Sag es mit Gift

© Bastei Lübbe

Seit weit über zwanzig Jahren sammele ich inzwischen Kriminalliteratur, ergänzt durch eine auch nicht unbeträchtliche Anzahl von Büchern aus anderen Genres und zusammengefasst (oder sollte ich besser zusammengepfercht sagen?) in einer Bibliothek, welche mittlerweile aufgrund des Gewichts die Statik unseres Wohnzimmers in arge Bedrängnis bringt. Man könnte also tatsächlich passenderweise behaupten: „Mord ist aller Laster Anfang“. In meinem Fall ein Laster, das aber wenigstens keine nennenswerten gesundheitlichen Nachteile (von trockenen Augen mal abgesehen) mit sich bringt, wenngleich manch ein literarisches Mahl auf dem Weg zum „Krimi-Gourmet“ rückblickend etwas schwerer im Magen liegt – oder nach objektiven Gesichtspunkten unter äußerst leichter Kost anzusiedeln ist. Bei Ann Grangers Debüt im Spannungsgenre handelt es sich genau um solche.

Nun ist der klassische englische Landhauskrimi per se kein Sub-Genre, in dem sich Schriftsteller in der Vergangenheit in großer Zahl zu ungeahnten künstlerischen, geschweige denn spannungsreichen Höhenflügen aufgeschwungen haben. Wenig überraschend, legt das Lesepublikum doch seit Miss Marples Zeiten hier vor allem Wert auf den richtigen Schauplatz, möglichst verschrobene, skurrile Charaktere und eine dazu passende gediegene, gemütliche Atmosphäre. Die Suspense hat auch deswegen zwischen gehäkelten Tischdecken, weichen Ohrensesseln, knisternden Kaminfeuern und pfeifenden Teekesseln einen mitunter schweren Stand, was dem Erfolg des „Cozys“ allerdings nie abträglich war. Und ich bin ganz ehrlich: Ab und zu ist es tatsächlich ganz entspannend, sich nach all den depressiven, alkoholkranken Ermittlern oder geistesgestörten Serienkillern für die nächste Lektüre in einem idyllischen, abgelegenen englischen Dörfchen zu erholen. Sowohl zwischen den Buchdeckeln, als auch im wahren Leben. So nehme ich daher unseren diesjährigen Urlaub in Oxfordshire, am Rande der Cotswolds, zum Anlass, um Jahre nach dem ersten Kontakt mit diesem Buch, einen etwas kritischeren Rückblick zu wagen und eine Antwort auf die Frage zu suchen: Kann man das heute eigentlich noch lesen? Und konnte man es je?

Im Jahr 1991 hatte Ann Granger – erst als Englischlehrerin, dann im diplomatischen Dienst lange Zeit in Ländern wie Österreich, Frankreich, Deutschland, aber auch in ehemaligen Staaten wie Jugoslawien und der Tschechoslowakei, tätig – unter dem Pseudonym Ann Hulme bereits sechs Bücher veröffentlicht. Sie werden heute gerne im Bereich der „Historic Novels“ verortet, obwohl es sich bei sachlicher Betrachtung allesamt um äußerst kitschige Liebesromane handelt. Entsprechend hoch durften daher wohl die Erwartungen der Krimi-Leser gewesen sein, als im genannten Jahr mit „Mord ist aller Laster Anfang“ der erste Whodunit mit Meredith Mitchell, wie ihre Schöpferin ebenfalls Diplomatin, das Licht der Welt erblickte. Von wenigen Ausnahmen abgesehen – Martha Grimes‘ Inspektor Jury hatte inzwischen eine gewisse Popularität erreicht – war der Landhaus-Krimi zu diesem Zeitpunkt zu einer Randhauserscheinung verkommen. Keine gute Ausgangslage für eine erfolgreiche Reihe, möchte man meinen. 2023, sechzehn Bände (ein 17. ist auf Deutsch für März 2024 angekündigt) und diverse andere Reihen später, muss man konstatieren: Besser hätte es für Ann Granger kaum laufen können, auch wenn der Start ein durchaus holpriger war. Und damit nun zum Inhalt:

Ungarn, Anfang der 90er Jahre. Konsulin Meredith Mitchell erhält von ihrer Cousine Eve Owens einen Brief samt Einladung für die Hochzeit von deren Tochter Sara. Meredith, Saras Patentante und von der ewigen Routine im Dienst des auswärtigen Amts inzwischen mehr als gelangweilt, nimmt die Gelegenheit wahr, dankend an und reist kurz darauf in das kleine (fiktive) Dörfchen Westerfield, nahe Bamford (ebenfalls fiktiv) in Oxfordshire. Zu ihrer Überraschung muss sie feststellen, dass sich in ihrer alten, englischen Heimat einiges verändert hat. Die ehemals allgegenwärtige Landhausidylle hat durch die Errichtung hässlicher Betonbauten sichtlich Schaden genommen, das freundliche, nachbarschaftliche Miteinander sich in Misstrauen und skeptische Zurückhaltung gewandelt. Und selbst im Hause ihrer Cousine, dem alten Wohnsitz des ehemaligen Pfarrers, scheint alles andere als Frieden zu herrschen.

Ein Unbekannter hinterlässt regelmäßig Drohungen in Form makabrer Scherze am Eingangstor, Saras künftiger Gatte fürchtet um sein feines Image und zwischen den angrenzenden Nachbarn, dem alten Bert und dem jungen Künstler Philipp Lorrimer, herrscht Streit aufgrund buddelnder Katzen im preisgekrönten Blumenbeet. Was Meredith anfangs noch als typische Verschrobenheit der Landbevölkerung interpretiert, wird recht bald bitterer Ernst. Erst wird eine der Katzen tot aufgefunden, offensichtlich vergiftet. Dann stolpert sie bei einem Besuch über die schmerzverzerrte Leiche ihres Besitzers. Schon am Vortag klagte Philipp über Bauchkrämpfe und so vermutet Meredith, dass auch hier Gift im Spiel sein muss. Alan Markby, Inspektor bei der Bamforder Polizei und auch geplanter Brautführer, wird mit den Ermittlungen in dem Fall beauftragt – und kreuzt dabei, zu seiner wachsenden Verstimmung, immer wieder die Wege von Meredith, die sich als Hobbydetektivin gebärt und ihrerseits Nachforschungen anstellt. Zeichnet wirklich der alte Bert für die Vergiftung verantwortlich? Und ist Gift überhaupt die einzige Todesursache? Als sie der Wahrheit immer näher kommt, ist es endgültig vorbei mit der Beschaulichkeit im ruhigen Westerfield …

Als ich Mitte 2000er, auch dank des damals noch lebendigen Forums auf der Website Krimi-Couch (nun ein Schatten ihrer selbst), die Perlen der DuMont-Kriminalbibliothek nach und nach für mich entdecken durfte, richtete sich der Blick auf weitere Literatur aus dem Bereich des Whodunit. Seit dem Golden Age hatte sich aber der Spannungsroman, auch dank auf Realismus pochenden Schriftstellern wie Dashiell Hammett oder Raymond Chandler, weiterentwickelt. Morde unter Gentleman in alten Herrenhäusern und in verschlossen Räumen waren lange genau so außer Mode, wie Hobbydetektive mit Anzug und Zigarre. Morde wurden nun immer blutiger und wissenschaftlicher seziert. Und der Leser sollte weniger zum Miträtseln angeregt, als vielmehr durch immer plastischere Schilderungen geschockt und gegruselt werden. Dennoch scheint es gerade zur Jahrhundertwende eine kleine Renaissance des klassischen Mystery-Novels gegeben zu haben. Anfangs noch in Form von Persiflagen oder Hommagen, wie z.B. in Gilbert Adairs „Mord auf ffolkes Manor“, eroberte sich der Whodunit wieder einen Platz in den Buchhandlungen zurück. Und so musste ich letztlich unvermeidlich auch über die Ann Granger Titel – oder besser gesagt über deren sehr einprägsame Cover stolpern.

Konzentriert man sich allein auf die Aufmachung des Buches, so kann man durchaus feststellen: Das Buch hält genau das, was es verspricht. Wer sich über das pittoreske Dorfidyll hinaus aber große Hoffnungen auf einen winkelten, komplexen Plot oder einen Meisterdetektiv wie Miss Marple macht, der kann dieser (zumindest für den ersten Band der Reihe) direkt wieder begraben. Ann Granger vermag es nicht zu kaschieren, dass sie zum allerersten Mal einen Fuß in das Krimi-Genre setzt, denn der Plot knarzt allerorten und ist ähnlich wie schwerfällig, wie die alten Holztüren der Cottages in Westerfield. Zwar gelingt es ihr durchaus, den Schauplatz optisch einen St. Mary Mead von Agatha Christie anzugleichen, bevölkert ihn aber mit wandelnden Klischees, die sich dick eingepackt in Stereotypen kaum bewegen können und daher Lebendigkeit vermissen lassen. Fast scheint es so, als hätte sich Granger hier Punkt für Punkt durch die To-Do-Liste „Was gehört alles in einen Whodunit“ gearbeitet und darüber hinaus vergessen, dass alles auch logisch – und vor allem für den Leser überraschend zu verknüpfen.

Ironischerweise wirken sich diese Schwächen aber weit weniger auf das Lesevergnügen aus, als die Hauptprotagonistin, Meredith Mitchell. Bar jeglichen Sinns für Humor, motzt, zickt, meckert und trampelt die Diplomatin (!) durch die Szenerie, durchgängig im Angriffsmodus auf alles, was auch nur im Begriff ist, Widerworte zu geben oder ihrem Treiben Einhalt zu gebieten. Natürlich hätte es auch ein kleiner Belgier mit Eierkopf oder die alte wirre Oma nie über das Sperrband eines Tatorts geschafft. Es wirkt rückblickend aber dennoch logischer, als die Anwesenheit dieser personifizierten weiblichen Abrissbirne, die so ziemlich alles tut, um den Leser gegen sich aufzubringen. Alan Markby, im weiteren Verlauf der Reihe wichtige zweite Hauptfigur, hat dagegen kaum Raum, um sich entfalten zu können und ist sich daher in erster Linie unseres Mitleids sicher. Eine Mischung also, an der „Mord ist aller Laster Anfang“ eigentlich noch vor Auffinden der ersten Leiche hätte krepieren müssen.

Umso überraschender, dass mich trotzdem irgendetwas an dieser Lektüre um den Finger wickeln konnte, was mit Worten nur schwer zu greifen ist. Meredith nervt, ja. Die Kulisse könnte kaum künstlicher sein, sicher. Aber obwohl diese Mängel so offensichtlich sind, lullt uns Ann Granger mit dieser Tee-und-Keks-vorm-Kamin-Atmosphäre dermaßen geschickt ein, dass man unwillkürlich tiefer in den Sessel sinkt und darüber hinaus die Zeit (und viele der offensichtlichen Kritikpunkte) einfach vergisst. Es ist diese Rutherfordsche Gemütlichkeit, die den Leser in eine warme Decke packt, welche zum Markenzeichen der Reihe werden wird, in „Mord ist aller Laster Anfang“ aber allein noch nicht ausreicht, um eine wirkliche Empfehlung aussprechen zu können. Granger deutet hier zwar ein gewisses Potenzial an, ist aber sichtlich noch auf der Suche nach dem eigenen Stil, mit dem dann auch eine dringend benötigte Leichtigkeit einhergehen könnte.

