ich vielleicht mitnehme, wenn ich sie irgendwo ausliegen sehe, zumal das Rezept hier wohl 1:1 bei „Terror“ abgeguckt wurde. Zumindest klingt die Beschreibung doch arg ähnlich. Vielleicht greife ich jedoch auch erst zu „Mountain Home„, welches bereits vor einiger Zeit bei Festa erschienen ist und von (Ex-)Kollege Michael Drewniok auf der Krimi-Couch äußerst wohlwollend bewertet worden ist.

Irgendetwas für euch dabei?

  • Ian Rankin – Ein kalter Ort zum Sterben (Hardcover, März 2017 – Goldmann Verlag – 978-3442314614)
  • Inhalt: Bei einem romantischen Dinner im Caledonian Hotel erinnert sich Rebus an einen Mord, der fast vierzig Jahre zuvor dort stattgefunden hat: Eine junge lebenslustige Bankiersgattin wollte in dem Luxushotel einen Liebhaber empfangen – am nächsten Morgen wurde sie tot aufgefunden. Die Verdächtigen kamen aus den besten Kreisen, der Täter wurde nie gefasst. Ein Skandal, der Rebus nicht loslässt. Während er sich in den alten Akten vergräbt, gerät das kriminelle Machtgefüge in Edinburgh gefährlich ins Wanken: Darryl Christie, einer der Hauptakteure, wird überfallen und halb totgeschlagen; eine Ermittlung wegen Geldwäsche bringt ihn zusätzlich in Bedrängnis. Es sieht so aus, als würde Ex-Gangsterboss Big „Ger“ Cafferty im Hintergrund die Fäden ziehen. Eine Entwicklung, die Rebus gar nicht recht sein kann. Zumal die erste Leiche im tödlichen Revierkampf von Schottlands Unterwelt nicht lange auf sich warten lässt …
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(c) Goldmann

  • David Grann – Das Versprechen (Hardcover, April 2017 – btb Verlag – 978-3442757268)
  • Inhalt: In den 1920ern hatten nicht die Bewohner von New York oder Paris das höchste Pro-Kopf-Einkommen: die reichsten Menschen der Welt waren die Osage-Indianer im amerikanischen Bundesstaat Oklahoma. Das karge Land, das ihnen als Reservat zugewiesen worden war, barg gigantische Ölvorkommen, die ihnen ein Leben in ungeahntem Luxus ermöglichten. Doch der Reichtum brachte den Osage kein Glück: Eine mysteriöse Serie von Morden nahm ihren Anfang, der schließlich mehr als 300 Stammesmitglieder zum Opfer fallen sollten – sie wurden vergiftet, erschlagen oder erschossen. Die Osage-Morde wurden zum ersten großen Fall für das noch junge FBI. Doch Korruption und Geldgier hatten auch hier bereits Einzug gehalten. Erst einer Gruppe von Undercover-Agenten gelingt es schließlich, diese wohl finsterste und spektakulärste Mordserie in der Geschichte der USA aufzuklären.
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(c) btb

  • Roberto Costantini – Das Böse vergisst nicht (Hardcover, April 2017 – C. Bertelsmann – 978-3570102572)
  • Inhalt: Sommer 2011: Während in Libyen Bürgerkrieg herrscht, treffen sich in Rom auf einem Luxusschiff internationale Wirtschaftsbosse zu Geheimverhandlungen über den Mittleren Osten. Am nächsten Tag werden eine junge Hostess, die auf dem Schiff arbeitete, und ihre kleine Tochter ermordet aufgefunden. Commissario Balistreri, desillusionierter Chef der Mordkommission, trifft bei den Ermittlungen bald auf alte Bekannte aus seiner libyschen Kindheit, die er in den letzten Winkel seines Bewusstseins verdammt hatte. Durch die Ermittlungen wird er gezwungen, in das von Bomben zerstörte Libyen zurückzukehren und seinem früheren Ich und einer unerträglichen Wahrheiten ins Auge zu sehen …
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(c) C. Bertelsmann

