Die Nackten und der Tote

© Ullstein

Ein Jahr nach dem Edgar Award prämierten Kriminal-Debütroman „In der Hitze der Nacht“ ließ John Dudley Ball seinen zweiten Band aus der Reihe um den schwarzen Detektiv Virgil Tibbs aus Pasadena folgen.

Totes Zebra zugelaufen“, so der deutsche Titel, brachte es hierzulande nur zu einer Veröffentlichung im Jahre 1967 beim Ullstein Verlag. Danach verschwand der Titel, wie auch die meisten restlichen Werke John Balls, komplett vom deutschen Büchermarkt. Selbst die Hoffnung, dass im Rahmen der Fischer Crime Classics Reihe einer der Bände eine Neuausgabe erfahren würde, währte schließlich, wie auch die Reihe selbst, nicht lange. Wer also gern heutzutage chronologisch die Fälle von Virgil Tibbs lesen möchte, muss weiterhin antiquarisch suchen. Aber diese Suche lohnt – ganz sicher.

Totes Zebra zugelaufen“ führt uns in die kalifornische Nudisten-Kolonie „Sun Valley Lodge“ Mitte der 60er Jahre. Dort ist ein fremder Mann nackt im Schwimmbecken aufgefunden worden. An sich nichts Ungewöhnliches an diesem Ort, nur ist dieser „Badegast“ tot und treibt mit dem Rücken nach oben. Ein Mord ist mehr als wahrscheinlich, wobei sich der Täter alle Mühe gegeben hat, eine Identifizierung zu erschweren, denn neben neben der Kleidung wurde ihm gleich auch noch das Gebiss entwendet. Nur soviel ist klar. Der Unbekannte ist kein Mitglied der Kolonie, sondern ein „Zebra“. (Um die Hüften herum ist er weiß, sonst braun. Bei einem Nudist fehlen diese Streifen.)

Für den ortsansässigen Sheriff ist dies ein mysteriöses Rätsel. Er zieht sogleich Virgil Tibbs von der Mordkommission zurate, der sich nicht nur aufgrund seiner Hautfarbe zwischen all diesen weißen Sonnenanbetern ziemlich fehl am Platz fühlt. Besonders die Nacktheit einer äußerst attraktiven Zeugin macht ihm sichtlich zu schaffen. Schnell kommt der sonst so kühle Denker ins schwitzen, zumal die Suche nach der Identität der Leiche ebenfalls früh in einer Sackgasse zu enden scheint. Bis schließlich ein Landpolizist der kalifornischen Polizei einen wichtigen Hinweis gibt und Tibbs damit auf die richtige Spur gebracht wird …

Nein, die Intensität und Wirkung des Erstlings erreicht „Totes Zebra zugelaufen“ leider nicht. Ein überdurchschnittlich guter Krimi ist er aber dennoch, was gleich mehrere Gründe hat. John Ball beweist auch diesmal viel Mut und scheut sich nicht vor Konfliktthemen. Nachdem es sein Schützling Virgil Tibbs zuvor noch mit rassistischen Cops im kleinen Südstaatenkaff Wells zu tun hatte, sieht er sich nun anderweitig ausgegrenzt. Seine Hautfarbe ist dabei weniger von Belang, als vielmehr die Tatsache, dass er sich angezogen auf dem Gebiet der Nackten bewegt. Ball, selbst einen großen Teil seines Lebens lang Nudist, führt der Gesellschaft hier geschickt, pointiert und mit viel Witz ihr falsches Denken vor, ohne groß mit der Moralkeule zu schwingen. Zwischen dem schwarzen Cop und den weißen Nudisten besteht, und das müssen beide Seiten schnell feststellen, eine schon fast ironische Gemeinsamkeit. Beide werden, der eine wegen der Hautfarbe, die anderen wegen ihres Lebensstils, abfällig beäugt. Das Intelligenz, Kompetenz und Charakterstärke aber vom äußeren Schein unabhängig sind, kann Tibbs erneut brillant unter Beweis stellen.

Auffällig ist dabei hier, dass er sich der Unterstützung der ortsansässigen Polizei sicher sein kann, welche die Fähigkeiten des schwarzen Ermittlers schätzt und sich auch nicht schämt, ihre eigene Unkenntnis einzugestehen. Hier ist er nicht einfach nur Virgil, sondern Mr. Tibbs. Geachtet und anerkannt, nimmt er sich in bester Holmes-Manier des Falles an, wobei der Leser (wie die Leiche) direkt zu Beginn ins kalte Wasser geworfen wird. Ball hält sich nicht allzu lang mit einer großen Einführung auf, sondern lässt den Detective mittels Deduktion und Kombinationsgabe wichtige Indizien noch am Tatort entschlüsseln. Während man selbst noch irritiert über Gründe und Motive rätselt, scheint Tibbs bereits sein Netz enger um den Täter zu ziehen.

Es ist die große Stärke dieses Autors, die Genialität seines Ermittlers herauszustellen, obwohl der Leser, dem die gleichen Hinweise zur Verfügung stehen, völlig im Dunkeln tappt. Ob man will oder nicht. Staunend sieht man Tibbs bei der Arbeit über die Schulter. Und obwohl das Buch (das in der Fassung von Ullstein wieder einige Kürzungen erfahren musste) gerade mal knapp 160 Seiten umfasst, und damit ein wenig mehr Umfang als eine Kurzgeschichte hat, fesselt der Plot von Beginn, überzeugt Ball mit Sprachstil und detaillierten Beschreibungen, die uns das Kalifornien der 60er Jahre vor den Augen wieder auferstehen lassen. Krimikenner mit dem genauen Blick werden übrigens dabei erkennen, dass sich hier eine gewisse Entwicklung von klassischen „Whodunit“ zum „Police Procedural“ vollzieht, den vor allem Ed McBain seit Mitte der 50er aus der Taufe gehoben hatte.

Totes Zebra zugelaufen“ ist der würdige Nachfolger eines großartigen ersten Bands, welcher zwar dessen Qualität nicht ganz erreicht, aber mit einem intelligenten, sehr scharfsinnigen Plot unterhält und neben dem eigentlichen Mordfall noch eine ganze Menge Tiefgang mitliefert. Ein kurzes, aber lohnendes Lesevergnügen, das, zumindest derzeit, zu moderaten Preisen aus zweiter Hand zu bekommen ist.

Wertung: 86 von 100 Treffern

einschuss2
  • Autor: John Dudley Ball
  • Titel: Totes Zebra zugelaufen
  • Originaltitel: The Cool Cottontail
  • Übersetzer: Mechtild Sandberg-Ciletti
  • Verlag: Ullstein
  • Erschienen: 1967
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 160 Seiten
  • ISBN: –

Fedoras im Fernen Osten

© Heyne

Auch Tom Bradby reiht sich in die Gruppe der Autoren ein, welche ich im Mitte der 2000er Jahre noch lebendigen Forum der Krimi-Couch für mich entdecken durfte und seitdem nicht mehr von meinem persönlichen Radarschirm verschwunden sind, was insbesondere an dessen herausragenden Roman „Der Gott der Dunkelheit“ liegt (zu diesem Werk werde ich mich in der kriminellen Gasse nochmal detaillierter äußern), der im Sub-Genre des Agentenromans den Vergleich mit den ganz großen Namen nicht scheuen muss.

Zwei Jahre zuvor erschien im Original bereits „Der Herr des Regens“, mit dem Bradby nicht nur ebenfalls sein Faible für exotische Schauplätze vor einem historischen Kontext untermauert, sondern bereits andeutet, welch talentiertes Händchen er dafür besitzt, Geschichte vor den Augen des Lesers lebendig zu machen und damit die Grenzen zwischen dem Jetzt und dem Früher aufzuweichen. Ohne vorab zu viel verraten zu wollen, würde ich gar behaupten, dass es genau diese Fähigkeit ist, die den Autor nochmal aus der Masse heraushebt und letztlich seinen Werken auch jene ganz besondere Atmosphäre verleiht, an der sich viele andere Kollegen, trotz detailliertester Beschreibungen, regelmäßig verheben. Gleichzeitig sorgt dieses vor uns ausgebreitete, äußerst stimmungsvolle literarische Buffet dafür, dass wir nicht so genau auf die Simplizität des Rezepts achten, würde doch ein genauerer Blick genügen, um zu erkennen, dass sich Bradby hier nicht nur einiger Klischees bedient, sonder auch die Handlung das Rad ganz sicher nie neu erfindet. Diese sei hier kurz vorgestellt:

Shanghai im Jahre 1926. Die Stadt ist ein Schmelztiegel der verschiedensten Nationen. Chinesen, Engländer, Amerikaner, Russen und Franzosen leben eng an eng, in einzelne so genannte „Settlements“ unterteilt und arbeiten in einigen Behörden, wie der Polizei und dem Geheimdienst, sogar zusammen. Richard Field – ein junger Grünschnabel von der Polizeiakademie aus Yorkshire, der vor seiner eigenen Vergangenheit in den Fernen Osten geflüchtet ist, um neu anzufangen – wird bereits nach wenigen Tagen im Dienst mit einem äußerst heiklen Mordfall konfrontiert. Eine russische Prostituierte wurde brutal gefoltert und anschließend getötet. Alle Indizien weisen daraufhin, dass der Gangsterboss „Lu Huang“, Oberhaupt der mächtigen „Grünen Triade“, dabei seine Finger mit ihm Spiel hat. Von Eifer und Idealismus beseelt stürzt sich Field in die Ermittlungen, nur um schon bald zu erfahren, dass es in der fremdartigen und pulsierenden Metropole vor allem eine Regel gibt: Traue niemanden.

Hartnäckig treibt er dennoch seine Nachforschungen voran und gerät dabei immer tiefer in ein verstricktes Netz der Korruption und kriminellen Machenschaften, welche auch vor dem Geheimdienst selbst nicht halt macht. Vom Verrat und Widerstand in den eigenen Reihen desillusioniert, scheint die wunderschöne Natascha, eine weitere russische Prostituierte und Freundin der Ermordeten, das einzige Beständige. Doch kann er ihr vertrauen? Oder spielt auch sie ein falsches Spiel?

(…) „in keiner Stadt einen je einen solchen Eindruck von einem dichten Morast üppig verflochtenen Lebens wie hier“ (…)

Aldous Huxley über Shanghai

Weitestgehend unbeobachtet und ohne größere Aufmerksamkeit zu erzeugen, erschien zuletzt 2019 mit „Secret Service“ ein Titel von Tom Bradby auf dem deutschen Buchmarkt (den ich, zu meiner Schande, bisher auch selbst noch nicht gelesen habe), womit sich dann auch irgendwie ein Trend fortsetzt, denn der britische Autor hat es bis zum heutigen Tag nicht geschafft, sich hierzulande einen größeren Namen zu machen. Während ein Richard Harris mit ähnlicher Produktivität seit „Vaterland“ in Deutschland ein gewisses Lesepublikum fast sicher sein Eigen nennen kann, musste man schon für „Der Gott der Dunkelheit“ in der Vergangenheit kräftig die Trommel rühren. Insofern stellt diese Besprechung auch meinen zweiten Versuch da, Tom Bradby einer etwas größeren Leserschaft – oder zumindest meiner eigenen Blog-Klientel bekannt und auch schmackhaft zu machen. Dass dabei die Wahl zuerst auf „Der Herr des Regens“ fiel (und eben nicht auf das noch weit gelungenere „Der Gott der Dunkelheit“), ist auch ein wenig Clementine Skorpils (bereits von mir rezensierten) Roman „Gefallene Blüten“ geschuldet, der im gleichen Jahr vor gleicher Kulisse angesiedelt ist, aber sich auf einen anderen Aspekt der Geschichte Shanghais konzentriert – und damit mit Bradbys Buch ein kongeniales Duo bildet.

Denn Fakt ist: Einmal mehr gelingt es Tom Bradby beinahe traumwandlerisch sicher, aus einem historischen Schauplatz eine lebendige Bühne zu kreieren, welche, ein Jahr nachdem die britischen Truppen einen Studentenprotest niedergeschlagen haben, zunehmend den beginnenden Einfluss des Kommunismus zu spüren beginnt und die ohnehin aufgeheizte Stimmung in dem kosmopolitischen, äußerst dynamischen Moloch aus verschiedensten Kulturen zum Überkochen bringt. Wohlgemerkt noch weitestgehend unbemerkt von den Europäern, für die, insbesondere bei den Briten, Shanghai immer noch als Stadt der unbegrenzten Möglichkeiten gilt, in welcher der mutige Abenteuer nicht nur zu Reichtum kommen, sondern auch alle anderen niederen Gelüste hemmungslos befriedigen kann. In ausgerechnet diesem Morast der Versuchungen wagt der Hauptprotagonist Richard Field seinen Neuanfang. Und muss dabei schnell erkennen, dass Recht und Gerechtigkeit nicht immer dasselbe sind und auch nicht allen Polizeikräften daran gelegen ist, die Wahrheit ans Tageslicht zu fördern.

