Wie heißt es so schön: „Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, und wenn er auch die Wahrheit spricht.“ Eine Redewendung, welche zwar im politischen Milieu zumeist wenig Anwendung und Gehör findet, in Literatur-Kreisen aber durchaus schon die ein oder andere Karriere beenden konnte, weswegen die Veröffentlichung von „Ein strahlend schöner Morgen“ des amerikanischen Autors James Frey im Jahr 2008 von einigen Nebengeräuschen begleitet wurde.
Drei Jahre zuvor geriet seine Name groß in die Schlagzeilen, als der abschließende Band seiner zweiteiligen Autobiographie „Tausend kleine Scherben“ auf dem Markt erschien und Kritiker und Leser gleich mehrere Ungereimtheiten in seinen Büchern entdeckten. Frey, der hier in romanhafter Struktur von seinen eigenen Erfahrungen über Drogen- und Alkoholsucht erzählte, hatte in Wahrheit große Teile seines Lebens komplett frei erfunden und mit Details ausgeschmückt, die nach und nach widerlegt werden konnten. Die Hoffnung, sich als harter Hund von der Straße im Feuilleton zu platzieren, zerplatze damit zu Seifenblasen. Und so schien sein Weg als Schriftsteller vorbei, bevor er richtig gestartet war. Bis „Strahlend schöner Morgen“ das Licht der Welt erblickte.
Und wie bereits erwähnt, so traf auch dieses Werk von Beginn an ein gehöriges Maß an Skepsis. Doch ist der Ruf erst einmal ruiniert … James Frey arbeitete jedenfalls seine Fehler sehr offensiv auf, was sich bereits äußerst augenzwinkernd auf der allerersten Seite bemerkbar macht. „Vorsicht: Dies ist keine wahre Geschichte“, steht dort ohne weiteren Kommentar. Eine Ansage an alle Leser und Kritiker, die sicherlich auch als reuevoller Versuch der Rehabilitation verstanden werden darf. Aber hat Frey tatsächlich gänzlich aus seinen Fehlern gelernt? In jedem Fall macht er mit „Strahlend schöner Morgen“ nicht denselben nochmal, sondern konzentriert sich stattdessen auf seine durchaus zuvor schon zutage getretene Stärke, menschliche Schicksale in den mitunter komplexen Kontext zu ihrem Milieu zu stellen und daraus eine fiktionale Geschichte zu schmieden, welche mit einem sehr feinen Makro die oftmals Unsichtbaren in der Mitte unserer Gesellschaft ins Visier nimmt. Es sind aber nicht nur die Figuren, welche Frey so treffend zum Leben erwecken versteht. Vielmehr bildet diesmal die Stadt Los Angeles das bestimmende Zentrum eines eng gesponnenen Spinnennetzes, in dem er kaleidoskopartig („L.A. Crash“ lässt grüßen) unterschiedlichste Charaktere beleuchtet – und dabei mit der „Linse“ nur selten länger an einem Ort verweilt.
„Strahlend schöner Morgen“ könnte glatt als Kurzgeschichtensammlung durchgehen, wäre da nicht Freys umherschweifender Blick durch die Stadt der Engel, welche inzwischen fast symbolisch für den „Pursuit of Happiness“ steht. Diese fest im amerikanischen Selbstverständnis einbetonierte Legende vom Streben nach dem Glück, das jedem im „Land of the Free and Home of the Brave“ schon von der Verfassung her zusteht. Aber auch eine Legende, die leider nur allzu oft an der harten Realität von Unfreiheit, Diskriminierung, Angst, Mut- und Hoffnungslosigkeit zerschellt. Und genau diese Realität bekommt in Form der vier im Mittelpunkt des Romans stehenden Menschen ein äußerst unverfälschtes – und nachhaltig prägendes – Gesicht.
Da sind zu einem Dylan und Maddie. Ein junges Pärchen, gerade mal 19 Jahre alt, das seine Heimat, ein kleines Kaff in Ohio, hinter sich gelassen hat, um vor häuslicher Gewalt und betrunkenen Eltern nach L.A. zu fliehen und dort ein gemeinsames Leben zu beginnen. Geld haben sie keines. Und auch keine Unterkunft oder gar einen Job, allein ihre Liebe. Schnell müssen sie feststellen, dass diese Stadt keine Liebe erwidert und auch nicht belohnt. Dylan gelingt es zwar einen Job als Mechaniker in einer Motorrad-Werkstatt zu ergattern, aber als dessen Besitzer unerwünschten Besuch von einer Gang bekommt, wird er mit einer fatalen Versuchung konfrontiert. Tausende Dollar von Bargeld, von ihm in einem Versteck gefunden, welche auf einen Schlag die finanziellen Probleme lösen könnten. Doch zu welchem Preis?
