Von Kunst und vom Tod

© Piper

Es ist nun mehr als sechs Jahre her, seitdem ich mich in der kriminellen Gasse das letzte Mal mit Thomas Adcock beschäftigt habe – und mein Wunsch, er möge doch bitte hierzulande endlich wieder (auch als Print-Ausgabe) neu und in angemessener Ausstattung aufgelegt werden, ist bis heute unerfüllt geblieben. In der Hoffnung, dass nicht noch einmal so viel Zeit vergehen wird – und auch von einem gewissen ostwestfälischen Sturkopf geleitet – nutze ich daher an dieser Stelle mal wieder die Gelegenheit, um den New Yorker Autor zumindest etwas in das Scheinwerferlicht zu rücken, das er aufgrund seines Werks eigentlich verdient hat. Dieses hat, anders als das von so namhaften Kollegen wie James Lee Burke oder oder Michael Connelly, nie einen derart großen Eindruck auf dem deutschen Buchmarkt hinterlassen. Seltsamerweise, möchte man behaupten, den wirft man einen näheren Blick auf Adcocks Vita, so muss sich auch er hinter diesen namhaften Konkurrenz kaum verstecken.

Thomas Adcock wuchs zwar in seiner Geburtsstadt Detroit auf, verließ diese jedoch in jungen Jahren um als Polizeireporter und Journalist bis 1978 in Michigan und Minnesota erste Erfahrungen mit dem kreativen Schreiben zu sammeln, bevor es ihn schließlich nach New York zog. Hier arbeitete er einige Zeit in der Werbebranche, schrieb mehrere Hörspiele und Drehbücher für diverse Fernsehserien und veröffentlichte 1984 sein erstes Buch unter eigenem Namen. In „Precinct 19“ schildert er im Format eines Tatsachenberichts den Alltag der Polizei im gleichnamigen Revier in Manhattan. Ein Jahr später folgten schließlich die ersten Krimi-Kurzgeschichten für das „Ellery Queen’s Mystery Magazine“, wobei die Leser in „Christmas Cop“ (1986) erstmals Bekanntschaft mit dem New Yorker Cop Neil „Hock“ Hockaday machen. Der grimmige Ermittler gewinnt schnell die Herzen der Leser, die Geschichte selbst wird sogar für den Edgar Allan Poe Award nominiert, so dass bald weitere mit derselben Figur folgen. Vom Erfolg motiviert legt Adcock 1989 dann „Hell’s Kitchen“ (orig. „Sea of Green“) vor, den ersten Kriminalroman mit Hockaday, dessen irische Abstammung er im Verlauf seiner Serie größere Aufmerksamkeit zollen wird. So auch im vorliegenden zweiten Band der Reihe, „Feuer und Schwefel“, mit dem sich der Autor nicht nur gegenüber dem Vorgänger gesteigert, sondern auch die Auszeichnung mit dem Edgar Allan Poe Award für den besten Taschenbuchkrimi von 1992 wohlverdient hat.

Nach weiteren vier Hockaday-Romanen ist es im Krimi-Genre inzwischen ruhig um Thomas Adcock geworden, der jedoch über seine regelmäßigen, sehr lesenswerten (!) Beiträge im CulturMag den deutschen Lesern zumindest noch ein wenig erhalten blieben ist. Doch natürlich ist es gerade diese besagte New Yorker-Reihe, welche endlich wieder mehr Aufmerksamkeit verdient, zumal ihr Schöpfer zu den wenigen seiner Zunft gehört, die den Balanceakt zwischen dem klassischen Hardboiled und dem Thema des Serienmörders auf hohem literarischen Niveau begeistert. Und ein Serienmörder spielt tatsächlich auch in „Feuer und Schwefel“ eine gewichtige Rolle:

Frühling in New York, Anfang der 90er. Normalerweise eine Jahreszeit, in der sich selbst die Verbrecher eine Auszeit gönnen und das sonst so raue Hell’s Kitchen mit einem beinahe rustikalen Charme aufwartet, der selbst den ein oder anderen Touristen in die Gegend lockt. Für Neil „Hock“ Hockaday, den etwas abgehalfterten Detective von der SCUM-Patrol, ist es vor allem der beste Zeitpunkt, um endlich seinen langersehnten und wohlverdienten Urlaub zu nehmen. Gerade mal ein halbes Jahr ist es her, seit „Hock“ im Fall um den ermordeten Father Love ermittelt und dabei sein Leben aufs Spiel gesetzt hat und Ruhe daher dringend vonnöten. Doch erstens kommt es immer anders und zweitens als man denkt, denn ausgerechnet die Kunst soll seinen Plänen einen Strich durch die Rechnung machen. In diesem Fall verkörpert durch ein meisterhaftes, aber auch grauenerregendes Gemälde, welches die Fassade eines Gebäudes im alten New Yorker Stadtteil Coney Island ziert – und der Feder eines bekannten, aber auch berüchtigten heimischen Malers entstammt, den man auf den Straßen nur unter den Namen „Picasso“ kennt. Der Titel des Gemäldes: „Feuer und Schwefel“.

Ausgerechnet diesen „Picasso“, der in der Vergangenheit u.a. auch für die Gestaltung der Vergnügungsparks auf Coney Island verantwortlich zeichnete, inzwischen sich aber nur noch mit Gelegenheitsjobs und Betteln über Wasser hält, trifft „Hock“ eines Abends, scheinbar zufällig und in erregten Zustand an. Der ehemalige Künstler prahlt unverhohlen mit der Absicht, an denjenigen Rache zu nehmen, die für sein jetziges Leben verantwortlich sind. Notfalls auch mit Gewalt. Der Cop schenkt dem wirren Gefasel des offensichtlich Geistesgestörten keinerlei Beachtung und versucht den Vorfall schnell wieder zu vergessen. Bis er in seiner Lieblingskneipe auf ein Bild „Picassos“ stößt, das eine in grün gekleidete Frau porträtiert – und ausgerechnet diese einige Stunden später an derselben Stätte erschossen wird. Auf einmal häufen sich die Morde im Umfeld „Picassos“ und „Hock“ sieht sich gezwungen, selbst Ermittlungen anzustellen, um hinter das wahre Motiv der Taten zu kommen und dem blutigen Spiel ein Ende zu setzen …

Der versoffene, sture Cop. Die paragraphenreitenden Vorgesetzten. Das heruntergekommene, von Verbrechen und schrägen Typen durchsetzte Milieu. Ja, wenn man „Feuer und Schwefel“ nur einen kurzen, ungenauen Blick schenkt, so erwartet den Leser auch hier ein typischer Hardboiled-Vertreter nach Schema F, der sich vielleicht allenfalls durch den Schauplatz noch von seiner Konkurrenz unterscheidet und ansonsten gewohnte Kost bietet. Und es wäre dann am Ende genau dieser Oberflächlichkeit, mit dem er sich selbst einen Bärendienst erweisen würde, denn gerade in der Reihe vom Neil „Hock“ Hockaday steckt soviel zwischen den Zeilen, so viel Herz und Seele seitens des Autors, das man mit der obigen Einschätzung nicht weiter daneben liegen könnte. Adcocks Vergangenheit als Journalist, sie erweist sich bei der Konzeption dieser Reihe als echter Segen, schwitzen seine Krimis doch geradezu nur vor Atmosphäre und Authentizität, da hier eben kein Autor irgendwo im sonnigen Hawaii zum Stift gegriffen, sondern von der Welt direkt vor der Haustür berichtet hat. „Hocks“ Schrullen sind mitnichten irgendwelchen künstlerischen Einfällen ihres Erfinders geschuldet, sondern logische Begleiterscheinungen seines Umfelds und letztlich auch die Erkenntnisse aus Adcocks eigenen Beobachtungen als Polizeireporter.

Wie schon Michael Connelly, so gelingt es auch Thomas Adcock meisterhaft, diese Barriere zwischen Fiktion und Realität zu überwinden, persönliche Erfahrungen seiner Arbeit mit einfließen zu lassen, um den Leser nach und nach in das echte New York, das echte Hell’s Kitchen hineinzuziehen. In „Feuer und Schwefel“ präsentiert sich dies nicht mehr so sehr als kalter und ungemütlicher Ort wie im ersten Band – hier hat man beim Lesen unwillkürlich bibbernd den Rollkragen hochklappen wollen – sondern tatsächlich von seiner frühlingshaften Seite. Diese jahreszeitbedingte Hochstimmung schwappt sowohl auf uns als auch auf „Hock“ über, zumindest bis er immer tiefer in das abgründige Wirken des mysteriösen Maler hineingezogen wird. Und sich beharrlich weigert, sich ab sofort etwas anderem zu widmen. Wie ein Terrier beißt er sich an dem Fall und den Fersen der Verdächtigen fest, entwirrt mit scheinbar engelsgleicher Geduld nach und nach die Umstände und Hintergründe der Morde.

Adcock vermeidet es dabei, sich der üblichen Serienmörder-Elemente zu bedienen, so dass sich das Gesamtprodukt weit eher wie ein Police Procedural mit Hardboiled-Einschlag liest. Im Gegensatz zum Auftakt der Reihe fährt er zudem den Brutalitätsgrad etwas zurück, was vielleicht auch daran liegt, dass „Hock“ diesmal die wunderschöne Ruby zur Seite steht, welche nach seiner gescheiterten Ehe einen neuen Lichtblick im doch arg tristen Junggesellendasein darstellt. Dies scheint sich gleichzeitig auf seine Gewohnheiten auszuwirken, denn der einst einsame Wolf raucht und säuft nicht mehr annähernd soviel wie noch in „Hell’s Kitchen“. Ob dies jedoch so bleibt – der Ausgang des Romans macht dies mehr als fraglich. Bis zu diesem Ende liest sich auch der zweite Auftritt des New Yorker Cops wie aus einem Guss und – nicht unwichtig für dieses Genre – bleibt vor allem durchgehend spannend.

Im Dunstkreis von John Rebus, Harry Bosch und Dave Robicheaux dürfte auch Neil Hockaday in Deutschland sicher seine Leser finde – eine längst fällige Wiederveröffentlichung vorausgesetzt. Mit „Feuer und Schwefel“ kann sich Adcock nicht nur nochmal steigern, er bereitet auch den Boden für den dritten Band „Ertränkt alle Hunde“, der, über die Grenzen des Genres hinaus, zum Besten gehört, was über den andauernden Konflikt in Irland bis dato veröffentlicht worden ist. Doch dazu mehr an anderer Stelle.

Wertung: 91 von 100 Trefferneinschuss2

  • Autor: Thomas Adcock
  • Titel: Feuer und Schwefel
  • Originaltitel: Dark Maze
  • Übersetzer: Jürgen Bürger
  • Verlag: Piper
  • Erschienen: 01.1998
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 348
  • ISBN: Serien978-3492256759

Unterhalten wir uns über Angst …

© Lübbe

Maine, USA, in den späten 70er Jahren. Im Hause King herrscht Aufbruchstimmung. Nachdem er sich jahrelang mit diversen Nebenjobs nur notdürftig über Wasser halten konnte, bedeutet die Veröffentlichung von „Carrie“ für ihn den persönlichen Wendepunkt. Stephen King, der sich schon seit jeher immer in erster Linie als Schriftsteller verstanden hat, scheint nun endlich am Ziel seiner lang gehegten Träume angekommen.

Nicht nur, dass er finanziell von seinem Erstlingswerk profitiert (auch „Shining“ entwickelt sich, diesmal sogar gleich im Hardcover, als Riesenerfolg), es ermöglicht ihm im selben Zug, lang gehegte Ideen umsetzen, Manuskripte und Notizen weiter ausarbeiten zu können. Eine davon ist „The Stand – Das letzte Gefecht“, welches er später als sein persönliches Vietnam bezeichnen sollte, denn die Geschichte um einen todbringenden Virus schien auch den jungen Autor unheilbar zu infizieren, der sich stellenweise um Kopf und Kragen schrieb und schier kein Ende finden konnte. Eine Situation, welche sein Verlag Doubleday, der auf den Vertrag mit der Vorgabe eines Buchs pro Jahr pochte, zunehmend mit Sorgen betrachtete. King, der in naher Zukunft nicht mit der Fertigstellung seines Epos (bis heute ist es sein Roman mit den meisten Seiten) rechnete, schlug als „Entschädigung“ eine Sammlung seiner Kurzgeschichten vor. Einige davon waren bereits in der Vergangenheit in verschiedenen Magazinen (u.a. im „Penthouse“ und dem „Cavalier“) erschienen, andere hatte er gerade erst geschrieben. Ein Vorwort (das erste, von vielen die folgen sollten) sollte das Paket abrunden.

Der Vorschlag Kings stieß seitens des Verlags anfangs auf wenig Gegenliebe. Schon damals waren Kurzgeschichtensammlungen weit schwerer an den Mann zu bringen als Romane und so ganz schien mich man sich der Strahlkraft des Autors zudem noch nicht sicher. Am Ende willigte Doubleday doch ein, druckte eine kleine Auflage von ein bisschen mehr als 10.000 Exemplaren – und musste zügig nachsteuern, denn die Nachfrage war riesengroß. 1979 wurde die Sammlung in der Kategorie „Collection“ gar für den „World Fantasy Award“ nominiert. Das aus der Not geborene Experiment erwies sich letztlich als großer Erfolg – und King sollte dem Format der Kurzgeschichte auch in Zukunft (zum Glück für uns Leser) treu bleiben. Folgende Stories sind in „Nachtschicht“ enthalten:

  • Briefe aus Jerusalem

  • Spätschicht

  • Nächtliche Brandung

  • Ich bin das Tor

  • Der Wäschemangler

  • Das Schreckgespenst

  • Graue Materie

  • Schlachtfeld

  • Manchmal kommen sie wieder

  • Erdbeerfrühling

  • Der Mauervorsprung

  • Der Rasenmähermann

  • Quitters, Inc.