Der Herr des Regens“ ist nicht nur thematisch, sondern auch von der Tonalität her ein klassischer „Noir“ und Gangsterroman, dessen Zutaten allesamt höchsten Wiedererkennungswert bieten. Männer mit Fedoras. Langläufige Thompsons mit Trommelmagazin. Schwarze Limousinen mit verdunkelten Scheiben. Stinkende, regennasse Gassen. Verruchte und verrauchte Nachtclubs. Bradby konstruiert einen Sündenpfuhl aus Hass, Verrat und Gewalt, der beim Lesers nicht ohne Wirkung bleibt und sogar darüber hinwegtäuschen kann, dass der eigentliche Spannungsbogen sich nicht in allerhöchste Höhen schwingt, so düster, ja, und damit auch nachhaltig bedrückend das Setting. Der Plot, er lebt von dieser desillusionierten, beinahe nihilistischen Atmosphäre, dieser immer präsenten Gefahr, die wie ein Damoklesschwert bedrohlich über allen Beteiligten hängt. Nein, sonderlich innovativ ist das alles nicht (das Ende riecht arg nach Hollywood), aber wer Filme wie „Chinatown“ und „Die Unbestechlichen“ mag oder mit Ellroy schon das historische L.A. unsicher gemacht hat, der wird wohl auch hier voll auf seine Kosten kommen.

Tom Bradbys „Der Herr des Regens“ ist ein schillernder, wendungsreicher und für einen „Noir“ überraschend politischer Roman, der allen Fans klassischer Gangstergeschichten ans Herz gelegt sei, die jedoch aufgrund der mitunter ausschweifenden Erzählweise etwas Geduld und Einfühlungsvermögen mitbringen sollten.

Wertung: 86 von 100 Treffern

einschuss2
  • Autor: Tom Bradby
  • Titel: Der Herr des Regens
  • Originaltitel: The Master of Rain
  • Übersetzer: Ina Kleinod
  • Verlag: Heyne
  • Erschienen: 12/2005
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 576 Seiten
  • ISBN: 978-3453470224

Der Steppenwolf und die Fliegen

© Kampa

Nach dem sogleich mit einem Edgar Award ausgezeichneten Debütroman „Schwarzes Echo“ ließ Autor Michael Connelly schon direkt ein Jahr später den zweiten Band aus der Reihe um den unbequemen Detective Hieronymus „Harry“ Bosch folgen und griff dabei einmal mehr auf seine reichhaltigen Erfahrungen aus der Zeit als Polizeireporter für die Los Angeles Times zurück.

Ende der 1980er konnte er sich aus erster Hand überzeugen, wie vor allem neuartige Drogen zum rapiden Verfall ganzer Gesellschaftsschichten und Stadtviertel beitrugen – und auch die Kriminalitätsrate in schwindelerregende Höhen katapultierten. Als besonders gefürchtet galt „Ice“, ein äußerst reine Form vom Methamphetaminhydrochlorid, welche, ursprünglich aus Asien stammend, vor allem in Hawaii schnell Fuß fassen und von dort schließlich auch nach Kalifornien gelangen konnte. Im vorliegenden Roman greift Connelly diese Thematik nun auf, erfindet mit „Black Ice“ eine Variante, die jedoch aus Mexiko ihren Weg in die USA findet und nutzt den Namen auch zeitgleich (und passenderweise) als Titel. Doch wie bereits schon im Vorgänger, so ist auch in „Schwarzes Eis“ Drogenhandel nur ein Element eines vielschichtigen Plots, welcher für Bosch seinen Anfang am ersten Weihnachtstag nimmt:

Bosch sitzt gerade beim Essen und beobachtet ein fernes Buschfeuer am Rand der nächtlichen Lichter von Los Angeles, als über den Polizeifunk eine Meldung eingeht und Personal zu einem Tatort in Hollywood beordert wird. Er ist irritiert, sich nicht unter den angeforderten Personen zu befinden, hat er doch eigentlich für diese Nacht Einsatzbereitschaft. Irgendjemandem scheint sehr daran gelegen zu sein, dass er bei diesem neuesten Fall außen vor bleibt. Ein zusätzlicher Anreiz für den sturköpfigen Cop, der sich nach einem kurzen Anruf bei der Dienststelle die Adresse besorgt und direkt im Anschluss auf den Weg Richtung Sunset Boulevard macht. Das Ziel ist das heruntergekommene Hideaway Hotel. Eine alte, abgewrackte Anlage voller dreckigen Absteigen – und Fundort von Calexico „Cal“ Moores Leiche, einem Drogenfahnder und Kollegen, der Bosch noch vor kurzem bei seinen Ermittlungen im Mordfall Jimmy Kapps – einem Drogenkurier, verantwortlich für den Transport der Modedroge „Black Ice“ von Hawaii nach L.A. – unterstützt hatte. Dass nun auch Moore tot ist, weckt Boschs Argwohn, zumal als Todesursache Selbstmord angegeben wird.

Bevor er sich selbst ein Bild davon machen kann, wird er jedoch von Assistant Chief Irvin Irving aufgehalten, mit dem Bosch in der Vergangenheit, erstmals im Zusammenhang mit dem „Dollmaker“-Fall (siehe Beginn von „Schwarzes Echo“), heftig aneinandergeraten ist. Irving hat die Untersuchungen offiziell an sich gerissen und gibt deutlich zu verstehen, dass die Anwesenheit des bekannten Quertreibers aus der Abteilung Hollywood unerwünscht ist. Doch Bosch lässt nicht locker, verschafft sich dennoch Zutritt und erkennt recht schnell, dass etwas an dem vermeintlichen Suizid mittels Schrotflinte nicht ganz zu passen scheint. Und überhaupt – warum ist auch die Dienstaufsicht direkt am Tatort erschienen?

Boschs Jagdtrieb ist geweckt und wird noch stärker, als immer mehr Instanzen der Behörde alles daran setzen, ihn von diesem Fall fernzuhalten. Wieso will man das Ganze so schnell zu den Akten legen? Was kann Moore entdeckt haben, dass eventuell seinen Mord rechtfertigt? Und was haben sterilisierte Fruchtfliegen damit zu tun? Bosch geht jeder möglichen Spur nach, muss aber dann doch von der Fährte ablassen, als ihn sein Vorgesetzter Lieutenant Harvey Pounds mit den liegengebliebenen Akten eines vom Dienst beurlaubten Kollegen betreut, um die bescheidene Aufklärungsquote der Abteilung etwas aufzuhübschen. Nur widerwillig nimmt sich Bosch dieser kalten Spuren an, bis ihn eine davon plötzlich zu Cal Moore und nach Mexiko, genauer gesagt in die Grenzstadt Mexicali führt. Genau gegenüber, auf amerikanischer Seite, liegt auch Calexico, die Stadt welche Moore seinen Namen gab. Ein Zufall zu viel für Moore, der langsam ahnt, dass der Großteil des „Black Ice“ inzwischen nicht mehr aus Hawaii kommt. Unter fadenscheinigen und vorgeschobenen Gründen macht er sich auf eigene Faust auf den Weg nach Mexiko – nicht ahnend, dass bereits jeder seiner Schritte von den Männern des Drogenbosses Zorillo, genannt „Der Papst“, mit Argusaugen verfolgt wird …

Was auf den ersten Blick vielleicht noch wie ein ziemlich geradliniger roten Faden aussieht, erweist sich schon bereits nach wenigen Seiten als ein abermals äußerst komplexes Geflecht vieler kleinerer Handlungsstränge, welche gerade zu Beginn höchste Aufmerksamkeit und ein gutes Namensgedächtnis seitens des Lesers voraussetzen. Es wird auch in „Schwarzes Eis“ deutlich – Michael Connelly macht wenig bis keine Zugeständnisse an eine bessere Zugänglichkeit, sondern erzählt seine Geschichte haargenau so, wie er es für richtig hält. Und das ihn dabei besonders die großen Namen des „Noir“ wie Raymond Chandler und Dashiell Hammett maßgeblich inspiriert und beeinflusst haben, will und kann er gar nicht verhehlen. Allein sein Hauptprotagonist ist – mit dem Unterschied, dass er eben (noch) nicht als Privatdetektiv arbeitet – ein Spiegelbild des klassischen Private-Eye der 30er und 40er Jahre, dem das Protokoll und Hierarchien nichts bedeuten, und der gegen jeglichen Widerstand seinen eigenen Willen durchzusetzen vermag – und damit auch immer wieder durchkommt. Ist das realistisch? Wohl kaum. Auch wenn jede Polizeistelle der Welt wohl gerne eine solch hartnäckige Spürnase wie Harry Bosch in seinen Reihen hätte – für das zerschlagene „Porzellan“ dieses mitunter brachialen „Elefanten“ würde wohl kaum ein Vorgesetzter seinen Kopf hinhalten.

Und doch speist sich gerade aus dieser Figur und Michael Connellys unnachahmlichen Gespür für die Inszenierung seiner Schauplätze die Faszination dieser inzwischen so langlebigen Reihe. Harry Bosch, nicht selten ein Arschloch wie es eben nur im Buche steht, ist genau wegen seiner aufmüpfigen Art und den unkonventionellen Methoden der perfekte Sympathieträger für den Leser, zumal er in einem Umfeld wirken darf, dass – dank Connellys eigener Erfahrungen – so lebensecht wie nur möglich herüberkommt. Von Bosch abgesehen zeichnet der Autor ein äußerst realistisches Bild des Polizeiapparats von L.A., der unter Druck der Öffentlichkeit, vorgegebener Quoten und machtgieriger Karrieristen nicht nur immer wieder äußerst unbeweglich, sondern auch für äußere Einflussnahme unheimlich anfällig ist. Zwar gehören die Zeiten der ganz großen Korruption der Justizbehörden in den frühen 90ern inzwischen lange der Vergangenheit an – die Strukturen selbst haben sich mitunter aber kaum geändert. Und so ist es auch kein Wunder, dass der unbestechliche Einzelgänger Bosch schon fast ein Dauerabonnement auf das berufliche Abstellgleis hat und oft gänzlich allein gegen alle kämpft.

In Folge dessen ist auch jeder berufliche Kontakt für Bosch vor allem eins – ein nützliches Mittel zum Zweck, das ihm letztlich dazu dient, der Gerechtigkeit, und wenn schon nicht ihr, dann wenigstens der Wahrheit zum Sieg zu verhelfen. Das muss in „Schwarzes Eis“ auch Teresa Corazon erfahren, die als Stellvertretende Chefgerichtsmedizinerin vom L.A. County vom nächsten beruflichen Schritt in ihrer Karriere träumt. Bosch, mit dem sie eine Affäre hat, nutzt ihre Position rücksichtslos aus, um die Vertuschung rund um Moores Ableben an die Öffentlichkeit zu bringen und damit erst weitere Ermittlungen möglich zu machen. Connelly gelingt es dabei jedoch meisterhaft, die menschliche Seite seines Hauptprotagonisten nie außen vor zu lassen. Bosch ist bar jeder Künstlichkeit, hat nicht viel gemein mit den überzeichneten Rächergestalten, die heute den Thriller vielfach bevölkern – nein, sein Benehmen, seine ganze Persönlichkeit ist Resultat eines längeren Prozesses, der in frühen Jahren seinen Anfang genommen hat. Wie wir in „Schwarzes Eis“ erfahren, wuchs er ohne Vater auf und wurde schon in jungen Jahren aus der Obhut seiner Mutter, einer Prostituierten, geholt und in einer einem Jugendheim ähnelnden Wohnanlage, der McLaren Youth Hall, untergebracht, wo man Kinder sowohl vernachlässigt als auch systematisch misshandelt hat.

Seinen eigenen, unehelichen Vater, J. Michael Haller, lernte Harry Bosch erst in späteren Jahren an dessen Sterbebett kennen. Eine für ihn traumatische Begegnung, in der Autor Michael Connelly übrigens äußerst geschickt seine große Liebe für Hermann Hesse, insbesondere für sein Werk „Steppenwolf“ verarbeitet, dessen Hauptfigur Harry Haller sich eben aus jenen beiden Namen zusammensetzt. Für Interessierte sei erwähnt, dass an dieser Stelle auch erstmalig Michael „Mickey“ Haller, Boschs Halbbruder erwähnt wird, der zwölf Jahre später in seinem ersten eigenen (und auch verfilmten) Roman „Der Mandant“ nachhaltig Eindruck hinterlassen und anschließend dann ein fester Bestandteil des Connelly-Kanons wird. Doch bis dahin warten noch einige Bosch-Bände auf den Leser, der sich sicherlich auf jeden einzelnen freuen darf – denn auch wenn „Schwarzes Eis“ nicht ganz das hohe Niveau des großartigen Auftakts erreicht, kann das Buch doch auf vielerlei Ebenen überzeugen.

