Sherlock Holmes‘ letzte Verbeugung

© Insel

Schon der erste Blick auf das Cover der „Insel“-Ausgabe dürfte vielleicht den ein oder anderen interessierten Leser stutzig machen und irritieren, wird doch der legendäre Detektiv Sherlock Holmes in den meisten Medien, und dadurch auch im allgemeinen Verständnis, mit dem Viktorianischen Zeitalter in Verbindung gebracht – Droschken, Gaslichtlaternen, nasses Kopfsteinpflaster, der Gentleman in Frack und mit Zylinder auf dem Kopf. Es sind diese Bilder, welche unsere Erinnerungen an Sir Arthur Conan Doyles Helden beleben, weshalb das auf dem Deckblatt abgebildete Automobil für viele einen ungewohnten Stilbruch darstellt.

Fakt ist aber: Bei Veröffentlichung der Kurzgeschichtensammlung „Seine Abschiedsvorstellung“ im Jahr 1917 war die Regentschaft Königin Victorias schon lange beendet, befand sich das englische Empire in den Wirren des Ersten Weltkriegs verstrickt, welcher weiteren imperialen Bestrebungen einen Dämpfer verpasste und bis zum Kriegsende im November 1918 noch Millionen Menschen das Leben kosten sollte. Für viele bedeutete das Grauen an der Westfront nicht nur persönliches Leid, sondern auch ein Ende der Sicherheit. Trotz zahlreicher Konflikte, Missernten, Hungersnot und einer in Arm und Reich geteilten Gesellschaft – viele Zeitgenossen sahen das Viktorianische Zeitalter rückblickend als Ära des Reichtums und der Stabilität, als „gute alte Zeit“.

Für Sir Arthur Conan Doyle, der bereits 1893 entschied, das Leben seines Protagonisten Holmes zu beenden, da das regelmäßige Verfassen neuer Geschichten zu viel seiner Zeit in Anspruch nahm und er seine schriftstellerische Arbeit auf andere Werke konzentrieren wollte, war der von vielen geliebte Schnüffler mit der Lupe mittlerweile zu einem Mühlstein am Hals geworden, der lediglich aus finanziellen Gründen weitergetragen wurde. Der Ehrgeiz, der Fleiß und diese einstmals gewohnte komplette Hingabe – sie flossen längst vermehrt in andere Projekte (u.a. schuf er 1912 mit Professor Challenger eine zweite, sehr populäre Figur), was sich, wie auch der Tod von Doyles Sohn an der Front, in der Qualität der späteren Fälle niederschlug, welche heute, im Verbund mit dem letzten Sammelband „Sherlock Holmes‘ Buch der Fälle“, zu den am wenigsten bekannten und von Sherlockians auch am wenigsten geschätzten Geschichten zählen. Ein Grund sich ihnen erst gar nicht zu widmen? Mitnichten, denn auch wenn „Seine Abschiedsvorstellung“ nicht mehr die Klasse und die Brillanz der frühen Holmes-Fälle erreicht – ein Quäntchen des Flairs, der Stimmung und der Leichtigkeit konnte Doyle, der uns die deduktive Arbeitsweise einmal mehr mit überraschenden Wendungen kredenzt, in diese neue Zeit retten.

Folgende acht Kurzgeschichten sind in „Seine Abschiedsvorstellung“ enthalten:

  • Wisteria Lodge
  • Die Pappschachtel
  • Der rote Kreis
  • Die Bruce-Partington-Pläne
  • Der Detektiv auf dem Sterbebett
  • Das Verschwinden der Lady Frances Carfax
  • Der Teufelsfuß
  • Seine Abschiedsvorstellung

Bis auf die bereits 1893 geschriebene Geschichte „Die Pappschachtel“, welche vor allem in britischen Ausgaben des Kanons der Kurzgeschichtensammlung „Die Memoiren des Sherlock Holmes“ zugerechnet wird – amerikanische Verleger befanden die Geschichte damals aufgrund des Ehebruch-Themas als zu brisant und druckten sie erst später in der „Abschiedsvorstellung“ ab (die meisten deutschen Verleger haben diese Vorgehensweise übernommen) – sind alle weiteren Fälle zwischen 1908 und 1913 in unregelmäßigen Abständen im „Strand Magazine“ und später auch im „Collier’s Weekly“ veröffentlicht worden. Das damals enthaltene kurze Vorwort Doyles fehlt leider in der „Insel“-Ausgabe, wird aber durch die Anmerkungen im Anhang durchaus wettgemacht, welcher u.a. einzelne veraltete Begrifflichkeiten und Anspielungen erläutert, weshalb man auch gern während der Lektüre einer Geschichte darauf zurückgreift.