  • Ich weiß, was du brauchst

  • Kinder des Mais

  • Die letzte Sprosse

  • Der Mann, der Blumen liebte

  • Einen auf den Weg

  • Die Frau im Zimmer

In Angesicht des inzwischen so umfangreichen Werks von Stephen King wird sich jetzt vielleicht manch einer fragen, warum man sich unbedingt seine Kurzgeschichten aus den 70er Jahren zu Gemüte führen sollte. Eine Frage, die sich kurz und bündig beantworten lässt: Weil „Nachtschicht“ tatsächlich ein paar seiner besten Erzählungen beinhaltet, welche zudem noch vielfältigste Aspekte des Horros, aber auch anderer Genres bedienen. Den Anfang macht dabei „Briefe aus Jerusalem“, zu der ich an dieser Stelle nicht mehr viel schreiben möchte (meine Meinung lässt sich in der Rezension zur „Brennen muss Salem“-Ausgabe nachlesen). Dass es sich hierbei um eine Reminiszenz an die Werke Lovecrafts (und um eine Vorgeschichte von „Brennen muss Salem“) handelt, dürfte aber sowohl aufgrund des Schauplatzes und des zeitlichen Kontexts sowie der Erzählform (In Briefen wird von den Geschehnissen berichtet) klar erkennbar sein. Und auch das „De Vermis Mysteriis“, um das es in der Geschichte geht, wurde in der Vergangenheit bereits öfters von Lovecraft und anderen Autoren verwendet.

Einen starken, stilistischen Kontrast dazu stellt dann „Spätschicht“ dar, welche nicht nur zu den frühesten Werken Stephen Kings zählt, sondern sich fast als Archetyp des 70er Jahre Horrors präsentiert, wenn, ja wenn der Autor nicht auch unterschwellig die sozialen Missstände, insbesondere in Bezug auf die Arbeitsbedingungen, kritisieren würde. Die Aufräumarbeiten in einer alten Spinnerei müssen unter denkbar unwürdigsten Umständen stattfinden, was den autoritären Vorarbeiter aber nicht davon abhält, seine Untergebenen anzutreiben. „Spätschicht“ (1990 als „Nachtschicht“ mit u.a. Brad Dourif verfilmt) überzeugt vor allem durch seine unheimliche und klaustrophobische Atmosphäre, hinterlässt aber sonst keinen größeren Eindruck. Das gilt auch für „Nächtliche Brandung“, sozusagen ein Teaser zum kommenden „The Stand“, in der wir eine Gruppe von Jugendlichen zum Strand begleiten, wo einer ihrer Freunde als Menschenopfer verbrannt wird, um vermeintlich „Böse Geister“ zu besänftigen und deren Zorn von den Verbliebenen abzuwenden. Ein, wie wir wissen, nutzloses Unterfangen, denn gegen Captain Trips, das Supervirus A6, gibt es keine Heilung. So ist dann auch diese Geschichte wenig überraschend und bleibt entsprechend kurz im Gedächtnis.

Anders sieht das dann schon bei „Ich bin das Tor“ aus, in dem Stephen King Science-Fiction mit Horror verknüpft, wenn ein Astronaut, Rückkehrer einer Mission zur Venus, als Transportmittel für einen aggressiven Symbionten fungiert, der nach und nach die Kontrolle übernimmt. Eine gruselige, kompromisslose Geschichte, die etwaigen Hoffnungen bezüglich des Protagonisten ganz am Ende nochmal den Boden unter den Füßen wegzieht. Wer meint, damit schon den Höhepunkt in Punkto fehlendem Realismus gelesen zu haben, wird sich mit „Der Wäschemangler“ eines Besseren belehrt sehen, in der die titelgebende Maschine zum menschenfressenden Monster mutiert, dem sich nur zwei Menschen mutig mittels christlicher Teufelsaustreibung entgegenstellen. Wer in der Lage ist, sein Gehirn hier mal ein paar Minuten Ruhe zu gönnen, wird durchaus Spaß an dieser vollkommen absurden Geschichte haben, zu der Stephen King wohl seine eigene Vergangenheit (er arbeitete selbst eine Zeitlang als Bügler in einer Industriewäscherei in Bangor) maßgeblich inspiriert hat. Und für die King-Fans noch ein kleiner Hinweis bzw. eine weitere Verbindung: Auch „Carries“ Mutter und Barton Dawes („Sprengstoff“) haben in der Blue Ribbon Wäscherei ihre Finanzen aufgebessert.

Es folgen mit „Das Schreckgespenst“, „Graue Materie“ und „Schlachtfeld“ drei weitere äußerst kurzweilige und solide Geschichten, wobei erstere in gewisser Weise auch eine Blaupause für „Shining“ darstellen dürfte, dient doch auch hier der Vater als Parabolspiegel für das nicht greifbare Böse (in dessen Beschreibung fühlte ich mich an die Beschreibungen zu Beginn von „Cujo“ erinnert), wohingegen in „Graue Materie“ die Alkoholsucht zentrales Element der Erzählung ist und maßgeblichen Anteil an einer verhängnisvollen Verwandlung hat. Inwieweit Stephen King an dieser Stelle seine eigenen Dämonen beschrieben hat, kann nur erahnt werden. Es wird sicher eine Rolle gespielt haben. „Schlachtfeld“ kommt einmal mehr aus der Abteilung abstrus. Ein Profikiller sieht sich mit lebendig gewordenen und äußerst schießwütigen Spielzeugsoldaten konfrontiert. Erneut ein Beweis dafür, dass selbst eine völlig hanebüchene Ausgangssituation von einem King immer noch in ein spannendes und äußerst unterhaltsames Erlebnis umgeschmiedet werden kann.

Nach den Spielzeugsoldaten folgen nun die „Lastwagen“, welche gleich mehrere Menschen in einer Raststätte umzingelt haben und mit röhrenden Motoren darauf warten, die Fliehenden über den Haufen zu fahren. Bekloppt, oder? Mag sein, aber wieder für den Leser ein riesiger und bis zum (bitteren) Schluss äußerst mitreißender Spaß. Noch besser – und meines Erachtens eine der gelungensten Geschichten der Sammlung – ist „Manchmal kommen sie wieder“, in der ein High-School-Lehrer, der als Kind seinen Bruder an vier mörderische Jugendliche verloren hat, sich in der eigenen Klasse mit deren haargenauen Abbildern konfrontiert sieht. Und wieder beginnen die Morde und er muss sich den Albträumen seiner Vergangenheit stellen. Eine ganz starke Erzählung! Das gilt auch für „Erdbeerfrühling“, in der ein Serienmörder alle 7 bis 8 Jahre brutale Morde an der Universität begeht. Ein kurzer, aber äußerst gruseliger Horror-Trip, an dessen Ende eine gewisse Agatha Christie vielleicht ihre Freude gehabt hätte.

Freunde des „Hardboiled“ und „Noir“ dürften wiederum bei „Der Mauervorsprung“ bestens unterhalten werden, das vollkommen ohne übersinnliche Elemente auskommt. Das Gefahrenelement – ein nur wenige Zentimeter breiter Vorsprung im 43. Stockwerk eines Hochhauses. Die Art Lektüre, bei der man das Buch unwillkürlich fester packt – um es dann bei „Der Rasenmähermann“ am liebsten an die Seite zu legen. Selbst für King-Verhältnisse war mir dieses benzingetränkte Gebrumme dann doch eine Spur zu albern und zu grotesk. Ja, auch hier gibt es einen verborgenen Subplot, den man mit etwas Aufmerksamkeit entdecken kann. Das ändert aber nichts daran, das mir diese Geschichte nicht wirklich positiv in Erinnerung geblieben ist. Ganz anders verhält es sich dann wieder mit „Quitters, Inc.“, welche insbesondere den Rauchern unter den Lesern ans Herz gelegt sei. Ob die danach noch zur Zigarette greifen werden, darf aber immerhin bezweifelt werden. Grandiose Geschichte!

Bei „Ich weiß, was du brauchst“ vermischt King Voodoo mit einem Schuss Romantik – oder ist es doch andersherum – kann mich dabei aber nicht überzeugen. Voll in seinen Fängen hat er mich dann dafür wieder in „Kinder des Mais“, an dessen Verfilmung sich vielleicht mal N. Night Shyamalan versuchen sollte, der sich im Aufbau einer sich immer mehr anspannenden Atmosphäre ja trefflich auskennt. Diese atemlose, gehetzte Flucht durch scheinbar undurchdringliche Maisfelder wird mir jedenfalls noch lange in Erinnerung bleiben. Hier ist man wirklich traurig, das es so schnell vorbei ist.

Jede Sekunde und Zeile auskosten sollte man bei der Lektüre von „Die letzte Sprosse“, in der Stephen King seine meines Erachtens – mit großem Abstand – beste Leistung in der ganzen Sammlung abliefert. All diejenigen, die ihn immer, wider besseren Wissens, als Unterhaltungsautor müde belächeln, sollten sie lesen, um zu erkennen, welch begnadeter, aber auch einfühlsamer Schriftsteller er in Wirklichkeit ist. Ein trauriges, melancholisches, tief berührendes Juwel, nach dessen Beendigung es automatisch einer längeren Pause braucht, um die nächsten Geschichten in Angriff zu nehmen. Diese sind alle ebenfalls von guter bis sehr guter Qualität.

Zu einen auf den Weg“ habe ich mich ebenfalls schon bei „Brennen muss Salem“ geäußert. In „Der Mann, der Blumen liebte“ wird der Leser geschickt auf die falsche Fährte geführt. Und in „Die Frau im Zimmer“ verarbeitete Stephen King den Tod seiner eigenen Mutter und setzt sich zugleich mit dem Thema Sterbehilfe auseinander.

Wenn man so nach oben hochscrollt, erscheinen mir das ziemlich viele Worte für eine schon so alte Kurzgeschichten-Sammlung, welche die meisten King-Fans wohl ohnehin schon kennen werden und die jüngeren vielleicht gar nicht mehr lesen mögen. Letzteres wäre aber, und soviel sollte hoffentlich deutlich geworden sein, ein Fehler, denn bereits in diesen frühen Erzählungen läuft der Meister des Horror, trotz ein paar Durchhängern, zur Höchstform auf. Sein Talent für die Kurzform, es hat diese Würdigung und eine Wiederentdeckung sicher verdient.

Wertung: 87 von 100 Treffern

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  • Autor: Stephen King
  • Titel: Nachtschicht
  • Originaltitel: Night Shift
  • Übersetzer: verschiedene
  • Verlag: Lübbe
  • Erschienen: 10.2010
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 448 Seiten
  • ISBN: 978-3404131600

Kings of Queensland

© Antje Kunstmann

Der Kunde mag König sein und immer Recht haben. Für den König selbst gilt dies jedoch nicht, weswegen ich mich mit Freund und Kollege Jochens Meinung zu Andrew McGahans Buch „Last Drinks“ tatsächlich etwas konträrer auseinandersetzen muss. Majestätsbeleidigung eines aufmüpfigen Schülers gegenüber seinem Lehrer, die man mir aber bitte verzeihen möge, denn im Gegensatz zu seinem doch eher negativen Fazit, bin ich der Meinung, dass der Leser durchaus etwas für seine Investition in diese Lektüre „bekommt“. Dies ist allerdings auch in hohem Maße davon abhängig, mit welchen Erwartungen man McGahans Werk in Angriff genommen hat. Und gerade hier erweist sich der Rowohlt Verlag mit der (wenn auch korrekten) Etikettierung des selbigen leider einen Bärendienst.

Hatte man die bei Kunstmann veröffentlichte gebundene Ausgabe noch als Roman beworben, wurde daraus im Hause Rowohlt beim Taschenbuch nun ein Thriller, was dem etwaigen Leser natürlich im Kern ein hohes Spannungsmoment suggeriert. Im Verbund mit dem Klappentext, der sich ebenfalls zentral auf die Untersuchung des Mordes konzentriert, lockt man damit eine Klientel, der McGahans Text schlichtweg nicht gerecht werden kann, welche einen komplett anderen Schwerpunkt setzt und als Pageturner damit so überhaupt nicht taugt. Ein Fehler von Rowohlt also? Eindeutig nein, denn „Last Drinks“ hat im Jahr 2001 nicht nur den Ned Kelly Award für das beste „Crime Novel“ erhalten, sondern wird im Heimatland Australien tatsächlich auch als solches vermarktet. Ich bleibe aber dabei: Es ändert nichts an der Tatsache, dass sich der inzwischen bereits verstorbene Autor allenfalls am äußersten Rande dieses Genres bewegt, sich höchstens auf das Verbrechen als gesellschaftliches Problem konzentriert und weniger auf die einzelne Tat als solches. Dies wiederum wirkt sich daher auch auf den Verlauf der Handlung aus.

Diese nimmt ihren Anfang im australischen Bundesstaat Queensland, Ende der 90er Jahre. Zehn Jahre ist es her, seit der alkoholkranke Journalist George Verney die Stadt Brisbane Hals über Kopf verlassen und in den Bergen, in einem verschlafenen Nest namens Highwood, eine neue Heimat gefunden hat, wo er nun seit längerer Zeit für die Lokalzeitung schreibt. Verney ist inzwischen trocken, führt eine relativ glückliche Beziehung mit einer Lehrerin und hat – so glaubt er – die eigene Vergangenheit weitestgehend hinter sich gelassen. Doch ein Anruf zerstört diese Idylle jäh. Mitten in der Nacht er wird von der örtlichen Polizei zu einem nahen Stromverteilerwerk gerufen, um die Leiche eines Mannes zu identifizieren, der, offenbar erst nach langer Folter, durch einen gewaltigen Kurzschluss verstarb. Verney muss zu seinem Entsetzen feststellen, dass es sich dabei um seinen alten Freund Charlie handelt, den er seit ihren gemeinsamen Tagen in Brisbane nicht mehr gesehen hat.

