Während im Hintergrund der fantastische Song „Small Town Ghosts“ auf Dauerschleife läuft – die erste Singleauskopplung aus dem gleichnamigen Debütalbum der Band „All the Sea will tell“, einem Musik-Trio aus dem Kölner Raum, welches von Autor Sven Heuchert an der Gitarre komplettiert wird – lasse ich das soeben Gelesene nochmal in aller Ruhe Revue passieren.
Heucherts neuester Roman, „Das Gewicht des Ganzen“, mit gerade mal knapp 190 Seiten schon fast eher eine Novelle, hat einmal mehr seine Spuren bei mir hinterlassen. Nachdem ihm schon mit „Alte Erde“ ein großer Wurf gelungen ist, wählt er diesmal zwar einen in der Tonalität gänzlich anderen Ansatz, erzielt dabei jedoch die gleiche Wirkung. Statt wie so oft bei anderen Schriftstellern mit der letzten Seite und dem Buchdeckel auch gleichzeitig einen Abschluss zu finden, spürt man hier weiterhin die lakonische Wärme und Zärtlichkeit dieser Geschichte, die wie ein verdammt guter Single Malt erst im Abgang sein ganzes und vor allem komplexes Aroma entfaltet.
Spätestens nach diesem Werk müsste eigentlich jedem da draußen klar geworden sein, wie glücklich wir uns schätzen können, einen solchen Schreiber in unserer Mitte zu wissen. Ihn dabei stets im gleichen Atemzug auf seine amerikanische Art der Erzählung zu reduzieren, wird seinem Repertoire meines Erachtens übrigens nicht gerecht, ist es doch gerade seine Vielseitigkeit die immer wieder heraussticht, sein Mut, nicht stets die ewig gleichen Wege zu beschreiten, unbekanntes Terrain sowohl sprachlich als auch inhaltlich zu betreten. So hätten wohl viele (darunter auch ich selbst), allein aufgrund des gewählten Schauplatzes, einen weiteren typischen Country-Noir aus seiner Feder erwartet, nachdem „Alte Erde“ dieses Sub-Genre in Deutschland – auf außergewöhnliche Art und Weise – salonfähig gemacht hat. Stattdessen treffen wir nun auf ein noch weit feinfühligeres und reduziertes Stück Prosa, welches vielerorts die genau gegenteilige Richtung einschlägt. Wo Heuchert zuvor durchaus explizit wurde, lässt er hier jetzt vieles ungesagt und impliziert – überlässt es dem Leser, sich sein eigenes Bild von der Geschichte zu zeichnen, die an dieser Stelle nur kurz angerissen sei:
Die dünn besiedelte Provinz Ontario im Südwesten Kanadas. Hier, an den Ufern des gleichnamigen Sees und weiter im Norden, nahe Magnetawan, begegnen wir Russ und Milla. Ersterer, ein Antiquitätenhändler und seit seiner Kindheit am Roblin Lake fest mit der Region und der ihn umgebenden Wildnis verwachsen, lebt, nur einmal unglücklich verliebt, ein Leben in zurückgezogener Einsamkeit, welche nur von gelegentlichen Streifzügen auf der Suche nach weiteren historischen Schätzen, darunter auch alte Schusswaffen, unterbrochen wird. Eine solche wird ihm eines Tages auch von Milla angeboten. Die Deutsche, ehemalige Fernfahrerin, hat ihren Familienbetrieb in der Heimat, eine Spedition, nach einem Schicksalsschlag aufgegeben und auch sonst der Vergangenheit, inklusive Ehemann, den Rücken gekehrt. In einem alten Haus inmitten der kanadischen Wälder sucht sie Abstand vom Schmerz und Wege für einen Neuanfang, denn auf ihren Schultern lastet das Gewicht des Ganzen …
Angesichts des übersichtlichen Umfangs von Heucherts Roman, habe ich mich bewusst dagegen entschieden, zu verraten, was genau Milla in die Abgeschiedenheit der unendlichen und für uns Europäer kaum nachvollziehbaren Weiten Kanadas getrieben hat. Die Gründe für ihren Kummer und den Rückzug von den Menschen um sie herum – sie sind die Essenz dieses Buches, der ruhige und doch schnell fließende Fluss auf dem der in Troisdorf geborene Autor sein literarisches Floß aussetzt, in dem wir als Passagier mit jeder Seite tiefer in die undurchdringliche Wildnis eindringen. Wie schon zuvor in „Alte Erde“, so spielt auch hier die Natur eine elementare Rolle, ist fest mit den Figuren verwoben, bildet den Resonanzkörper für die Gefühle der beiden Protagonisten, welche sich einander– und damit auch dem Leser – nur nach und nach öffnen. Im Licht des Tages begegnen wir lange zwei wortkargen Menschen, die sich in erster Linie mit Blicken verständigen, zur Zigarette und dem Whisky greifen oder gemeinsam auf die Jagd gehen. Fast so als suchte ihr unruhiger Geist Zuflucht in irgendeiner Form von Tätigkeit.