  • Luca D’Andrea – Der Tod so kalt (Broschiertes Taschenbuch, März 2017 – DVA Verlag – 978-3421047595)
  • Inhalt: Südtirol, 1985. Tagelang wütet ein gewaltiges Gewitter über der Bletterbach-Schlucht. Drei junge Einheimische aus dem nahegelegenen Siebenhoch kehren von einer Wanderung nicht zurück – schließlich findet ein Suchtrupp ihre Leichen, aufs Brutalste entstellt. Den Täter vermutet man im Bekanntenkreis, doch das Dorf hüllt sich in eisiges Schweigen. Dreißig Jahre später beginnt ein Fremder unangenehme Fragen zu stellen. Jeder warnt ihn vor den Konsequenzen, allen voran sein Schwiegervater, der die Toten damals gefunden hat. Doch Jeremiah Salinger, der seiner Frau in ihr Heimatdorf gefolgt ist, lässt nicht locker – und wird schon bald seine Neugier bereuen. Ein Fluch scheint alle zu verfolgen, die sich mit den Morden beschäftigen. Ist dort unten am Bletterbach etwas Furchtbares wieder erwacht? Etwas, so uralt wie die Erde selbst …
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(c) DVA

  • Bracken MacLeod – Im finsteren Eis (Taschenbuch, September 2017 – Heyne Verlag – 978-3453438903)
  • Inhalt: Als sich die Crew des Versorgungsschiffes Arctic Promise plötzlich im Zentrum eines Orkans findet, ahnen die von Wind und Wetter gehärteten Männer nicht, dass dies erst der Beginn ihrer Irrfahrt ist. Vom rücksichtslosen Kapitän immer weiter in die schwarze, eisige See getrieben, läuft das Schiff in einer gigantischen Eisscholle auf. In Kälte und Dunkelheit eingeschlossen, bricht eine seltsame Krankheit unter den Männern aus. Doch sie sind nicht alleine. In der Ferne sind die Umrisse eines zweiten Schiffes zu sehen. Dunkel, bedrohlich … In ihrer Verzweiflung machen sich die Überlebenden auf, um nach Rettung zu suchen. Sie ahnen nicht, dass in dem Schiff bereits etwas haust … etwas Böses …
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(c) Heyne

 

Literarischer Hochgenuss in 11 Akten

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© btb

Mit „Elf Arten der Einsamkeit“ folgt nun das zweite Werk aus meiner kleinen Blog-internen Serie zur Wiederentdeckung des großen amerikanischen Autors Richard Yates, dessen Roman „Eine gute Schule“ ich gerade (und wieder einmal) äußerst begeistert beendet habe und in Zukunft hier ebenfalls besprechen werde.

Nach Easter Parade war die Kurzgeschichtensammlung „Elf Arten der Einsamkeit“ mein zweites Werk von Richard Yates – und spätestens seit diesem Buch kann ich verstehen, warum der bereits 1992 verstorbene Autor vielen amerikanischen Schriftstellern, darunter Richard Ford und Raymond Carver, ein literarischer Vater und prägendes Vorbild gewesen ist.

Seine Erzählungen und Romane handeln stets von der Tyrannei des amerikanischen Traums. Und dem Versprechen, dass jeder alles erreichen kann, wenn er nur will. Diesem Selbstverständnis misstraute Yates, auch aufgrund eigener Erfahrungen, zutiefst, weshalb seine Helden oft die mittelmäßig Begabten sind, welche sich bald in den Selbstbetrug oder noch einen Drink flüchten, weil in der Allgegenwart der angeblich unbegrenzten Möglichkeiten die eigene Begrenztheit besonders schwer zu ertragen ist. Und so erzählt er auch in „Elf Arten der Einsamkeit“ vom eintönigen Arbeitstag im Großbüro, von desillusionierten Lehrern und perspektivlosen Kriegsveteranen in folgenden Geschichten:

  • Doktor Schleckermaul
  • Alles alles Gute
  • Jody lässt die Würfel rollen
  • Überhaupt keine Schmerzen
  • Der Masochist
  • Der mit Haien kämpft
  • Spaß mit Fremden
  • Der BAR-Mann
  • Ein wirklich guter Jazzpianist
  • Weg mit dem Alten
  • Baumeister