Plötzlich sieht sich Verney mit lange verdrängten Erinnerungen an seine Zeit in Brisbane konfrontiert, das Mitte bis Ende der 80er Jahre ein Schmelztiegel für Korruption jeglicher Art war, gefördert durch eine Regierung, welche sich aufgrund des herrschenden Wahlsystems quasi auf Lebenszeit einsetzen und jegliche demokratische Auswüchse schon im Keim ersticken konnte. Ein politisches System, das viele unterdrückte, aber von dem auch ein Teil der Gesellschaft, welche dieses Spiel mitspielen wollte, in hohem Maße profitierte. Für diejenigen, und damit auch für Verney und seine damaligen Partner und vermeintlichen Freunde, war jeder Tag eine wilde Party, jede Nacht eine Verheißung von Alkoholrausch und Enthemmung. Zumindest so lange, bis ein spektakulärer Korruptionsausschuss nach Jahrzehnten des Stillstands die Regierung schließlich stürzte – und damit von jetzt auf gleich auch alle Beteiligten zum Ziel der Justizermittlungen wurden. Während Verney noch einigermaßen glimpflich aus der Sache herauskam, wurde Charlie als einer der Hauptschuldigen angeklagt und inhaftiert. Jetzt, Jahre später, wollte er offensichtlich Verney in Highwood besuchen. Aber warum? Und wieso hat man einen schwer alkoholkranken und inzwischen auch geistig beeinträchtigten Mann derart brutal hingerichtet? Und ist Verney vielleicht der nächste?

Eingeholt von der so lange verdrängten Vergangenheit, erstarkt auch der Wunsch nach Alkohol in Verney, der zudem in Gedanken jetzt vermehrt bei Maybellene ist. Sie, einst seine große Liebe und später Charlies Frau, könnte auch ins Visier der Killer geraten sein, denen offensichtlich jedes Mittel Recht ist, um die losen Enden zu kappen. Während er durchgehend von der Polizei beschattet wird, fährt Verney zurück nach Brisbane, um die Gründe für den Mord an Charlie zu untersuchen und gleichzeitig einen Schlussstrich unter alles zu setzen …

Anstatt das McGahan seinen Protagonisten nun in altbekannter Noir-Manier in die Düsternis marschieren und Prügel kassieren lässt, konzentriert sich der Autor vielmehr darauf, in immer wieder eingestreuten Rückblicken das Queensland der achtziger Jahre zum Leben zu erwecken, was den deutschen Leser durchaus verblüffen könnte, dürfte doch den meisten nur wenig über die dunkle Geschichte des Bundesstaats bekannt sein. Heutzutage mit seinen Stränden und dem Great Barrier Reef Musterbeispiel für eine touristische Hochglanzbroschüre, präsentiert sich insbesondere die Hauptstadt Brisbane als kriminelles Moloch, das nicht nur optisch Parallelen zum Miami derselben Epoche aufweist und Verbrecher jeglicher Couleur anlockt. Die meisten von ihnen begegnen uns dabei in Nadelstreifen, besetzen höchste Positionen in Politik, Wirtschaft und Justiz – und pflegen ein auf Gönnertum basierendes System, in dem Geld alles möglich macht und selbst Beschränkungen, wie das damalige Ausschankverbot für Alkohol, mit den richtigen Beziehungen problemlos zu überwinden sind.

McGahan nimmt sich viel Zeit, diesen Abschnitt der Geschichte Brisbanes zum Leben zu erwecken, die Beteiligung und Verwicklung George Verneys an der immer mehr grassierenden Korruption und den damit verbundenen Absturz in die Alkoholsucht zu zeichnen. Für einige Leser sicher zu viel Zeit, wird doch damit die eigentliche Ausgangslage keinen Schritt vorangebracht und mehr und mehr der Mord an Charlie aus den Augen verloren. Im Gegensatz zu manch anderem Rezensenten habe ich das aber nicht unbedingt als negativ empfunden. Eher im Gegenteil: Charlies brutaler Tod erweist sich in der Folge nur als Symptom einer weit größeren Krankheit und spiegelt damit auch Verneys eigenen Kampf gegen die Rückfälligkeit wieder. So wie ein Alkoholiker nie wirklich trocken ist, so ändern sich auch die Spielregeln in den Schattenbereichen der Gesellschaft auch nie gänzlich. Auch wenn alte Wegbegleiter wie der charismatische Politiker Marvin nicht mehr die Macht von einst verkörpern, so haben sie doch alle auf ihre Art und Weise zu keinem Zeitpunkt den Ausstieg aus dem alten System geschafft. Die früheren Räder, sie greifen immer noch ineinander und drehen weiterhin in dieselbe Richtung. So glänzend und sauber sich Brisbane nach außen präsentiert, im Kern fault es auch in der modernen Version gewaltig.

Und genau hier kann ich den mehrfach geäußerten Kritikpunkt, McGahan verfüge nicht über die sprachlichen Mittel für dieses Sujet, so gar nicht unterschreiben. Ja, sie mag unaufgeregt und wenig effektheischend sein, passt aber meines Erachtens hervorragend zu dem durchgängig melancholischen Tenor der Geschichte, die zudem von ihren beeindruckenden Bildern lebt. Ob es das verdunkelte, heiße Zimmer eines Apartments am Strand ist oder der feucht-neblige, von Moos überwucherte Pfad unterhalb des tropfenden Regenwalddachs in den Bergen Queenslands – „Last Drinks“ schwitzt und blutet Atmosphäre, ermöglicht es auch Nichtkennern Australiens, sich ein Bild von den örtlichen Gegebenheiten, dem Klima und der Fauna zu machen. Wohlgemerkt ohne das diese Beschreibungen nur als profane Kulisse missbraucht werden, denn McGahan nutzt sie geschickt, um die jeweiligen Gemütszustände Verneys und seinen zunehmenden inneren Kampf zu unterstreichen. Und hier kommen wir für mich auch zum zentralen Motiv des Romans – dem Alkohol.

Letztlich konzentriert sich, wie der Titel schon andeutet, alles auf Verneys persönliche Schwäche, seine Neigung zum Alkohol. Auf seine Unfähigkeit ohne Alkohol das Glück zu finden, Menschen ganz in sein Leben zu lassen, die nicht das gleiche Maß an Sucht und Verlangen mitbringen, wie er selbst. So wie er nicht in der Lage ist, die Grenzen Queenslands zu überqueren und damit alles hinter sich zu lassen, so kann er letztlich auch nicht ohne Alkohol sein – wohlwissend, dass diese Einstellung alles gefährdet, was er sich seit seiner Flucht aus Brisbane aufgebaut hat. Es ist dieser mit sich selbst ausgefochtene Konflikt, der mich während des Lesens am meisten erreicht und vor allem erschüttert hat – und der wohl möglich auch vielen Alkoholikern aus der Seele spricht. Ja, dafür müssen wir bei der Spannungserzeugung einige Abstriche machen, immer wieder auf der Suche nach dem Mörder Charlies Umwege fahren. Sie sind jedoch nicht unnötig, sondern wichtige Etappen auf Verneys drohenden Rückfall und dem Weg zum Finale, das McGahan äußerst stimmungsvoll und bleihaltig inszeniert.

Ich gebe durchaus zu: Andrew McGahans Herangehensweise an diese Thematik mag ungewohnt, manchmal gar unbequem und unaufgeregt sein – in ihrer Wirkung verfehlt sie aber nicht das Ziel. „Last Drinks“ ist schwermütige, bildgewaltige Prosa über die Gefahren von Alkoholsucht und charakterlicher Schwäche, und zeitgleich auch eine Abrechnung mit einem der düstersten Kapitel der Geschichte Queenslands. Nicht immer leichte Kost, aber für eine gewisse Klientel unter den Lesern durchaus ein echter Leckerbissen.

Wertung: 79 von 100 Treffern

einschuss2
  • Autor: Andre McGahan
  • Titel: Last Drinks
  • Originaltitel: Last Drinks
  • Übersetzer: Uda Strätling
  • Verlag: Kunstmann
  • Erschienen: 03.2013
  • Einband: Hardcover
  • Seiten: 461 Seiten
  • ISBN: 978-3888979002

Was unter der Oberfläche liegt …

© Ariadne

Wer sich schon etwas längerer im schattigen Dunstkreis der kriminellen Gasse herumtreibt, wird festgestellt haben, dass es sich bei mir nicht (mehr) um den klassischen Novitäten-Leser handelt, der sich sofort auf die aktuellsten Titel stürzt, was wiederum mehrere Gründe hat.

Zum einen genieße ich es nach meiner Zeit als Buchhändler nicht mehr terminlich unter Druck zu stehen, zum anderen gibt es dort draußen inzwischen so viele gute Blogs, dass eine weitere Rezension zu ein und demselben Buch dann eher eine geringere Aufmerksamkeit zuteil wird – zumal sich diese Besprechungen nicht selten inhaltlich überschneiden. Das bedeutet im Umkehrschluss aber nicht, dass ich die Neuveröffentlichungen und ihre Einordnung durch die hiesigen Kritiker des Feuilletons und der Bloggergemeinde nicht verfolge. So ist mir die hohe positive Resonanz zu Tawni O’Dells „Wenn Engel brennen“ nicht verborgen und nachhaltig in Erinnerung geblieben, was nun auch Anlass war, mit etwas zeitlicher Verzögerung, selbst die Lektüre in Angriff zu nehmen.

Schon die Hintergrundgeschichte zur Autorin liest sich durchaus spannend, war doch auch ihr Weg wie der so vieler ihrer Kollegen und Kolleginnen ein anfangs extrem steiniger. Geboren und aufgewachsen in Indiana, Pennsylvania – übrigens im selben Ort wie der Schauspieler James Stewart – war sie das erste Mitglied ihrer Familie, das aufs College ging, um dann später an der Northwestern University ihren Abschluss in Journalismus zu machen. Einem Berufsfeld, dem sie jedoch letztlich wenig abgewinnen konnte, weswegen sich letztlich lieber dem Schreiben von Büchern widmete. Es begann eine persönliche Odyssee. Über dreizehn Jahre hinweg schrieb O’Dell sechs Romane, sammelte dabei über dreihundert Absagen seitens der Verleger, bevor ihr (bisher unübersetztes) Debütwerk „Back Roads“ im Jahr 2000 schließlich doch veröffentlicht und – vor allem dank der Lobpreisungen der bekannten Talkmasterin Oprah Winfrey – zu einem großen Erfolg wird. Seitdem folgten fünf weitere Romane aus ihrer Feder, wobei ihr aktuell letzter, das vorliegende „Wenn Engel brennen“, nun ihren ersten Versuch darstellt, auch im Genre des Kriminalromans Fuß zu fassen. O’Dell, die lange Zeit in Chicago lebte, kehrt dafür, wie im echten Leben, zurück in die alte Heimat.

Das westliche Pennsylvania, die kleine (fiktive) Geisterstadt Campbell’s Run. Hier, einstmals eine Region in der vor allem der Bergbau und die Stahlindustrie florierte, bestimmen heute nur noch Ruinen und Industriebrachen das landschaftliche Bild. Kohle wird seit langer Zeit nicht mehr abgebaut, die Investoren haben sich längst aus dem Staub gemacht, welcher jetzt die verfallenen Gebäude bedeckt. Geblieben ist allein die Armut der Bevölkerung, die, weitestgehend arbeitslos, ein trostloses Dasein im so genannten „Rust Belt“ der USA fristet. Campbell’s Run selbst mussten sie verlassen, brennen doch unterirdisch immer noch viele der alten Kohleflöze – unerreichbar für irgendwelche Gegenmaßnahmen, weswegen ein ganzer Landstrich inzwischen zur gesperrten Zone erklärt wurde. Gemeinsam mit den giften Gasen, welche überall aus den Felsspalten des zerklüfteten Bodens aufsteigen, ersticken sie jegliches Leben im Keim. Doch die Leiche, zu der die fünfzigjährige Polizeichefin des Nachbarorts Buchanan, Chief Dove Carnahan, gerufen wird, wurde weit brutaler aus eben diesem Leben gerissen.