So ist Meredith Mitchells erster Fall dann nur für diejenigen von Interesse, welche literarische Entschleunigung vom chaotischen Alltag in Form eines Landhaus-Krimis suchen oder Serien immer unbedingt von Anfang an verfolgen möchten. Allen anderen empfehle ich, etwas später in diese sich im weiteren Verlauf tatsächlich stetig steigernde Reihe einzusteigen.

Wertung: 71 von 100 Treffern

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  • Autor: Ann Granger
  • Titel: Mord ist aller Laster Anfang
  • Originaltitel: Say It with Poison
  • Übersetzer: Edith Walter
  • Verlag: Bastei Lübbe Verlag
  • Erschienen: 10.2022
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 304 Seiten
  • ISBN: 978-3404189113

Unterhalten wir uns über Angst …

© Lübbe

Maine, USA, in den späten 70er Jahren. Im Hause King herrscht Aufbruchstimmung. Nachdem er sich jahrelang mit diversen Nebenjobs nur notdürftig über Wasser halten konnte, bedeutet die Veröffentlichung von „Carrie“ für ihn den persönlichen Wendepunkt. Stephen King, der sich schon seit jeher immer in erster Linie als Schriftsteller verstanden hat, scheint nun endlich am Ziel seiner lang gehegten Träume angekommen.

Nicht nur, dass er finanziell von seinem Erstlingswerk profitiert (auch „Shining“ entwickelt sich, diesmal sogar gleich im Hardcover, als Riesenerfolg), es ermöglicht ihm im selben Zug, lang gehegte Ideen umsetzen, Manuskripte und Notizen weiter ausarbeiten zu können. Eine davon ist „The Stand – Das letzte Gefecht“, welches er später als sein persönliches Vietnam bezeichnen sollte, denn die Geschichte um einen todbringenden Virus schien auch den jungen Autor unheilbar zu infizieren, der sich stellenweise um Kopf und Kragen schrieb und schier kein Ende finden konnte. Eine Situation, welche sein Verlag Doubleday, der auf den Vertrag mit der Vorgabe eines Buchs pro Jahr pochte, zunehmend mit Sorgen betrachtete. King, der in naher Zukunft nicht mit der Fertigstellung seines Epos (bis heute ist es sein Roman mit den meisten Seiten) rechnete, schlug als „Entschädigung“ eine Sammlung seiner Kurzgeschichten vor. Einige davon waren bereits in der Vergangenheit in verschiedenen Magazinen (u.a. im „Penthouse“ und dem „Cavalier“) erschienen, andere hatte er gerade erst geschrieben. Ein Vorwort (das erste, von vielen die folgen sollten) sollte das Paket abrunden.

Der Vorschlag Kings stieß seitens des Verlags anfangs auf wenig Gegenliebe. Schon damals waren Kurzgeschichtensammlungen weit schwerer an den Mann zu bringen als Romane und so ganz schien mich man sich der Strahlkraft des Autors zudem noch nicht sicher. Am Ende willigte Doubleday doch ein, druckte eine kleine Auflage von ein bisschen mehr als 10.000 Exemplaren – und musste zügig nachsteuern, denn die Nachfrage war riesengroß. 1979 wurde die Sammlung in der Kategorie „Collection“ gar für den „World Fantasy Award“ nominiert. Das aus der Not geborene Experiment erwies sich letztlich als großer Erfolg – und King sollte dem Format der Kurzgeschichte auch in Zukunft (zum Glück für uns Leser) treu bleiben. Folgende Stories sind in „Nachtschicht“ enthalten:

  • Briefe aus Jerusalem

  • Spätschicht

  • Nächtliche Brandung

  • Ich bin das Tor

  • Der Wäschemangler

  • Das Schreckgespenst

  • Graue Materie

  • Schlachtfeld

  • Manchmal kommen sie wieder

  • Erdbeerfrühling

  • Der Mauervorsprung

  • Der Rasenmähermann

  • Quitters, Inc.

  • Ich weiß, was du brauchst

  • Kinder des Mais

  • Die letzte Sprosse

  • Der Mann, der Blumen liebte

  • Einen auf den Weg

  • Die Frau im Zimmer

In Angesicht des inzwischen so umfangreichen Werks von Stephen King wird sich jetzt vielleicht manch einer fragen, warum man sich unbedingt seine Kurzgeschichten aus den 70er Jahren zu Gemüte führen sollte. Eine Frage, die sich kurz und bündig beantworten lässt: Weil „Nachtschicht“ tatsächlich ein paar seiner besten Erzählungen beinhaltet, welche zudem noch vielfältigste Aspekte des Horros, aber auch anderer Genres bedienen. Den Anfang macht dabei „Briefe aus Jerusalem“, zu der ich an dieser Stelle nicht mehr viel schreiben möchte (meine Meinung lässt sich in der Rezension zur „Brennen muss Salem“-Ausgabe nachlesen). Dass es sich hierbei um eine Reminiszenz an die Werke Lovecrafts (und um eine Vorgeschichte von „Brennen muss Salem“) handelt, dürfte aber sowohl aufgrund des Schauplatzes und des zeitlichen Kontexts sowie der Erzählform (In Briefen wird von den Geschehnissen berichtet) klar erkennbar sein. Und auch das „De Vermis Mysteriis“, um das es in der Geschichte geht, wurde in der Vergangenheit bereits öfters von Lovecraft und anderen Autoren verwendet.

Einen starken, stilistischen Kontrast dazu stellt dann „Spätschicht“ dar, welche nicht nur zu den frühesten Werken Stephen Kings zählt, sondern sich fast als Archetyp des 70er Jahre Horrors präsentiert, wenn, ja wenn der Autor nicht auch unterschwellig die sozialen Missstände, insbesondere in Bezug auf die Arbeitsbedingungen, kritisieren würde. Die Aufräumarbeiten in einer alten Spinnerei müssen unter denkbar unwürdigsten Umständen stattfinden, was den autoritären Vorarbeiter aber nicht davon abhält, seine Untergebenen anzutreiben. „Spätschicht“ (1990 als „Nachtschicht“ mit u.a. Brad Dourif verfilmt) überzeugt vor allem durch seine unheimliche und klaustrophobische Atmosphäre, hinterlässt aber sonst keinen größeren Eindruck. Das gilt auch für „Nächtliche Brandung“, sozusagen ein Teaser zum kommenden „The Stand“, in der wir eine Gruppe von Jugendlichen zum Strand begleiten, wo einer ihrer Freunde als Menschenopfer verbrannt wird, um vermeintlich „Böse Geister“ zu besänftigen und deren Zorn von den Verbliebenen abzuwenden. Ein, wie wir wissen, nutzloses Unterfangen, denn gegen Captain Trips, das Supervirus A6, gibt es keine Heilung. So ist dann auch diese Geschichte wenig überraschend und bleibt entsprechend kurz im Gedächtnis.

Anders sieht das dann schon bei „Ich bin das Tor“ aus, in dem Stephen King Science-Fiction mit Horror verknüpft, wenn ein Astronaut, Rückkehrer einer Mission zur Venus, als Transportmittel für einen aggressiven Symbionten fungiert, der nach und nach die Kontrolle übernimmt. Eine gruselige, kompromisslose Geschichte, die etwaigen Hoffnungen bezüglich des Protagonisten ganz am Ende nochmal den Boden unter den Füßen wegzieht. Wer meint, damit schon den Höhepunkt in Punkto fehlendem Realismus gelesen zu haben, wird sich mit „Der Wäschemangler“ eines Besseren belehrt sehen, in der die titelgebende Maschine zum menschenfressenden Monster mutiert, dem sich nur zwei Menschen mutig mittels christlicher Teufelsaustreibung entgegenstellen. Wer in der Lage ist, sein Gehirn hier mal ein paar Minuten Ruhe zu gönnen, wird durchaus Spaß an dieser vollkommen absurden Geschichte haben, zu der Stephen King wohl seine eigene Vergangenheit (er arbeitete selbst eine Zeitlang als Bügler in einer Industriewäscherei in Bangor) maßgeblich inspiriert hat. Und für die King-Fans noch ein kleiner Hinweis bzw. eine weitere Verbindung: Auch „Carries“ Mutter und Barton Dawes („Sprengstoff“) haben in der Blue Ribbon Wäscherei ihre Finanzen aufgebessert.

Es folgen mit „Das Schreckgespenst“, „Graue Materie“ und „Schlachtfeld“ drei weitere äußerst kurzweilige und solide Geschichten, wobei erstere in gewisser Weise auch eine Blaupause für „Shining“ darstellen dürfte, dient doch auch hier der Vater als Parabolspiegel für das nicht greifbare Böse (in dessen Beschreibung fühlte ich mich an die Beschreibungen zu Beginn von „Cujo“ erinnert), wohingegen in „Graue Materie“ die Alkoholsucht zentrales Element der Erzählung ist und maßgeblichen Anteil an einer verhängnisvollen Verwandlung hat. Inwieweit Stephen King an dieser Stelle seine eigenen Dämonen beschrieben hat, kann nur erahnt werden. Es wird sicher eine Rolle gespielt haben. „Schlachtfeld“ kommt einmal mehr aus der Abteilung abstrus. Ein Profikiller sieht sich mit lebendig gewordenen und äußerst schießwütigen Spielzeugsoldaten konfrontiert. Erneut ein Beweis dafür, dass selbst eine völlig hanebüchene Ausgangssituation von einem King immer noch in ein spannendes und äußerst unterhaltsames Erlebnis umgeschmiedet werden kann.

Nach den Spielzeugsoldaten folgen nun die „Lastwagen“, welche gleich mehrere Menschen in einer Raststätte umzingelt haben und mit röhrenden Motoren darauf warten, die Fliehenden über den Haufen zu fahren. Bekloppt, oder? Mag sein, aber wieder für den Leser ein riesiger und bis zum (bitteren) Schluss äußerst mitreißender Spaß. Noch besser – und meines Erachtens eine der gelungensten Geschichten der Sammlung – ist „Manchmal kommen sie wieder“, in der ein High-School-Lehrer, der als Kind seinen Bruder an vier mörderische Jugendliche verloren hat, sich in der eigenen Klasse mit deren haargenauen Abbildern konfrontiert sieht. Und wieder beginnen die Morde und er muss sich den Albträumen seiner Vergangenheit stellen. Eine ganz starke Erzählung! Das gilt auch für „Erdbeerfrühling“, in der ein Serienmörder alle 7 bis 8 Jahre brutale Morde an der Universität begeht. Ein kurzer, aber äußerst gruseliger Horror-Trip, an dessen Ende eine gewisse Agatha Christie vielleicht ihre Freude gehabt hätte.