Das Scheitern und die (nicht nur die körperliche) Einsamkeit waren Yates‘ Lieblingsthemen. Bei seinem Tod war er bereits zweimal geschieden und hatte kein enges Verhältnis zu seinen drei Töchtern. Alkoholexzesse gehörten immer wieder zu seinem Leben, und der durchschlagende Erfolg seiner Bücher blieb ihm zu Lebzeiten verwehrt. Insofern ist es kaum verwunderlich, wenn man viel von Yates selbst in seinen Figuren findet und warum diese nur auf Papier existierenden Personen uns menschlich uns so rühren. Nach und nach, und ohne große Sentimentalitäten oder übersteigerte Melancholie, greift hier die Einsamkeit nach dem Leser, nimmt von ihm Besitz. Unmerklich kommt der Stimmungsumschwung, fühlt man sich als Teil der Geschichten, die allesamt auf den Moment zusteuern, wo das Leben des Protagonisten einen Zusammenbruch erfährt, das Ende des Weges erreicht ist, an dem lediglich ein tiefer Abgrund gähnt. Illusionen und Träume von einer besseren Zukunft lösen sich in nichts aus. Das „Es-wird-schon-irgendwie-werden“-Mantra fällt der nüchternen Wahrheit zum Opfer. Wie Yates diese wichtigen Wendepunkte innerhalb seiner Erzählungen einfängt, die Einsamkeit im Feierrausch der 50er Jahre auch im 21. Jahrhundert lebendig erhält, ist beeindruckend, atemberaubend und lange nachwirkend.

Keine der elf Geschichten fällt qualitativ in irgendeiner Art und Weise ab. Im Gegenteil: Jede für sich ist lesenswert, nähert sich aus einem anderen Winkel demselben Thema an. So verfolgt man zum Beispiel in „Alles alles Gute“ ein Paar während des letzten Abends vor deren Hochzeit. Ein wichtiger, glücklicher Tag im Leben eines jeden Menschen, der jedoch hier zum Sinnbild der verfehlten Ziele beider wird, die sich eigentlich schon beim Gedanken an die kommende Ehe winden und lediglich die unerträgliche Endgültigkeit des Termins sehen. Und den Abschluss eines zuvor aufregenden gesellschaftliches Lebens, das sich nun wie alles andere andere unterzuordnen hat. In einer anderen Geschichte verfolgen wir die verzweifelten Versuche einer jungen Lehrerin den Außenseiter Vincent aus der Isolation zu holen und in die Klasse zu integrieren. Die Situation vollkommen verkennend treibt sie durch ihr Gutmenschentum und ihre Naivität den Jungen nur noch weiter ins Abseits, so dass sie schließlich genau das Gegenteil von dem bewirkt, was sie in ihrem Eifer zu erreichen bestrebt gewesen ist. Vincent, der, wie seine Mitschüler die Unausweichlichkeit seines Schicksals längst erkannt hat, wird schließlich zum folgenschweren Handeln gezwungen.

Mein persönliches Highlight innerhalb der Sammlung ist allerdings „Baumeister“. In dieser Geschichte begegnen wir einem jungen Möchtegern-Hemingway, welcher durch einen New Yorker Taxifahrer die Gelegenheit bekommt sich als Ghostwriter zu verdingen und von nun an mit erfundenen Berichten dessen Berühmtheit fördern soll. Die Sinnlosigkeit seines Tuns und die realitätsfernen Vorstellungen des Taxifahrers offenbaren sich ihm erst sehr spät. An diesem Punkt ist die Beziehung zu seiner jungen Frau nur noch ein Schatten ihrer selbst.

Was nun aber alles tieftraurig klingt ist nie ohne eine Prise Humor, verwehrt sich nie den fröhlichen Momenten des Lebens. Yates beherrscht die große Kunst, seine Helden auf Distanz zu halten, ihr Selbstmitleid und ihren Selbstbetrug genau zu beschreiben, ihnen aber gleichzeitig mit großer Zuneigung beim Scheitern zuzuschauen.