Bei der Toten handelt es sich um die siebzehnjährige Camio Truly, der gewaltsam der Schädel eingeschlagen wurde, um sie anschließend in eine Decke zu hüllen, mit Benzin zu übergießen und in einem der schwelenden Erdlöcher anzuzünden. Carnahan, die mit den wenigen Kollegen ihres Countys sich sonst eher mit pöbelnden Säufern oder Schlägereien herumschlagen muss, ist angesichts dieser Grausamkeit überrascht. Zeitgleich weckt die Art und Weise, wie Truly zu Tode kam, aber auch unerwünschte Erinnerungen, weswegen sie fast froh ist, dass der Fall noch am Tatort von den zuständigen Troopern unter der Führung von Detective Corporal Nolan Greely übernommen wird. Das bedeutet jedoch nicht, dass Carnahan nicht ihre eigenen Ermittlungen anstellen will. Camio stammt aus dem berüchtigten Truly-Clan, einer in Buchanan berüchtigten Familie, angeführt von der aggressiven Matriarchin Shawna Truly. Und die hat mit Camios Freund, einem Sohn aus gutem, bürgerlichen Hause, den vermeintlichen Mörder längst ausgemacht. Carnahan muss all ihre Erfahrung einsetzen, um die Mauer des Schweigens zu durchdringen und kämpft dabei auch noch an einer weiteren Front, denn während sich die Situation im dem kleinen Ort mehr und mehr zuspitzt, holt sie plötzlich auch die eigene familiäre Vergangenheit wieder ein …

Schon immer liebe ich Whodunits. Ich wollte die Kleinstadtfiguren, für die ich berühmt bin, und ihren Alltag mit den dramatischen Twists und der Spannung des Genres verknüpfen.“

So wird Tawni O’Dell in Else Laudans Vorwort zu „Wenn Engel brennen“ zitiert. Und ich finde es durchaus wichtig, diese Aussage im Hinblick auf die Bewertung dieses Buches zu berücksichtigen, zumal in überproportional vielen Besprechungen dieser Titel mit dem Prädikat „Country Noir“ einem Subgenre zugeordnet wurde, welches sich doch in seinen Eigenschaften vom klassischen Whodunnit durchaus deutlich unterscheidet. Es stimmt zwar, dass O’Dell hinsichtlich des Settings und der Figurenzeichnung in den Fußspuren von Flannery O’Connor, William Gay und Co. wandelt – dennoch halte ich persönlich es für etwas vorschnell, das Werk deswegen im gleichen Zuge noireske Attribute zu attestieren, zumal dies beim etwaigen Leser vielleicht falsche Erwartungen wecken könnte. Man mag nun argumentieren dass der Noir schon immer die Literatur der Krise, das Abbild gesellschaftlicher Verwerfungen und Missstände gewesen ist und die Schattenseiten der Gesellschaft auszuleuchten versucht hat. Und in diesem Sinne müsste entsprechend auch „Wenn Engel brennen“ dieser Kategorie zugeordnet werden. Allein, die Herangehensweise O’Dells an diese Thematik ist doch eine ganz eigene und unterscheidet sich von oben genannten Autoren/innen oder auch anderen bekannten Größen wie William Faulkner oder Tom Franklin.

Ein Malus? Mitnichten, aber durchaus auffällig für Enthusiasten und Kenner des Genres, die sich – bedingt durch Hauptprotagonist und Autorin – an diesen deutlichen weiblicheren Blickwinkel eventuell erst einmal gewöhnen müssen. Nun ist O’Dell weder die erste Frau, die dieses Genre bedient, noch Carnahan der erste weibliche Cop, der sich in der trostlosen Provinz mit einem Mordfall herumschlagen muss. Dennoch empfand ich O’Dells Ansatz als erfrischend anders, weil sie in Bezug auf ihre Figuren weitaus feinfühliger und empathischer vorgeht, es nicht bei den Klischees belässt, sondern direkt hinter die Fassaden schaut. Oder um beim Motiv des Bergbaus zu bleiben, direkt in den Stollen hinabsteigt, um die schwelenden Brände offenzulegen. Ja, auch hier wird uns das ganze Ausmaß des von der Gesellschaft abgehängten White Trash schonungslos dargeboten. Bildungsarmut, fehlende Perspektive, Alkoholismus, Drogenmissbrauch, Vergewaltigung, Inzucht, innerfamiliäre Fehden. Und wie in der TV-Serie „Justified“, so sieht sich auch hier das Gesetz mit einem beinahe undurchdringlichen Geflecht von Abhängigkeiten konfrontiert, welches vor allem von einer festen Regel zusammengehalten wird: „Rede niemals mit den Cops“. Der große, dreckige Hammer, der das alles durcheinander fegt, um für Gerechtigkeit zu sorgen – ihn zieht Tawni O’Dell aber nicht.

Im Kontrast zu ihrem humorlosen Vorgesetzten (und Teilzeitliebhaber), dem unerbittlichen und pragmatischen Trooper Nolan, der jegliche emotionale Verwicklung an seiner verspiegelten Sonnenbrille abprallen lässt, wirkt die Härte von Dove Carnahan berührend menschlich (ich fühlte mich übriges hier desöfteren stark an Sergeant Catherine Cawood aus der TV-Serie „Happy Valley“ erinnert). Geschmiedet in den Ereignissen ihrer eigenen Vergangenheit, hat sie sich einen „Panzer“ zugelegt, der weniger nach außen hin schützen, als vielmehr das eigene Innere am Ausbruch hindern soll. Mit wie viel Fingerspitzengefühl und messerscharfer Beobachtungsgabe – und auch mit wie viel schwarzen Humor – O’Dell ihre Protagonist und ihr engstes Umfeld zum Leben erweckt, das zeugt von großer sprachlicher Qualität. Überhaupt: „Wenn Engel brennen“ entfacht eine Sogwirkung, der man sich schwer entziehen kann und über die man sogar vergisst zu bemerken, dass der eigentliche Mordfall immer wieder aus dem Fokus gerät. Das hat zwar zur Folge, dass nicht alle Wendungen ihre Wirkung wie gewünscht erzielen und der Spannungsbogen zumeist ein eher flacher Hügel bleibt – dem Spaß an der Lektüre tut dies aber keinen Abbruch. Zu tief tauchen wie in die Charaktere hinab, zu eindringlich werden mit dieser tristen Hoffnungslosigkeit konfrontiert, die sich aus einer gesellschaftlichen Isolation speist, die man zwischen den Zeilen zu fühlen glaubt.

Bei all der auf den ersten Blick so offensichtlichen Härte – „Wenn Engel brennen“ ist vor allem eine äußerst sensible, pointierte Milieustudie eines amerikanischen Landstrichs, dessen Bevölkerung sonst stets die ewig gleiche stigmatisierte Rolle zuteil wird, hier aber auf beklemmende und bedrückende Art eine Würdigung erfährt, welche von O’Dells großer Menschenkenntnis zeugt. Kein lupenreiner Country-Noir und schon gar kein Whodunit – aber intensive, wortgewaltige Literatur, welche im Grenzland der Genres seine Heimat findet und auf mehr hoffen lässt. Ein starkes Buch einer Schriftstellerin, die ihr ganzes Repertoire auch hiermit vielleicht noch gar nicht ausgereizt hat. Uneingeschränkte Empfehlung!

Wertung: 84 von 100 Treffern

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  • Autor: Tawni O’Dell
  • Titel: Wenn Engel brennen
  • Originaltitel: Angels Burning
  • Übersetzer: Daisy Dunkel
  • Verlag: Argument/Ariadne Verlag
  • Erschienen: 07/2018
  • Einband: Hardcover
  • Seiten: 352 Seiten
  • ISBN: 978-3867542395

When you need a little coke and sympathy …

© Goldmann

Obwohl das Buch „Ein eisiger Tod“ heißt und im tiefsten Edinburgher Winter spielt, ist es in Ian Rankins Haus in Südfrankreich entstanden, größtenteils bei sengender Sommerhitze. Überhaupt ist der deutsche Titel mal wieder irreführend, hat er doch keinerlei Bezug zum eigentlichen Inhalt zwischen den Buchdeckeln. Ganz anders als der englische Buchname „Let it bleed“, ein Wortspiel, das genauso „lass es bluten“ wie „lass die Luft aus der Heizung raus“ bedeuten kann. Und so ist auch das Einzige, was Rebus in diesem Buch zur „Ader lassen muss“, ein Heizkörper. Keine Spur von einer vereisten Leiche.

Über reine Mordermittlungen ist Ian Rankin mittlerweile ohnehin erhaben. Stattdessen schafft er es erneut, Rebus‘ Nachforschungen auf eine komplexere Ebene zu heben und mit den zeitgeschichtlichen Ereignissen in Schottland zu verknüpfen. So jagt der hartnäckige schottische Bulle diesmal auch keinen soziopathischen Serienmörder, sondern das politische und wirtschaftliche Establishment, industrielle Großkonzerne und ambitionierte Volksvertreter, welche für das „große Ganze“ die Gesetze bis an die Grenzen ihrer Belastbarkeit biegen und notfalls auch brechen. Sie sind es gewohnt, dass alles nach ihrer Pfeife tanzt. Nur einer widersetzt sich diesem Rhythmus – Detective Inspector John Rebus.

Dessen neuer Fall beginnt für einen Krimi von Ian Rankin äußerst rasant mit einer nächtlichen Verfolgungsjagd durch Edinburgh. Detective Inspector John Rebus und sein Vorgesetzter Frank „Fart“ Lauderdale haben sich an die Stoßstange eines flüchtenden Wagens geheftet, dessen zwei Insassen möglicherweise die Tochter des Lord Provost Kennedy, einen der einflussreichsten und mächtigsten Männer der Stadt, entführt und Lösegeld gefordert haben. Bevor sie beide jedoch stellen können, kommt es auf der vom Schneesturm umtosten Forth Road Bridge zu einem spektakulären Unfall, in dessen Folge Lauderdale sein Bewusstsein verliert. Rebus, der sich gerade so aus dem Autowrack schälen kann, gelingt es zwar die beiden Flüchtigen zu stellen, kann aber nicht mehr beruhigend auf sie einwirken. Als er ihnen näher kommt, stürzen sich die beiden jungen Männer in den Freitod.

Auch wenn er nach außen hin derselbe bärbeißige Ermittler wie immer ist, setzt Rebus der schreckliche Vorfall sehr zu. Er fühlt sich für den Tod der Jungen verantwortlich und beginnt Nachforschungen anzustellen, nur um relativ schnell festzustellen, dass die Spur bis in die höchsten politischen Ämter Schottlands zu führen scheint. Und da man dort nicht will, dass zukünftige Investitionen und Prestigeprojekte wegen eines einzigen Polizisten in Gefahr geraten, lässt man Rebus bald kalt stellen. Doch den hält selbst seine „Beurlaubung“ nicht davon ab, die Ermittlungen fortzusetzen. Im Gegenteil: Rebus, dessen Privatleben auch wegen der Trennung von Patience mittlerweile ein einziger Schutthaufen ist, stürzt sich mit dem Mute der Verzweiflung ins Getümmel …

Ein eisiger Tod“ ist diesmal weniger typischer Police-Procedural als vielmehr ein politischer Roman, da ein Großteil der Handlung von lokal- und landespolitischen Verwicklungen bestimmt ist und es letztlich um wesentlich mehr geht, als nur die simple „Whodunit“-Frage. Rankins Schurken hier sind nicht die Gegner, welche er sonst durch Edinburghs Gassen jagt, sondern seine Vorgesetzten, seine politischen Vertreter, illustre Industrielle und Immobilienspekulanten. Sie sind es, die jedes mögliche Schlupfloch im Gesetz ausnutzen, um (zum Vorteil aller und besonders für sich selbst) Schottland in eine neue, globalisierte Zukunft zu führen. Was ist die Leiche eines Sträflings gegen Millionen Arbeitsplätze? Was ist die Karriere eines Polizisten im Vergleich zum Image der gesamten schottischen Nation? „Nichts“ ist die Antwort, die von Seiten der elitären Verschwörer auf beide Fragen gegeben wird und die es John Rebus in seinem siebten Fall so schwer macht, für Gerechtigkeit zu sorgen. Denn was ist Gerechtigkeit überhaupt? Ian Rankin lässt seinen noch tiefer gefallenen Helden über dieselben Zweifel straucheln und stolpern, welche auch den Leser nicht unberührt lassen. Unwillkürlich versetzt man sich an Rebus‘ Stelle und fragt sich, wie man wohl an seiner statt handeln würde. Und wenn der verbissene Bulle, der nach Lauderdales Unfall nicht etwa selbst aufsteigt, sondern seine Ex-Geliebte Gill Templer als Vorgesetzte zugeteilt bekommt, seinen Kummer und Unmut im Whisky ertränkt, fühlt man mit.

In „Ein eisiger Tod“ sind die Grenzen zwischen „Gut“ und „Böse“ verschwommen, heben sich die Gegensätze auf eine Art und Weise auf, dass die Nadel des moralischen Kompasses einfach nicht mehr zur Ruhe kommt. Rankin, dessen Buch immerhin schon 1995 veröffentlicht worden ist, beschreibt ein System, das wir auch im Deutschland der Jetztzeit nur zu gut kennen. Ein System, in dem Banker Milliarden verbrennen können, in dem Schmiergelder wie Bonbons verteilt werden, in dem ein Gewissen käuflich ist. Es zu Fall zu bringen fällt schwer, da man sich selbst an dem zu sägenden Ast befindet. Wen schert das Unrecht, das an einem Mann begangen wurde, wenn es dieses Unrecht war, das Perspektiven für tausende Menschen geboten hat? Es sind diese Denkansätze, welche auch nach der Beendigung der Lektüre von Rankins Roman im Gedächtnis bleiben und ihn aus der Masse des Mainstreams hervorheben. Gleichzeitig sorgen sie jedoch auch dafür, dass die gesamte Handlung nur äußerst zäh in Fahrt kommt.

Die gleichen verworrenen und für uns nicht nachvollziehbaren Praktiken innerhalb der Gremien der EU und den Großindustriellen, welche dem Missbrauch den Boden bereiten, sorgen passenderweise auch im Roman dafür, das man relativ schnell den Überblick verliert. Mehrere komplizierte Abkürzungen, politische Ämter und ganze Namensschwadronen machen von Beginn an eigentlich einen Notizzettel notwendig, um den roten Faden, der sich windet wie ein Lachs an der Angel, zu folgen. Das wird nicht jedermanns Sache sein und sicherlich viele dazu bringen, das Buch mit dem Prädikat „langweilig“ zu versehen oder gleich in die Ecke zu knallen. Dabei lohnt es jedoch sich gemeinsam mit Rebus den Kopf zu zermartern, da neben der üblichen Spurensuche weit größere Zusammenhänge ans Licht gezerrt werden, die als Spiegelbild ihrer Gesellschaft für Deutschland genauso gelten wie für Schottland. Denn dort wo der Bürger stumm und unkritisch bleibt, wo er alles glaubt und noch mehr glauben will, dort gedeiht das Verbrechen am Allerbesten.