Harry Boschs zweiter Auftritt ist ein durchweg spannender Mischling aus Police-Procedural und Noir, der besonders nochmal im letzten Drittel zwischen Stierkampfarenen und verlassenen mexikanischen Herrenhäusern mit einer atmosphärischen Dichte aufwartet, die Connellys großen Vorbildern in nichts nachsteht. Wenngleich die Handlung vielleicht den ein oder anderen Haken zu viel schlägt, wandelt man unheimlich gern in den Fußspuren dieses einsamen Wolfs, der inzwischen – auch dank der erfolgreichen TV-Serienumsetzung – aus dem Olymp der Kriminalliteratur nicht mehr wegzudenken ist. Wer sich also immer noch fragt, ob ein Griff zu den frühen Bänden der Serie lohnt, dem gibt „Schwarzes Eis“ eine deutliche Antwort. Definitiv, ja.

Wertung: 86 von 100 Treffern

einschuss2
  • Autor: Michael Connelly
  • Titel: Schwarzes Eis
  • Originaltitel: The Black Ice
  • Übersetzer: Norbert Puszkar
  • Verlag: Kampa
  • Erschienen: 08.2021
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 464 Seiten
  • ISBN: 978-3311155126

Strange to wander in the mist, each is alone

© Ullstein

Am 12. Dezember des vergangenen Jahres starb John le Carré, der mit bürgerlichen Namen eigentlich David John Moore Cornwell hieß, im Alter von 89 Jahren an den Folgen einer Lungenentzündung – und mit ihm eine der ganz großen Stimmen, wenn nicht die größte, des klassischen Spionageromans.

Angesichts solcher Vorgänger wie John Buchan, Eric Ambler oder Ian Fleming vielleicht meinerseits eine durchaus mutige Einschätzung dieses Autors, welche sich aber nicht nur durch seine langjährige Schaffensperiode und die thematische Vielfältigkeit erklären lässt, sondern vor allem aufgrund seinem Verdienst, den einstmals als trivial abgestempelten Krimi, als ernstzunehmende Literatur etabliert zu haben. Persönlich bin ich mir gar sicher: Ohne diese vor allem durch seine Verleger erfolgte Einordnung, wäre er, wie auch Graham Greene, mit Sicherheit ebenfalls immer wieder ein ernstzunehmender Kandidat für den Literaturnobelpreis gewesen. Umso interessanter ist es nun, ein rückblickendes Auge auf sein umfangreiches Lebenswerk zu werfen und dort zu starten, wo auch für Le Carré alles begonnen hat: Mit dem Agent des britischen Auslandsgeheimdiensts MI6, George Smiley – Held gleich mehrerer Romane aus der Feder des Briten und auch Hauptprotagonist in seinem Erstling „Schatten von gestern“.

Held ist dabei jedoch nicht wortwörtlich zu verstehen, verkörpert Smiley doch eher das genaue Gegenteil von dem, was sich gemeinhin die meisten, seit Sean Connery die Rolle des James Bond verkörpert hat, unter einem typischen Spion vorstellen. In seinem ersten Auftritt wird er dem Leser als ein beleibter Brillenträger von kleiner Statur vorgestellt, dessen persönliche Garderobe arg zu wünschen übrig lässt und dem überhaupt erst durch seine Heirat mit Lady Ann Sercomb größere gesellschaftliche Aufmerksamkeit zuteil geworden ist, kann er doch sonst weder Titel noch irgendwelche außergewöhnlichen schulischen Leistungen oder militärische Ehren aufweisen. Und er sollte auch nicht lange im Rampenlicht stehen, denn schon zwei Jahre nach ihrer Hochzeit (und viele Affären später) verließ ihn seine Frau für einen kubanischen Rennfahrer. Smiley kehrte nach ihrer Trennung zum Geheimdienst zurück, den er ihr zuliebe hinter sich gelassen hatte, und arbeitet seitdem für die britische Spionageabwehr. Sein Spezialgebiet ist dabei das inzwischen geteilte Deutschland, zu dem er aufgrund seines Lebenslaufs eine ganz besondere Beziehung hat:

Einen Teil seiner Kindheit verbringt Smiley nämlich in Hamburg und im Schwarzwald, wo er früh eine Vorliebe für die Literatur des deutschen Barock entwickelt. Ein Themenfeld, welches er auch später am College von Oxford studiert, wodurch Deutsch zu seiner zweiten Muttersprache – und er für den britischen Abwehrdienst, der zum damaligen Zeitpunkt den Aufstieg der Nationalsozialisten genau beobachtet, erstmalig interessant wird. So tritt er als englischer Lektor einen Posten an einer kleinen deutschen Universität an, wo er nach potentiellen Agenten Ausschau hält und hilflos und voller Verachtung mitansehen muss, wie politisch Andersdenkende verfolgt und Bücher öffentlich verbrannt werden. Kurz vor Kriegsausbruch verlässt er schließlich das Land, arbeitet in der Tarnung eines Waffenhändlers in Schweden, Schweiz und später auch wieder kurz in Deutschland, bis 1943 die Situation für ihn zu brenzlig wird und ihn der Abwehrdienst zurück nach England holt. Jetzt, Anfang der 60er Jahre, droht ihn diese Vergangenheit einzuholen.

Da sein Vorgesetzter Maston, ein reiner Karrierist, der den alten, eher akademisch geprägten Führungszirkel komplett aufgelöst hat, ihn als zu alt für jegliche Agenteneinsätze erachtet, befindet sich Smiley inzwischen auf dem beruflichen Abstellgleis. Er wird nur noch für Routineaufgaben eingesetzt. So soll er jetzt Samuel Fennan, einem Beamten des Auswärtigen Amtes, einem Verhör unterziehen, da dieser einst der Kommunistischen Partei angehört haben soll. Das Gespräch verläuft ohne größere Probleme, Smiley sieht sein Gegenüber als eindeutig entlastet und legt den Fall zu den Akten – bis ihn kurze Zeit später die Nachricht erreicht, dass sich Fennan das Leben genommen und ihr Gespräch laut dem Abschiedsbrief den Ausschlag dafür gegeben hat. Eine delikate Situation, die es für Maston schnell zu bereinigen gilt, weswegen er den „Verursacher“ mit dessen vermeintlich fehlerhaften Handeln konfrontiert. Smiley quittiert kurzerhand den Dienst und stellt gemeinsam mit dem örtlichen Polizeibeamten Mendel auf eigene Faust Nachforschungen an. Und schon bald darauf lassen gleich mehrere Indizien Zweifel am Suizid Fennans aufkommen. Doch wenn es Mord war, wer hätte Interesse an seinem Tod? Die Suche nach der Wahrheit holt Smiley nicht nur aus seiner beruflichen Lethargie, sondern bringt ihn persönlich auch in große Gefahr …

Wer sich vorab schon ein bisschen mit dem Namen John Le Carré beschäftigt hat – etwas, das sich bei diesem gebildeten, humorvollen Menschen unbedingt lohnt – wird sicher bemerkt haben, wie viel von der eigenen Biographie in die Figur George Smiley eingeflossen ist, der natürlich auch nur auf den ersten Blick einer „Kröte“ oder einem „Maulwurf“ gleicht und hinter dem etwas schäbigen Äußeren einen äußerst brillanten Geist verbirgt. Le Carré teilt die Liebe zur klassischen deutschen Literatur mit seiner Schöpfung, studierte unter anderem Germanistik und Neue Sprachen an der Universität Bern und schloss dort Freundschaft mit vielen Juden, die aus dem intellektuellen Deutschland in die Schweiz geflohen waren. Ein Land, das nach eigener Aussage zu seiner zweiten Heimat wurde und Schauplatz vieler seiner Romane (wenn auch nicht dieses) ist. Wie Smiley, so trat auch Cornwell dem Nachrichtendienst der britischen Armee bei. Er begann 1950 seine Tätigkeit in Österreich, kehrte zwei Jahre später für ein Studium nach England zurück, wo er wiederum im Dienst des MI5 ultralinke Gruppen observierte, unter denen man Sowjetagenten vermutete.Vom MI5 ging es zum MI6 und damit irgendwann nach Bonn und Hamburg. Als 1961 die letzten Lücken der Berliner Bauer geschlossen wurden, war Cornwell direkt vor Ort. Und genau zu dieser Zeit begann er damit unter dem Pseudonym John Le Carré zu schreiben.

Schatten von gestern“ ist das Resultat dieses ungewöhnlichen Berufswechsels und gleichzeitig Zeugnis dafür, dass eigene Erfahrungen und Kenntnisse, welche in das literarische Werk einfließen, diesem nochmal zusätzlich ein hohes Maß an Substanz verleihen können. Und genau unter diesem Aspekt muss Le Carrés Debüt auch betrachtet werden, das sich nicht im klassischen Sinne allein dem Spannungsmoment verpflichtet sieht, als vielmehr einem detailgetreuen Abbild der Realität während einer der heißesten Phasen des Kalten Krieges. Es ist bemerkenswert mit welch kritischem Blick – und wie neutral – er das Wirken der sich gegenüberstehenden Blöcke betrachtet, wie er diesen wenig spektakulären Kriminalfall nutzt, um äußerst subtil die Gefahr zu skizzieren, zu dem zu werden, was man bekämpft, wenn man sich der Methoden des Feindes bedient. Heiligt der Zweck die Mittel? Wie weit darf eine Demokratie bei der eigenen Verteidigung gehen und sich noch selbst Demokratie nennen?

George Smiley sieht sich bei seiner Suche nach der Wahrheit nicht nur immer wieder indirekt mit diesen Fragen konfrontiert, sondern auch mit den Folgen eigener Entscheidungen. Soll er tatsächlich nach und nach ins hintere Glied rücken, der jüngeren Generation das Feld überlassen – und damit auch akzeptieren, dass gewisse moralische Grundsätze mehr und mehr über Bord geworfen werden? Oder soll er doch die Stellung halten und sein Wissen um die menschliche Natur nutzen, um dafür zu sorgen, dass dem Ziel nicht alles untergeordnet wird? Le Carré legt hierauf sein Hauptaugenmerk, zeigt wenig Interesse daran, die mysteriösen Umstände an Fennans „Selbstmord“ künstlich aufzubauschen oder auszuschmücken. Stattdessen konzentriert er sich allein auf das Wirken der Figuren, die so gar nichts mit dem gemein haben, was man sonst von einem üblichen Kriminalroman gewohnt ist. Ob der pragmatische Mendel oder die zynische Holocaust-Überlebende Elsa Fennan – der Autor hält hier der Wirklichkeit gekonnt den Spiegel vor, breitet vor dem Leser eine düstere Welt aus, die tatsächlich existiert, aber von den meisten niemals wahrgenommen wird. Eine Welt, in der Mord ein Beruf ist, Folter nur ein Werkzeug und Verrat der finale Coupe de grâce, mit dem der Feind besiegt wird.

Le Carrés Stil ist dabei auffallend ruhig und kühl, setzt eher auf Dialoge als auf größere Action, wodurch die wenigen Ausbrüche der Gewalt umso mehr ihre Wirkung entfalten. Kurzum: Hier schildert ein Profi seine eigene Profession. Und erweist sich dabei gleichzeitig aber auch in literarischer Hinsicht noch als Schüler am Anfang seiner Karriere. Gerade Smiley bleibt, obwohl wir viel über seine Vergangenheit erfahren, für den Leser noch nicht ganz greifbar und damit auf Distanz. Das entbehrt nicht einer gewissen Ironie, ist es doch gerade der unscheinbare Agent, der sich aufgrund seiner Erfahrungen im Deutschland unter Hitler zutiefst dem Individualismus verpflichtet sieht. Oder um es mit Le Carrés Worten zu sagen:

Es war die unerträgliche Anmaßung, die Masse vor das Individuum zu stellen. Wann hatten Massenphilosophien je Segen oder Erkenntnis gebracht?