Old Man Joes Schicksal ist ein noch weit Schlimmeres. Gerade mal 39 Jahre alt, aber inzwischen in der Gestalt eines alten Mannes, lebt er seit Jahren in den Straßen von Los Angeles, besser gesagt am Strand von Venice Beach, den er jeden Morgen mit jeweils einer Flasche Chablis, den er ausschließlich trinkt, einen Besuch abstattet. Hier, in der prallen Sonne und unter dem Rauschen des Meeres sucht er täglich Antworten auf die ewig gleichen Fragen. Warum ist er überhaupt hier? Was erwartet ihn noch im Leben? Nur um Abends in die Toilette eines Taco-Restaurants zurückzukehren, wo er seine Nacht verbringt. Diese Routine wird eines Tages jäh unterbrochen, als er ausgerechnet dort ein junges, drogensüchtiges Mädchen hinter einer Mülltonne auffindet. Sie wurde schlimm zusammengeschlagen und Old Man Joe, seit Jahren nur auf sich selbst und eine Flasche Chablis fokussiert, beschließt ihr zu helfen. Eine gute Tat, die nicht folgenlos bleibt.
Weit weg von den dreckigen Gassen L.A.s findet stattdessen das Leben des erfolgreichen Schauspielers Amberton Parker statt, der gemeinsam mit seiner Frau Casey, ebenfalls hochbezahlter Filmstar, und den drei Kindern auf den ersten Blick für alle den perfekten Traum von Hollywood lebt. Doch wie in ihren Filmen, so ist auch dieses prachtvolle Äußere nur eine perfekt konstruierte Fassade, die rein der Funktionalität wegen errichtet wurde. Amberton selbst ist schwul. Seine Frau wiederum sucht ihre sexuelle Erfüllung in den Armen anderer Frauen. Diese Regelung funktioniert für die Familie dennoch hervorragend, bis Amberton sich beginnt nach wahrer Liebe zu sehen. Er glaubt diese in dem gut aussehenden Sportler Kevin gefunden zu haben. Der sich lässt tatsächlich auf ein einmaliges Vergnügen mit ihm ein, hat jedoch keinerlei Interesse daran daraus mehr werden zu lassen. Eine Ablehnung, die Amberton in seinem Wahn und seiner Arroganz nicht akzeptieren kann und der zunehmend Druck ausübt, bis er schließlich gar als letztes Mittel zur Erpressung greift. Doch die Drohung verfehlt ihr Ziel und plötzlich hat ausgerechnet er, der bisher alles bekommen hat, worauf sein Blick fiel, eine Klage am Hals. Und der Skandal droht an die Öffentlichkeit zu geraten.
Desweiteren verfolgen wir den Weg von Esperanza. Tochter mexikanischer Einwanderer, die sich seit jungen Jahren wegen ihrer breiten Oberschenkel in der Öffentlichkeit schämt und aufgrund ihre Komplexe Schwierigkeiten hat, einen vernünftigen Job zu finden. Große Ziele setzt sie sich erst gar nicht. Ein bisschen Glück würde ihr ausreichen, doch das scheint auch für Esperanza in L.A. irgendwie außer Reichweite. Bis sich ihre Hausherrin irgendwann ihr gegenüber eine Frechheit zu viel herausnimmt – und plötzlich Esperanza in sich selbst eine ungeahnte Stärke findet …
Die Vielfalt von „Strahlend schöner Morgen“ endet aber nicht bei diesen vier Hauptcharakteren, denn Frey streut in seinem Roman immer wieder weitere kleine Geschichten von ein, welche sich ebenfalls mit einzelnen Bewohner L.A.s befassen und zwischen den Kapiteln durch historische Fakten, Statistiken und Trivia angereichert werden. Ob Reporter, Waffenhändler oder Model. Sie alle verbinden sich im Lesefluss dennoch weitestgehend lückenlos mit dem ohnehin komplex gesponnenen Netz, tragen dazu bei, dass Los Angeles für uns nicht die übliche Buchkulisse bleibt, sondern wir einen unverstellten Blick auf das bekommen, was dahinter liegt. Ein schwarzes Loch, mit großer Anziehungskraft, das jedes Jahr tausende Menschen mit aus Hochglanzmagazinen und Hollywoodklischees gespeisten Versprechungen von Palmen, teuren Autos und Sandstränden in diesen Moloch lockt, wo viele von Ihnen mitsamt Ihren Hoffnungen verschlungen und vergessen werden.