Freunde des „Hardboiled“ und „Noir“ dürften wiederum bei „Der Mauervorsprung“ bestens unterhalten werden, das vollkommen ohne übersinnliche Elemente auskommt. Das Gefahrenelement – ein nur wenige Zentimeter breiter Vorsprung im 43. Stockwerk eines Hochhauses. Die Art Lektüre, bei der man das Buch unwillkürlich fester packt – um es dann bei „Der Rasenmähermann“ am liebsten an die Seite zu legen. Selbst für King-Verhältnisse war mir dieses benzingetränkte Gebrumme dann doch eine Spur zu albern und zu grotesk. Ja, auch hier gibt es einen verborgenen Subplot, den man mit etwas Aufmerksamkeit entdecken kann. Das ändert aber nichts daran, das mir diese Geschichte nicht wirklich positiv in Erinnerung geblieben ist. Ganz anders verhält es sich dann wieder mit „Quitters, Inc.“, welche insbesondere den Rauchern unter den Lesern ans Herz gelegt sei. Ob die danach noch zur Zigarette greifen werden, darf aber immerhin bezweifelt werden. Grandiose Geschichte!

Bei „Ich weiß, was du brauchst“ vermischt King Voodoo mit einem Schuss Romantik – oder ist es doch andersherum – kann mich dabei aber nicht überzeugen. Voll in seinen Fängen hat er mich dann dafür wieder in „Kinder des Mais“, an dessen Verfilmung sich vielleicht mal N. Night Shyamalan versuchen sollte, der sich im Aufbau einer sich immer mehr anspannenden Atmosphäre ja trefflich auskennt. Diese atemlose, gehetzte Flucht durch scheinbar undurchdringliche Maisfelder wird mir jedenfalls noch lange in Erinnerung bleiben. Hier ist man wirklich traurig, das es so schnell vorbei ist.

Jede Sekunde und Zeile auskosten sollte man bei der Lektüre von „Die letzte Sprosse“, in der Stephen King seine meines Erachtens – mit großem Abstand – beste Leistung in der ganzen Sammlung abliefert. All diejenigen, die ihn immer, wider besseren Wissens, als Unterhaltungsautor müde belächeln, sollten sie lesen, um zu erkennen, welch begnadeter, aber auch einfühlsamer Schriftsteller er in Wirklichkeit ist. Ein trauriges, melancholisches, tief berührendes Juwel, nach dessen Beendigung es automatisch einer längeren Pause braucht, um die nächsten Geschichten in Angriff zu nehmen. Diese sind alle ebenfalls von guter bis sehr guter Qualität.

Zu einen auf den Weg“ habe ich mich ebenfalls schon bei „Brennen muss Salem“ geäußert. In „Der Mann, der Blumen liebte“ wird der Leser geschickt auf die falsche Fährte geführt. Und in „Die Frau im Zimmer“ verarbeitete Stephen King den Tod seiner eigenen Mutter und setzt sich zugleich mit dem Thema Sterbehilfe auseinander.

Wenn man so nach oben hochscrollt, erscheinen mir das ziemlich viele Worte für eine schon so alte Kurzgeschichten-Sammlung, welche die meisten King-Fans wohl ohnehin schon kennen werden und die jüngeren vielleicht gar nicht mehr lesen mögen. Letzteres wäre aber, und soviel sollte hoffentlich deutlich geworden sein, ein Fehler, denn bereits in diesen frühen Erzählungen läuft der Meister des Horror, trotz ein paar Durchhängern, zur Höchstform auf. Sein Talent für die Kurzform, es hat diese Würdigung und eine Wiederentdeckung sicher verdient.

Wertung: 87 von 100 Treffern

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  • Autor: Stephen King
  • Titel: Nachtschicht
  • Originaltitel: Night Shift
  • Übersetzer: verschiedene
  • Verlag: Lübbe
  • Erschienen: 10.2010
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 448 Seiten
  • ISBN: 978-3404131600

Wie oft ist die Vorstellungskraft die Mutter der Wahrheit?

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© Insel

„Das Tal der Angst“, erstmals zwischen September 1914 und Mai 1915 im Strand Magazine veröffentlicht, ist nicht nur der vierte und letzte Roman aus der Feder von Sir Arthur Conan Doyle, sondern gilt unter den „Sherlockians“ auch als schwächster Fall des Großen Detektivs. Eine Einschätzung, welche ich so gar nicht teilen kann und will, was vielleicht aber auch daran liegt, dass es, neben „Der Hund der Baskervilles“, dieses Buch gewesen ist, das meine Freude am Lesen geweckt und mein Interesse letztlich in Richtung der Kriminalliteratur gelenkt hat.

Der Tag, an dem ich dieses Werk zum ersten Mal las, ist mir bis heute äußerst detailliert im Gedächtnis geblieben: Der eiskalte, schneidende Wind. Der ans Fenster prasselnde Schneeregen. Das dunkle, alte Zimmer. Der Blick auf ein graues, marodes Fabrikgelände. Kurzum: Es war das perfekte Setting für „Das Tal der Angst“, das, so unterschiedlich die Bewertungen letztlich ausfallen, wohl düsterste Abenteuer von Sherlock Holmes, dessen nüchterner Ton nicht unerheblich von den Wirren des Ersten Weltkriegs geprägt worden ist.

Drei Jahrhunderte waren an diesem alten Herrenhaus nicht spurlos vorübergegangen, Jahrhunderte mit Geburt und Tod, mit ländlichen Tanzfesten, morgendlichem Aufbruch zur Fuchsjagd und Heimkehr. Ein bedrückender Gedanke, dass nun im hohen Alter ein so düsteres Geschehen seinen Schatten auf die ehrwürdigen Mauern werfen sollte! Und doch waren die eigenartig spitzen Dächer und die überhängenden Giebel ein nicht unpassender Hintergrund für ein grausiges Intrigenspiel. Als ich die tief eingesetzten Fenster und die lange, vom Wasser umspülte Vorderfront betrachtete, dachte ich bei mir, dass man sich keinen besseren Schauplatz für solch eine Tragödie vorstellen konnte.

Das schreibt Holmes‘ treuer Weggefährte Dr. Watson beim Anblick von Birlstone Manor, wo sich die örtliche Polizei mit einem mysteriösen Todesfall konfrontiert sieht. Der Herr des Hauses, Mr. Douglas, ist durch einen Schuss mit einer abgesägten Schrotflinte getötet worden, welcher sein Gesicht bis zur Unkenntlichkeit entstellt hat. Da in dem Herrenhaus des Nachts die Zugbrücke hochgezogen wird, blieb dem Mörder nur die Flucht durchs Fenster und den Burggraben. Doch warum sollte jemand eine so laute Waffe wie eine Schrotflinte wählen? Und wovor hatte Mr. Douglas vor seinem Tod solche Angst?

Während sich die Polizei mit den blutbefleckten Spuren auf dem Fenstersims befasst, beschäftigt Sherlock Holmes nur eine Frage: Wohin ist die zweite Hantel verschwunden? Die Antwort darauf fördert ein Geheimnis zutage und eine Geschichte, welche zurück bis in das Jahr 1875 reicht. Nach Vermissa, in Pennsylvania … ins Tal der Angst.

Wie schon im ersten Auftritt von Sherlock Holmes, so ist auch hier die Struktur des Romans in zwei Ebenen geteilt worden: Zuallererst das Verbrechen, gefolgt von einer weit umfangreicheren Rückblende, welche die Hintergründe des Mordfalls beleuchtet und den Kreis letztlich wieder schließt. Bereits dieser Aufbau, den Doyle bewusst an „Eine Studie in Scharlachrot“ angelehnt hat, sieht sich immer wieder der Kritik ausgesetzt. Viele bemängeln den Bruch in der Erzählung, die unnötigen, ausufernden Schilderungen, den zu kleinen Auftritt von Holmes. Genau diese Kritikpunkte sind es, die „Das Tal der Angst“ in meinen Augen zu einem so lesenswerten Roman machen. Stilistisch hat sich Arthur Conan Doyle weit von seinen ersten Kurzgeschichten entfernt. Vom heimeligen, kuscheligen Ohrensessel in der Baker Street, der Jagd nach Dieben, Fälschern, Erpressern oder geklauten Gänsen ist nicht viel geblieben. Stattdessen konfrontiert er den Leser mit einem mörderischen Geheimbund, der mit seinen mafiösen Methoden einen ganzen Landstrich in Angst und Schrecken versetzt. Es ist eine dreckige, von rauchenden Schloten verdunkelte Welt, in die man eintaucht. Schwarz von der geförderten Kohle, mit Verbrechern, deren Seele dieselbe Farbe haben und, die, entgegen dem zwar ebenso diabolischen, aber doch immer gesitteten Moriarty, ihre Hände mit Blut waschen.

Über mehrere Seiten sieht man sich mit grausamen Morden konfrontiert, schaut man dem Treiben einer Bande zu, welche die Polizei in der Tasche und niemanden zu fürchten hat. Das Gesetz scheint fern, der Arm der Justiz zu kurz, um die „Scowrers“ (als historisches Vorbild dienten die „Molly Maguires“, ein Ende des 19. Jahrhunderts tatsächlich existierender irischer Geheimbund), so der Name der entarteten Freimaurerloge, erreichen zu können. „Das Tal der Angst“ muss auch für die damalige Leserschaft ein ziemlicher Schock gewesen sein.

Wo sonst Holmes mit genialen Einfällen den Verbrechern immer wieder einen Schritt näher kam, triumphiert hier allenthalben das Böse. Es ist eine bittere Pille, welche Doyle uns schlucken lässt. Und manch einer fühlt sich in den drastischen Schilderungen gar an die Kriminalromane des „Hardboiled“-Genres erinnert. (Unter ihnen ist auch Charles Ardai, Herausgeber der „Hard Case Crime“-Serie, in der auch Doyles Titel daher nochmalig erschienen ist) Doch trotz des relativ kleinen Auftritts des großen Detektivs, fehlt es der Geschichte nicht an Raffinesse oder Cleverness. Ganz im Gegenteil: Jack McMurdo, ein Gesetzesbrecher aus Chicago, erweist sich als ebenso gewiefter, kühler Planer. Und wie Holmes, so betrachtet auch er die Dinge weit früher als jeder andere im größeren Zusammenhang. Wenn der Leser erkennt, wonach McMurdo wirklich trachtet, ist die Überraschung groß.

Für mich ist Doyles Ausflug ins rauhe, sittenlose Kohlerevier von Pennsylvania (auch abseits eigener nostalgischer Verklärung) eins seiner mit Abstand besten Werke. Eine gelungene erfrischende Abwechslung, welche den von der viktorianischen Ära geprägten Detektiv Sherlock Holmes endgültig in die Moderne katapultiert und der Figur damit auch ein paar neue Facetten abringt. Kein Fest für Freunde des Whodunits, aber ein kompromissloser, knallharter Kriminalroman ohne künstlichen Aha-Effekt oder hineingepresstes Happy-End.

Wertung: 98 von 100 Treffern

  • Autor: Sir Arthur Conan Doyle
  • Titel: Das Tal der Angst
  • Originaltitel: The Valley of Fear
  • Übersetzer: Hans Wolf
  • Verlag: Insel
  • Erschienen: 11/2007
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 259 Seiten
  • ISBN: 978-3458350163

Nachtrag: Ich habe mich bei der Verlinkung des Titels bewusst für die ältere Insel-Ausgabe entschieden, da sie – leider gibt es den Haffmans Verlag ja in dieser Form nicht mehr und die Kein & Aber Ausgabe ist ebenfalls vergriffen – vor allem optisch der äußerst lieblosen Fischer-Version vorzuziehen ist. Ansonsten sollte vor allem bei antiquarischen Stücken darauf geachtet werden, dass es sich um die Übersetzungen von Gisbert Haefs, Hans Wolf etc. handelt. Von gekürzten Ausgaben oder gar solchen, wo Holmes und Watson sich duzen, ist abzuraten.