Milla und Russ kommen sich nahe und sind doch in ihrer Einsamkeit getrennt. Die Nähe spendet weder Trost, noch lindert sie den Schmerz, den beide auf die jeweils eigene Art verarbeiten. Feinfühlig, sensibel und voller Melancholie, aber dann auch gleichzeitig hart und kalt, schildert Heuchert ihren Versuch, mit den Geistern der Vergangenheit abschließen zu können – und dabei zeitgleich irgendwie die eigene Identität wiederzufinden. Millas Selbstreflexion steht dabei oft im Mittelpunkt der Geschichte, deren Flucht auch eng mit der Frage nach der eigenen Schuld verwoben ist. Hat sie ihren Schicksalsschlag durch eigene Fehler selbst herbeigeführt? Inwieweit ist sie noch in der Lage, sich für andere Menschen zu öffnen und ein zweites Leben zu beginnen? Und gibt es so etwas wie eine weitere Chance für sie überhaupt? Heuchert überlässt es uns, Antworten auf diese Fragen zu finden und mit ihrer offensichtlichen Trauer umzugehen, welche er wie ein dunkles Tuch zwischen die Zeilen seiner Geschichte webt. Ihren Schmerz fühlbar zu machen, ohne sich dabei irgendwelcher Effekthascherei zu bedienen, ist die eine große Stärke dieses an Worten so sparsamen und Gefühlen so reichen Stücks Prosa.
Die zweite ist, wie schon erwähnt, Heucherts Gespür für Naturbeschreibungen. Ohne dafür je einen Fuß auf kanadischen Boden gesetzt haben zu müssen, erweckt der Autor vor unseren Augen die ganze Magie des hohen Nordens zum Leben, hören wir plötzlich das Rauschen des Gletscherwassers in den Bächen und sehen den kalten Atem des Weißwedelhirschs in der klirrenden Winterkälte Gestalt annehmen. Natürlich ist dies zu einem gewissen Grad ein romantisierender Blick, den Heuchert, der hier mit Sicherheit auch eigene Erfahrungen mit verarbeitet, auf seine zweite Heimat wirft. Dennoch ist es genau diese empathische, melancholische Präzision, sind es diese wenigen, flüchtigen Schritte heraus aus der Zivilisation in die archaische Wildnis, welche diese „Serenade of Solitude“ so lange eindringlich wirken und nachhallen lässt. Übrigens ganz bewusst der Titel dieser Besprechung, der sich auf ein Interlude aus dem genannten aktuellen Album von „All the Sea will tell“ bezieht und zu diesem Stück großartiger Literatur wie die Faust aufs Auge passt.
Als „Acoustic Storytelling“ versteht sich die Musik von Sven Heucherts Band. Und mit „Das Gewicht des Ganzen“ schlägt er nun eine formvollendete Brücke zur Literatur, hat er ein Echo dieser musikalischen Liebe für den rhythmischen Klang, die Natur und die ewigen Themen Liebe, Einsamkeit, Rausch und Vergänglichkeit zu Papier gebracht, das sich vor den ganz Großen der Gegenwartsliteratur nicht verstecken muss. Ganz im Gegenteil: Heucherts Roman gehört schon jetzt zu meinen persönlichen Entdeckungen des Jahres. Und man kann dem Buch gar nicht genug Leser wünschen.
Wertung: 90 von 100 Treffern
- Autor: Sven Heuchert
- Titel: Das Gewicht des Ganzen
- Originaltitel: –
- Übersetzer: –
- Verlag: Ullstein
- Erschienen: 02/2023
- Einband: Hardcover
- Seiten: 192 Seiten
- ISBN: 978-3550050725