Aufgelockert wird diese weit und ineinander verzweigte Handlung wieder mal von einer guten Prise schottischen Humors, den Rankin wieder punktgenau zu setzen weiß (Highlight ist sicherlich der ungewollte Tod von Patiences Kater Lucky – selbst ich als Katzenliebhaber konnte mir ein Lachen nicht verkneifen). Trotz all seiner privaten Probleme und Rückschläge, begeht der Edinburgher Autor gottseidank nicht den Fehler, bei dem Bemühen, seine Figuren menschlicher zu gestalten, John Rebus in der Düsternis versinken zu lassen. Während hinsichtlich dessen besonders die Skandinavier keine Grenzen zu kennen scheinen, bleibt Rebus stets glaubhaft, sein Handeln glaubwürdig. Auch deshalb weil ihm der Erfolg nicht immer zufällt und schon gar nicht bei jedem seiner Fälle sicher ist. Zur Not begibt sich der bissige Bulle auch in die unteren Ebenen der Gesellschaft, um zu bekommen was er will. Getrieben von dem Ziel für Recht zu sorgen und Recht zu haben, nimmt man schon mal die Hilfe von Berufsverbrechern in Kauf oder klaut Beweismaterial aus dem Müll von Verdächtigen. All das schildert Rankin mit schlafwandlerischer Sicherheit, durchsetzt von einer Spannung, die es trotz langatmiger Passagen unmöglich macht, das Buch aus der Hand zu legen.

Abschließend kann man sagen: Auch „Ein eisiger Tod“ wird Rebus-Freunde nicht enttäuschen, da Rankin sich treu bleibt und der Roman all das bietet, was die Reihe so einzigartig gemacht hat. Als langjähriger Leser der Bücher muss aber auch ich bemängeln, das sich der siebte Fall des sympathischen Arschlochs langsam entwickelt, sich äußerst sperrig liest und vergleichsweise wenig Höhepunkte bietet. Wer in die Serie reinschnuppern will, sollte lieber zu einem anderem Band greifen. Dieser ist, trotz aller Qualitäten („Ein eisiger Tod“ ist zweifelsfrei hervorragend konstruiert und literarisch auf höchstem Niveau), einer der schwächeren.

Wertung: 84 von 100 Treffern

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  • Autor: Ian Rankin
  • Titel: Ein eisiger Tod
  • Originaltitel: Mortal Causes
  • Übersetzer: Giovanni Bandini, Ditte Bandini
  • Verlag: Goldmann
  • Erschienen: 01.2004
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 416 Seiten
  • ISBN: 978-3442454280

Der Rattenfänger von Haiti

© Goldmann

Nostalgie ist eine schöne Sache, aber sie verklärt bekannterweise oft den Blick auf die Wirklichkeit und zeichnet ein Bild, dass es so nur in unserer eigenen Erinnerung gegeben hat. Insofern war ich nun einigermaßen neugierig, als ich Nick Stones Debütwerk „Voodoo“ ein zweites Mal zur Hand nahm, mehr als zehn Jahre nach der ersten Lektüre. In einer Zeit, in der das Forum der Internetseite Krimi-Couch noch ein äußerst belebter Ort und Treffpunkt vieler gleichgesinnter Krimi-Freunde war, welche sich nicht nur über ihr aktuellstes Buch austauschen konnten, sondern auch gegenseitig den eigenen Literaturhorizont erweiterten.

Es war hier, wo einem der Facettenreichtum dieses Genres gewahr wurde und man über das Lesen hinaus tiefer in eine Materie eintauchte, die inzwischen zumindest aus meinem täglichen Leben nicht mehr wegzudenken ist. Und es war auch hier, wo zwischen Ende 2007 und Anfang 2008 eben jener Roman in aller Munde war und allseits – und damit auch von mir – gepriesen wurde. So viele Jahre danach stellt sich jetzt Frage: Waren diese hymnischen Rezensionen tatsächlich gerechtfertigt oder hatte ich mich damals in meinem jugendlichen Eifer auch ein bisschen beeinflussen lassen?

Letzteres lässt sich nicht ganz von der Hand weisen, hätte doch sonst allein schon die optische Aufmachung genügt, um Stones Roman zu meiden. Sowohl das Cover als auch der reißerische Titel ließen bzw. lassen hier auf ein Werk im Stil eines Jean-Christophe Grangé schließen, das eher in der blutrünstigen Ecke des Kriminalromans beheimatet ist und zudem noch Mystery- und Okkult-Elemente in den Mittelpunkt stellt. Eine Annahme, die nicht weiter von der Wahrheit entfernt sein könnte, erheblich in die Irre führt und einmal mehr die Unfähigkeit gewisser Verlage deutlich macht, ein Buch auch passend zum Inhalt zwischen dem Einband zu vermarkten. Und spätestens ein Jahrzehnt später lässt sich tatsächlich konstatieren: Nick Stone und sein Roman „Voodoo“ hätten nicht nur eine weitaus bessere Werbung verdient gehabt, sondern sicher auch gebrauchen können, ist doch vielen Freunden des hochklassigen Hardboiled hier ein äußerst empfehlenswerter und vor allem durchaus realistischer Vertreter des Subgenres durch die Lappen gegangen.

Eine Neubetrachtung lohnt also, umso mehr, da Autor Nick Stone, dessen Mutter selbst aus Haiti, dem Schauplatz des Buches stammt, nicht nur erstklassig recherchiert, sondern auch gleichzeitig eine Milieustudie eines der ärmsten Länder der Welt vorgelegt hat und damit der westlichen Welt, und ihrer Kultur des Wegschauens, den Spiegel vorhält. Stone hat tatsächlich eine Geschichte zu erzählen, will weit mehr als nur unterhalten und schafft doch auch dies von Seite eins an.

Diese nimmt ihren Anfang im Jahr 1996. Max Mingus, Ex-Cop und ehemaliger Privatdetektiv aus Miami, steht kurz vor seiner Entlassung aus dem Gefängnis. Sieben lange Jahre hat er seine Haft abgesessen, als Strafe dafür, einst im kalten Zorn drei Männer erschossen zu haben, die einer brutalen und mörderischen Kidnapper-Bande angehörten. Eine Tat, die zwar die Unschuldigen gerächt, Mingus selbst aber nichts als Unglück gebracht hat. Seine Frau kam bei einem Autounfall ums Leben, seine eigene Detektei musste dicht machen und seine ehemaligen Kollegen – bis auf seinen langjährigen Partner und Freund Joe Liston – wollen von ihm nichts mehr wissen. Die Welt, wie er sie kannte, sie liegt in Trümmern. Als die Gefängnistore sich hinter ihm schließen, liegt lediglich das Nichts vor ihm. Doch ein Mann scheint eine Aufgabe für ihn zu haben: der Milliardär Allain Carver.

Bereits während seiner Zeit im Gefängnis wurde Mingus immer wieder von ihm kontaktiert und darum gebeten, einen heiklen Auftrag anzunehmen. Mingus lehnte stets ab. Bis jetzt, bis er hört, welche Summe ihm für die Erledigung des Jobs angeboten wird. Zehn Millionen Dollar winken ihm als Belohnung, wenn ihm gelingt, woran bereits mehrere Detektive vor ihm – äußerst schmerzvoll – gescheitert sind: Charlie Carver zurück seiner Familie zu bringen. Allain Carvers Sohn wurde vor zwei Jahren auf Haiti entführt. Es gab nie ein Lebenszeichen und auch keinerlei Lösegeldforderung. Mingus‘ Vorgänger kehrten brutal misshandelt oder erst gar nicht zurück – es scheint, als würde irgendjemand nicht wollen, dass Carver gefunden wird. Doch was bedeutet wirklich Gefahr für jemanden, der ohnehin alles verloren hat. Und der in dem vielen Geld seine Chance sieht, nochmal neu zu beginnen.

Schon bei seiner Ankunft in der Ofenhitze von Haiti muss er erkennen, dass er von echtem Verlust zuvor keine Ahnung hatte. Das Land liegt wirtschaftlich am Boden, die Menschen sind bitterarm und von einer politischen Stabilität kann keinerlei Rede sein. Vielmehr befindet sich die Karibikinsel im Ausnahmezustand. Ein Zustand, an dem auch Präsident Jean-Bertrand Aristide seinen Anteil hat, der aufgrund seiner amerikafreundlichen Haltung kurzerhand von den USA ins Amt gehievt wurde, welche seitdem Haiti mit Truppen besetzt halten, um dessen Macht zu sichern. Hinzu kommen diverse UN-Verbände verschiedenster Nationen, die ihrer eigentlichen Aufgabe, der Friedenssicherung, schon lange nicht mehr nachkommen. Entsprechend herzlich fällt auch der Empfang für Max Mingus aus, dem zwar die Mittel der mächtigen Carver-Familie zur Verfügung stehen, welche aber außerhalb von Port-au-Prince nur von geringer Hilfe sind. Stattdessen haben Warlords das Kommando, allen voran der gefürchtete Vincent Paul, der beschuldigt wird, hinter Charlie Carvers Entführung zu stecken. Doch handelt es sich bei ihm tatsächlich um „Tonton Clarinette“, den Schwarzen Mann, welcher der Legende nach des Nachts die Kinderseelen raubt?

Max Mingus Ermittlungen lassen ihn bald an den Intentionen aller Beteiligten zweifeln. Und als er von seinem Partner die Nachricht erhält, dass sein Todfeind Solomon Boukman – ein skrupelloser Mann und selbsternannter Voodoo-Priester, der ihm einst Rache schwor – begnadigt und zurück in seine Heimat abgeschoben wurde, ahnt er, dass selbst zehn Millionen für diesen Auftrag noch zu wenig sein könnten …

Man könnte es sich einfach machen und „Voodoo“ einfach als einen Private-Eye vor exotischer Kulisse abstempeln, in dem einmal mehr ein gebrochener, vom Leben gezeichneter Anti-Held das Leid dieser Welt schultert und – umgeben von karibischen Schönheiten – der Gerechtigkeit zum Sieg verhilft. Ja, und genau all das ist Nick Stones Erstlingswerk eben nicht, denn wenngleich er sich tatsächlich bekannter Elemente des klassischen Noirs bedient, so liegt doch der eigentliche Kriminalfall nur an der Oberfläche. Und wir als Leser brechen diese nach und nach auf, um zu sehen was darunter liegt, denn Stone weiß nicht nur wovon er schreibt, er hat auch eine fühlbar emotionale Bindung zu diesem Land, was besonders deutlich wird, wenn er die gnadenlosen Auswüchse des Kapitalismus skizziert und die Amerikaner mit ihrem kolonialistischen Treiben konfrontiert. Wohlgemerkt ohne dabei an irgendeiner Stelle zu moralisieren. Stattdessen lässt er den Ami sich selbst offenbaren, was angesichts des aktuellen Treibens eines Donald Trump rückblickend umso glaubwürdiger erscheint.

Überhaupt versteht es Stone vorzüglich mit unseren Erwartungen und Annahmen zu spielen, in falsche Richtungen zu leiten und Brotkrumen zu verteilen, welche uns letztlich in eine Sackgasse führen. Und obwohl dies mehr als einmal geschieht, stellt sich keinerlei Langeweile ein, was wiederum daran liegt, dass sich der Autor als äußerst geschickt erweist, wenn es darum geht, aus dem Weg das Ziel zu machen. Neben Max Mingus ist hier allen voran Haiti der zentrale Protagonist – und diese Insel wird mit allen ihren Sonnen- und Schattenseiten zum Leben erweckt. Fernab der touristischen Hochglanzbroschüren öffnet sich uns ein Land, welches zwischen dem modernen Aufschwung und traditionellen Bräuchen gefangen ist, seinen eigenen Weg ins das 21. Jahrhundert sucht und doch dabei immer wieder von außerhalb an der Hand genommen, besser gesagt gepackt wird. Wie Nick Stone diese Ausbeutung verdeutlicht ist mir besonders anhand einer Szene bis heute in Erinnerung geblieben. In dieser wird eine Gruppe indischer UN-Soldaten von Vincent Paul mit den von ihnen begangenen Übergriffen auf haitianische Frauen konfrontiert. Mangels irgendeiner Gerichtsbarkeit, spricht Paul auch gleich direkt das Urteil, das noch an Ort und Stelle vollstreckt wird. Hut ab vor all den Lesern, welche sich an dieser „Stelle“ nicht im Lesesessel ihres Vertrauens winden.

Übrigens ist dies einer der wenigen Ausbrüche von Brutalität, welche sich dieser Roman erlaubt, der ansonsten auf ganz andere Art und Weise für Entsetzen sorgt. Wenn sich nach und nach die wahren Hintergründe von Charlie Carvers Verschwinden offenbaren, das ganze Ausmaß klar wird, erweitert sich nicht nur unsere Perspektive – wir beginnen auch diesen tiefen, verzweifelten und doch auch machtlosen Zorn der Haitianer zu verstehen, die, um ihr Überleben kämpfend, der Willkür ihrer Herrscher – sei es von innen oder von außen – nichts mehr entgegenzusetzen haben. Im Angesicht dieses Elends und dieser Ungerechtigkeit gelingt Stone das Kunststück Bodenhaftung zu bewahren, denn anstatt sich als den Tag rettender Held zu entpuppen, muss der zynische Max Mingus weitestgehend die Kontrolle über das Geschehen abgeben und zur Seite treten. Er muss einsehen, dass diese haitianische Angelegenheit letzten Endes auch nur von Haitianern geregelt werden kann. Und inmitten dieser emotionalen Offenbarung kredenzt uns der Autor dann auch noch eine Wendung, die wohl selbst gut beobachtende Leser nur in den wenigsten Fällen voraussehen konnten. Chapeau für diesen Schlag aus dem Nichts, Mr. Stone.