Smileys individuelle Stärken pointierter herauszuarbeiten und ihn damit mehr abzugrenzen – so ganz gelingt das Le Carré hier noch nicht, was aber letztendlich nichts daran ändert, dass „Schatten der Vergangenheit“ große Vorfreude auf die weitere Erkundung der Welt dieses fantastischen Schriftstellers macht. Und wie viele aufgrund von Klassikern wie „Der Spion, der aus der Kälte kam“ oder „Der ewige Gärtner“ bereits wissen – zurecht.

Wertung: 86 von 100 Treffern

einschuss2
  • Autor: John le Carré
  • Titel: Schatten von gestern
  • Originaltitel: Call for the Dead
  • Übersetzer: Ortwin Munch
  • Verlag: Ullstein
  • Erschienen: 10/2019
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 224 Seiten
  • ISBN: 978-3548061641

A cold, cold noir

© Knaur

Saukaltes Wetter. Bergeweise Schnee. Spiegelglatte Fahrbahnen. Die letzten 24 Stunden bedeuteten in manchen Regionen endlich wieder mal Winter pur, weshalb die nun von mir gewählte Lektüre da gut ins Bild gepasst hat. In „Treibeis“, dem zweiten Kriminalroman aus der Feder des Kanadiers John Farrow (Pseudonym für John Trevor Ferguson), kehrt der Leser einmal mehr nach Montreal, der „Stadt aus Eis“, zurück, um Sergeant-Detective Émile Cinq-Mars und seinem jüngeren Kollegen Bill Mathers bei ihrer dreckigen Arbeit über die Schulter zu schauen.

Und wie schon im Erstlingswerk „Eishauch“, so stellt auch hier Farrow seine Fähigkeiten eindringlich unter Beweis. Obwohl das martialische Cover anderes vermuten lässt, erwartet den Leser wieder eine äußerst komplexe und vor allem tiefgründige Geschichte, die geschickt mit unseren Erwartungen spielt und deren leise Töne härter treffen, als es das blutige Spektakel des derzeitigen Thriller-“Mainstreams“ je könnte.

Tiefer Winter in Montreal. In einer Eisanglerhütte auf dem Lake of Two Mountains nordwestlich der Stadt beobachtet Émile Cinq-Mars durch ein zugefrorenes Fenster den zugeschneiten See und die weite Bucht am Ufer. Eine Frau hat ihn herzitiert. Sie ist im Besitz von vertraulichen und äußerst brisanten Informationen, welche sie nur in den Händen des besten Bullen der Stadt in Sicherheit glaubt. Nun wartet Cinq-Mars auf die Unbekannte, gemeinsam mit Bill Mathers, der über den Ausflug aufs Eis nur wenig erfreut ist, zumal sich einfach niemand blicken lässt. Den Gedanken an die Heimreise schon im Kopf, durchbricht plötzlich ein Schrei die Stille auf dem See. In einer der nahe liegenden Eisanglerhütten ist eine im Wasser treibende Leiche gefunden worden. Bei dem Toten handelt es sich um Andrew Stettler, einem losen Gangmitglied der Hells Angels und Sicherheitschef eines großen örtlichen Pharmakonzerns. Anscheinend hat man ihm erst in den Hals geschossen und anschließend unter dem Eis ertränkt.

Cinq-Mars ist für ein solches Verbrechen eigentlich nicht zuständig, doch dass der Mann ausgerechnet dort getötet wurde, wo er sich mit seiner Informantin treffen wollte, kann kein Zufall sein und er beginnt hartnäckig eigene Nachforschungen anzustellen. Er findet heraus, dass Stettler an illegalen Menschenversuchen beteiligt war. Ahnungslose und idealistische Mitarbeiter wurden benutzt, um noch nicht zugelassene Medikamente an Aidspatienten zu verteilen und an diesen zu testen. Die Menschen, welche sich eine Verbesserung ihres Krankheitsbildes erhofften, nahmen bereitwillig und begeistert teil. Sie schluckten Pillen und Mixturen, ließen sich Spritzen geben … und starben. Die Führungsetage versucht nun das Fiasko unter den Teppich zu kehren und alle Mitwissenden, darunter Stettler, aus dem Weg zu räumen. Zu ihnen gehört auch die indianisch-stämmige Aktivistin Lucy Gabriel. Während Cinq-Mars und Mathers alles daran setzen, die junge Frau zu retten, machen im Untergrund die Schläger der „Hells Angels“ mobil. Alles läuft auf ein tödliches Wettrennnen hinaus …

Auch wenn ich Kollege Königs Wertung von 91° auf der Krimi-Couch dann doch ein wenig zu hoch gegriffen finde, muss auch ich konstatieren, dass sich John Farrow mit „Treibeis“, das bereits im Jahre 2001 im Original erschienen ist und erst neun Jahre später auf Deutsch veröffentlicht wurde, nochmals deutlich gesteigert hat, ohne dabei in irgendeiner Art und Weise von der eigenen Linie abzuweichen. Farrow behält seinen Stil bei, konzentriert sich in seiner Geschichte wieder auf ein brandheißes und aktuelles Thema und meidet weiterhin die Fallen der üblichen Serienheld-Krimis. Auch wenn Émile Cinq-Mars und Bill Mathers die treibende Kraft hinter den polizeilichen Ermittlungen sind, stellen sie doch nur einen Teil des großen Mosaiks dar, aus denen dieser Kriminalroman zusammengesetzt ist.

Wo manche Autoren mit detaillierten Einblicken ins Seelenleben der Protagonisten gleich ganze Seiten füllen, wird einem dies hier nur ausschnittsweise zuteil. Besonders zu Beginn ist zudem hohe Aufmerksamkeit vom Leser gefordert, da Farrow durch die Zeiten springt und man sich so, nachdem das Buch mit der Ankunft zweier New Yorker Cops begonnen hat, rückblickend dem Status Quo nähert. Ein geschickter Schachzug, der nicht nur die Dramaturgie verdichtet, sondern auch ganz nach dem alten „Columbo“-Rezept die „Wie“-Frage über die „Wer“-Frage stellt.

Und wie Farrow im weiteren Verlauf die individuellen Beweggründe der Protagonisten schildert und diesen Schmelztiegel aus Profitgier, Lug und Betrug zu einem stimmigen Ganzen formt, ist äußerst beeindruckend. Wenngleich auch hier der Bodycount sich durchaus sehen lassen kann, bezieht der Plot seine Spannung besonders aus der Realitätsnähe. Die Tatsache, dass sich der Autor eigentlich nicht weit von der Wirklichkeit entfernt, das organisierte Verbrechen keine Ausnahmeerscheinung darstellt, sondern Teil der Gesellschaft ist, lässt schwer schlucken. Alte moralische Grenzen sind längst verschwommen, die Ethik wurden dem Gewinnstreben geopfert. Gauner in Rockerkluft machen gemeinsame Sache mit gut situierten Geschäftsführern, bestimmen gar deren Geschäftspraxis. Farrow hebt mit sicherer Hand diese Verflechtungen hervor, macht den eiskalten Mord zum bitteren Tagesgeschäft. Wofür andere Autoren Tonnen von Blut und eine Handvoll schleimiges Gedärm brauchen, das erledigt hier ein kurzer Dialog – man ist angeekelt, angewidert und doch, aufgrund von morbider Neugier, fasziniert.

Dennoch taucht Farrow nicht gänzlich in die Dunkelheit ein. Cinq-Mars und Mathers bleiben erstaunlich menschlich, versuchen ihren Teil beizutragen, um das Böse einzudämmen, das, wie sie selbst gut wissen, zwar nicht besiegt werden kann, aber immer wieder auch Fehler begeht. Und es ist ein wahres Vergnügen Cinq-Mars dabei zu beobachten, wie er diese Ausrutscher entdeckt (die mir teilweise selbst entgangen sind) und geschickt nutzt, um seine Gegenspieler in die Ecke zu treiben. Überhaupt sind die Dialoge ein Genuss, fasziniert die rauhe, grobe Art des alten Wolfs Cinq-Mars, der gegen alle Widerstände vorausgeht und für den erfolgreichen Abschluss auch mal die Gesetze bis an ihre Grenzen dehnt. „Treibeis“ lebt von seinen großartigen Figuren und dieser intelligent konzipierten Komplexität, welche im Vergleich zum Vorgänger nun viel zielgerichteter geraten ist. Das sorgt wiederum für besseren Lesefluss, wenngleich man auch diesmal die ein oder andere Schwierigkeit mit den vielen Handlungsebenen und Schauplätzen hat. Das Buch verweigert sich dem „page-turning“, sorgt gleichzeitig aber damit auch dafür, dass das Gelesene umso eindringlicher in Erinnerung bleibt.

Treibeis“ ist ein eiskalter, äußerst düsterer Polizeiroman-Noir-Mischling, der vor allem gegen Ende eine intensive Dramatik entfaltet, die dem Thema Serienkiller ein paar neue, beängstigende Facetten abringt und den Leser wortwörtlich aufs Glatteis führt. Ein wirklich gut geschriebener Krimi, dessen Fortsetzung gern ebenfalls eine Übersetzung erfahren dürfte. Leider lässt diese nun seit Jahren auf sich warten.

Wertung: 86 von 100 Trefferneinschuss2

  • Autor: John Farrow
  • Titel: Eishauch
  • Originaltitel: Ice Lake
  • Übersetzer: Friederike Levin
  • Verlag: Knaur
  • Erschienen: 07.2010
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 560
  • ISBN: 978-3426635131

Das geheimnisvolle Verbrechen in Styles

© Atlantik

Wir schreiben das Jahr 1916. In Zentraleuropa tobt ein heftiger Weltkrieg, der bereits Millionen von Soldaten und Zivilisten das Leben gekostet und ganze Landstriche zerstört hat. Und wenngleich Großbritannien auf dem eigenen Boden bisher davon weitestgehend verschont geblieben ist, werden die Folgen der andauernden Kämpfe auch in England immer mehr spürbar. Nahrung wird knapp, allgemeine Güter rationalisiert und Scharen von Flüchtlingen kommen in das Land. Unter ihnen sind, neben Franzosen und Niederländern, auch viele belgische Staatsbürger, was wiederum auch einer jungen Frau nicht verborgen bleibt: Agatha Christie.

Diese gibt, gerade frisch verheiratet, ihr in Paris begonnenes Medizinstudium bei Ausbruch des Krieges auf, um erst als Krankenschwester in einem Krankenhaus zu arbeiten und dann schließlich in einer Apotheke auszuhelfen. Ihre Erfahrungen über giftige Mittel und Stoffe sowie ihr täglich Kontakt mit den neuen belgischen Mitbürgern in ihrem Geburtsort Torquay lassen in ihr die Idee reifen, einen Kriminalroman über einen Giftmord zu schreiben. Und der ermittelnde Detektiv soll einer dieser Belgier sein. Für mehrere Wochen zieht sie sich in das Moorland Hotel bei Haytor im Dartmoor zurück. (Auf das wir bei unserer Wanderung durch Haytor im Jahr 2019 auch einen Blick werfen konnten. Siehe Fotos) Am Ende ist Hercule Poirot geboren.

Der Öffentlichkeit bleibt dies jedoch noch vier Jahre lang verborgen, denn es dauert bis zum Oktober 1920 bis ihr Erstlingswerk, „Das fehlende Glied in der Kette“ (engl. „The Mysterious Affair at Styles“), erst in den USA und drei Monate später auch in Großbritannien erscheint. Sie erfüllt damit nicht nur ihren Teil einer Wette – ihre Schwester Madge hatte einst behauptet, sie würde es nie zustande bringen, einen Roman zu schreiben – sondern legt auch gleichzeitig den Grundstein für einen Autorenkarriere, welche wohl im Krimi-Genre bis in alle Zeiten seinesgleichen suchen wird. Zum Zeitpunkt der Öffentlichkeit konnte dies jedoch noch niemand ahnen, denn wenngleich der Titel durchaus positive Resonanz erfuhr, blieb Christie – und somit auch auch dem Detektiv mit den kleinen, grauen Zellen – ein größerer Durchbruch vorerst verwehrt. Doch welchen Einfluss und welche Bedeutung hat dieser erste Band der Serie im Nachhinein? Und wieso nimmt der Schauplatz des Romans, der Landsitz Styles, einen so wichtigen Platz im Leben von Agatha Christie ein? Nicht nur aufgrund dieser Fragen lohnt auch heute noch eine Lektüre dieses Klassikers, der, im Gegensatz zu vielen anderen zeitgenössischen Kriminalromanen, erstaunlich wenig Staub angesetzt hat.