Krimi. Schwarz. Ohne Zucker!

© Pendragon

Als gebürtiger Bielefelder und Anhänger der DSC Arminia hatte man jahrelang im sportlichen Bereich leider nicht allzu viel Anlass zur Freude oder gar zum Stolz auf seine Heimatstadt. Wie schön, dass es wenigstens der ebenfalls in der Stadt am Teutoburger Wald ansässige Pendragon Verlag schafft, literarisch stets aufs Neue für lichte Momente zu sorgen.

Einer davon ist Frank Göhres Kriminalroman „Der Auserwählte“, der mal wieder nicht nur das gute Gespür der Lektoren dieses Verlags unterstreicht, sondern im symmetrisch angelegten und ästhetischen Blumenbeet der Krimi-Landschaft für einen unerwarteten Farbtupfer sorgt. Die üblichen Maßstäbe für spannende Unterhaltungsliteratur wollen sich, wie schon bei der Kiez-Trilogie, auch hier wieder partout nicht anlegen lassen. Göhre schreibt anders, wählt den Weg von hinten durch die Brust ins Auge und führt den im Laufrad der Routine gefangenen Leser von Beginn an aufs Glatteis und damit auf eine Rutschpartie, bei der er bis zum Ende den Halt zu verlieren glaubt.

Hamburg, Deutschland. Der illegale Einwanderer David steckt in der Klemme. Bei einer Feier hat er seinem vermeintlichen Freund Eloi, Sohn einer reichen Hamburger Unternehmerin, Drogengeld zugesteckt, damit dieser den Betrag durch geschickte Geschäfte vermehren kann. Dazu soll es jedoch nicht mehr kommen. Eloi und David landen stattdessen sturzbesoffen mit verschiedenen Frauen im Bett. Am nächsten Morgen ist Ersterer spurlos verschwunden. Mitsamt der Knete. David, der die unausweichliche Strafe durch seinen Boss „Blacky“ schon vor sich sieht, setzt alles daran, Eloi wieder ausfindig zu machen und staunt nicht schlecht, als er erfahren muss, dass man diesen gekidnappt hat. Seine Entführer fordern fünf Millionen. Und die Zeit tickt beharrlich runter …

Für Bettina, Elois Mutter, bedeutet die Entführung eine Katastrophe, zumal sich die Leiterin eines weltweit tätigen Konsumgüterkonzerns eine solche Ablenkung eigentlich nicht leisten kann. Um keine Zeit und vor allem nicht auch ihr zweites Kind zu verlieren, geht sie auf jede Forderung der Kidnapper ein. Im weiteren Verlauf muss aber selbst sie einsehen, dass es keinen einfachen Weg gibt und die Ereignisse Ausläufer einer Geschichte sind, die vor Jahren ihren Anfang auf der Sonneninsel Gomera genommen hat. Während sie damit beschäftigt ist, die dunklen Geheimnisse der Vergangenheit unter Verschluss zu halten, handelt ihr Mann Klaus auf eigene Faust und beauftragt seinen Jugendfreund, den ehemaligen Polizisten Mike, mit der Suche nach seinem Sohn. Doch der verfolgt noch ganz andere Interessen …

Vorneweg: Wer zu dieser düsteren Jahreszeit Krimis mit Rätselspaß und Butterkeks-Flair vorzieht, es sich gern bei flackerndem Kaminfeuer im Ohrensessel gemütlich macht, der kann gleich die Pfoten von Göhres „Der Auserwählte“ lassen. Sein Roman verweigert sich standhaft den üblichen Korsettstangen des Genres und dem biederen Mief des gängigen deutschen Mainstream-Gefasels. Die Aufklärung des Falls, den man so eigentlich nicht nennen kann, ist nebensächlich. Und auch die Motive, welche letztlich die Figuren so handeln lassen, wie sie handeln, erläutert Göhre nicht näher, erklärt er nicht. Stattdessen schmeißt der Autor den Leser mit wuchtigem Schwung von der Insel Gomera nach Hamburg und zurück, um ihn in kaleidoskopartigen Sequenzen ein paar Eindrücke um die Ohren zu hauen. „Der Auserwählte“ ist damit für uns so greifbar wie das Leben. Nämlich überhaupt nicht.

Göhres Schreibstil ist intuitiv, lebt von den verschiedenen Zeit- und Schauplatzperspektiven, zwischen denen so oft gewechselt wird, das man versucht ist den Marker zu zücken, um mit bunter Umkreisung zumindest ein wenig Ordnung in dieses stilistische Chaos zu bringen. Ganz nach dem Vorbild heutiger Action-Filme frönt Göhre seiner Vorliebe zu schnellen Schnitten und wackeliger „Kamera“-Führung. Das Tempo ist durchgängig hoch. Verschnaufpausen sind Mangelware. Stets werden uns Ausschnitte hingeworfen, die vom Leser nach und nach auf dem geistigen Tisch zum Puzzle sortiert werden, nur um am Ende festzustellen, dass es sich um mehrere Puzzles handelt. Kann so ein Krimi dann überhaupt noch Spaß machen?

Oh ja, er kann, denn Frank Göhre lässt als Jongleur der Worte dennoch immer dieses kleine Türchen offen, das den Zugang erlaubt und lüftet versteckt zwischen den Zeilen den Schleier, der die wahren Hintergründe all der Ereignisse verbirgt. Seine Sprache ist trotz der temporeichen Wechsel klar, kurz und prägnant. Seine Seitenhiebe auf die dreckigen Kellergewölbe der feinen Hamburger Gesellschaft geradezu erschreckend zielsicher. Dealer, Alt-68er, Aufreißer, Nutten und Schlägervisagen. Sektenähnliche Kommunen in denen freier Sex praktiziert wird, sich der Traum von Selbstverwirklichung im Schmelztiegel von Gewalt und Unterdrückung verliert. Wie in David Peaces „Red-Riding-Quartett“ so muss sich auch hier das große Ganze, die Spannung mühsam erkämpft werden. Und wie dort ist dies ein letztlich lohnenswertes Unterfangen. Auch deshalb, weil Göhre die Dramaturgie sich selbst überlässt, anstatt unnötige Cliffhanger einzubauen, welche die Handlung künstlich mit „Aha“-Effekten befeuern.

Bei Frank Göhres „Der Auserwählte“ ist der Weg das Ziel. Wer das frühzeitig erkennt, der wird seinen Spaß mit diesem Buch haben und auch vom Ende nicht enttäuscht sein, das emotionslos und kühl mit einer im Polizeiberichtstil gehaltenen Zusammenfassung der bisherigen Ermittlungen den Schlussstrich unter die Ereignisse zieht. Ein Buch wie ein schwarzer Kaffee. Dunkel, stark, hart und ohne süßenden Zucker. Ein deutscher „Noir“ eben und ein lesenswerter noch dazu.

Wertung: 82 von 100 Treffern

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  • Autor: Frank Göhre
  • Titel: Der Auserwählte
  • Originaltitel: –
  • Übersetzer: –
  • Verlag: Pendragon
  • Erschienen: 07/2010
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 256 Seiten
  • ISBN: 978-3865322029

Prinz der Nacht

© Liebeskind

Edward Bunkers Debütroman „Lockruf der Nacht“ ist das nächste Opfer einer meiner regelmäßigen kreativen Durststrecken, ward er doch bereits vor einigen Monaten gelesen, ohne dass ich mich anschließend mit einer Rezension des Werks auseinandergesetzt hätte. Eine zeitliche Distanz, welche sich naturgemäß – und daher auch hier – rächt, wenn es darum geht die so lang zurückliegende Lektüre korrekt einzuordnen.

Doch so wenig aussichtsreich das Unterfangen auch sein mag, so notwendig ist es auch, denn Bunkers posthum (im Jahr 2008) veröffentlichtes Erstlingswerk ist ein Paradebeispiel des Pulp-Genres der frühen 60er Jahre, das im Gegensatz zu seinen späteren Romanen auch noch weit ungeschliffener, kantiger und roher daherkommt. Zwangsläufig möchte man behaupten, hat er doch seine ersten Schritte als Literat im Gefängnis von San Quentin gemacht, wo er gleich mehrfach in seinem Leben einsaß. Überhaupt lohnt an dieser Stelle ein kurzer Blick in die Autobiografie dieses Schriftstellers, um das vorliegende Buch entsprechend einordnen zu können.

Bunker, 1933 in Hollywood, Kalifornien geboren, wächst in schwierigen familiären Verhältnissen auf. Seine frühesten Kindheitserinnerungen handeln von der wechselseitigen Gewalt seiner Eltern, die nur durch das Eingreifen der Polizei unterbunden wird. Nach deren Scheidung landet er selbst im Heim, aus dem er flieht, nur um im Anschluss in immer noch strengeren Einrichtungen einkaserniert zu werden. Doch kein Ort kann ihn auf Dauer halten und selbst in der Disziplin einer Militärschule findet er keinerlei Heimat. Ganz im Gegenteil: Er kommt er stets aufs Neue mit dem Gesetz in Konflikt, greift schließlich sogar seinen Vater körperlich an und entwickelt ein tief empfundenes Misstrauen gegen jegliche Autorität und staatliche Institutionen. Wegen Ladendiebstahl muss er schließlich in den Jugendknast, wo er sich den Angriffen anderer junger Krimineller erwehren muss.

Obwohl weit jünger und kleiner als viele seiner Mitinsassen, lernt er seine Angst zu verstecken und erkennt, dass einem persönlich nur die Wahl zwischen Jäger und Beute bleibt. Er beschließt ersteres zu sein. Im Alter von sechzehn Jahren – inzwischen sitzt er im Los Angeles County Jail für Erwachsene ein – ersticht er einen anderen Insassen und erarbeitet sich damit endgültig den Ruf als furchtloser Mann. Nur ein Jahr später wird ihm dann die fragwürdige Ehre zuteil, der jüngste Insasse in eben jenem bereits erwähnten San Quentin State Prison zu sein. Hier nimmt er Kontakt zu Caryl Chessman auf, der in der Todeszelle auf die Vollstreckung seines Urteils wartet. Chessman, den Bunker schon aus früheren Jahren kennt, lässt ihm das erste Kapitel seines Buches („Cell 2455, Death Row“) zukommen, was diesen wiederum dazu inspiriert, seine eigenen Geschichten zu schreiben.

Seine Liebe zur Literatur soll fortan nicht mehr abbrechen, auch wenn er, nach viereinhalb Jahren auf Bewährung entlassen, bald aufgrund weiterer Straftaten erneut zu vierzehn Jahren Haft verurteilt wird, von denen er diesmal sieben – ebenfalls in San Quentin – absitzen muss. In dieser Zeit entsteht schließlich auch „Lockruf der Nacht“, dessen Manuskript über Jahrzehnte verschollen blieb, bis es durch Zufall kurz nach seinem Tod im Jahr 2005 entdeckt wurde. Ein Glücksfall, ist es doch sowohl unverwässertes Zeitdokument, als auch das erste Ausrufezeichen eines äußerst talentierten Autors, der hierzulande jedoch wohl den meisten eher aufgrund seiner kleinen Nebenrollen in Kinofilmen wie „Reservoir Dogs“, „Running Man“ oder „Tango & Cash“ ein Begriff ist. Insofern ist diese Rezension nun auch die passende und beste Gelegenheit, um eine andere Facette von Edward Bunker zu beleuchten.