Was bleibt nun nach der Lektüre – und mehr als zehn Jahre nach dem Erstkontakt? Das Denkmal „Voodoo“ hat zwar in der Tat über die Zeit ein wenig gebröckelt und Macken bekommen – die Überzeugung, hier einen einzigartigen und lohnenswerten Kriminalroman gelesen zu haben, konnte aber auch im zweiten Durchgang nicht erschüttert werden. Ein immersives, eindringliches und düsteres Noir-Werk, das sich schwer abschütteln und seine Spuren hinterlässt. So darf, so muss heutzutage ein Krimi sein.

Wertung: 89 von 100 Treffern

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  • Autor: Nick Stone
  • Titel: Voodoo
  • Originaltitel: Mr. Clarinet
  • Übersetzer: Heike Steffen
  • Verlag: Goldmann Verlag
  • Erschienen: 11/2007
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 608 Seiten
  • ISBN: 978-3442463367

Perlen vor die Säue

© Unionsverlag

Was lange währt, wird endlich gut, denn es hat in der Tat eine Weile gedauert, bis ich mein Versprechen eingelöst und mir Gary Victors Kriminalroman „Schweinezeiten“ zur Lektüre aus dem Bücherregal gezogen habe. Weniger aufgrund mangelnden Interesses, als vielmehr der sich exponentiell steigenden Auswahl in meiner Sammlung geschuldet.

Zudem war der haitianische Autor über einen größeren Zeitraum sowohl im Feuilleton als auch in der Blogosphäre in aller Munde, was eine weitere Stimme irgendwie obsolet gemacht und zudem meine eigene Bewertung eventuell beeinflusst hätte. Und das wäre schade, lohnt es doch, dieses Werk immer wieder neu hervorzuheben und zu empfehlen, denn was Victor hier auf Papier gebracht hat, das verdient durchaus Beachtung. Mehr noch: Gerade Freunde des Noir sehen ihr Sub-Genre dank „Schweinezeiten“ durch eine ganz neue Facette bzw. Nuance erweitert, denn nicht nur dass wir äußerst gezielt einen Blick in die desaströsen Zustände des Karibik-Staats Haiti werfen dürfen – der den westlichen Medien sonst nur bei Naturkatastrophen einen weiteren wert ist – auch die mysteriöse Zwischenwelt des Voodoo ist für die Handlung von essenzieller Bedeutung, welche an dieser Stelle daher auch kurz angerissen sei:

Haiti, ein drückend heißer Sommer noch vor den verheerenden Erdbeben des Jahres 2010. Inspektor Dieuswalwe Azémar gilt unter seinen Kollegen auf dem Polizeirevier von Port-au-Prince als Versager, als eine gescheiterte Existenz. Sein größter Makel: Seine Ehrlichkeit. In einem Land, in dem Korruption zum guten Ton gehört und man sich gefälligst von allen Seiten gehörig schmieren zu lassen hat, ist Azémar ein unliebsamer Störenfried, dem allseits Verachtung zuteil kommt. Gesteigert wird diese Abneigung nur durch die Tatsache, dass er auch noch die beste Aufklärungsquote des Reviers vorweisen kann. Dieuswalwe Azémar ist gut in seinem Job – und dafür ist ihm ebenfalls der Hass der Neider sicher. Gepaart mit einem miserablen finanziellen Auskommen ergibt sich eine Situation, die es nur noch zu ertränken gilt, was neben der Arbeit den Großteil eines Tagesablaufs in Anspruch nimmt. Zufriedenheit und Nüchternheit sind zwei Zustände, welche dem Ermittler gänzlich fremd sind, der jede Möglichkeit, den regionalen Zuckerrohrschnaps Tranpe herunterkippen zu können, genauso mit Freuden wahrnimmt, wie die Dienste der hiesigen Prostituierten.

Trotz des dauerhaften Alkoholrauschs bleibt er sich aber seiner Lage bewusst. Wohl wissend, dass er mit seinen geringen finanziellen Mitteln seiner mutterlosen Tochter Mireya ein ähnliches Schicksal in Haiti nicht ersparen kann, plant er, diese schweren Herzens für eine Adoption aus dem Ausland freizugeben. Als Vermittler dient die Kirche vom Blut der Apostel, ein evangelikales Pensionat, in dem sie bereits seit einiger Zeit lebt und auch ihre Schulbildung erhält. Zumindest für sie, so scheint es, könnte es also einen Ausweg aus diesen Schweinezeiten geben. Doch recht schnell zeigt sich, dass auch diese Hoffnung inmitten eines hoffnungslosen Landes trügerisch ist. Drei Tage bevor Mireya aus Haiti weggebracht werden soll, spitzen sich die Ereignisse plötzlich zu. Als Azémar das Kind einer Bekannten aus den Fängen eines hiesigen Voodoo-Priesters befreien will – das Geld zur Auslösung kann diese schlicht nicht aufbringen – greift er kurzerhand zur Waffe und erschießt sowohl den vermeintlichen Heiler als auch zwei seiner Komplizen. Ein Mord, der auch auf einer korrupten und von Verbrechern durchsetzten Dienststelle wie der seinen nicht unbemerkt bleibt. Doch damit nicht genug:

Mireya erzählt ihm von seltsamen Träumen, in denen sie Azémars alten Kollegen Wachtmeister Colin mit Schweineohren vor sich sieht. Eigentlich nur eine aberwitzige Kinderphantasie und dennoch löst sie Unbehagen in ihrem Vater aus, denn sein einstiger Ziehsohn bei der Polizei, in den er große Hoffnungen gesetzt hatte, ist seit einiger Zeit wie vom Erdboden verschluckt. Azémar nimmt dessen Spur auf und beginnt auf eigene Faust mit den Ermittlungen, die interessanterweise auch in den Kreis der Kirche vom Blut der Apostel führen. Als er erkennt, welch perfides Spiel im Namen Gottes getrieben wird, ist es fast zu spät …

Nun ja, wenn wir mal ganz ehrlich zu uns selbst sind – jeder der schon den ein oder anderen Krimi gelesen hat, wird sich bereits jetzt ein ziemlich klares Bild davon machen können, wohin die Reise im weiteren, ohnehin sehr übersichtlichen Verlauf (das Buch hat gerade mal 148 Seiten und damit Novellencharakter) gehen wird. Und es stimmt wohl, wenn man konstatiert, dass Victor in Punkto Plotbuilding oder auch Spannungsaufbau hier nicht die Sterne vom Himmel geholt hat. Gleichzeitig hat dies allerdings auch kaum Gewicht, denn er weiß stattdessen an ganz anderer Stelle, nämlich bei der Atmosphäre zu punkten. Das Etikett „Noir“ ist inzwischen ein vielfach verteiltes, welches überall mit Wonne verklebt und vergeben wird, wenngleich der betitelte Inhalt mit dem Urtypus dieses Genre zumeist kaum noch etwas zu tun hat. Denn Nein, ein versoffener Ermittler allein reicht für diese Typisierung bei weitem nicht aus. Der Noir hat sich seit jeher vor allem als Literatur der Krise verstanden, als Transportmittel der realen gesellschaftlichen Umstände einer Stadt oder eines Landes – und damit als beste Möglichkeit, um die regionale oder kulturelle Distanz zwischen Schauplatz und Leser zu überwinden.

Gary Victor versucht in „Schweinezeiten“ erst gar nicht, über irgendetwas den Mantel des Schweigens auszubreiten, sondern schildert sein von ihm erfahrenes Haiti schonungslos und bis ins kleinste Detail. Er zeigt uns ein ausgeblutetes, von der Sonne verbranntes Land, das trotz seiner klimatischen Lage statt Exotik nur Verzweiflung ausstrahlt. Und er zeigt es uns nicht behutsam, sondern reißt uns hart am Schopfe, macht ein Abwenden unmöglich, hält uns den Geruch von Armut, Gewalt und Tod direkt unter die Nase. Selbst weniger dünnhäutige Leser wird diese Lektüre, diese tiefe Aussichtslosigkeit nicht kalt lassen können, da sie keines künstlerischen Ursprungs, sondern vielmehr Abbild des Ist-Zustands ist. Ein Ist-Zustand, der eben dann letztlich auch das Handeln des Protagonisten Azémars bedingt, dessen Skizzierung ich zu den größten Stärken dieses Romans zähle. Kaputte Schnüffler gibt es nun bereits wie Sand am Meer – und auch literarisch über den ganzen Globus verteilt. Mit Gary Victors Anti-Held erreichen wir aber in der Tat nochmal eine andere Stufe bzw. legen eine tiefer verborgene Schicht frei, die mich unerwarteterweise emotional ziemlich angefasst hat.

Und auch Schreiben kann Victor. Seine Sprache ist unaufgeregt, pragmatisch, kalt und doch nicht bar einer gewissen, vielleicht gar kreolischen Poesie. So wie er es darlegt, wie er den Rhythmus aufbaut – so konnte das auch nur aus der Feder eines Haitianers geschehen, der natürlich, wie könnte es auch anders sein, dem okkulten Glauben seiner Heimat Tribut zollt. Wie auch Blog-Kollegin Christina Benedikt, so kam auch mir in manchen Szenen hier Franz Kafka und insbesondere sein Werk „Die Verwandlung“ in den Sinn, so nah ist Victor am rätselhaften, unheimlichen Ton des berühmten Pragers. Wenn es denn Lichtstimmungen in einem Buch gibt – ich habe bei einer Lektüre tatsächlich immer solche vor dem geistigen Auge – so dominieren in „Schweinezeiten“ trotz der brennenden Sonne vor allem die von ihr geworfenen, langen Schatten, in denen sich Dinge abspielen, die sich rational nicht erklären lassen. Ob diese Ausflüge ins Übernatürliche nun unbedingt sein mussten, sei dahingestellt (ich persönlich hätte darauf verzichten können) – sie fügen sich aber in jedem Fall reibungslos ins dieses kleine nachtschwarze Werk ein.

Die breite Masse kann und will „Schweinezeiten“ am Ende sicher nicht bedienen. Und sind wir mal ganz ehrlich, es hieße auch Perlen vor die Säue (oder sollte ich lieber Schweine sagen?) werfen. Alle diejenigen, die aber nach einer besonderen Erfahrung im literarischen Krimi immer gerne Ausschau halten und welche die künstlerische Leistung eines Autors zu würdigen wissen – denen sei dieses Buch unbedingt ans Herz gelegt.

Wertung: 81 von 100 Trefferneinschuss2

  • Autor: Gary Victor
  • Titel: Schweinezeiten
  • Originaltitel: Saisons de porcs
  • Übersetzer: Peter Trier
  • Verlag: Unionsverlag
  • Erschienen: 03.2016
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 156
  • ISBN: 978-3293207288

Should I stay or should I go?

© Steidl

In der Retrospektive eine Besprechung auf Papier zu bringen, welche zumindest den eigenen Ansprüchen hinreichend gerecht wird, kann ein mitunter schweres Unterfangen sein. Insbesondere dann, wenn man nicht zu der Kategorie Leser gehört, der sich während seiner Lektüre irgendwelche Notizen oder Vermerke macht. Knapp ein halbes Jahr nach meinem literarischen Ausflug in den westlichsten Winkel Irlands stiere ich daher weitestgehend ratlos auf ein leeres Word-Dokument und versuche die im Gedächtnis verschütt gegangenen Erinnerungen hervorzuholen. Und ich habe Glück. Oder besser gesagt, ich habe „Junge Wölfe“ gelesen, das schriftstellerische Debüt des Autors Colin Barrett, der, gerade mal einen Jahrgang älter als ich, bereits hier ein äußerst dickes Ausrufezeichen gesetzt hat, welches für zukünftige Werke viel verspricht.

Eigentlich müsste man gar von mehreren Ausrufezeichen sprechen, denn in diesem Erzählband vereint Barrett gleich sieben verschiedene Kurzgeschichten, die allesamt nicht nur vom großen Talent ihres Verfassers künden, sondern eben auch nachhaltig zu wirken verstehen. Und so füllt sich dann doch das zuvor viele Weiß dieses Text-Dokument zunehmend mit schwarzen Buchstaben – angefeuert von dem Anliegen, noch vielen weiteren Lesern dieses persönliche Highlight meines Lesejahres 2018 schmackhaft zu machen.

Junge Wölfe“, 2013 unter dem Originaltitel „Young Skins“ erst in Irland und dann ein Jahr später auch in Großbritannien erschienen, reiht sich ein in die erlesene Auswahl des Steidl-Verlags, der den meisten wohl in erster Linie aufgrund von Günther Grass ein Begriff sein dürfte, aber bereits seit einiger Zeit auch durch seine Veröffentlichungen von der grünen Insel auf sich aufmerksam macht. Zumindest im Feuilleton, denn ich werde das Gefühl nicht los, dass selbst der traditionsreiche Steidl Verlag schon öfter die leidige Erfahrung machen musste, dass hohe Qualität nicht gleichbedeutend mit Umsatz ist. Umso wichtiger also dieses Juwel herauszustellen, in dem folgende Stories enthalten sind:

  • Der kleine Clancy
  • Köder
  • Der Mond
  • Wehr Dich Deiner Haut
  • Ruhig mit den Pfernden
  • Diamanten
  • Vergessen Sie freundlicherweise meine Anwesenheit

Nun möchte ich vorab erwähnt haben, dass „Junge Wölfe“ mit dem üblichen Irland-Bild sowohl auf den ersten als auch auf den zweiten Blick so gar nichts gemein hat. Grüne Wiesen, auf denen heimelige Reetdach-Pubs von bierseligen Frohnaturen im Leprechaun-Look bevölkert werden – sie sucht man hier vergebens, denn Barretts Blick ist nicht nur ungeschönt, sondern messerscharf, hart und getränkt von einer Melancholie, welche sich wie der bleierne Atlantik-Nebel über das Wirken der Figuren legt, die sich wiederum zumeist in irgendeiner Art von Existenzkampf befinden. Ein Kampf, der sie an den Rand der Legalität und auch darüber hinaus führt. Und auch eine Rebellion gegen gesellschaftliche und finanzielle Barrieren bzw. der Versuch diese zu überwinden, um eigene Sehnsüchte und Träume zu verwirklichen, was sich fernab großer Metropolen wie Dublin – in einem Irland, das noch immer unter den Nachwirkungen der Weltwirtschaftskrise leidet – als äußerst schwierig erweist. Dabei fängt Colin Barrett sowohl wortwörtlich als auch inhaltlich im Kleinen an.