Juli 1917. Auf dem ländlichen Gut Styles herrscht Missstimmung und Aufregung, nachdem die reiche Hausherrin Mrs. Emily Inglethorp den zwanzig Jahre jüngeren Alfred Inglethorp geheiratet hat, dem allem Anschein nach nur an ihrem Geld gelegen ist. Besonders Lieutenant Arthur Hastings, nach einer Verletzung aus dem Krieg zurückgekehrt und von seinem alten Freund John Cavendish nach Styles eingeladen, ist diese feindselige Atmosphäre mehr als unangenehm. Als die Hausdame Miss Howard in einem dramatischen Auftritt abreist – nicht ohne vorher noch Alfred des Betrugs an seiner Frau zu bezichtigen – kommt jegliche Konversation zwischen den Gästen zum Erliegen. Zu Erleichterung von Hastings bleiben die nächsten Tage weitere Zwischenfälle aus, bis dann eines Nachts Mrs. Inglethorp mit schweren Krämpfen schreiend erwacht. Ihr zur Hilfe zu kommen erweist sich jedoch als schwierig, denn die Zimmertür ist verschlossen. Als sie endlich aufgebrochen wird, kann Emily Inglethorp nur noch den Namen ihres Mannes nennen, bevor sie stirbt. Alfred selbst ist allerdings zu diesem Zeitpunkt außer Haus und so herrscht große Verwirrung, als der hinzugezogene Giftspezialist Dr. Bauerstein die Vermutung äußert, dass eine Strychnin-Vergiftung für ihren Tod verantwortlich ist.

Hastings erinnert sich an seinen Bekannten, den ehemaligen belgischen Polizisten Hercule Poirot, der auf dem Kontinent einen ausgezeichneten Ruf genießt, und bittet ihn in diesem mysteriösen Fall um Hilfe. Poirot, der dankbar ist, dass die Engländer ihm und seinen Landsleuten so willig und freundlich Obdach gegoten haben, sieht es als Chance sich erkenntlich zu zeigen und beginnt mit seinen äußerst eigenwilligen Ermittlungen. Schon bald stößt er auf mehrere Widersprüche in den Aussagen der Beteiligten, welche nahe legen, dass durchaus auch andere am Tod von Mrs. Inglethorp gelegen haben könnte. Bevor er seine Untersuchungen abschließen kann, kommt es jedoch zu einer überraschenden Eröffnung: Nicht nur war Strychnin tatsächlich die Todesursache – eine Alfred Inglethorp ähnelnde Person hatte diese Substanz einige Tage zuvor sogar in der Ortsapotheke gekauft. Der Fall scheint somit gelöst. Doch Poirot ist nicht überzeugt und verhindert, sehr zum Missfallen von Inspector Japp, dessen Verhaftung. Während man offensichtlich wieder am Anfang der Untersuchung steht, hat der kleine Belgier aber längst das fehlende Glied in der Kette gefunden …

Mehr noch als für Sir Arthur Conan Doyle, den das geheimnisvolle Dartmoor zu seinem wohl berühmtesten Roman „Der Hund der Baskervilles“ inspirierte, spielt die Grafschaft Devon in Südwestengland für Agatha Christie eine äußerst entscheidende Rolle in ihrer Karriere als Schriftstellerin. In Torquay an der so genannten englischen Riviera geboren, verlor Christie, welche später insbesondere in den Nahen Osten mehrere Reisen unternahm, nie den Bezug zu ihrer Heimat und nutzte die örtlichen Gegebenheiten gleich mehrfach für ein paar ihrer wohl bekanntesten Romane, darunter unter anderem „Das Böse unter der Sonne“ und „Und dann gabs keines mehr“. Noch heute kann man auch Greenway Estate, ihren ehemaligen Landsitz am River Dart bei Galmpton, besichtigen, welcher zudem als Setting für zwei ihrer Werke, „Das unvollendete Bildnis“ und „Wiedersehen mit Mrs. Oliver“, diente (und sogar als Drehort der gleichnamigen Fernsehverfilmung mit Peter Ustinov). Ob wiederum das Gut Styles ebenfalls einen real existierenden Landsitz zum Vorbild hatte, ist nicht bekannt, darf aber wohl angenommen werden, zumal Christie viele Jahre später ihr Haus in Sunningdale, Berkshire als Reminiszenz auf den Namen „Styles House“ taufte. Und – um einen perfekten Bogen zu spannen – ist der Schauplatz ihres ersten Poirot-Romans am Ende auch die Bühne für den fallenden „Vorhang“ im letzten Band der Reihe.

Anfang der 20er Jahre konnte niemand diese mehr als ein halbes Jahrhundert andauernde Laufbahn des belgischen Detektivs auch nur erahnen. Ganz im Gegenteil: Christies Manuskript wurde von den beiden Verlagen Hodder and Stoughton und Methuen sogar abgelehnt. Der dritte Verlag, Bodley Head, behielt es mehrere Monate zur Prüfung und verlangte letztendlich sogar eine Änderung vom Ende des Buches. Statt dem Gerichtssaal sollte Hercule Poirot die große Auflösung lieber im der Bibliothek von Styles abhalten. Christie gab nach – und aus heutiger Sicht kann man nur sagen: Glückwunsch zu dieser Entscheidung, denn es sollte endgültig ein Markenzeichen nicht nur dieser Krimi-Serie, sondern eines ganzen Subgenres, des Whodunit des „Golden Age of Detective Fiction“, werden, welcher viele Elemente des klassischen Kriminalromans übernahm. So wird auch Agatha Christies Debüt aus der ersten Person erzählt, welche, ganz in der Tradition von Doyle, als Assistent des Detektivs – und damit auch als verlängerter Arm des Lesers – fungiert. Lieutenant Hastings ist die unschuldige, weiße Leinwand, auf der Poirot seine Kunst vollbringen und glänzen kann. Ein Spiegelbild von uns, die wir, genau wie der doch etwas naive Kriegsveteran, angesichts all der vielen, widersprüchlichen Indizien, im Dunkeln tappen und auf die Mithilfe des Mannes mit dem Eierkopf und dem Watschelgang angewiesen sind.

Es ist Agatha Christies große Kunst, den Leser in diese mitunter verwirrende Hilflosigkeit zu geleiten, aufgrund derer wir uns willfährig in die Hände Poirots begeben, der uns – naturgemäß – bis zum Schluss alle seine Entdeckungen vorenthält, um dann genau dort, in Anwesenheit aller Beteiligten und damit auch Verdächtigen, mit einer detaillierten Rekonstruktion der Ereignisse und der damit verbundenen Entlarvung des Täters zu überraschen. Es ist der Autorin hoch anzurechnen, dass sie dabei immer großen Wert darauf legt, dass wir selbst ebenfalls auf diese Lösung hätten kommen können – hätten wir uns eben nicht von den vielen Ablenkungsmanövern und Wendungen in die Irre führen lassen. In „Das fehlende Glied in der Kette“ befindet sich Christie fühlbar noch am Anfang ihrer Karriere. Die traumwandlerische Sicherheit, mit der sie in den späteren Jahren ihre Plots konzipiert, sie fehlt zwangsläufig. Dennoch bietet Poirots erster Auftritt genau das, was man von einem guten Rätsel-Krimi alter Schule erwarten darf – und was letztlich auch zu Christies großer Erfolgsgeschichte beitragen wird: Eine intelligente, kurzweilige, atmosphärische und letztlich auch spannende Lektüre, mit der man sich in diesem Fall äußerst gut einen sommerlichen Nachmittag im Garten mit Kaffee und Kuchen um die Ohren schlagen kann.

Wer mehr über Poirots Herkunft und seinen Werdegang erfahren, Einblick in dieses das „Golden Age“ prägende Stück Literatur nehmen und sich nebenbei noch prächtig unterhalten möchte – dem sei „Das fehlende Glied in der Kette“ auch heute noch mit Nachdruck empfohlen.

Wertung: 86 von 100 Treffern

einschuss2
  • Autor: Agatha Christie
  • Titel: Das fehlende Glied in der Kette
  • Originaltitel: The Mysterious Affair at Styles
  • Übersetzer: Nina Schindler
  • Verlag: Atlantik
  • Erschienen: 09/2015
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 224 Seiten
  • ISBN: 978-3455650525

Der Junge und das Schwert im Stein

© Klett Cotta

Marion Zimmer-Bradley, Mary Stewart, Bernard Cornwell, Persia Woolley, Mark Twain. Die Liste der Autoren und Autorinnen, welche den britischen Mythos König Artus/King Arthur aufgegriffen und neu interpretiert haben, ist lang und kann sich durchaus sehen bzw. lesen lassen.

Alle haben auf ihre Weise die Geschichte über den erhabenen Begründer der Tafelrunde, seinen Lehrer Merlin, Morgan Le Fay, Guinevere und Lancelot nachbearbeitet, umgestaltet und jeweils verschiedene Erzählperspektiven gewählt, um diese sagenumwobene Gestalt, deren Ursprünge bereits im 9. Jahrhundert zu finden sind, lebendig werden zu lassen. Ein Großteil stützt sich dabei auf die älteste überlieferte Artusgeschichte, die „Historia Regum Britanniae“ („Geschichte der Könige Britanniens“) von Geoffrey of Monmouth (um 1135) und Sir Thomas Malorys „Le Morte D’Arthur“ (posthum veröffentlicht 1485). Auffällig ist, dass in den meisten Adaptionen Artus selbst nur eine schwache oder widersprüchliche Rolle spielt, wohingegen seine Wegbegleiter zu eigenen Helden oder zu die Handlung tragenden Hauptfiguren stilisiert werden. Eine der wenigen Ausnahmen ist „Der König auf Camelot“ von Terence Hanbury White.

Der in Bombay, Indien geborene Schriftsteller White begann mit der Arbeit an dem vierteiligen Epos „Der König auf Camelot“ fast zu selben Zeit wie J.R.R. Tolkien an „Der Herr der Ringe“. Und wie bei diesem lagen zwischen Beginn und Fertigstellung seines Werks gleich mehrere Jahrzehnte. Die ersten drei Bücher entstanden in den Jahren 1938, 1939 und 1940, unter dem Eindruck des beginnenden Zweiten Weltkriegs, welcher den Autor und damit letztlich auch seine Romane stark geprägt hat. Im Jahr 1958 folgte dann der vierte Band als Teil einer Gesamtveröffentlichung. Auf eine deutsche Übersetzung musste man bis zur zweibändigen Ausgabe von 1976 warten, der 2004 schließlich eine Neuausgabe bei Klett Cotta folgte, in welcher alle vier Bücher enthalten sind. Der Inhalt der einzelnen Geschichten sei an dieser Stelle kurz angerissen:

Das Schwert im Stein“ (Erstes Buch):
Dieses Buch führt den Leser zurück in die Jugendzeit von Artus bzw. Arthur, die als Ziehsohn Sir Ectors vergleichsweise sorgenfrei ausfällt. Allerdings spielt der Junge, der von allen nur „Wart“ (Warze) genannt wird, nur eine untergeordnete Rolle neben Sir Ectors leiblichem Sohn Kay, welcher in späteren Jahren die Nachfolge des Ritterguts antreten soll. Warts Träume sind bescheiden. Ihm reicht es eines Tages als Schildknappe seinem Stiefbruder zu dienen. Eine Einstellung, die sich erst nach dem Zusammentreffen mit Merlin langsam ändert.

Der magische und zerstreute Zauberer, welcher „rückwärts“ in die Zukunft lebt, übernimmt die Bildung des Jungen (dessen Schicksal er ja bereits kennt) und verwandelt ihn immer wieder in verschiedene Tiere, damit dieser die unterschiedlichen Lebensphilosophien studieren und daraus lernen kann. In der Gestalt eines Fisches macht er Bekanntheit mit dem einsamen, als Tyrann herrschenden Hecht im Burggraben. Er erlebt das militärische und unpersönliche System der kriegführenden Ameisen und verbringt eine Nacht im Haus der Beizvögel, welche in ihrer Art an eine Fliegerstaffel der Royal Air Force gemahnt. Am meisten prägt ihn jedoch sein Ausflug mit den ziehenden Gänsen, die weder Grenzen, noch Eigentum oder Frieden kennen und seine spätere Vorstellung von Gerechtigkeit maßgeblich beeinflussen. Merlin gibt ihm all diese Erfahrungen mithilfe seiner Magie mit auf den Weg, bis er ihn schließlich verlässt und erst dann zurückkehrt, als Wart Excalibur aus Stein und Amboss befreit … und sich damit selbst zum König von England proklamiert.