So sind die knapp 300 Seiten von „Elf Arten der Einsamkeit“ ein literarischer Hochgenuss, an deren Ende eine Erkenntnis steht: Es bleibt gleich, mit welchem Werk man die Lektüre von Yates beginnt. Sie lohnen wohl alle. Und es ist schon manchmal erschreckend, wie aktuell sie geblieben sind.

Wertung: 91 von 100 Trefferneinschuss2Autor: Richard Yates

  • Titel: Elf Arten der Einsamkeit
  • Originaltitel: Eleven Kinds of Loneliness – The Collected Stories of Richard Yates
  • Übersetzer: Hans Wolf, Anette Grube
  • Verlag: btb
  • Erschienen: 10.2007
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 288
  • ISBN: 978-3442737307

„Ich bin fast fünfzig Jahre alt, und ich habe noch nie im Leben irgend etwas verstanden.“

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Derzeit lese ich gerade Richard Yates „Eine gute Schule“, was als Anlass genommen sei, auch an dieser Stelle mal das Scheinwerferlicht auf diesen großen amerikanischen Autor zu richten, welcher zu Lebzeiten der Erfolg und letztlich damit auch ein höherer Bekanntheitsgrad verwehrt geblieben ist. Inzwischen hat sich das, auch hierzulande, etwas geändert, was vor allem dem DVA-Verlag zu verdanken ist, der das Werk nach und nach – und in sehr guter Übersetzung – veröffentlicht bzw. wiederveröffentlicht. Ein Glück für uns Leser und auch für mich selbst, gehört doch Yates zu meinen persönlichen Entdeckungen der letzten Jahre. Und das seit dem Kontakt mit dem Buch „Easter Parade“.

„Lange Zeit war er aus den Regalen der Buchhandlungen verschwunden, nachdem er 1992 von der Öffentlichkeit vergessen in Armut und Elend unerkannt von den Lesern verstarb: Richard Yates. Der amerikanische Schriftsteller, dessen Werke oftmals mit denen von J.D. Salinger und John Updike verglichen werden, hatte es zu Lebzeiten bei seinem Publikum schwer. Die Verkaufszahlen seiner Bücher, sieht man mal vom allseits gefeierten Roman „Zeiten des Aufruhrs“ ab, blieben unter den Erwartungen zurück, viele waren schon vor seinem Tod gar nicht mehr lieferbar. Möglicherweise auch deshalb, weil Yates den „amerikanischen Traum“ stets relativierte und in seinen Geschichten darauf hinwies, dass der Mensch in Wirklichkeit einsam und, trotz all der gesetzten Ziele, Orientierungslos ist. Eine Ansicht, welche ein Großteil der Amerikaner nicht teilen wollte, weshalb es einen lobenden Aufsatz von Stewart O’Nan in der Boston Review bedurfte, um Yates wieder salonfähig zu machen und wieder zu entdecken.

In Deutschland schloss sich dem der btb-Verlag an, der seit einigen Jahren nach und nach die Werke des 1926 geborenen Yates neu veröffentlicht. „Easter Parade“, sein vierter Roman (lässt man die Kurzgeschichtensammlung „Elf Arten der Einsamkeit“ außen vor), wurde bereits 1972 geschrieben und erschien erstmals 1976. Der Titel bezieht sich auf die berühmte New Yorker Osterparade, bei der man auf der Fifth-Avenue flaniert, sich herausputzt und dabei so anzieht, wie man gerne wäre. Und dies ist genau die Kernproblematik des Buches: Der Konflikt zwischen Schein und Sein, die Tatsache, dass hinter der Fassade die Wirklichkeit meist völlig anders aussieht. Es wundert dabei nicht, dass Yates Werk einen starken autobiographischen Hintergrund in sich trägt und unter anderem dessen eigene Familiengeschichte widerspiegelt. Auch die Figur des Dichters Jack Flanders orientiert sich eng an Yates und könnte durchaus als Selbstporträt verstanden werden.