In „Der kleine Clancy“ begegnen wir dem jungen Jimmy in einer unvermeidlichen irischen Kneipe, wo er, gemeinsam mit seinem Freund Tug, ein einfältiger Hau-Drauf, ein schon drei Tage andauerndes Besäufnis ausklingen lässt. Hier trifft er auch auf seine Ex Marlene, welche inzwischen die Gesellschaft ihres neuen Lovers überdeutlich genießt, was dem „Abnutzungsfest“ ein jähes Ende bereitet, als sich Tug, ganz der hilfsbereite Kumpel, des Autos von Jimmys Nachfolger annimmt. Das Resultat seiner Tat darf man auf dem Cover der deutschen Ausgabe von „Junge Wölfe“ bewundern. Mit knapp zwanzig Seiten ist der Einstieg in diesen Erzählband zwar verhältnismäßig kurz, gibt aber bereits einen guten Eindruck davon, wohin der Kurs gesetzt wird. Es geht um Lieblosigkeit, Auflehnung und Wehmut. Um eine vermeintlich verlorene Generation ohne wirkliche Perspektive, in der vieles nicht so ist, wie es auf den ersten Blick scheint. In diesem Fall verkörpert durch Tug, dessen Sorge um ein seit längerem vermisstes Kind sein grobschlächtiges Äußeres letztlich Lügen straft.

Auch die nachfolgende Geschichte „Köder“ ist im Kneipen-Milieu angesiedelt und erzählt vom selbstbewussten Billard-Spieler Matteen, der sich im Übermut seines Könnens mit dem Kleinstadtgangster Tansey anlegt. Insbesondere das Ende setzt der Autor hier äußerst atmosphärisch in Szene. „Der Mond“ überrascht anschließend durch seinen eher ruhigen Ton, in dem Barrett sich der Sehnsucht nach der Liebe widmet, als Setting dafür aber die dunklen Ecken eines Nachtclubs und als Protagonisten einen knallharten Türsteher wählt. Gerade die Art und Weise in der mit dreckiger Sprache den zarten Gefühlen Ausdruck verliehen wird, macht diese Geschichte zu einem Highlight, zumal wenige knappe Worte genügen, um nicht nur den Figuren eine äußerst glaubwürdige Tiefe zu verleihen, sondern auch um uns Leser sogleich gefangen zu nehmen. Dieser Variantenreichtum auf kleinstem Raum – Barrett beherrscht ihn bereits in diesem Debüt meisterhaft. Das hat zur Folge, dass auch alle weiteren Stories im Niveau nicht abfallen. Im Gegenteil.

In „Wehr Dich Deiner Haut“ begegnen wir Eamonn Battigan, der sich seinen Lebensunterhalt als Hilfsarbeiter an einer Tankstelle verdient und von einer lange zurückliegenden Prügelei sowohl ein entstelltes Gesicht als auch eine chronische Migräne zurückbehalten hat. Seit diesem Zwischenfall, der ihm fast das Leben gekostet hätte, hat sich „Bat“, wie alle ihn nennen, von seinen Mitmenschen zurückgezogen. Die Gesellschaft anderer meidet er, lebt allein mit seiner Mutter, die ihm in schöner Regelmäßigkeit die Haare schneidet. Das Schicksal scheint ihm zur Einsamkeit verdammt zu haben und trotzdem bietet sich nun die Chance, an der Abschiedsfeier eines ehemaligen Kollegen teilzunehmen. Bat willigt widerwillig ein auch zu kommen, nur um sich in der fröhlichen, saufenden Menschenmenge recht schnell seine fehlende Dazugehörigkeit noch mehr zu vergegenwärtigen. Und so „überlasst er die Menschen den Menschen“ in stoischer Resignation. Barrett gelingt mit dieser traurigen Geschichte ein grandioser Balanceakt zwischen Hoffnung und Hoffnungslosigkeit, Aufbruch und Aufgabe, Bleiben und Gehen. Auf nur wenigen Seiten werfen wir nicht nur einen durchdringenden Blick in Bats Seele, sondern auch in die Seele dieses ganzen Landstrichs. Einem grauen Niemandsland, dem man genauso entfliehen will, wie man sich ihm zugehörig fühlt. Heimat und Gefängnis zugleich.

Den Höhepunkt stellt aber ohne Zweifel „Ruhig mit den Pferden“ dar. Eine Kurzgeschichte, die mit rund 90 Seiten bereits Novellenumfang aufweist und auch am stärksten verdeutlicht, wie viel Potenzial in diesem Autor noch schlummert. Ich fühlte mich stark an William Gay, Breece D’J Pancake, Daniel Woodrell, Tom Franklin oder Kurt Vonnegut erinnert, denn wie diese großen Namen, so hat gleichfalls Barrett das kleinkriminelle Milieu in solchem Maße verdichtet, dass man als Leser gar nicht anders kann, als die Seiten fester zu sich heranzuziehen. Die einzige Zutat, die es dafür braucht, ist „gritty realism“, welcher den Ton in dieser Geschichte um den jungen Vater und Kleinstadtgangster Dympna bestimmt, ältester Sohn einer Familie mit fragwürdigen Ruf, die mittlerweile vor allem von ihrem Marihuana-Anbau lebt. Als eine seiner Schwestern von einem von Dympnas Dealern im Alkoholrausch angemacht wird, fordern seine beiden Onkel, ebenfalls am Drogen-Geschäft beteiligt, deren Ehre wiederherzustellen. Doch ihnen reicht die übliche Abreibung nicht, sie fordern die Exekution des Mannes. Dympna und seine rechte Hand Arm sehen in dieser Überreaktion ein Zeichen, das komplette Geschäft zu übernehmen. Keine einfache Aufgabe, sitzen seine Onkel doch in ihrer Plantage direkt an der Quelle. Und dann ist da schließlich auch noch Dympnas autistischer Sohn, der immer mehr Raum in seinem Leben einnimmt.

Tiefste Provinz. Archaische Gewalt. Ziselierte Spannung. Verrückte Hinterwäldler. „Ruhe mit den Pferden“ ist ein irischer Country Noir reinsten Wassers mit backsteinharten Auseinandersetzungen, dessen ruhige Momente die kämpferischen Ausbrüche wunderbar kontrastieren, so dass hier Magen und Herz des Lesers gleichsam in Wallung gebracht werden. Eine bockstarke, düstere und letztlich auch tragische Geschichte, die ich dann tatsächlich selbst so lange Zeit nach der Lektüre fast immer noch eins zu eins wiedergeben kann. Welch größeres Kompliment könnte man Barrett machen?

Komplettiert werden die Erzählungen durch die beiden Kurzgeschichten „Diamanten“ und „Vergessen Sie freundlicherweise meine Anwesenheit“. Während erstere weniger Eindruck hinterlassen hat, läuft Barrett in letztgenannter nochmal zur Höchstform auf. Obwohl sich hier eigentlich nur zwei Männer in einem Pub unterhalten, um die Zeit totzuschlagen, bis der von beiden erwartete Trauerzug zum Friedhof vorbeizieht, könnte man kaum mehr an den „Lippen“ des Autors hängen. Der Clou: Beide Männer hatten in der Vergangenheit eine Beziehung mit der Verstorbenen und lassen dies nun gemeinsam Revue passieren – hin und hergerissen zwischen der Wahl, mit zum Grab zu gehen oder lieber im Pub zu bleiben. Womit sich der Kreis schließt und wir wieder bei einem der zentralen Themen dieses Erzählbands landen: Der Versuch, aus der Komfortzone auszubrechen, etwas Neues zu wagen, den einen Schritt zu setzen, der ins Unbekannte führt – nur um dann am Ende doch das Bekannte dem Wagnis vorzuziehen.

So zögerlich sollten interessierte Leser bei „Junge Wölfe“ dann bitte nicht sein. Colin Barretts Erstlingswerk ist ganz große, entdeckungswürdige Literatur und eine unbedingte Empfehlung meinerseits.

Wertung: 93 von 100 Treffern

einschuss2
  • Autor: Colin Barrett
  • Titel: Junge Wölfe
  • Originaltitel: Young Skins
  • Übersetzer: Hans-Christian Oeser
  • Verlag: Steidl
  • Erschienen: 03/2016
  • Einband: Hardcover
  • Seiten: 224 Seiten
  • ISBN: 978-3958291348

Noir endlich

© Polar

Es gibt doch nichts Schöneres, als wenn sich unausgesprochene Wünsche erfüllen. So geschehen im Januar 2015, als der zum damaligen Zeitpunkt noch relative junge Polar Verlag Ray Banks‚ Standalone „Dead Money“ auf den deutschen Buchmarkt warf – wo dieses, wie leider so viele andere Titel aus Wolfgang Franßens erlesenen Ensemble, trotz vielfacher, guter Feuilletonkritiken keinen größeren Eindruck hinterlassen konnte.

Mir war es letztlich gleich, hatten doch Schriftsteller-Kollegen wie z.B. Ian Rankin ihn in Interviews zu oft und zu sehr gelobt, um ihn links lassen zu können. Mehr noch: Banks, wie Rankin ein echter Fifer und damit auf dem Edinburgh gegenüberliegenden Ufer des Firth of Forth aufgewachsen, gilt in Schottland bereits seit längerer Zeit als absoluter Kult-Autor. Eine Übersetzung war also mehr als überfällig, wiewohl es wenig verwundert, dass auch dieses literarische Produkt aus dem Land des Whisky erst mit einiger Verzögerung den Weg zu uns gefunden hat. Ein Schicksal, das sich Banks ebenfalls mit Rankin teilt. Wenngleich wir schnell dabei sind, noch den x-ten Bretagne-Krimi zeitnah zu veröffentlichen und in Massen auf den Buchhandlungstischen zu platzieren – den Norden des Vereinigten Königreichs rückt man hierzulande im Bereich der Spannungsliteratur seit jeher weit weniger intensiv in den Fokus. Beste Gelegenheit also, diesen losen Faden hier aufzugreifen und Ray Banks die dringend benötigte und vor allem verdiente Aufmerksamkeit zu schenken. Ja, verdient, denn „Dead Money“, bereits schon mal im Jahr 2000 als Manuskript unter dem Namen „The Big Blind“ verlegt, gehört genau in die Kategorie Erstlingswerk, der man ihren Debütcharakter mal so rein gar nicht anmerkt. Stattdessen erwartet den Leser ein Parforce-Ritt in bester Noir-Tradition, welcher zwar sichtlich von Banks großen Vorbildern beeinflusst ist und doch in seinem ganz eigenen Stil daherkommt. Worum geht es:

Gute Miene zum bösen Spiel – das ist Alan Slaters Lebenseinstellung. Während er am Tage mit steinhartem Grinsen Doppelglasfenster an widerwillige Kunden vertickt, flüchtet er des Nachts vor der ungeliebten Frau in die dreckigsten und dunkelsten Spielhöllen von Manchester. Stets an seiner Seite: Sein bester, weil auch irgendwie einziger Freund Les Beale. Ein Choleriker der schlimmsten Sorte, welcher bereits in den meisten Pubs und Casinos der Stadt Hausverbot hat, nichtsdestotrotz aber weiter seinen Traum vom großen Jackpot lebt und dafür auch bereit ist, sein Glück zu erzwingen. Zum Leidwesen von Alan, der wegen Les‘ losem Mundwerk immer wieder in Schwierigkeiten gerät und seinem trostlosen Dasein mittels einer Affäre mit der jungen Studentin Judy zu entfliehen versucht. Es bleibt jedoch beim Versuch, denn die gute Judy ist zwar leicht zu haben, aber finanziell anspruchsvoll und die Liaison somit kostspielig. Als Les ihm von einem geheimen Poker-Turnier mit garantiertem Gewinn erzählt, nimmt Alan dennoch Abstand. Die Sache ist ihm zu heiß. Und er soll mit seinem Argwohn Recht behalten.

Die sichere Sache ist in Wirklichkeit ein abgekartetes Spiel. Statt auf einem Pott von Geld sitzt Les am Ende auf einer Leiche. Nur Alan kann noch helfen, der sich tatsächlich dazu überreden lässt, den Körper im Kanal bei Salford zu versenken. Eine folgenschwere Entscheidung, denn die Entsorgung verläuft nicht ohne Probleme – und Les Geldschulden bringen sie ins Blickfeld eines hiesigen Gangsters, zu dessen Stärken Geduld nicht gehört …

Dead Money“ – Das ist in erster Linie ein Roman über Kontrollverlust. Ein Kontrollverlust, den Alan Slater zwar bis zum bitteren Ende leugnet, der ihn aber letztlich unaufhaltsam Richtung Abgrund zieht, beschleunigt doch jede getroffene Entscheidung nur den freien Fall, in dem er sich befindet. Eine Tatsache, die Slater ebenso beharrlich ignoriert, wie jegliche Parallelen zu Les Beale, für den er sich in Kollegenkreisen oder bei seiner Frau immer wieder entschuldigt.