Die Königin von Luft und Dunkelheit“ (Zweites Buch):
Arthur ist mittlerweile König und muss all seine Kraft darauf einsetzen, die vielen Barone und Unterkönige zu vereinen, welche den Jungspund nicht als Herrscher anerkennen wollen und deshalb gegen ihn in den Krieg ziehen. Um das Chaos und das Leid zu beenden, führt er die Tafelrunde ein, welche die gedankenlose Gewaltbereitschaft des Adels für gute Zwecke kanalisieren und somit die alte Willkür abschaffen soll. Doch weder die besten Ritter des Landes noch der bald für immer entschwindende Merlin können verhindern, das Arthur ahnungslos eine inzestuöse Beziehung zu Morgause von Orkney (seiner Stiefschwester) eingeht, aus der dem König in nicht allzu ferner Zukunft ein gnadenloser Widersacher erwachsen wird.

Der missratene Ritter“ (Drittes Buch):
Buch drei erzählt von den Rittern der Tafelrunde und ihren Abenteuern, zuoberst vom „besten Ritter der Welt“, Sir Lanzelot (Lancelot), welcher seit Kindheitstagen trainiert, um Arthurs Botschaft mit dem Schwert zu verteidigen. Als endlich der langersehnte Tag da ist und er am Hof seines großen Idols ankommt, übermannt ihn Eifersucht auf die Frau an des Königs Seite, Ginevra (Guinevere). Doch aus Neid und Missgunst wird bald Liebe. Die wunderschöne Königin und der (in Whites Version) hässliche Ritter gehen eine Affäre ein, welche Arthur so gut es geht zu ignorieren versucht. Er empfindet Liebe für beide und möchte keinen der beiden verlieren. Sein Herz ist immer noch das eines Jungen, der keine Bosheit kennt und zuallererst an das Gute glaubt. Als die Situation für alle drei unerträglich wird, zieht es Lanzelot auf Queste. Über viele Monate vollbringt er tollkühne Taten in Britannien, bis er schließlich eines Tages von einer Prinzessin verführt und seiner Jungfräulichkeit beraubt wird. Aus der Verbindung entspringt ein Sohn: Galahad, der spätere Gralsritter.

Dieses uneheliche Kind ist der erste Keim des Misstrauens zwischen Lanzelot und Ginevra, die sich nun zunehmend anfeinden. Und auch die Tafelrunde droht zu zerbrechen. Da alle bösen Lords tot, alle Prinzessinen gerettet und alle Riesen und Drachen besiegt sind, gibt es für die nach Kampf gierenden Ritter plötzlich nichts mehr tun. Die Untätigkeit führt schließlich dazu, dass man sich alter Rechnungen und Fehden erinnert, und Zwietracht die Runde zersprengt. Um dem Einhalt zu gebieten muss eine größere Aufgabe her. Arthur schickt sie auf die hohe Suche nach dem Heiligen Gral.

Die Kerze im Wind“ (Viertes Buch):
Arthurs unehelicher Sohn Mordred, der seinen Vater aus tiefster Seele hasst, ersinnt einen Plan, um den gealterten König endgültig zu stürzen. Er will ihm die beiden Menschen nehmen, welche ihm am wichtigsten sind: Ginevra und Lanzelot. Gnadenlos zerrt er die Affäre der beiden ans Licht, so dass sich Arthur, der gerade das Zivilrecht eingeführt hat und ein Vorbild für seine Untertanen sein will, dazu gezwungen sieht, dem Paar den Prozess zu machen. Während Lanzelot fliehen kann, droht Ginevra der Tod auf dem Scheiterhaufen. Arthur ist verzweifelt. Seine letzte Hoffnung ruht auf Lanzelot, der bereit steht, seine Liebe zu retten. Doch darauf hat Mordred bereits gewartet …

Was sich aufgelistet hintereinander wie eine fortlaufende Romanreihe liest, ist in der Realität zwischen den Buchdeckeln ein äußerst sperriges Werk, dessen einzelne Glieder nicht so recht zueinander passen wollen. Viele Kritiker haben T.H. White bereits diese große Inhomogenität zwischen und innerhalb der vier Teile vorgeworfen, welche der Autor sogar selbst bestätigt hat. Und ich kann nur in dasselbe Horn blasen, denn „Der König auf Camelot“ ist ein stetes Auf und Ab, das oftmals in mehrere Richtungen gleichzeitig will und daran fast zu scheitern droht. Es gibt keinen durchgängigen Ton, keinerlei Konstanz im Stil und in der Perspektive der Erzählung. Das führt letztlich natürlich auch dazu, dass es beinahe unmöglich ist, die vorher gehegten Erwartungen in irgendeiner Art und Weise erfüllt zu sehen. Ob man auf eine Artus-Sage im klassischen Gewande gehofft oder sich wie ich eine humorvolle Erzählung des berühmten Sagenstoffes versprochen hat: Es kommt in jedem Fall anders, als gedacht.

Zumindest zu Beginn lag ich jedenfalls mit meiner Einschätzung richtig, denn Buch Eins regt über weite Strecken immer wieder zum Lachen und Schmunzeln an und liest sich wie eine Parodie auf den Ritterroman. Das liegt nicht nur an den Verwandlungen Warts, sondern auch an den anderen Figuren. Allen voran König Pellinore, dessen historische Verpflichtung, das gefürchtete Aventiure-Tier zu erlegen, für äußerst amüsante Momente sorgt (wenngleich die ewige Jagd letztlich unerwartet tragisch endet). Mit von der Partie ist auch Robin Hood, der sich hier Robin „Wood“ nennt, und Arthur auf sein erstes Abenteuer schickt, bei dem dieser gleich Bekanntschaft mit der Hexe Morgan macht. Warum der grüngekleidete Rächer der Armen und Schwachen allerdings auftaucht, um dann im weiteren Verlauf keine Rolle mehr zu spielen, hat sich mir nicht wirklich erschlossen.

Und auch sonst überrascht White mit einigen Brüchen innerhalb der Erzählung. Ist die Zauberei zu Beginn noch tragendes Element und wichtig für Arthurs Beziehung, bleibt sie später ohne große Bedeutung, was mit Merlins Verschwinden nur unzureichend erklärt wird (die Hexenschwestern sind schließlich noch da). Allein das Rittertum ist durchgehend in all seinen Formen präsent, wobei White die Gepflogenheiten der Lords und Sirs, ihr Geprahle und stundenlanges Messen im Kampfe, mit derart lapidarer Komik vorbringt, das man als Leser nicht umhin kann zu grinsen. Überhaupt ist dem Autor ein Hang zur Überzeichnung Eigen, der sich in den folgenden Büchern auch auf der düsteren Seite zeigt. Das Buch Eins letztlich als Grundlage für die Disney-Trickfilmadaption „Die Hexe und der Zauberer“ gedient hat, verwundert nur wenig. (Die Gemeinsamkeiten zwischen Buch und Film sind aber insgesamt gering. Auch Madame Mim sucht man in der literarischen Vorlage vergebens.)

Neben aller Komik haben Merlins Lehren jedoch auch einen ernsten Hintergrund. Der Zauberer versucht Arthur auf die Gefahren unkontrollierter Macht aufmerksam zu machen. Auf die große Versuchung, Macht und Stärke zu missbrauchen, um die Schwachen auszubeuten. Im Gegensatz zu Tolkien, der stets Wert darauf gelegt hat zu betonen, dass es sich bei „Der Herr der Ringe“ nicht um eine Allegorie handelt, nimmt White direkt Bezug auf die politische Situation, welche er zurzeit der Niederschrift der ersten drei Bände erlebt hat. Auch wenn Hitlers Name nicht fällt und stattdessen von einem „jungen Österreicher“ die Rede ist, liest man die Gesellschaftskritik zwischen den Zeilen immer wieder heraus. Manchmal wird sie dem Leser, dem der Autor, so scheint es, nicht immer genug Feingespür zutraut, sogar mit der Holzhammermethode um die Ohren gehauen. Wenn die Ameisen zum Lied „Ameisenland, Ameisenland, über alles“ in den Krieg marschieren und die düster gewandten, Armbinden tragenden Anhänger Mordreds die Juden zusammentreiben, wird selbst dem tumbesten Zeitgenossen klar, worauf White abzielt. So lobenswert die Statements gegen Krieg, Nationalsozialismus und Kommunismus letztlich sind: Hier und da hätte ich mir ein wenig Zurückhaltung, eine Spur mehr Arthur und ein bisschen weniger White gewünscht.

Erst in den letzten beiden Büchern pflegen sich die philosophischen Erörterungen und Betrachtungen in die ausgewählten Sagenelemente ein, liest sich die Handlung flüssiger und nicht mehr nur wie ein Stichwortgeber für Whites Sozialkritik. Hier ist es gelungen, gerade noch rechtzeitig den Hebel umzulegen, denn während der Lektüre des zweiten Buches war ich mehrmals versucht, die Lektüre zu beenden. Zu viele Wiederholungen, zu viele ausschweifende Beschreibungen, zu wenig Zug in der Erzählung. Hinzu kommen die ständigen Verweise auf Thomas Malory, die irgendwann einfach nur noch stören und den Eindruck nahe legen, als hätte der Autor an dieser Stelle einfach die Verantwortung für nähere Informationen und Unterhaltung in andere Hände legen wollen. Das Buch „Der missratene Ritter“ entschädigt dann jedoch für vieles, da aus Figuren, welche vorher schlicht die Botschaft des Autors vermitteln sollten, plötzlich Menschen werden, welche aufgrund ihrer charakterlichen Schwächen und eines fragwürdigen Ehrenkodexes in Konflikte geraten, an denen sie letztlich scheitern. Wie das geschieht, ist tragisch, atemberaubend und besonders gegen Ende zutiefst traurig. Allein die letzten 30 Seiten des Buches lohnen den durchaus vorhandenen Aufwand und heben die Gesamtwertung von „Der König auf Camelot“ um ein Vielfaches.

Am Ende ist Whites vierbändige Reihe eine sehr satirische, geistreiche Fassung des Artus-Mythos, welche trotz angestaubter Sprache auch heute noch über weite Strecken überzeugt, von der Klasse eines Tolkiens aber doch ziemlich weit entfernt ist. Ein Klassiker mit Schwächen, den man dennoch mal gelesen haben sollte.

Wertung: 86 von 100 Treffern

einschuss2
  • Autor: T. H. White
  • Titel: Der König auf Camelot
  • Originaltitel: The Once and Future King
  • Übersetzer: Rudolf Rocholl, H. C. Artmann
  • Verlag: Klett-Cotta
  • Erschienen: 02/2020
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 778 Seiten
  • ISBN: 978-3608949704

Die Ambivalenz der Hoffnung

41TmZAWrPFL._SX309_BO1,204,203,200_

© DVA

„A writer’s writer“ – dieses Prädikat hing Richard Yates Zeit seines Lebens nach. Während die Schriftstellerkollegen seinen verfolgten Ansatz, die Realität und insbesondere den Amerikanischen Traum zu entromantisieren, mit Begeisterung aufnahmen und nicht wenige (wie z.B. Richard Ford oder Kurt Vonnegut) ihn gar als referenzielles Vorbild bewunderten, wurden seine Werke vom Feuilleton und der allgemeinen Leserschaft allenfalls verhalten beurteilt bzw. aufgenommen.

Weit davon entfernt, zur Erbauung zu taugen oder ein Loblied auf das Land der unbegrenzten Möglichkeiten zu singen, stießen sich viele an seiner nihilistischen Ader, an der Abwesenheit jeglicher guter Eigenschaften oder gar moralisch integrer Menschen. Sein Faible für Außenseiter und Verlierer schien schlichtweg nicht massenkompatibel, nicht vereinbar mit dem Selbstverständnis des durchschnittlichen Amerikaners, der Weg vom Tellerwäscher zum Millionär sei für jedermann auch jederzeit möglich. Yates‘ Werke bedeuteten eine Erinnerung an die eigene Selbsttäuschung, gewährten einen Blick auf die allgegenwärtige Möglichkeit des Scheiterns und hinter die Fassade des vermeintlichen Glücks. Die Konfrontation mit dem mühsam aufgebauten Selbstbild, die Auseinandersetzung mit falschen Hoffnungen – sie konnten augenscheinlich nur postum gewürdigt werden. Vielleicht auch weil Richard Yates selbst – der bei seinem Tod mehrere Aufenthalte in Psychiatrien hinter sich hatte und letztlich damit auch dem lebenslangen Alkoholkonsum Tribut zollte – eine stetige Erinnerung an die von ihm erfundenen Figuren war: Einzelgänger, Säufer, erfolgloser Drehbuchautor, Sohn eines kaputten Elternhauses, ängstlich – und vor allem mit ambivalenter Beziehung zu seiner Mutter. Und genau diese Attribute begegnen uns auch in den Charakteren der folgenden sieben Kurzgeschichten:

  • Ach, Joseph, ich bin so müde
  • Ein natürliches Mädchen
  • Probelauf
  • Verliebte Lügner
  • Urlaub aus privaten Gründen
  • Grüße zu Hause
  • Abschied von Sally

Wenn es eines Beispiels bedarf, dass Wiederveröffentlichungen längst verstorbener Autoren auch heute noch eine Erfolgsgeschichte sein können, dann hat ihn der Verlag DVA mit seiner Neuauflage von Yates Gesamtwerk äußerst eindrucksvoll angetreten. Mehr noch: Aus dem auch hierzulande zuvor eher unbekannten Autor Richard Yates ist nun eine echte Literaturgröße geworden, aus dem inzwischen sogar verfilmten Roman „Zeiten des Aufruhrs“ gar ein moderner Klassiker. Yates wird wieder gekauft und vor allem gelesen – und dies offensichtlich mit weit mehr Wertschätzung als zu seinen Lebzeiten. Zu verdanken ist dies unter anderem Stewart O’Nan, dessen 1999 im Boston Review erschienener Artikel Yates nicht nur über alle Maßen würdigte, sondern ihn auch plötzlich und erstmalig salonfähig machte. Eine Euphorie, die man nur dann versteht, wenn man sich selbst überzeugt. Und dafür sind insbesondere Yates‘ Kurzgeschichten eben treffend geeignet, da sie – noch weit mehr als die Romane – einen ungeschönten Blick auf die Gefühle und Gedanken der Protagonisten werfen, die Zusammenhänge auf eine erstaunlich einfache Formel herunterbrechen. Eine Formel, die da lautet: Jeder Mensch hat Angst. Auf die ein oder andere Weise.