Lockruf der Nacht“ führt uns in das Kalifornien des Jahres 1962, genauer gesagt nach Ocean View. Ernie Stark ist gerade erst aus dem Gefängnis entlassen worden und versucht seine Karriere als Kleinkrimineller voranzutreiben, als ihn Detective Lieutenant Patrick Crowley, der ihn bereits seinen längerem im Auge hat, vor die Wahl stellt: Entweder er findet heraus wer den örtlichen Dealer Momo Mendoza mit Drogen beliefert oder Crowley sorgt dafür, dass er wieder im Knast landet. Bei aller Ehre unter Ganoven, Stark hat keinerlei Bedarf nach einem weiterem Aufenthalt hinter schwedischen Gardinen und willigt ein, zumal er seine Chance sieht, selbst zu der großen Nummer aufzusteigen, für die er sich schon seit jeher hält. Keine einfache Aufgabe, da er, trotz immerwährender Selbstbeteuerungen, inzwischen längst selbst zum Junkie geworden ist und hoffnungslos an der Nadel hängt. Es bedarf einiger Raffinesse und noch mehr Skrupel, um Momos Vertrauen zu gewinnen, doch schließlich gelingt es ihm, dessen Interesse an einem großen Deal zu wecken und diesen anschließend auch erfolgreich durchzuziehen. Von jetzt an wird er als Momos Partner akzeptiert – die Drogenquelle jedoch, sie bleibt weiter ein Geheimnis. Kompliziert wird das Ganze durch Momos Frau, Dorie Williams, in der sich Stark selbst wiedererkennt und die ihre eigenen Gründe hat, den Dealer ans Messer zu liefern. Doch kann er ihr trauen? Stark muss jeden seiner Schritte vorsichtig abwägen, um am Ende lebend aus der Sache herauszukommen …

Es verwundert kaum, dass sich schon in dieser kurzen Inhaltsbeschreibung einige Parallelen zu Edward Bunkers eigenem Leben wiederfinden und natürlich fließen in die Figur Ernie Stark gleich mehrere Elemente aus dessen Biographie mit ein. Mehr noch als die Charakterisierung des Hauptprotagonisten fällt aber vor allem die messerscharfe Skizzierung des Drogenmilieus ins Auge, durch die der Leser vollkommen ungefiltert in das Nachtleben des Kaliforniens der 60er Jahre eintaucht. Bar jeder künstlichen Ausschmückung erwartet uns hier eine fast fotografische Wiedergabe der damaligen kriminellen Unterwelt, welche Bunker mit beinahe selbstverständlicher Ruhe porträtiert, ohne groß moralisch die Handlungen der Beteiligten zu hinterfragen. „Lockruf der Nacht“ will nicht polarisieren oder belehren – es bildet schlicht den Status Quo ab, mit dem sich alle Beteiligten inklusive des Detectives abfinden, ohne das eigene Schicksal groß zu bedauern. Es ist wie es ist – das scheint das übergeordnete Motto zu sein, dem sich auch der Autor selbst Zeit seines Lebens ausgeliefert sah und dementsprechend damit umgehen musste.

Rückblickend dürfte diese Lektüre daher für den ein oder anderen heutigen Leser ungewohnt unbequem daherkommen, taugt doch keine der Figuren irgendwie zum Sympathieträger oder Anti-Held. Allesamt sind auf ihre Art und Weise Verbrecher oder zumindest korrupt. Und wenn ein Leben genommen werden muss, um das eigene damit zu sichern, dann ist das eben so. Wer sich mit dieser Tatsache abfindet, vor dem wälzt sich ein Plot aus, der geradlinig wie ein kalifornischer Highway seinem Ende entgegensteuert und trotz der Düsternis, in der er sich bewegt, keinerlei Schwermut verströmt und – das sei besonders betont – seit seiner Entstehung keinerlei Staub angesetzt hat. So wie die Werke von Paul Cain oder Lawrence Block, so ist auch Bunkers „Lockruf der Nacht“ ein typisches Exemplar zeitloser Pulp-Fiction. Zwar durchaus eingebettet in den historischen Kontext, doch gleichzeitig von einer erschreckenden Aktualität, haben sich doch allenfalls gewisse Methoden, aber nicht die Zustände in diesen gesellschaftlichen Abgründen geändert.

Natürlich muss auch festgehalten werden: Ohne Kenntnis von Bunkers Lebenslauf verliert auch diese gänzlich fettfreie und schnörkellose Gangster-Geschichte etwas von ihrer Faszination. Wer sich jedoch klar macht, dass der Autor selbst durch diese dreckigen Straßen lief, sich dieselben Drogen durch die Adern gejagt und mit denselben Huren und Mafiosis verkehrt hat (mit dem mexikanischen Mafia-Boss Joe „Pegleg“ Morgan war er gar eng befreundet) – vor dessen Augen entfaltet dieser auf den ersten Blick so schlichte Roman noch eine weit tiefere, kantigere Dimension. Oder anders gesagt: Ohne Bunkers eigene Erfahrungen würde „Lockruf der Nacht“ nicht so gut funktionieren, wie er das tut.

Edward Bunkers Debüt ist ein schmerzhaft ehrliches und schroffes Zeitzeugnis, das wenig überraschend seitens des exzellenten Liebeskind-Verlages für das deutsche Lesepublikum entdeckt worden, allerdings mittlerweile auch schon wieder vergriffen ist. Allen Freunden des Pulp-Genres sei an dieser Stelle aber die antiquarische Suche unbedingt ans Herz gelegt. Es lohnt sich.

Wertung: 84 von 100 Treffern

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  • Autor: Edward Bunker
  • Titel: Lockruf der Nacht
  • Originaltitel: Stark
  • Übersetzer: Jürgen Bürger
  • Verlag: Liebeskind
  • Erschienen: 02.2009
  • Einband: Hardcover
  • Seiten: 224 Seiten
  • ISBN: 978-3935890618

„Wie fügsam die Toten sind …“

© Arche

Es war für mich persönlich DIE Neuigkeit der diesjährigen Frankfurter Buchmesse: Sieben Jahre nach seinem Tod wird William Gay endlich wieder auf Deutsch veröffentlicht. Diesmal im Rahmen des neuen Taschenbuch-Programms vom Polar Verlag. Eine weise, hoffentlich vielfach von den Lesern gewürdigte Entscheidung, gilt für mich der in Tennessee geborene Autor doch zu den ganz großen Meistern des Southern Gothic – und damit auf eine Stufe mit literarischen Größen wie William Faulkner, Daniel Woodrell, Flannery O’Connor oder Cormac McCarthy, die ihm hierzulande leider nur einen höheren Bekanntheitsgrad voraus haben. Höchste Zeit dies nun zu ändern, was für mich wiederum hieß, sich dem letzten noch ungelesenen Titel im Regal, „Nächtliche Vorkommnisse“, zu widmen, welcher vor genau einem Jahrzehnt durch den Arche Verlag herausgegeben wurde und inzwischen leider wieder vergriffen ist.

Leider deswegen, weil es sich hierbei meiner Einschätzung nach um das mit Abstand (bisher) stärkste ins Deutsche übertragene Werk handelt, was neben der hervorragenden Übersetzung durch Joachim Körber vor allem der archaischen Sprachgewalt zu verdanken ist, mit der William Gay dieses stockfinstere Südstaaten-Epos direkt in unserer Magengrube platziert, denn die Lektüre ist wahrlich nichts für Zartbesaitete. Wer schon bei „Kein Land für alte Männer“ Chigurhs Wirken mit dem Bolzenschussgerät nur mit größter Mühe beiwohnen konnte, der sollte von diesem Roman wohl ebenfalls tunlichst Abstand nehmen, spart Gay in seiner Erzählung doch nicht mit der Schilderung expliziter Gewalt, um das Gefahrenmoment für seine Protagonisten zu unterstreichen. Und damit jetzt erst einmal zur Handlung:

Overton County, Tennessee, im Winter des Jahres 1951 (Und damit ein halbes Jahr vor den Ereignissen des Romans „Provinzen der Nacht“ angesiedelt, welcher im Nachbarsort Ackerman’s Field spielt). Die Geschwister Corry und Kenneth Tyler, Nachkommen des in der Vergangenheit stark frequentierten Schwarzbrenners Moose Tyler, haben sich in der schützenden Dunkelheit auf den Friedhof der Kleinstadt geschlichen, um das Grab ihres Vaters zu öffnen. Sie hegen seit langer Zeit den Verdacht, dass bei der Beerdigung nicht alles mit rechten Dingen zugegangen ist und wollen sich nun Klarheit verschaffen. Als sie am nächsten Morgen ihr Werk beendet haben, bietet sich ihnen ein schreckliches Bild. Derart bestätigt setzen sie ihre Ausgrabungen fort und fördern bald eine Perversion nach der anderen zutage: Während manche Särge nichts als Unrat bergen, teilt sich in einem anderen Grab eine alte Frau ihre letzte Ruhestätte mit einem jungen Mann, der mit aufgeschlitzter Kehle zwischen ihren Schenkeln liegt. An wiederum anderer Stelle wurde ein weiterer Leichnam zum Eunuchen gemacht und das entwendete Geschlechtsteil einer Frau in der Parzelle nebenan hinzugefügt. Die Schändungen sind so bizarr, wie unglaublich. Und alles deutet daraufhin, dass der Sonderling Fenton Breece, der reiche und unheimliche Bestattungsunternehmer des Countys, für diese makabren Kompositionen der Toten verantwortlich zeichnet.