(…) „Ich war erledigt. Zeit für was Neues: Ich sollte aufhören, so viele verdammt bescheuerte Risiken einzugehen. Ich hatte mich zu lange von Beale runterziehen lassen und dem ganzen Rest. Ich musste Abstand gewinnen und mir meine Prioritäten klarmachen. Wieder Kontrolle über mein Leben kriegen.“ (…)

Doch sein Versuch Abstand zu gewinnen, er ist bestenfalls halbherzig, denn in Wirklichkeit braucht er das Risiko und die Aufregung, sind sie schließlich das Einzige, was Abwechslung in sein eintöniges Leben bringt, das wiederum vollkommen von Materialismus geprägt ist. Gewinn, Umsatz, Zahlen – Alles dreht sich um Geld. Ein Hauen und Stechen, das alle Beteiligten zu dumpfen Automaten abstumpfen lässt. Menschlichkeit ist nur noch eine Fassade, ein Mittel zum Zweck – ein falsches, schales und liebloses Lächeln, hinter dem sich nichts als Leere verbirgt und das Slater selbst zuhause nicht mehr ablegen kann. Ein Ort, den er ohnehin nur so lange wie notwendig aufsucht, um sich möglichst schnell wieder ins dunkle Nachtleben zu stürzen und damit unbewusst seine eigene Demontage voranzutreiben. Banks schildert dies im weiteren Verlauf zunehmend drastischer und drückt das Gaspedal für das Erzähltempo bis aufs Bodenblech, wobei er seinen Protagonisten auf der Strecke in jede noch so kleine Leitplanke knallen lässt.

Es ist dabei mehr als nur offensichtlich, dass in Alan Slater ein gehörige Portion Ray Banks steckt, der selbst eine Zeitlang Doppelglasfenster an den Mann gebracht und sogar als Croupier in einem Casino in Manchester gearbeitet hat – zumindest bis zu dem Moment, als eine Gruppe Männer mit einem Auto durch den Eingang rauschte, um dieses auszurauben. Und auch der exzessive Alkoholgenuss ist mitunter zu plastisch geschildert, als das Banks da nicht selbst seine Erfahrungen mit gehabt hätte. Möglicherweise geprägt durch seine literarischen Vorbilder wie James M. Cain, Jim Thompson, Hubert Selby, Ken Bruen oder Charles Willeford (Banks Carl-Innes-Reihe ist durchaus als Hommage an Willefords Hoke-Moseley-Quartett zu verstehen), welche er in jungen Jahren verschlang und die ihn letztlich auch dazu inspirierten sein Studium von Kunst und Theaterwissenschaft hinzuschmeißen – und von Coventry in die Industrie-Stadt Manchester zu ziehen. Das passende Pflaster für einen Roman wie „Dead Money“, der in der Tat von seinem Schauplatz und von Banks stilsicheren Gespür für Sprache lebt.

Die ist mitunter äußerst dreckig und hart, aber vor allem bar jeglicher künstlicher Ausschmückungen. Banks verzichtet auf größeres Personal oder komplexere Handlungsebenen und treibt stattdessen den Plot geradlinig dem Ende entgegen, dessen Ich-Erzähler als dramaturgische Abrissbirne alles auf seinem Weg zum Einsturz und den Leser damit an seine Grenzen bringt. Banks steht hier in nichts seinen Idolen nach, weiß die Elemente des Noirs zielgenau und vor allem literarisch ansprechend und leidenschaftlich in Szene zu setzen. Die ganze Ausweglosigkeit von Alan Slaters Situation – sie ist nichts geringeres als mitreißend und lässt uns, trotz fehlender Sympathiepunkte des Erzählers, dann am Ende auch ironischerweise mitfühlen. Wenn dieser zum x-ten Mal seine Rennie-Tabletten mit Alk tränkt, kommt man nicht umhin, selbst ein Magengrummeln zu empfinden. Nein, dieser ganze Scheiß, er kann schlicht nicht gut ausgehen. Da helfen auch keine Säureblocker mehr. Doch selbst das sichere Wissen, dass dem so ist, hält nicht davon ab, die Seiten fester zu packen und diese in zunehmender Geschwindigkeit zu verschlingen.

Dead Money“ ist ein lautstarker, nihilistischer Abstieg in den Sündenpfuhl Manchester. Eine Reise ohne Wiederkehr und ein Noir reinsten Wassers, hochklassig in seiner Präsentation und mit genau dem richtigen Maß an anarchistischem Wahnsinn zu Ende gebracht. Ein Ende, welches keinerlei Illusionen mehr übrig lässt und für Alan Slater vor allem eins nochmal eindringlich verdeutlicht:

Rien ne va plus. Nichts geht mehr.

Wertung: 88 von 100 Treffern

einschuss2
  • Autor: Ray Banks
  • Titel: Dead Money
  • Originaltitel: Dead Money
  • Übersetzer: Antje Maria Greisiger
  • Verlag: Polar
  • Erschienen: 01/2015
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 220 Seiten
  • ISBN: 978-3945133255

Im Hinterland, die Hölle

© Heyne

Hört ihr Pferdewiehern oder das Quietschen von gutem Leder, so schärfte man den Kindern von Mitcham Beat ein, dann lauft und versteckt euch.

Dies ist ein Zitat aus dem Buch „The Mitcham War of Clarke County, Alabama“ von Harvey H. Jackson III., in welchem er, gemeinsam mit den Co-Autoren Joyce White Burrage und James A. Cox, die bürgerkriegsähnlichen Zustände im Clarke County von 1892 thematisiert, die aufgrund gleich einer Reihe brutaler Morde bis heute fest im Gedächtnis der Region verankert sind und auch den Autoren Tom Franklin zu seinem Debütroman „Die Gefürchteten“ inspirierten.

Franklin, selbst in Alabama geboren und aufgewachsen, greift die geschichtlichen Ereignisse rund um die so genannte „Hell-at-the-Breech“-Bande auf und formt aus ihnen mit einiger kreativer Freiheit einen waschechten „Southern-Gothic“, der in seinen besten Momenten den Vergleich mit Cormac McCarthy, Flannery O’Connor oder William Faulkner keinesfalls zu scheuen braucht. Und wenngleich er dabei von Setting und Ton her an cineastische Machwerke wie „Open Range“ oder „Gnadenlos“ erinnert und teils gar klassische Western-Themen bedient, stilistisch orientiert er sich stattdessen eher an den Vertretern aus der ersten Großen Depression. Diese hatte insbesondere den Süden der USA in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hart getroffen, der nach Ende des Amerikanischen Bürgerkriegs und der damit einhergehenden Abschaffung der Sklaverei ohnehin wirtschaftlich darniederlag. Ehemalige Farmbesitzer schufteten nun selbst von morgens bis abends auf ihren Baumwollfeldern. Viele von ihnen mussten Pachten an die neuen Besitzer in den Städten zahlen und waren danach gerade noch so in der Lage sich selbst zu ernähren. Der einstige Stolz und die moralische Überlegenheit – sie waren Selbstzweifeln und Minderwertigkeitskomplexen gewichen. Inmitten dieser von Missgunst und Rachegefühlen geschwängerten Atmosphäre nimmt „Die Gefürchteten“ seinen Anfang.

September 1897, Mitcham Beat, Alabama. Die beiden Brüder William und Mack Burke, zwei Waisen, die von der alten Hebamme und Witwe Gates großgezogen wurden, sind auf Freiersfüßen. Sie wollen der Hure Annie einen Besuch abstatten. Um das dafür benötigte Geld zu beschaffen, schleichen sie sich als Räuber verkleidet im Dickicht an den Ladenbesitzer und aufstrebenden Lokalpolitiker Arch Bedsole heran. Doch die Nacht ist dunkel, der Boden unwegsam und Mack Burkes Hand schweißnass. Als er in der Bewegung mit dem Knie wegknickt, löst sich ein Schuss und Bedsole fällt tot vom Pferd. Zu diesem Zeitpunkt kann keiner von den beiden ahnen, dass diese Tat für die gesamte Umgebung schwerwiegende Folgen haben wird, denn Arch Bedsoles Cousin Tooch nutzt diese Gelegenheit nicht nur um dessen Geschäft zu übernehmen, sondern hebt gleichzeitig einen Geheimbund aus der Taufe. Vordergründig soll er die Interessen der verarmten Farmer vor der Willkür der Städter aus Grove Hill schützen – in Wirklichkeit dient er vor allem dazu, um sich gegenseitig eines Alibis zu versichern, wenn auserwählte Mitglieder mit gezogener Waffe und schwarzen Kapuzen ihr Unwesen treiben.

Es dauert nicht lange und bald wird die gesamte Gegend von der so genannten „Hell-at-the-Breech“-Bande terrorisiert. Es kommt zu Lynchjustiz und zu Angriffen auf Schwarze. Wer sich unter der Landbevölkerung weigert die Bande zu unterstützen, zahlt mit Blut oder gar mit dem Leben. Als die ersten Nachrichten von brutalen Überfällen Grove Hill erreichen, wird der Ruf nach Gerechtigkeit laut. Doch der alte Sheriff Billy Waite hat mit sich selbst und vor allem mit dem Alkohol zu kämpfen. Seit längerem weigert er sich beharrlich, jemanden zum Deputy zu benennen. Und fast ebenso lange hat er sich nicht mehr im Umland von Mitcham Beat blicken lassen. Mit dem Mord an dem Farmer Anderson ist aber auch er schließlich gezwungen zu handeln. Während er sich mit seinem treuen Gaul King durch das Gehölz des Bear Thicket kämpft, plagen seinen Cousin Oscar York Zweifel. Der Richter von Grove Hill glaubt nicht, dass der Sheriff in der Lage ist, die Situation zu lösen und nimmt daher die Hilfe des ehrgeizigen Ardy Grant in Anspruch. Unwissentlich schließt er damit einen Pakt mit dem Teufel, denn Grant ist nicht das, was er zu sein scheint …

Vertreter des „Southern Gothic“ werden oftmals auch als „Country Noir“ beworben und wenn letztere Plakatierung wohl je gepasst hat, dann bei „Die Gefürchteten“, denn diese Lektüre ist nichts weniger als ein Parforceritt ohne Sattel durch tiefste menschliche Abgründe – von Autor Tom Franklin in einer Lakonie kredenzt, welche noch der muntersten Frohnatur das Lächeln mit knallharter Schreibe aus der Fresse haut. Entspannt zurücklehnen und genießen, das kann man hier getrost vergessen. Von Beginn an legt sich mit bleierner Schwere eine deprimierende und rigoros nihilistische Grundstimmung über das Geschehen, welche den Leser aus seiner gemütlichen Sofa-Ecke in den Nahkampf mit den eigenen Gefühlen zerrt. Die ärmlichen Bedingungen unter denen die Farmer ihre Familie großziehen müssen – sie schildert Franklin in einer drastischen Konsequenz, die jegliche Distanz zum Buch unmöglich macht. So wird schon auf den ersten Seiten ein Sack voller Welpen im Fluss ertränkt. Mehr als den einen Hund kann die alte Witwe schließlich nicht ernähren. Und es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass sie Mack diese Aufgabe überlässt, der damit zum zweiten Mal in kurzer Zeit zum Mörder wird.

Inmitten der dunklen Wälder, zwischen weißen Baumwollfeldern und maroden Holzhütten – hier droht eine ganze Generation dem Vergessen anheim zu fallen. Und so fällt es schwer, nicht die Bitternis nachzufühlen, welche die Bewohner von Mitcham Beat empfinden, die trotz schwerster körperlicher Arbeit am „American Way of Life“ nie teilnehmen werden, beim Streben nach Glück von ihren Nachbarn in der Stadt zurückgelassen wurden. Die wiederum nutzen jede Tragödie, um sich am Leid ihrer Pächter zu bereichern. Notfalls sogar durch Meineid, was im vorliegenden Fall dazu führt, dass die Bürger der Stadt selbst zur Waffe greifen und als wilder Mob der Bande entgegenreiten. Bis dahin lässt sich Tom Franklin ausgiebig Zeit. Meines Erachtens manchmal etwas zu viel, wenn er gewisse Szenen im wahrsten Sinne des Wortes zu sehr ausreitet, anstatt sie der Fantasie des Lesers zu überlassen.

Aber auch Zeit, die er nutzt um Mack mit seinem Gewissen und Billy mit seinem Alkoholproblem und der nörgelnden Ehefrau kämpfen zu lassen. Letzteres klingt lustiger, als es dann im Buch wirklich ist, wie überhaupt man Humor eigentlich in diesem nachtschwarzen Werk vergeblich sucht. Dafür ist der Grundtenor allerdings auch viel zu ernst. So ernst, dass selbst Liebe ein Element ist, das es in „Die Gefürchteten“ schwer hat zur Entfaltung zu kommen. Zumindest bis ganz zum Schluss, wo die gesamte Handlung noch einmal eine überraschende Wendung erfährt und sich zudem die angestaute Spannung in einem brachialen Kugelhagel entlädt, der selbst für mich nur schwer zu ertragen war.

Wenn sich der Pulverdampf schließlich verzieht, ist der Plot um einige Figuren ärmer – und der Leser um eine eindringliche literarische Erfahrung reicher. „Die Gefürchteten“ – das ist ein Debüt bar jeglicher Sentimentalität und Wildwest-Romantik. Ein harter, bisweilen auch arg brutaler Trip ins Hinterland von Alabama, für den Tom Franklin in seiner Heimat zurecht gefeiert wurde und der hierzulande eine Neuauflage durchaus verdient hätte. Ein passender Moment wäre es, ist doch gerade erst bei Pulp Master mit „Krumme Type, krumme Type“ ein weiteres Werk des Schriftstellers in Erstveröffentlichung erschienen und vom Feuilleton gepriesen worden.

Wertung: 87 von 100 Treffern

einschuss2
  • Autor: Tom Franklin
  • Titel: Die Gefürchteten
  • Originaltitel: Hell at the Breech
  • Übersetzer: Wolfgang Müller
  • Verlag: Heyne
  • Erschienen: 01.2008
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 414 Seiten
  • ISBN: 978-3453431980