So auch in der ersten Geschichte „Ach, Joseph, ich bin so müde“, in der Yates durch den Erzähler von den zum Scheitern verurteilten Versuchen einer geschiedenen Mutter berichtet, sich selbst als erfolgreiche Bildhauerin zu verwirklichen. Als sie den Auftrag erhält, eine Büste des gerade gewählten Präsidenten Franklin D. Roosevelt anzufertigen, ignoriert sie dabei die Tatsache, ohne Talent zu sein, genauso, wie die Einmaligkeit dieser Aufgabe, welche ihr ohnehin nur durch das Wirken Dritter zuteil wurde. Die Angst, nach Beendigung des Auftrags wieder Teil der verarmten Nachbarschaft in Greenwich Village zu sein, sie wird verdrängt. Stattdessen versucht sie sich als verkannte Künstlerin zu inszenieren – mit berechtigten Hoffnungen, in die obersten Schichten der Gesellschaft aufzusteigen.

„Wenn du richtig bekannt wirst – wenn die Zeitungen es aufgreifen und die Wochenschauen -, wirst du eine der interessantesten Persönlichkeiten in Amerika sein.“

Dabei bleibt es bei dem Versuch der Inszenierung, durchschaut doch selbst ihr Sohn ihre Lebenslügen („Sie war keine wirklich gute Bildhauerin“), den Yates nicht ohne Schadenfreude und mit einer gehörigen Portion Zynismus das Wirken seiner Mutter kommentieren lässt. Ihre Unabhängigkeit wird schnell als Schein entblößt, die Lust nach einem Drink als ausufernder Alkoholismus entlarvt, ihre Abneigung gegenüber dem ihren Sohn unterrichtenden Juden am Ende als Antisemitismus enttarnt. Und auch ihr unerschütterliche Glaube an die Aristokratie wird nur wie folgt, spröde und ohne jede Häme bewertet:

(…) „aber es gab keinen Grund zu der Annahme, dass die Aristokratie jemals an sie glauben würde“ (…)

In der titelgebenden Erzählung „Verliebte Lügner“ trifft der Leser wiederum auf Warren Matthews, der – nachdem er und seine Frau schon lange aneinander vorbeigelebt haben – vor den Scherben seiner Ehe steht und Abwechslung im Londoner Nachtleben sucht, welche er in der Prostituierten Christine Phillips findet. Die aus Glasgow stammende Einundzwanzigjährige verzichtet jedoch auf eine Bezahlung, stattdessen spricht man recht bald von Liebe und Beziehung – wohlwissend, dass man sich gegenseitig etwas vormacht. Doch während Warren anfangs noch die Unkompliziertheit (und die finanziellen Vorteile) dieser „Abmachung“ schätzt, entwickelt sich ihr Lügengebilde bald zu einer Bürde, die mehr Probleme als Vorteile mit sich bringt. Geheuchelte Gefühle, gestellte Mienen, gekünstelte Gesten – Yates fährt sein ganzes Repertoire auf, um die Verlogenheit ihrer Gefühle bloßzustellen und tut das derart unnachahmlich, dass man sich eines spöttischen Lächelns nicht erwehren kann.

Seine stärkste Geschichte liefert er meines Erachtens aber mit „Urlaub aus privaten Gründen“ ab, in welcher der junge GI Paul Colby, Soldat bei der 57. Division, Paris aufsucht, um sich den vielversprechenden Vergnügungen der Stadt der Liebe hinzugeben. Doch dort angekommen muss er feststellen, dass sich seine Ängste dort ebenso wenig verflüchtigen, wie seine Feigheit vor dem weiblichen Geschlecht. Hilflos muss er mit ansehen wie seine Kameraden die Vorzüge der französischen Frauen genießen, während er gleichzeitig alles daransetzt seine gleichgültige Miene ziellos durch die Straßen der Stadt zu tragen.

Geistreich, mit feinem Witz und doch auch scharfem Zynismus führt uns Richard Yates durch die sieben Geschichten dieses Erzählbands. Nur oberflächlich banal, stattdessen zielgerichtet und immer irgendwie desillusionierend. Wie schon in „Elf Arten der Einsamkeit“, seinem Debüt, so versteht er es auch in dieser Sammlung von Erzählungen – auf erschütternd einfache Art und Weise – die menschlichen Makel bloßzulegen. Eine unheimlich lesenswerte Collage aus Humoreske und Lakonie, welche die Zeiten überdauern und trotz des jeweiligen geschichtlichen Kontext auch in Zukunft noch seine Wahr- und Weisheiten bergen wird.

Wertung: 86 von 100 Treffern

einschuss2
  • Autor: Richard Yates
  • Titel: Verliebte Lügner
  • Originaltitel: Liars in love
  • Übersetzer: Anette Grube
  • Verlag: DVA
  • Erschienen: 09.2007
  • Einband: Hardcover
  • Seiten: 320 Seiten
  • ISBN: 978-3421058607

Wenn einer keine Angst hat, hat er keine Phantasie …

© Diogenes

Sehr geehrter Mr. Lehane – einmal mehr waren Sie dafür verantwortlich, dass ich meinen üblichen Leserhythmus über Bord geworfen und mir einem ihrer Werke zuliebe die halbe Nacht um die Ohren geschlagen habe, nur um am nächsten Morgen völlig übermüdet zur Arbeit zu taumeln. Und, war es das wert? Nun, das ist keine Frage, die sich bei diesem Autor stellt, der es sogar immer wieder und wieder schafft, mit elegant-wirkungsvoller Feder das familiäre Umfeld für die Dauer der Lektüre in den Rang der absoluten Nichtigkeit zu degradieren und dabei gleichzeitig eine dauerhaft präsente, aber eben nie fassbare Bedrohung im Kopf des Lesers entstehen zu lassen, wie das selbst der Meister des Horror himself, Stephen King, nicht besser könnte.

„Nicht aus der Hand zu legen“ – Es gibt wohl kaum eine Phrase in Buchbesprechungen, welche mir persönlich mehr auf den Wecker geht. Und doch – im Falle von „Shutter Island“ trifft sie zu, ist sie die einzig bildlich korrekte Beschreibung für ein Buch, das selbst mein übliches Ausleseverfahren bezüglich konstruierter Thriller-Baustein-Literatur ganz einfach ausgehebelt hat. Denn, lieber Mr. Lehane, sind wir mal ehrlich: Sie wollten hier doch einfach mal die Sau rauslassen und ein bisschen mit den Klischees spielen, oder nicht?

Fakt ist jedenfalls: Ein kurzer Blick auf die Kurzbeschreibung der Geschichte reicht schon, um zu erkennen, dass Lehane sein gängiges Sujet komplett über Bord geworfen hat, um stattdessen den guten, alten Schauerroman wieder zu Leben zu erwecken und nebenbei Hollywoods klassischer schwarzer Serie die gebührende Ehre zu erweisen – mit allem was dazu gehört:

Im Sommer des Jahres 1954 führt ein seltsamer Fall die US-Marshals Edward „Teddy“ Daniels und Charles „Chuck“ Aule auf die kleine Insel Shutter Island, welche unweit des Hafens von Boston gelegen, das Ashecliffe Hospital beherbergt. Eine Hochsicherheits-Klinik für nervenkranke Straftäter. Hier soll die dreifache Kindsmörderin Rachel Solando aus einer fest verschlossenen Zelle ausgebrochen und danach einfach verschwunden sein. Wo hält sie sich versteckt? Und wie konnte sie überhaupt fliehen? Hat ihr jemand geholfen? Teddy und Chuck müssen recht schnell erkennen, dass nichts auf der Insel so ist wie es scheint. Sicherheitsvorkehrungen werden nicht eingehalten, das Personal ist auffällig verschwiegen und auch Anstaltsarzt Dr. Cawley behindert die Ermittlungen, indem er ihnen die Einsicht in die Personalakten der Patienten verwehrt. Ist die ganze Einrichtung vielleicht nur eine Fassade? Was geht wirklich auf Shutter Island vor?

Bald kommen den beiden Marshals Gerüchte von weiteren verschwundenen Patienten zu Ohren. Es sollen illegale Lobotomien durchgeführt, Nervenkranke zu Testzwecken unter Drogen gesetzt werden. Als einzige mögliche Spur dient ein kryptischer Abschiedsbrief Solandos, welcher, von Teddy entschlüsselt, zum streng bewachten und gesperrten Block C weist – der Teil der Klinik, der nur den besonders gefährlichen und als unheilbar eingestuften Insassen vorbehalten ist. Gemeinsam suchen die beiden Ermittler einen Weg, um hineinzugelangen, doch die Zeit ist knapp, denn ein gewaltiger Hurrikan schneidet Shutter Island vom Festland ab – und die Telefonleitung ist tot. Was Chuck noch nicht ahnt: Es ist kein Zufall, dass Teddy die Nachforschungen leitet, denn neben den registrierten 66 Patienten vermutet er noch einen weiteren auf der Insel. Und mit diesem hat er eine ganz persönliche Rechnung offen …

Der verschlossene Raum. (Ja, lieber John Dickson Carr, genau der) Die einsame Insel. Der Hochsicherheitstrakt für Schwerverbrecher (Wer „Batman: Arkham Asylum“ gezockt hat, hat gleich das passende Bild dazu) Der Sturm. Die Ratten. Die alte Festung. Die mysteriöse Botschaft. Der Friedhof. Die merkwürdigen Ärzte („Dr. Mabuse“, Dr. Moreau“, „Dr. No“ und „Dr. Caligari“ lassen grüßen). Der abgelegene Leuchtturm.

Dennis Lehanes Darstellung des Settings ist so bizarr wie unwirklich, und doch für jeden aufmerksamen Leser eindeutig als Reminiszenz auf ein ganzes Genre zu erkennen. Eine Reminiszenz, die jedoch nie zum Selbstzweck verkommt, weil der Autor eben all die Elemente so zu verwenden weiß, dass sie trotz ihrer schon künstlichen Anhäufung innerhalb der Handlung – eben aufgrund ihrer zeitlosen Wirkung – funktionieren. Und das obwohl man „so etwas“ wohl schon in dutzenden Gruselfilmen auf ähnliche Art und Weise auf der Leinwand gesehen hat. Wo aber andere Schriftsteller einen lahmen Aufguss abgeliefert hätten, zeigt Lehane einmal mehr, warum er zu den Besten seiner Zunft zählt, in dem er alte Ideen so erfrischend neu verarbeitet, dass man, zuweilen schon abgestumpft von der Blut triefenden Konkurrenz und Splatter-Filmen der Moderne, die archaische Seite der Angst wieder für sich entdeckt. Man hat Spaß am Unwohlsein, genießt den Schauer, lugt um jede Seite herum, als wäre diese die dunkle Ecke in einem finsteren Korridor voller seltsamer Geräusche. Kurzum: Man ist mittendrin. So mittendrin, dass man gar nicht merkt, mit wie viel Spaß an der Freude und welchem Maß an Unverfrorenheit uns Lehane am Nasenring durch die Manege zieht, dem während der Arbeit an seinem Buch sicherlich zu jeder Zeit bewusst war, wie absurd das von ihm auf Papier gebrachte Konstrukt im Kern eigentlich ist. Ein Hauch von Ironie, ein schmunzelnder Unterton deutet das zwischendurch immer wieder an.