Breece sieht sich jetzt plötzlich mit der Enthüllung seiner nekrophilen Vorlieben konfrontiert, denn Corry will nicht nur Rache für ihren Vater, sondern auch einen stattlichen Batzen Geld herausschlagen und beginnt ihn mit mehreren kompromittierenden Fotos zu erpressen. Entgegen dem Rat ihres Bruders, der das Beweismaterial lieber der Polizei übergeben möchte. Und Kenneth soll mit seinem Unbehagen Recht behalten, denn derart in die Enge getrieben, nimmt Breece die Dienste des moralfreien Soziopathen Granville Sutter in Anspruch, um wieder in den Besitz der Fotos zu kommen. Doch Sutter hat seine eigenen Methoden ein Problem zu lösen und kurze Zeit später finden sich die einbalsamierten Überreste von Corry auf dem Sofa von Fenton Breece wieder, während Kenneth sich auf der Flucht vor dem eiskalten Killer in das labyrinthartige Dickicht des Harrikin schlägt. Eine verlassene, unwirtliche Einöde, in der schon so mancher spurlos verschwunden ist …

Zwei Kinder auf der Flucht, ein mitleidloser und sinistrer Verfolger auf ihren Fersen – das weckt nicht ganz ungewollt Erinnerungen an den Film-Noir-Klassiker „Die Nacht des Jägers“, dessen literarische Vorlage von David Grubb hier William Gay auch ganz bewusst zitiert. Und man kann tatsächlich konstatieren: Robert Mitchum wäre mit Sicherheit eine erstklassige Besetzung für Granville Sutter gewesen, dessen diabolisches Schauspiel schon auf Papier diesen Roman nochmal auf eine ganz andere, unheilvolle Ebene hebt. Natürlich ist das Genre des „Southern Gothic“ seit jeher nicht für seine farbenfrohen Töne und den hoffnungsvollen Tenor bekannt – doch „Nächtliche Vorkommnisse“ ringt selbst dem üblichen Pechschwarz weitere dunkle Schattierungen ab. Sutter ist ein Bösewicht, der in seinem teuflischen Treiben neue Maßstäbe setzt und dieses zudem noch mit einer mitunter kaum mehr erträglichen Teilnahmslosigkeit zelebriert, was wiederum beim Leser für klaustrophobische Beklemmung sorgen dürfte. Hinter Sutters erbarmungslosen Augen lauert außer Arglist und Verfall nichts als Leere – und stets aufs Neue in sie blicken zu müssen, das zerrt, fordert und verleiht dem Roman eine nicht greifbare, aber immerwährende Kälte. Eine Kälte, in der die Herzen der wenigen halbwegs guten Menschen in dieser Handlung nur noch langsam und schwach schlagen – wohl auch wissend, dass jedes lautere Geräusch sie als Wild dem Jäger verraten würde.

Und als nichts anderes betrachtet Sutter allen voran Kenneth, mit dem er ein perfides Spiel treibt, dessen Regeln wiederum er selbst festgelegt hat. Allein zu töten, es reicht ihm nicht. Er genießt die Hilflosigkeit seines Opfers, kostet den Moment der Macht aus und erlaubt so dem jungen Tyler immer wieder die Flucht, wobei er jedoch dessen Einfallsreichtum alsbald unterschätzt. Inmitten des Harrikin, wo sich die Wildnis die aufgegebenen Eisenerz- und Phosphat-Minen sowie die verlassenen Farmen nach und nach zurückgeholt hat – hier scheinen auch Sutters eigene Gesetze keinerlei Gültigkeit mehr zu besitzen. Stattdessen hat die Natur alles in den Zangengriff des Winters genommen, der beiden mit unbarmherziger Kraft entgegenweht und wortwörtlich vom Weg abbringt. Ähnlich wie das Bear Thicket in Tom Franklins „Die Gefürchteten“, so manifestiert sich auch hier der Harrikin als ein eigener Charakter innerhalb der Handlung, welche zudem von William Gay besonders stimmungsvoll in Szene gesetzt wird.

Die Wildnis in die Kenneth blindlings stolpert – sie ist von einer archaischen, kahlen Schönheit, abweisend und kalt, und gefangen in einer lethargischen Melancholie, welche wie der Schnee des Winters alles Lebendige unter sich begräbt. Die wenigen Menschen, die sich dieser Ursprünglichkeit aussetzen wollen, sind entweder Relikte vergangener Besiedlungsversuche oder aus eigenen Gründen in diese unwegsame Gegend geflohen. Kenneths Begegnungen mit ihnen muten dank Gays traumwandlerischer Schreibe wie ein Ausflug in einen dunklen Märchenwald an, was wiederum seitens des Autors durchaus gewollt ist, der sich schon in „Ruhe Nirgends“ grimmscher Motive bediente, um der Odyssee seines ungewollten Helden mehr Tiefe zu verleihen. Im vorliegenden Roman treibt er diese augenzwinkernde Hommage auf den Höhepunkt und lässt Kenneth nicht nur auf eine alte „Hexe“ treffen, sondern Sutter sich sogar als alte Großmutter verkleiden, um den ahnungslosen Jungen in die Falle zu locken, dessen einziges Ziel es ist, entsprechend dem Held auf der Queste, der Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen. So verrückt das klingen mag – es ist die Art und Weise wie er die klassischen Märchenelemente aufs Bizarrste pervertiert, welche besonders intensiv die Distanz zwischen Leser und Protagonisten überbrückt und uns letztlich so schutzlos zurücklässt.

Sutters Verfolgungsjagd, sie ist manisch beseelt und von drastischer, brutaler Gewalt – und doch am Ende von einer unerklärlichen, fast mystischen Spannung, die uns als Leser förmlich über die Seiten treibt und bis zum Ende in festen Redneck-Pranken gefangen hält. Unfähig dieses wahnsinnige, kraftvolle literarische Meisterwerk auch nur länger als ein paar Minuten zur Seite zu legen.

Nächtliche Vorkommnisse“ hat mich – trotz der Kenntnis von Gays großer Klasse – noch einmal auf allerhöchstem Niveau überrascht und gleichzeitig auch vollkommen erschöpft zurückgelassen. Ein nihilistisches Juwel des Southern Gothic, dem man eine rasche Neuauflage nur wünschen kann und das sich in meiner persönlichen Bestenliste ganz oben ansiedeln wird.

Wertung: 97 von 100 Treffern

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  • Autor: William Gay
  • Titel: Nächtliche Vorkommnisse
  • Originaltitel: Twilight
  • Übersetzer: Joachim Körber
  • Verlag: Arche
  • Erschienen: 03/2009
  • Einband: Hardcover
  • Seiten: 288 Seiten
  • ISBN: 978-3716026052

Die toten Seelen von Belfast

© Polar

Beinahe zwei Jahre ist es jetzt her, seit der in Hamburg ansässige Polar Verlag mithilfe eines süddeutschen Financiers ein drohendes Insolvenzverfahren abwenden – und damit vorerst gerettet werden konnte. Warum vorerst? Nun, man lehnt sich wohl nicht zu weit aus dem Fenster, wenn man vermutet, dass sich die Lage für die kleinen Verlage in letzter Zeit nicht zum Besseren gewandt hat. Erst kürzlich hat das Barsortiment Libri knapp 200.000 Titel ausgelistet. Vorwiegend zwar Bücher, welche sich in den vergangenen Jahren wenig bis gar nicht verkauft hatten, aber der Trend ist dennoch bedenklich, zumal viele Verlagshäuser ohnehin schon kaum mehr den Weg auf die Tische bzw. in die Regale der Buchhandlungen finden.

Ein Problem, welches den Vertrieb des eigenen Programms erheblich erschwert und das sicherlich auch Polar nicht unbekannt ist. Was wiederum bei den Krimi-Fans immer wieder für ungläubiges Stirnrunzeln sorgt, denn Titel wie das vorliegende „Ravenhill“ hätten doch ein so viel größeres Lesepublikum unbedingt verdient. Bereits im Mai auf Deutsch veröffentlicht, hat der Roman des Nordiren John Steele einen – für mein Empfinden – vergleichsweise kurzen Auftritt im hiesigen Feuilleton hingelegt. Zu kurz, um nachhaltig auf sich aufmerksam zu machen, was in diesem Fall gleich doppelt schade ist, punktet doch „Ravenhill“ nicht nur in der Königsdisziplin Spannung, sondern beleuchtet auch einen bis dato verhältnismäßig stiefmütterlich behandelten Aspekt des Nordirlandkonflikts. So konzentriert sich Steele bei seinem Blick zurück in die Zeit vor dem Karfreitagsabkommen in erster Linie auf die protestantischen paramilitärischen Organisationen, wodurch der kriminalliterarische Schauplatz der so genannten „Troubles“ – oftmals vor allem repräsentiert durch die IRA und das britische Militär – um eine weitere Ebene reicher wird. Worum es genau geht, sei an dieser Stelle kurz angerissen:

Belfast, im Februar des Jahres 1993. Eine kleine Videothek an der Ravenhill Road, welche wiederum am Rand des städtischen Ormeau Parks verläuft. Weil die Provisorische IRA hier einen geheimen Treffpunkt der UDA, der Ulster Defence Association, einer protestantischen paramilitärischen Untergrundorganisation vermutet, kommen bei einem Bombenanschlag neun Zivilisten, darunter zwei achtjährige Kinder, sowie zwei Mitglieder der PIRA ums Leben. Ein schockierendes Ereignis, selbst für ein Nordirland auf dem Höhepunkt des Konflikts, das ständige Schießereien und Explosionen sowie die dauerhaft am Himmel kreisenden Armee-Hubschrauber gewöhnt ist. Und Anlass für die Befehlsgeber in der UDA ihrerseits einen Gegenschlag gegen der verhassten katholischen Feind auszuführen. Unter der Führung von Billy Tyrie und dem skrupellosen Rab Simpson planen sie ein Attentat auf James Cochrane, einen hochrangigen Kommandanten der PIRA. Ein Puzzlestein ihres Plans ist dabei auch der junge Jackie Shaw, der – zur Abscheu seines Vaters und seiner Schwester – inzwischen in den inneren Kreis der UDA vorgestoßen ist.

Zwanzig Jahre später kehrt Shaw, der, nach einem Anschlag als tot galt, überraschend nach Belfast zurück, um der Beerdigung seines Vaters beizuwohnen. Das Karfreitagsabkommen hat die Situation in Nordirland inzwischen verändert, die Paramilitärs weitestgehend ihren ursprünglichen Zweck verloren. Einige, wie Jackies ehemaliger Kommandant Tyrie, finanzieren ihren Lebensstil mit dem gleichen Schutzgeld, das sie einst in ihren Gemeinden erhoben haben. Andere haben sich der Prostitution, dem Menschenhandel und den Drogen zugewandt und arbeiten sogar mit ihren ehemaligen Feinden aus PIRA zusammen. Ihre Methoden sind jedoch die gleichen geblieben. Verrätern und Spitzeln droht die Folter und ein Schuss in den Hinterkopf. Und Shaws Auftauchen wirft für seine früheren Weggefährten Fragen auf. Warum ist er immer noch am Leben? Wo hat er all die Jahre seine Zeit verbracht? Der Rückkehrer ist erst wenige Stunden in der Stadt, als die ersten ehemaligen Mitstreiter an ihn herantreten, um alte Schulden einzufordern …

Nein, als Baujahr 1983 bin ich tatsächlich etwas zu jung, um den Nordirland-Konflikt zum damaligen Zeitpunkt wirklich bewusst wahrgenommen bzw. auch seine Ausmaße verstanden zu haben. Dennoch sind da Erinnerungen an sich oft wiederholende Nachrichtenmeldungen im Fernsehen geblieben, in denen ausgebrannte Autowracks, zerstörte Hausfassaden oder Männern mit Strumpfmasken zu sehen waren. Und an Eltern, die sich angesichts dieser Gewalt vor dem Fernseher immer wieder erschüttert gezeigt haben. Ein Krieg mitten in Europa zwischen Protestanten und Katholiken – das ist auch rückblickend für einen Deutschen, der als Protestant selbst mit einer Katholikin verlobt ist, nur schwer zu verstehen. Ja, auch wenn man mit der irischen Geschichte durchaus vertraut ist.