Easter Parade“ erzählt die Geschichte der zwei ungleichen Schwestern Sarah und Emily Grimes, welche den frühen 30er Jahren als Kinder geschiedener Eltern bei ihrer ziemlich exzentrischen Mutter Esther, genannt Pookie, im Großraum New York aufwachsen. Diese liebt ihre Kinder heiß und innig, ist aber in ihrem Erziehungsauftrag überfordert. Eine Künstlerin in Sachen Selbsttäuschung, zieht sie mit Sarah und Emily von Stadt zu Stadt, stets auf der Flucht vor Geldmangel, sowie beruflichen und privaten Rückschlägen. Nach außen hin die energische Vorzeigefrau mit Selbstverwirklichungsdrang und Sehnsucht nach dem „Flair des Lebens“ wird mit den Jahren die Kluft zwischen gespieltem Glück und realem Unglück bei ihr immer auffälliger. Esther flüchtet in die Arme des Alkohols, während ihre Töchter schon früh die Flucht nach vorne suchen, um der Vergangenheit zu entfliehen.

Sarah, die älteste Tochter, wandelt sich innerhalb kürzester Zeit von einem schönen Mädchen zur glücklichen Ehefrau. Sie wird früh Mütter, bekommt drei Söhne. Doch hinter diesem Leben, das wenig Glamour besitzt, nach außen hin aber von den Freuden der Hausfrauen-Existenz kündet, zeigen sich die ersten Risse, wird langsam die andere Wahrheit sichtbar. Ihr Mann ist Choleriker und schlägt sie regelmäßig, sie selbst beginnt ihren Frust, wie einst ihre Mutter, im Suff zu ertränken. Die eigentliche Hauptperson, aus deren Perspektive Yates „Easter Parade“ erzählen lässt, ist aber die jüngere Schwester Emily. Klug und lernwillig gewinnt sie in jungen Jahren ein Stipendium, wird Journalistin und Werbetexterin. Sie führt ein emanzipiertes intellektuelles Junggesellinnen-Leben im aufregenden New York. Ständig wechselnde Affären, Partys mit vielen Zigaretten und Drinks, Urlaube in Europa. Das Leben im Glemma lässt Emily auf den Rest ihrer Familie herabschauen bis auch bei ihr der Abstieg beginnt. Als sie ihren Job verliert, wird ihr plötzlich die eigene Einsamkeit bewusst. Kein Mann, keine Familie. Ihre Affären haben nichts hinterlassen außer lose Enden und der soziale Abstieg beginnt. Missgünstig beneidet sie das kleine Glück anderer während ein Blick in den Spiegel schließlich auch ihr „das Gesicht einer Frau in mittleren Jahren in seiner schrecklichen und hoffnungslosen Bedürftigkeit“ zeigt …

Eine Parade ist das Buch in musikalischem Sinne nicht, sondern ein schwermütiger Blues, der sich, wie ein stetiges Gefühl der Traurigkeit, über die ganze Länge dieses Romans zieht und den langsamen Niedergang einer Familie atmosphärisch untermalt. Das Buch gleicht dabei einer Fahrt mit der Titanic, da man weiß, dass ein guter Ausgang unmöglich ist, sich die Tragik hinter dieser Fassade irgendwann unweigerlich entladen muss. Yates Botschaft, dass das Leben ein Schweres ist, trifft den Leser, da sich nicht wirklich viel verändert hat. Auch haben die Menschen oftmals am meisten Angst vor dem Gesichtsverlust, lassen sie sich auf Lebensbedingungen ein, die ihnen widerstreben. Der Kampf gegen die nie akzeptierte Mittelmäßigkeit bietet zwar stets die Aussicht auf Erfolg, hält aber eben auch genauso viele Fallstricke bereit. In gewisser Weise zerstört Yates damit diesen amerikanischen Mythos, dass in den USA jeder Tellerwäscher Millionär werde kann, denn die Ausgangslage zählt. Und die ist für die Grimes-Schwestern von Beginn an denkbar schlecht.