Und doch ist bei all dem Lob natürlich auch Kritik angebracht, denn so zielsicher Lehane die Spannung auch schürt, in dem er die finstere Präsenz mit steigender Tendenz auf seine Protagonisten und deren Geisteszustand wirken lässt: Diese angenehme Ungewissheit, sie muss sich irgendwie und vor allem irgendwann den Gesetzen der Unterhaltung beugen, will heißen, der Auflösung Vorschub leisten, welche wiederum das weiße Kaninchen aus dem Hut ziehen soll. All diejenigen, die aber gerade die Anspielungen und Zitate von „Shutter Island“ erkannt haben, werden wohl schon lange vor dem finalen Akt die Ohrenbüschel über die Krempe haben hängen sehen, da letztlich einfach zu viel in diese Richtung gedeutet hat. Darunter leidet natürlich der Überraschungseffekt, der, wäre er anders inszeniert worden, vielleicht den Roman in noch höhere Gefilde emporgehoben hätte. Am Lesevergnügen ändert dies nichts. Im Gegenteil: Lehane hat diese Abstriche ganz sicher bewusst gemacht, kannte den Preis („Shutter Island“ taugt für eine 2. Lektüre nur bedingt) und nahm ihn in Kauf, um uns Lesern über knapp 350 Seiten äußerst atmosphärisch (unbedingt zur Herbstzeit lesen!) an der Nase herum zu führen.

Die Leichtigkeit und Sicherheit mit der er das tut, der Esprit und Witz der Dialoge – sie sind, und ich muss erneut sagen „mal wieder“, ein Beweis der großen Klasse dieses hervorragenden Autors, der wohl nicht mal ein schlechtes Buch abliefern könnte, wenn er es müsste. „Shutter Island“ ist in jedem Fall ein richtig gutes geworden, neben dem viele Kollegen mit ähnlichen Ambitionen (man nehme z.B. Beckett mit seinen Hunter-Romanen) reumütig zu Boden blicken müssen. In diesem Sinne: Danke für viel zu wenig Schlaf und den steifen Nacken. Das war es wert.

Wertung: 86 von 100 Treffern

einschuss2
  • Autor: Dennis Lehane
  • Titel: Shutter Island
  • Originaltitel: Shutter Island
  • Übersetzer: Steffen Jacobs
  • Verlag: Diogenes
  • Erschienen: 11.2015
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 432 Seiten
  • ISBN: 978-3257243352

„Reality is just a crutch for people who can’t handle drugs.“

9783941657168_1439152075000_xl

©  Conte

Hardboiled aus Kalifornien von einem deutschen Schriftsteller – kann das funktionieren? Es kann – und wie. Peter J. Kraus‘ „Joint Adventure“ ist eine der vielen Entdeckungen, die ich auf der Krimi-Couch machen durfte und zudem das erste Buch, welches ich bei einer Leserunde begleitet habe. Größere Aufmerksamkeit hat der Titel – im Gegensatz zum Vorgänger „Geier“, der 2004 für den Friedrich-Glauser-Preis in der Sparte „Debüt“ nominiert worden ist – bisher nicht erhalten. Beste Gelegenheit also, dies nun zumindest hier zu ändern.

Ich bin ganz ehrlich. Auf die Frage, um wen es sich bei Peter J. Kraus handelt, hätte ich wohl ein paar Jahren noch mit einem unbedarften Schulterzucken geantwortet. Das hat sich dann aber spätestens nach Kollege Königs lobender Rezension zu „Joint Adventure“ erledigt, mit der mich dieser nicht nur auf den in Amerika lebenden Krimiautor, sondern gleichzeitig auch insgesamt auf den Conte-Verlag aufmerksam gemacht hat. (Tut mir leid, lieber d.p.r., für diese Wissenslücke) Und wie schon beim „Geheimtipp“ John Farrow, so liege ich auch diesmal mit Jochen Königs Geschmack vollkommen auf einer Wellenlänge, denn „Joint Adventure“ ist ein Vertreter des rabenschwarzen und rasanten Hardboiled, der einfach nur Laune macht und den Vergleich mit etablierten Größen wie James Lee Burke oder James Crumley nicht scheuen muss. Ganz im Gegenteil. Eine solche Gegenüberstellung, besonders mit ersterem, bietet sich sogar oft im Buch an und man mag es zwischenzeitlich eigentlich kaum glauben, dass hier ein deutscher Schriftsteller am Werk gewesen ist. Auch weil die Handlung kaum amerikanischer sein könnte:

Das Leben ist chillig für Rasta Jimmy, den ehemaligen Radio-DJ, der in den dichten Wäldern im Norden Kaliforniens im großen Stil Marihuana anbaut und sein Produkt auch gern selbst konsumiert. Mit der Ruhe ist es allerdings an dem Tag vorbei, als eine Leiche in den Wipfeln eines Redwoodbaums in der Nähe seiner Plantage gefunden wird. Das FBI rückt an und Jimmy kann nur in allerletzter Sekunde entkommen. Doch was tun? Der eingeplante Gewinn durch den Verkauf des Stoffs ist Futsch und da Erntezeit ist, sind die umliegenden Plantagen bestens bewacht. Besonders mit der mexikanischen Konkurrenz will er sich eigentlich nicht anlegen. Soll er im wahrsten Sinne des Wortes Gras über die Sache wachsen lassen? Nein, um den Verlust seiner Ware zu kompensieren muss er auf Risiko spielen. Auch weil sein guter Freund und heimlicher Geschäftspartner, der korrupte und von allen Seiten geschmierte Sheriff „Ollie“ Oliphant, auf Distanz zu ihm geht, um nicht selbst ins Visier der Bundespolizei zu geraten.

Jimmy setzt alles auf eine Karte. Mit vorgehaltener Waffe klaut er sich Stoff bei zwei unaufmerksamen Erntehelfern. Blöd nur, dass die ihr Marihuana nicht einfach so hergeben wollen. Wenn man die Finger schon am Abzug hat, kann man auch abdrücken, denkt sich Jimmy und schickt einen der beiden mit einem Bauchschutz ins Jenseits. Während sich der ehemalige Rastafari (die zwanzig Jahren lang gepflegten, arschlangen Dreadlocks hat er sich zur Tarnung abgeschnitten) ins Walddickicht übergibt, nimmt der andere Erntehelfer Reißaus. Da zudem ein Hubschrauber mitsamt FBI-Agent über dem nahe liegenden Indianer-Reservat abgeschossen worden ist, und man auch dafür Rasta Jimmy verantwortlich macht, hat dieser jetzt richtig Ärger am Hals. Es beginnt eine atemlose Flucht von einem Versteck ins nächste, die erst in den Armen der scharfen Motelbesitzerin Conchita ein zwischenzeitliches Ende findet. Aber ist ihre Sorge für ihn wirklich echt? Als Jimmy die Wahrheit aufgeht, ist es fast zu spät … und statt zum Joint muss er nun zur Waffe greifen.

Die Leserunden mit Autoren im Forum der Krimi-Couch waren dank Bio-Fans (Jürgen Priester) Engagement lange Zeit so etwas wie eine feste Institution. Dennoch haben mich fehlende Zeit und die Tatsache, dass ein Buch immer peu a peu in Abschnitten gelesen und besprochen wird, immer davon abgehalten selber daran teilzunehmen. Peter J. Kraus‘ „Joint Adventure“ war damals meine Feuertaufe. Und soviel kann vorab gesagt werden: Ein besseres Buch hätte ich für den Einstieg sicher nicht finden können, denn der zweite Kriminalroman des Wahlamerikaners bietet auf 209 Seiten ein kurzes, aber auch kurzweiliges und stilistisch geschliffenes Lesevergnügen. „Joint Adventure“ ist eines dieser Bücher, das keinerlei Anlauf braucht, um in Gang zu kommen, sondern den Leser gleich von der ersten Zeile an packt, in den Schalensitz wirft und die Tachonadel in den roten Bereich jagt. Wer also entspanntes Reggae-Flair oder Kiffer-Lässigkeit erwartet, wird von dieser knallharten Geschichte sicherlich überrascht werden. Überhaupt beweist Kraus ein sicheres Händchen, wenn es darum geht uns Leser auf die falsche Fährte zu locken und falsche Vorstellungen zu wecken.

Bestes Beispiel ist da allen voran die Hauptfigur Rasta Jimmy, die bei Freunden der Coen-Brüder unweigerlich Bilder vom „Dude“ zum Leben erweckt, der aber, und diese Pille muss man im weiteren Verlauf der Handlung bitter schlucken, mit diesem weniger gemein hat, als es anfangs den Anschein hat. Wie Bio-Fan in der Leserunde sehr treffend bemerkt hat, ist mit dem Verlust der Dreadlocks auch Jimmys friedliche Lebenseinstellung passé, welche sowieso, das wird mehr und mehr klar, bereits lange Zeit eine bröckelnde Fassade gewesen ist. Auch wenn die ersten, auf sein Konto gehenden Leichen noch starkes Unwohlsein hervorrufen, so tötet der Marihuana-Genießer doch bald immer kaltblütiger. Und dabei bedient er sich eines Waffenarsenals, das, in verschiedensten Verstecken platziert, ausreichen würde, um einen kleinen Krieg zu führen. Der tobt, wenn auch in der Finsternis der Wälder und gedeckt von der Polizei, schon seit längerem. Und mit seiner Eskalation verliert auch Rasta Jimmy jegliche Skrupel.

Joint Adventure“ ist ein schwarzer Trip, der in Stil, Ton und vor allem in Punkto Besetzung an die frühen Größen des Genres gemahnt, ohne diese schlicht zu kopieren. Vielmehr hat Kraus gezielt typische Elemente (der korrupte Bulle, die Femme-Fatale, der kleine Gauner auf der Flucht) aufgegriffen und geschickt in die Neuzeit katapultiert, wobei ein gewisser nostalgischer Charme auch dieser modernen Geschichte erstaunlicherweise zu Eigen ist. Als Identifikationsfigur taugt in dieser Gesellschaft von Kriminellen niemand. Selbst der eifrige FBI-Agent gewinnt keine Sympathiepunkte. Sein rückwärtsgewandtes Denken sowie die an Liebe grenzende Treue zum verstorbenen J. Edgar Hoover hat Kraus mit schelmischen und äußerst ironischem Witz skizziert, womit er einmal mehr deutlich macht, dass unter den „Guten“ meist noch die größten Arschlöcher zu finden sind.

Was die Sprache angeht, gibt es ebenfalls nichts zu bemängeln. Ganz im Gegenteil: Kraus‘ knockentrockene Schreibe passt wunderbar zur Handlung und glänzt durch die völlige Abwesenheit unnötiger Ausschweifungen. Stattdessen treiben kurze Kapitel und knappe Dialoge das Tempo voran, wobei die Auseinandersetzungen zwischen den verfeindeten Parteien zunehmend brutaler werden und die beruhigende Hanfbrise nach und nach dem penetranten Kordit-Geruch weicht. Allein das viele Herumkurven Rasta Jimmys macht auf Dauer etwas mürbe, zumal man den vielen Kehren, Kreuzungen und Feldwegen als Nicht-Ortskundiger nur noch dank Google Maps zu folgen weiß. Die herrlich bildreiche und stimmungsvolle Sprache von Kraus, welche mich geistig direkt vor Ort katapultiert hat, kann jedoch auch das noch teilweise ausgleichen. Zudem wird der Leser mit einem klasse in Szene gesetzten Ende belohnt, das voll auf die Magengrube zielt und gleichzeitig auch zum Nachdenken darüber anregt, ob eine Legalisierung mancher Droge nicht doch sinnvoller wäre bzw. mehr Gutes bewirken würde, als deren aufwendige und verlustreiche Bekämpfung.

Insgesamt ist „Joint Adventure“ ein kurzweiliger Trip in die Wälder Kaliforniens, der einen bitteren Geschmack hinterlässt und dem Anbau von Marihuana jegliche bisher empfundene Hippie-Romantik nimmt. Peter J. Kraus ist ein toller Wurf gelungen, dem man möglichst viele Leser und gerne auch ein paar Nachfolger aus selbiger Feder wünscht.

Wertung: 86 von 100 Trefferneinschuss2

  • Autor: Peter J. Kraus
  • Titel: Joint Adventure
  • Originaltitel:
  • Übersetzer:
  • Verlag: Conte
  • Erschienen: 09.2010
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 218
  • ISBN: 978-3941657168