John Steeles erster Kriminalroman „Ravenhill“ trägt in dieser Hinsicht wenig zum einem größeren Verständnis bei, kümmert er sich doch weniger um das Warum als vielmehr um das Wie. Er thematisiert nicht nur die brutalen Auseinandersetzungen der Troubles, er vermag es auf entsetzende Art und Weise diese Gräueltaten noch einmal lebendig werden zu lassen und die Abscheu vor dem menschlichen Leben – von beiden Seiten praktiziert – zu verbildlichen. In seinen Rückblicken in das Jahr 1993 tauchen wir ab in ein Belfast im dauerhaften Kriegszustand, in dem die Grenzen direkt durch Wohnungen und Familien laufen – und in dem auf die Genfer Konventionen tatsächlich gepflegt geschissen wird. Steele zwängt den Leser bereits auf den ersten wenigen Seiten in ein klaustrophobisches Korsett aus Sirenengeheul, Verfolgungswahn und dauerhafter Angst, welches durch die lokalen Wettereinflüsse (dauerhafter Regen, düster-graue Wolken) noch stetig fester geschnürt wird. Ohne viel künstlerischen Aufhebens gelingt ihm der Kniff, uns Teil dieser irgendwie sinnlos-hoffnungslosen Szenerie werden zu lassen, in dem eine ganze Generation junger Männer – und auch Frauen – verroht, ein Akt der Gewalt dem nächsten folgt.

Jackie Shaws eigene Intentionen bzw. sein Beitrag zu diesem tödlichen Spiel um Gebietsgewinn und Machteinfluss kann John Steele anfangs noch geschickt zurückhalten, so dass gerade seine Taten als Teil der UDA für den Leser erst einmal schwer greifbar bleiben, was wiederum das Profil der Figur zusätzlich schärft. Überhaupt empfinde ich diesen Protagonist als einen sehr angenehm ambivalenten Charakter, dessen Verhängnis es ist, sich in diesem kontrastfreien Konflikt in keinerlei Grauzone bewegen zu können. Einen moralischen Kompass, nach dem er sich orientieren kann – ihn gibt es schlichtweg nicht, da die Auseinandersetzungen zwischen den Paramilitärs inzwischen zu einem sich ewig wiederholenden Selbstzweck verkommen sind, der – auf allen Seiten – von skrupellosen Beteiligten vorgeschoben wird, um ihren Durst nach mehr Macht durchsetzen zu können. Nimmt man den Ursprung der Organisationen mal zur Seite, bleiben hier allein verbrecherische Banden übrig, die ihren eigenen Einfluss ohne Rücksicht ausweiten wollen, was wiederum „Ravenhill“ daher auch nicht zu einem politischen Thriller, sondern zu einem waschechten Gangster-Roman macht.

Und einem erstklassigen dazu, da Steele es trefflich versteht, zwischen Gegenwart und Vergangenheit zu jonglieren, und dabei das Kunststück vollbringt, uns bei jedem Wechsel des Handlungszeitraums kurze Enttäuschung empfinden zu lassen. Denn beide sind auf ihre Art äußerst spannend aufgebaut und atmen vor allem durchweg Belfaster Atmosphäre. Wo das ein oder andere Hardboiled-Werk nicht selten an der Austauschbarkeit des Schauplatzes leidet, funktioniert „Ravenhill“ tatsächlich als geschichtliche Milieustudie, ist fest verankert auf dem blutgetränkten irischen Boden. Ohne (gottseidank) je selbst Zeuge der dortigen Gewalt geworden zu sein, lehne ich mich mal aus dem Fenster und wage zu behaupten, dass der Realismusgrad in Steeles Roman ein durchaus hoher ist. Was wiederum zarten Seelen zusetzen dürfte, da hier die „Kamera“ auch noch weiterhin aufs Bild gerichtet ist, wenn bei einem FSK-12-Streifen längst zur Seite weggeschwenkt wird.

Dennoch – und das sei an dieser Stelle besonders betont – verherrlicht „Ravenhill“ diese Gewalt nie. Er zeigt sie, als das was sie ist – als unsere schlimmste, menschliche Seite. Als die ultimative Perversion aller guter Vorhaben. Und am Ende auch als drohendes Damokles-Schwert, welches auch nach dem Karfreitagsabkommen immer noch über dem Norden Irlands schwebt. Wer dem älteren Jackie Shaw durch das Belfast im „Frieden“ folgt, der ahnt, was diese Stadt und seine Bewohner weiterhin in sich bergen – und was ein kommender No-Deal-Brexit für Auswirkungen haben könnte. So unfassbar verrückt diese ständig scheiternden Verhandlungen zwischen Großbritannien und der EU derzeit sind – dieser Roman lässt das alles noch umso beängstigender werden.

Mit „Ravenhill“ hat der Polar Verlag schon wieder ein ganz vortreffliches literarisches Kleinod für den deutschen Markt entdeckt. Nachtschwarz, backsteinhart, eindringlich und dann letztlich auch mit ganz viel Klasse und einem ganz eigenen Stil erzählt. Auf die (hoffentlich ebenso gelungene) Übersetzung der Fortsetzung „Seven Skins“ darf ab sofort mit ganz viel Vorfreude gewartet werden.

Wertung: 91 von 100 Treffern

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  • Autor: John Steele
  • Titel: Ravenhill
  • Originaltitel: Ravenhill
  • Übersetzer: Robert Brack
  • Verlag: Polar
  • Erschienen: 05/2019
  • Einband: Hardcover
  • Seiten: 345 Seiten
  • ISBN: 978-3945133774

Pulp Fiction, Rediscovered

© Pulp Master

„Totschlag“ prangt in schwarzer Schrift auf dem kleinen, braunen Buch (Beschreibung bezieht sich auf den gebundenen Sondereinband, hier nicht abgebildet), das, vom Hamburger Künstler 4000 dezent illustriert, auf den ersten Blick nicht wirklich Anlass gibt, einen zweiten darauf werfen zu müssen, zumal sich dabei die Einordnung in eine spezifische Literaturgattung auch nicht gerade einfach gestaltet. Und überhaupt – wer ist eigentlich dieser Paul Cain?

Im Anschluss an diese, selbst von vielen Krimikennern nicht zu beantwortenden Frage, wird der interessierte Käufer höchstwahrscheinlich das Werk zur Seite legen, um sich anderen Büchern zuzuwenden oder gar das Antiquariat (der 1994 in der „pulp master“-Reihe des Maas-Verlags erschienene Titel ist bereits seit einiger Zeit vergriffen) zu verlassen. Damit er aber genau dies nicht tut, sehe ich mich geradezu genötigt, eine Besprechung zu schreiben, um nicht nur den Stellenwert von Cains vorliegender Kurzgeschichtensammlung zu betonen, sondern auch gleichzeitig damit einen Autor wieder ins Scheinwerferlicht zu rücken, der gemeinsam mit Größen wie Dashiell Hammett und Raymond Chandler in besonderem Maße für die Entstehung des späteren „Pulp“-Genres verantwortlich zeichnet. Und, um mal die sonstige Zurückhaltung des objektiven Rezensenten über Bord zu werfen, „Totschlag“ als eine der besten Anthologien zu preisen, welche zu Lesen ich das Vergnügen hatte.

Als George Caryl Sims 1902 in Des Moines, Iowa, geboren, war Paul Cains Einfluss auf die Geschichte des Kriminalromans äußerst kurz, aber in Stil und Inhalt nachhaltig und vor allem Weg ebnet und Weg weisend für spätere Vertreter des Genres wie James M. Cain, Mickey Spillane oder Lawrence Block. In einer Zeit als der Lärm des Börsenkrachs die grenzenlose Ausgelassenheit der „Roaring Twenties“ verstummen ließ, auf der Wall Street Spekulanten als letzten Ausweg den Sprung aus dem Fenster nahmen und der Höhepunkt der Prohibition Gangster wie Al Capone zu reichen Männern machte, tauchte Cain in New York auf und lieferte bei Cap Shaw, dem Herausgeber des legendären Pulp-Magazins „Black Mask“, ein paar Stories und einen Roman ab. Sein Timing war mehr als perfekt, denn Hammett und Daly hatten so eben das „Hardboiled“-Genre aus der Taufe gehoben – und Pulps fanden reißenden Absatz. Auf dem Höhepunkt seiner Popularität verkaufte „Black Mask“ mehr als 100.000 Hefte pro Monat.

Wir brauchen Geschichten, in denen Gewalthandlungen direkt und schnörkellos geschildert werden.

So lautet das Konzept von „Black Mask“. Und Cain verstand und lieferte, ohne groß Aufhebens um seine Herkunft zu machen, wenngleich der Ton seiner Geschichten, welche oft von Spielern, Killern, leichten und leichtsinnigen Mädchen handelten und die durchweg kalt und amoralisch geschrieben waren, den Verdacht nahelegten, dass der Autor mit solchen Leuten nicht bloß literarischen Umgang gehabt hatte. „Totschlag“ enthält folgende sieben dieser Geschichten:

  • Taubenblut
  • Eins, zwei, drei
  • Black
  • Rote 71
  • Ausgetrickst
  • Hinrichtung in Blau
  • Bombenstimmung

Wie kaum ein anderer Schriftsteller zuvor begab sich Paul Cain in die schattige Grauzone zwischen Gesetzt und Gangster, ergänzte er die Galerie der schießwütigen Detektive von Hammett und Daly um die Figur des kriminellen Grenzgängers, welcher nicht darauf aus ist, ein bestimmtes Problem zu lösen, sondern vor allem darauf seinen Schnitt, seinen Profit zu machen. Notfalls auch auf Kosten von Menschenleben, wenn es das erfordert, um den eigenen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Zweifelhafte, zwielichtige Helden sind die Helden in „Totschlag“. Kleine Erpresser, die das große Geld wollen. Kleine Banditen, die sich mit mächtigen Gangsterbossen anlegen. Bewohner aus den dunklen Gassen der Städte, der Halb- und Unterwelt. Eine Welt, in der Moral ein Fremdwort und Loyalität eine Hure ist. Ob Black, der in der gleichnamigen Kurzgeschichte zwei Kleinstadtbanden gegeneinander ausspielt oder Doolin („Hinrichtung in Blau“), für den die Gefahr ein Kick ist, für den er sich gerne bezahlen lässt – allesamt können sie als Prototypen des zynischen, amoralischen Einzelgängers verstanden werden, dessen Variation später u.a. auch in Richard Starks Parker seinen Widerhall gefunden hat.

Aber es ist nicht allein die literarische Bedeutung der Motive und Elemente, welche Cain verwendet hat, die „Totschlag“ auch heute noch lesenswert machen – es ist der unverwechselbare, prägende und vor allem zeitlose Stil. Kurz, knapp, kantig, karg. Vollkommen schmucklos sind die Geschichten ausformuliert. Sie erlauben weder einen Blick ins Innere der Figuren, noch scheren sie sich einen Dreck um irgendwelche Details, die die Story am Ende dann sowieso nicht weiterbringen. Hier ist kein Wort zu viel, werden die Punkte wie präzise Fäuste am Ende jedes Satzes versenkt. In keiner Passage hat es den Anschein, als hätte der Autor auch nur im geringsten Zeit verschwendet, um seine Gedanken auf Papier zu bringen. Wie bei einem geübten Mechaniker wurden die Teile methodisch aneinander gesetzt, ein bisschen geölt und verschraubt und letztlich auf dem Band weitergeschickt. Das Ergebnis: Plot, Spannungsbogen, Dialoge – sie alle funktionieren noch genauso tadellos wie am Tag ihrer Entstehung. Es bedarf keinerlei Anstrengung, sich in das Geschehen zu versetzen, noch zerrt uns ein störender geschichtlicher Kontext aus der Handlung. Wie seitdem fast alle Vertreter des „Pulps“ reduziert Cain mit diesen sieben Geschichten eine immer schneller und komplexer gewordene Welt auf ihre Grundkonflikte, macht er das sichtbar, was die Fassade der Zivilisation zu verdecken droht.