Gleich im ersten Satz, wo von der Scheidung der Eltern die Rede ist, findet sich die Ursprungskatastrophe, über die Ehefrau und Töchter ihr Leben lang nie richtig hinwegkommen werden. Jeder Versuch, Liebe zu finden, scheitert. Fast schon systematisch wird jeder Schritt dem Untergang entgegengesetzt, während sich die Figuren nicht zu wehren vermögen, ihr Schicksal nicht gestalten können. Umso lobenswerter Yates Leistung, dies in einer Art und Weise darzustellen, welche den Figuren ihre Würde lässt. Niemand wird lächerlich gemacht oder gar denunziert. Yates zeigt Menschen in einem Bestreben, die letztlich scheitern. Nicht mehr, nicht weniger.

In kurzer, scharfer, kraftvoller, aber dafür umso prägnanterer Prosa ohne Schnörkel berichtet der Autor emotionslos über die zwei Schwestern, dessen Leben er in Szenen skizziert, welche äußerst präzise das Wesentliche erfassen, entlarven und den Leser somit am wunden Punkt treffen. Dabei schreibt er in Sätzen, die stets etwas im Raum stehen lassen oder nur andeuten. Die Interpretationen aber überlässt er dem Beobachter, der verstört zurückbleibt und sich eines gewissen Mitgefühls in all der Tragik einfach nicht erwehren kann. Das Buch endet schließlich plötzlich und scheinbar mittendrin. So schwarz und düster es ist, zeigt es doch auch die Möglichkeit des Glücks, denn während die zwei Schwestern und ihre Mutter am Leben gescheitert sind, hat der Sohn Sarahs den Absprung geschafft, der besonders Emily verwehrt geblieben ist. „Ich bin fast fünfzig Jahre alt, und ich habe noch nie im Leben irgend etwas verstanden.

Insgesamt ist „Easter Parade“ ein entdeckenswertes, literarisches Kleinod über das Scheitern von Glücksbestrebungen und den nicht erfüllten amerikanischen Traum, das nüchtern, ohne großes Pathos, aber dadurch umso eindringlicher vom großartigen Erzähler Yates auf Papier gebracht worden ist. Ein Buch das so leicht zu lesen ist wie es geschrieben zu sein scheint, nebenbei unheimlich berührt und trotz allem nie deprimierend daherkommt, da der Autor stets ein Gespür für die Komik hinter der Tragik hat. Mit Sicherheit nicht mein letzter Roman von Richard Yates!“

Wertung: 85 von 100 Trefferneinschuss2Autor: Richard Yates

  • Titel: Easter Parade
  • Originaltitel: The Easter Parade
  • Übersetzer: Anette Grube
  • Verlag: btb
  • Erschienen: 12.2008
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 304
  • ISBN: 978-3442738748

Eine Reise ins Nichts

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Romane, die ihr Potenzial nicht ausschöpfen oder gar ganz brach liegen lassen – es gibt derer viele. Aufgrund der derzeitigen Witterung fiel mein Blick in den letzten Tagen wieder auf John Burnsides „Die Spur des Teufels“, welches inzwischen aus dem Regal aussortiert, den doch verhältnismäßig kleinen Stapel der Bücher ziert, die ich weiterverschenken werde. Und dabei hatte ich vor der Lektüre große Erwartungen, war doch Burnside ausreichend mit Lobeshymnen bedachtet worden und kommt zudem noch aus dem Land, dessen Literatur ich in besonderen Maße hoch schätze.

„Es hat lange gedauert, bis sich endlich ein deutscher Verlag dazu durchringen konnte, die Bücher des im Jahre 1955 geborenen schottischen Autoren John Burnside, der in seiner Heimat bereits länger als bedeutender Lyriker und Erzähler gilt, zu übersetzen und zu veröffentlichen. Liest man die vielen hochpreisenden Rezensionen zu seinem Buch „Die Spur des Teufels“, so erweckt es den Eindruck, als hätte das deutsche Lesepublikum dessen Werke bereits sehnsüchtig erwartet. Von einem „betörendem Leseerlebnis“ und einem „beglückend verstörendem Buch“ ist da die Rede, das die Welten von John Banville und Stephen King vermischt, und damit eine Brücke zwischen dem Gesellschafts- und dem mystischen Spannungsroman schlägt. Dass es zudem noch an der Ostküste Schottlands spielt und von einer Buchhändlerkollegin ausdrücklich empfohlen wurde, gab schließlich den Ausschlag zum Kauf dieses Buches, den ich letztendlich dann zwar nicht vollends bereut habe, aber mir genauso gut hätte verkneifen können. All den Lobeshymnen zum Trotz hat mich „Die Spur des Teufels“ nämlich merkwürdig kalt gelassen, wenngleich die Handlung, zumindest anfangs, äußerst geschickt mein Interesse zu wecken verstand. Diese sei hier schnell angerissen:

Außerhalb von Coldhaven, einem wenig spektakulären Städtchen an der schottischen Küste, lebt Michael Gardiner mit seiner Frau Amanda ein wenig spektakuläres Leben. Tief unter der Oberfläche seiner beinahe beschaulich anmutenden Existenz liegt zwar ein dunkles Geheimnis. Aber das hat er beinahe selbst schon vergessen. Er hat sich dort am Rande der Welt eingerichtet, wo schon seine Eltern Zuflucht gesucht hatten vor der kaltherzig-bornierten Feindseligkeit der Leute von Coldhaven. Nicht nur unter dieser hatte auch er zu leiden gehabt. Doch das alles liegt für ihn weit zurück. Bis eines Morgens der Schleier des Vergessens, der sich milde über Gardiners Vergangenheit gelegt hat, durch eine Zeitungsmeldung jäh zerrissen wird: Moira Birnie, eine hitzige Affäre aus einer ihm sehr fernen Zeit, hat sich umgebracht und auch ihre beiden Söhne mit in den Tod genommen.

Mit einem Mal ist alles wieder da. Nicht nur die Erinnerung an Moira, auch das dunkle Geheimnis, das Gardiner tief in seinem Inneren vergraben hat, drängt mit Macht in sein Bewusstsein. Und dann ist da noch Moiras größere Tochter Hazel, von der er zu glauben beginnt, er sei ihr Vater. Mit ihr im Schlepptau macht er sich auf eine ziellose und beängstigend bizarre Reise…

Das es oftmals die ersten Zeilen sind, welche den Leser für ein Buch gewinnen, scheint Burnside nicht nur gewusst, sondern bewusst kalkuliert zu haben. Anders lässt sich zumindest der schaurige, kunstvoll-düstere Beginn nicht erklären, der im weiteren Verlauf keinerlei größere Bedeutung mehr auf die Handlung ausüben wird. „Die Spur des Teufels“ ist nämlich keinesfalls eine Gruselgeschichte vor der rauen, schottischen Küste im Stile Algernon Blackwoods. Und auch wenn sich Parallelen mit den nicht minder verschlafenen Nestern in Stephen Kings Werken andeuten, ist das Buch weit von der phantastischen Literatur entfernt. Am nächsten kommt Burnside noch John Banville, wobei ersterer in diesem Fall von dem mystischen Gesang auf Meer, Gezeiten und Wetter ebenfalls absieht. Fakt ist: Für die uns hier erzählte Geschichte, hätte es der Sage von dem dem Meer entstiegenen Teufel nicht bedurft. Sie, so vermute ich, dient ausschließlich der vorrangigen Erweckung des Leseinteresses, gerät aber mit der zunehmenden Konzentration auf die Lebensgeschichte des Ich-Erzählers, Michael Gardiner, in den Hintergrund. Und dessen Leben ist eng verknüpft mit den Vorgängen in Coldhaven, diesem verschlafenen Nest, in das Michaels Eltern vor langer Zeit gezogen sind, um dem Stadtleben, aber auch der unheilvollen Vergangenheit zu entfliehen und um an der sturmumtosten Küste neue Inspiration zu finden. Was sie schließlich fanden, war jedoch etwas ganz anderes.