Laut statistischen Berechnungen, welche sich aus dem jährlichen Bevölkerungswachstum ergeben, soll Los Angeles im Jahr 2030 die größte urbane Zone der USA sein. Mit der Stadt wird nicht nur die Zahl der Verbrechen, sondern auch die Umweltverschmutzung anwachsen – haben sich Konflikte zwischen einzelnen Kulturen eventuell zu andauernden gewalttätigen Auseinandersetzungen entwickelt. Eine Entwicklung, die mehr als nur ein wenig Parallelen zu Dystopien wie „Blade Runner“ oder „Flucht aus L. A.“ erinnert, welche sich trotz all ihrer visuellen künstlerischen Freiheit bereits ein weit älteres Los Angeles als Ausgangspunkt genommen hatten. Ist dieser „Point of no return“ bereits überschritten? James Frey gibt darauf keine eindeutige Antwort, mahnt aber mehr als deutlich an, dass blinder Glaube allein immer weniger reichen wird, um in der Stadt der Engel himmlisches Glück zu finden. Und am Beispiel von Amberton zeigt sich zudem – auch der Faktor Geld bietet keine allumfassende Sicherheit in diesem Haifischbecken, das jede Spur von Schwäche, jeden Blutstropfen im Wasser, sofort bestraft. Der Grat vom Jemand zum Niemand ist so schmal, wie in kaum einer anderen Stadt der USA. Und fast hofft man als Leser bei all diesen negativen Prognosen, James Frey hätte auch hier wieder eiskalt gelogen, die Wahrheit zurechtgebogen oder etwas hinzuerfunden.
Doch was bedeutet das letztlich für das Leseerlebnis selbst? Bei James Frey scheint, bei all seiner zutage tretenden Kreativität, die Vermittlung einer gewissen Botschaft Vorrang vor Stil und Methode gehabt zu haben, denn „Strahlend schöner Schein“ kann zwar durchaus einen gewissen Bann auf uns wirken, verspielt aber die Chance, diesen auch durchgehend aufrechtzuerhalten, da er einfach zu häufig zwischen den einzelnen Perspektiven hin und her springt. Auch im Krimi erweist ein immer wieder wieder verschlepptes Spannungsmoment der Suspense einen Bärendienst. Und einen ähnlichen Effekt erzielt Frey mit seinen abrupten Schnitten von einer Figur zur anderen. Möglich, dass hier seine Vergangenheit als Drehbuchautor zutage tritt. Weniger wäre aber dennoch mehr gewesen und hätte es dem Leser ermöglicht, tiefer in die jeweilige Szenerie eintauchen zu können bzw. emotional näher mit den durchaus gelungenen Charakteren auf Tuchfühlung zu gehen. Dafür bleibt durch das etwas gehetzt wirkende Stakkato von Absätzen leider nicht immer genug Zeit.
Das ist aber auch der einzige größere Kritikpunkt an diesem außergewöhnlich mutigen, weil unverblümt ehrlichen Roman, der auf knapp 600 Seiten einer ganzen Stadt den Spiegel vorhält, vor Ideen- und Detailreichtum nur so strotzt und doch nie Gefahr läuft, den Bezug zur Wirklichkeit zu verlieren. Ob Old Man Joe oder Esperanza – es sind eben keine künstlichen Tragödien, die uns hier aufgetischt werden, sondern authentische Lebensläufe, beeinflusst und geformt von eigenen Fehlentscheidungen und überhöhten Hoffnungen – oder durch das Pech, einfach zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen zu sein. „It could be you“ scheint immer ganz schwach lesbar zwischen den Zeilen zu schimmern und uns an die unangenehme, aber auch unumstößliche Tatsache zu erinnern, dass ein strahlend schöner Morgen nichts darüber aussagt, wie der Tag zu Ende gehen wird.
Wertung: 89 von 100 Treffern
- Autor: James Frey
- Titel: Strahlend schöner Morgen
- Originaltitel: Bright Shiny Morning
- Übersetzer: Henning Ahrens
- Verlag: List Verlag
- Erschienen: 11.2010
- Einband: Taschenbuch
- Seiten: 590 Seiten
- ISBN: 978-3548609997