Hass, Eifersucht, Gier, Neid, Liebe, Rache, Betrug – es sind diese Ingredienzien, mit denen Cain würzt. Oder wie Chandler in seinem Essay „Die simple Kunst des Mordens“ über Hammett schrieb:

Er „brachte den Mord zu der Sorte von Menschen zurück, die mit wirklichen Gründen morden, nicht nur, um dem Autor eine Leiche zu liefern . . . Er brachte diese Menschen aufs Papier, wie sie waren, und er ließ sie in der Sprache reden und denken, für die ihnen unter solchen Umständen der Schnabel gewachsen war.

Totschlag“ war für mich eine der größten Überraschungen der letzten Jahre und einmal mehr auch ein Beweis für Frank Nowatzkis untrüglichen Riecher in Sachen guter, verschollener oder einfach bisher noch nicht entdeckter Spannungsliteratur. Dickes Lob und Danke für diese Übersetzung, welche mein Interesse am Pulp Master Verlag in einem noch höheren Maße entfacht hat, der im Mai mit der Neuveröffentlichung von „Ansturm auf L. A.“ (bereits bei Ullstein als „Null auf Hundert“ herausgebracht) einen weiteren Titel von Cain nachlegen wird.

Wertung: 92 von 100 Treffern

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  • Autor: Paul Cain
  • Titel: Totschlag
  • OriginaltitelSeven Slayers
  • Übersetzer: Thomas Rach
  • Verlag: Pulp Master
  • Erschienen: 01/1995
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 189 Seiten
  • ISBN: 978-3927734210

Blut ist trüber als Wasser

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(c) Antje Kunstmann

Während ich mich derzeit in James Ellroys Erstlingswerk „Browns Grabgesang“ vertiefe und dort nach ersten Spuren des späteren „Demon dog of American crime fiction“ suche, sei hier an dieser Stelle mal ein kleines, schmales Büchlein vorgestellt, dass wohl bei dem ein oder anderen bei der Veröffentlichung hierzulande durchs Raster gefallen sein könnte. Eigentlich die perfekte Winterlektüre für zwischendurch – wobei, wenn ich so durchs Fenster und aufs Thermometer schaue, ist „Bruderliebe“ von Yves Ravey wahrscheinlich auch jetzt gut lesbar.

Yves Raveys „Bruderliebe“ gehört mit knapp 110 Seiten (für die der Kunstmann Verlag auch gern noch, nicht gerade preiswerte, 14,95 € haben möchte) zu der Kategorie von Literatur, welche von Feuilletonisten begeistert besprochen, von der größeren Leserschaft im Anschluss daran aber komplett ignoriert wird. Selbst der gezogene Vergleich mit Hitchcock, der auf der Buchrückseite prangt, ist da eher kontraproduktiv, hat doch heutzutage die psychologisch-ziselierte Spannung den Wettkampf gegen den derben Splatter längst verloren. „Augenschneider“, „Seelenbrecher“, „Todesflüsterer“. Fast-Food-Unterhaltung ist angesagt. Und die soll vor allem schnell verdaulich sein, der Geschmack bleibt nebensächlich. Frei nach dem Motto: Wozu ein Plot, wenn man jemanden über zwanzig Seiten genüsslich ins Nirvana foltern kann? So bleibt „Bruderliebe“ ein Häppchen für diejenigen Leser, die sich literarische Sprache noch auf der Zunge zergehen lassen.

Kurz zur Geschichte: Jerry und Max sind Brüder – und haben sich doch seit knapp zwanzig Jahren nicht mehr gesehen. Nun treffen sie sich inmitten der verschneiten Berglandschaft der Schweizer Alpen wieder. Nicht die Sehnsucht nach Familie, sondern ein perfider Plan hat die zwei ungleichen Brüder zusammengeführt. Max, der von der Tochter seines Chef mehrmals eine Abfuhr kassiert hat, will diese nun kidnappen, um von ihrem Vater eine halbe Million Euro zu erpressen. Jerry, der in Afghanistan sein Geschick im Kampf bewiesen hat, soll helfen, damit die Entführung gelingt. Und es sieht anfangs auch ganz so aus, als sollten sie Erfolg haben. Bis plötzlich die ersten Risse im kriminellen Konstrukt auftauchen.

Jerry scheint sich nicht in allen Belangen an das abgesprochene Vorgehen zu halten und zeigt sich dem Entführungsopfer gar ohne Maske. Hat er vielleicht ganz andere Absichten mit dem Geld als sein Bruder? Und wer von beiden bestimmt was mit der jungen Frau passiert? Was als sorgfältig ausgeklügelte Idee begonnen hat, wird zu einem eiskalten Duell, das letztlich nur einen Ausgang nehmen kann… oder ist doch alles anders, als gedacht?

Nur wenige Seiten und doch ein Spannungsbogen, der es in sich hat. Es ist diese hohe Kunst, die Ravey hier meistert und „Bruderliebe“ zu einem intensiven, weil unheimlich fesselnden Stück Kriminalliteratur macht. Ausschweifungen, Nebenschauplätze, detaillierte Beschreibungen – Fehlanzeige. Raveys Sprache ist so karg, unwirtlich und kalt, wie der Ort, an dem seine Handlung spielt. Und der Plot, wie auch die Figuren, leben von dieser klirrenden Kälte, dieser augenscheinlichen Taubheit, einer Schneedecke gleich, unter der nur langsam die darunter verborgene Wahrheit zutage kommt. Stil und Aufbau der Geschichte erinnern dabei an die frühen Werke James M. Cains. Und wie sein amerikanischer Kollege, so ist auch bei Ravey nicht immer alles wie es scheint. Der Schuss Genialität, diesen Funken mehr Qualität, macht die schnörkellose, und doch tiefgründige Lektüre, zu etwas Besonderem.

Bruderliebe“ ist nur ein kurzer Bissen, aber einer der schmeckt. Ein frostiges und kraftvolles Katz-und-Maus-Spiel für die dunkle Jahreszeit oder einfach nur düstere Abende, das letztlich jeden Cent wert ist.“

Wertung: 82 von 100 Trefferneinschuss2Autor: Yves Ravey

  • Titel: Bruderliebe
  • Originaltitel: Enlèvement avec rançon
  • Übersetzer: Angela Wicharz-Lindner
  • Verlag: Antje Kunstmann
  • Erschienen: 02.2012
  • Einband: Hardcover
  • Seiten: 112
  • ISBN: 978-3888977503

Eine gelungene Hommage ans „Golden Age“

Unbenannt

© Heyne

Allein ein Blick aus dem Fenster genügt, um sich zu vergewissern, dass der Winter vor der Tür steht und es bis Weihnachten gar nicht mehr so weit ist. Dichter Nebel, Nachtfrost, das allmorgendliche Kratzen auf der Autoscheibe – alles Begleiterscheinungen des Wetters, mit denen man sich abfinden muss. Wie schön, wenn man es sich dann vor dem warmen Kaminofen mit einem guten Buch gemütlich machen kann. In meinem Fall zu dieser Jahreszeit am Liebsten mit einem Whodunit. Was liegt dann also näher, als „Mord auf ffolkes Manor“ wieder aus dem Regal hervorzukramen:

Gilbert Adair hat mit „Mord auf ffolkes Manor“ etwas geschafft, was nur wenigen vor ihm gelungen ist: Eine gelungene Hommage an die britische Kriminalliteratur der 30er und 40er Jahre auf Papier zu bringen, die gleichzeitig persiflierend und spannend ist. Das er dabei mehr als nur einmal bei den Genies des Genres klaut, mag man ihm vorhalten können. Dennoch hat der Roman genug Eigenständigkeit um funktionieren zu können. Adair trifft den Ton einer längst vergangenen Epoche so genau, dass sich der Leser unmittelbar in diese Zeit zurückversetzt fühlt.

Handlungsaufbau, Schauplatz und Figuren könnten einem typischen Agatha-Christie-Roman entsprungen sein. Und wie bei der großen Queen of Crime kommt auch bei Adair sofort dieses wohlige Krimifeeling auf, bei dem man sich am liebsten in einen großen chintzbezogenen Ohrensessel kuscheln und losschmökern möchte. Von der ersten Seite an nimmt einen die typisch britische Atmosphäre gefangen, lässt man sich von den wunderbar schrulligen und irgendwie vertrauten Charakteren an der Hand führen.

Die Story ist kurz erzählt: Im eingeschneiten Herrenhaus von Roger ffolkes, nahe Dartmoor gelegen (Reminiszenz an Sir Arthur Conan Doyle), ist ein Mord passiert. In einem verschlossenen Raum (John Dickson Carr lässt grüßen) einer Dachkammer. Der in der Nähe wohnende pensionierte Chefinspektor Trubshawe wird gerufen, um den Fall zu klären. Dabei erhält er ungewollt Hilfe von der bekannten Krimiautorin Evadne Mount, die die Ermittlungen selbst in die Hand nimmt und mehr als nur einmal die unter Verdacht stehenden Gäste mit ihren Anekdoten aus der Welt der Kriminalliteratur zur Verzweiflung treibt.

Hier zeigt sich Adairs Gespür für perfekt pointierten Witz, der zwar nicht zu Lachkrämpfen führt, dem Leser mit seiner trockenen Art aber desöfteren zum Schmunzeln bringt. Hinzu kommt das absichtlich überzogene klischeehafte Verhalten der Figuren. Trubshawe ermittelt mit enervierender Langsamkeit, die Verdächtigen winden sich übertrieben beim offenbaren ihrer Geheimnisse und Mount, das Ganze sorgsam verfolgend, zieht (natürlich) als Einzige die richtigen Schlüsse. Sie ist es auch, welche den Gästen, die sich alle zusammen im Salon versammelt haben (Christie hätts nicht besser gekonnt), die vorangegangenen, zum Mord führenden Geschehnisse schildert und mit einer logischen, aber trotzdem genial verblüffenden Auflösung bei ihrem Publikum für Staunen sorgt. Allenfalls Fans der schnelleren Gangart wird bis dahin der langatmige, sich im Endeffekt in überflüssigen Details verlierende Erzählstil, gestört haben.

Mord auf ffolkes Manor“ ist ein gelungenes Duplikat, das sowohl mit Spannung als auch Witz aufwartet. Eine erfrischend kurzweilige Krimiparodie, welche mit Zitaten und Anspielungen auf den klassischen Krimi aufs Beste unterhält und bei Freunden des Genres (wie mir) nach mehr gieren lässt.

Wertung: 88 von 100 Trefferneinschuss2

  • Autor: Gilbert Adair
  • Titel: Mord auf ffolkes Manor
  • Originaltitel: The Act of Roger Murgatroyd
  • Übersetzer: Jochen Schimmang
  • Verlag: Heyne
  • Erschienen: 01.2008
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 304
  • ISBN: 978-3453-43286-4