Burnside präsentiert Coldhaven als eine in sich geschlossene Gesellschaft, in der Außenseiter argwöhnisch betrachtet und nicht selten mit allen Mitteln schikaniert werden. Die Wahrung des Status Quo ist die Aufgabe dieses verschrobenen, provinziellen Pöbels. Neu hinzugezogene werden dabei als Gefahr für den Frieden und die Sicherheit der Allgemeinheit angesehen. Das müssen ziemlich früh auch Michaels Eltern erfahren, die nach offenen Drohungen die Stadt verlassen, um schließlich ein etwas fernab stehendes Haus an einer Landzunge zu bewohnen. In der Familie wird das Problem mit den Nachbarn tot geschwiegen. Michael, ausgegrenzt und ohne Freunde, wird nun beim täglichen Gang zur Schule zur beliebten Zielscheibe des nicht zu stillenden Zorns. Er ist als Schüler verpönt und wird von Malcolm Kennedy bei jeder sich bietenden Gelegenheit drangsaliert. Früh lernt Michael die Angst und die Oberflächlichkeit der Bewohner kennen und zu hassen. Seine einzige Verbündete findet er in der alten Blumenliebhaberin Mrs. Collings, welche ihm nicht nur Schutz bietet, sondern auch Anleitungen zum Leben gibt. Michael, der vor seinen Eltern niemals die Schranke des Schweigens durchbricht, nimmt ihre Hilfe dankbar und sich des Problems Malcolm an. Eine Entscheidung, die letztlich schreckliche Folgen haben soll.

Hätte John Burnside den anfänglichen Aufbau der Geschichte beibehalten, „Die Spur des Teufels“ wäre wohl einer meiner Favoriten im Jahr 2010 geworden. Der schottische Autor überzeugt mit einer lyrischen Sprache und schönen, kraftvollen Bildern (Die Schatten der Vergangenheit werden hier nicht selten in der Farbsymbolik metaphorisch verwendet). Seine kargen und doch malerischen Naturbetrachtungen bilden gleichzeitig Kontrast und Ergänzung zu der herben Seite der Menschen. Diese bzw. deren Einzelschicksale und Verbindungen untereinander, bilden das Gerüst dieses Romans und ein im Unterton anklagendes Zeitgemälde. Burnside schildert eine Gesellschaft aus Angst, Missverstehen, Kleingeistigkeit und beschränkter Warnnehmung, welche ausgrenzt, um selbst nicht ausgegrenzt zu werden. Es sind diese poetischen, tiefgründigen Passagen der ersten Hälfte, welche nicht nur nachwirken, sondern gleichzeitig eine unheimliche Sogkraft entwickeln. Leider erfährt das Buch dann aber ab hier einen Bruch innerhalb der Geschichte.

Michaels Reise mit seiner vermeidlichen Tochter verbaut den bis hierhin stringenten roten Faden der Geschichte und bildet DAS große Manko des Romans. Nicht nur, dass die Gemeinsamkeiten zu Nabokovs „Lolita“ deutlich ersichtlich werden. Auch die rätselhafte Beziehung wird äußerst unbefriedigend und konstruiert ausgearbeitet und lässt eine nähere psychologische Betrachtung vermissen. Es bleibt eine Reise ins Nichts, die auf gleichem Wege wieder zurückführt und damit letztendlich den vorherigen Zustand wiederherstellt. Möglich, dass der Lyriker Burnside die Kapitel sich reimen lassen wollte. Mir jedenfalls kam es so vor, als musste hier dringend ein Ende gefunden werde. Ein Ende, das mich sehr unbefriedigt und stirnrunzelnd zurückgelassen hat.

Insgesamt ist „Die Spur des Teufels“ zweifelsohne ein sprachlich kunstvolles Werk, das Burnsides großes Können in vielen Passagen mehr als andeutet, bei all der atmosphärischen Melancholie aber mir viel zu viele Fragen offen gelassen und mich gleichzeitig zu wenig berührt hat. Vielleicht eine Empfehlung für Schottlandfreunde, die eine unaufgeregte Handlung und konstrastreiche Bilder in der Sprache lieben. „Ein literarischer Thriller“, wie auf dem Buchdeckel angekündigt, ist dieses Buch jedenfalls nicht.“

Wertung: 73 von 100 Trefferneinschuss2Autor: John Burnside

  • Titel: Die Spur des Teufels
  • Originaltitel: The Devil’s Footprints
  • Übersetzer: Bernhard Robben
  • Verlag: btb
  • Erschienen: 05.2009
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 272
  • ISBN: 978-3442739974