Die Zusammenstellung der Geschichten in dieser Anthologie ist – den großen Abständen in denen sie veröffentlicht worden geschuldet – bunt gemischt, wenngleich auffällig ist, dass sich Doyle vom ursprünglichen Ton entfernt, seine Figur Sherlock Holmes etwas massentauglicher gemacht hat. Zwar immer noch belehrend in seinen Ausführungen, fehlt hier doch zumeist diese gerade in frühen Geschichten und Romanen präsente emotionale Kälte und Distanz, welche den Detektiv nicht nur von allen anderen in seinem Umfeld (besonders Dr. Watson) unterscheidet, sondern ihn auch erst in die Lage versetzt, die Kunst der Deduktion bei der Lösung eines Falles anzuwenden. Das nun Holmes in „Seine Abschiedsvorstellung“ zeitweise sogar lächelt oder sich als mitfühlendes Wesen erweist, mutet dann schon fast seltsam an. Doyle hat anscheinend selbst gemerkt und versucht, dies in den Geschichten teilweise sogar zu erklären. Dennoch: Das Profil des früheren Kokain-süchtigen Holmes hat eindeutig an Ecken und Kanten verloren – und die Vermutung liegt nahe, dass man damit ein noch breiteres Publikum erreichen wollte.

Es entbehrt dann nicht einer gewissen Ironie, dass die zu lösenden Fälle selbst um einiges düsterer geraten sind. Geschichten wie „Der Teufelsfuß“ oder „Die Bruce-Partington-Pläne“ haben nur noch wenig mit dem rätselhaften Spaß eines „blauen Karfunkels“ gemeinsam – sie sind ernster, dunkler, dreckiger und, in der Beschreibung des ausgeübten Verbrechens, auch drastischer und unverblümter geraten. Der Trend, welcher mit „Der Hund der Baskervilles“ und „Das Tal der Angst“ begann, er wird hier fortgeführt, was der Stimmung und auch dem Spannungsgehalt sicherlich zuträglich ist, gleichzeitig aber auch nochmal betont, dass der gemütlich im Arbeitszimmer in der Baker Street ausdiskutierte Fall der Vergangenheit angehört. Für mich zählen die beiden obigen Kurzgeschichten dann auch zu den Höhepunkten dieser Sammlung. Insbesondere „Der Teufelsfuß“ gehört schon allein aufgrund der Wahl des atmosphärischen Schauplatzes (ein abgelegenes Hochmoor nahe der Steilküste) zu Doyles besten Werken, wiewohl die Auflösung und Perfidität des Verbrechens das Setting noch übertrifft. Genau die richtige Lektüre für den stürmisch-verregneten Herbstabend vor dem Kamin, wohingegen Holmes in „Die Bruce-Partington-Pläne“ stattdessen deduktiv nochmal zur Höchstform aufläuft.

Im direkten Vergleich können die anderen Fälle dann leider nicht alle überzeugen, was nicht zuletzt auch daran liegt, dass Doyle hier streckenweise ein bisschen bei sich selbst klaut. Besonders „Wisteria Lodge“ weckt in Aufbau und Verlauf gewisse Erinnerungen: Der alte Mann mit der dunklen Vergangenheit. Die Flucht in ein anderes Land. Der über viele Jahre gehegte Wunsch nach Rache. Hier ist schon die ein oder andere Parallele zu „Das Zeichen der Vier“ zu erkennen, was den Lesegenuss für Neueinsteiger zwar nicht schmälert, Kennern des Kanons aber allenfalls ein wissendes Lächeln abringt. Weit besser gelingt dann der Abschluss mit der titelgebenden Erzählung „Seine Abschiedsvorstellung“, in der Holmes, welcher sich inzwischen im Ruhestand befindlich der Bienenzucht widmet, am Tag des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs nochmal für seine Majestät aktiv wird und einem deutschen Agenten mit gewohnter Nonchalance das Handwerk legt. Ein herrlich kurzweiliges und auch ein wenig wehmütig stimmendes Finale vor dem letzten Akt, der abschließenden Anthologie „Sherlock Holmes‘ Buch der Fälle“.

Seine Abschiedsvorstellung“ ist Sherlock Holmes‘ letzte tiefe Verbeugung („Sherlock Holmes‘ Buch der Fälle“ habe ich immer als nachgereichten Fanservice verstanden) vor seinem wie immer erstaunten Publikum. Und auch wenn der Detektiv inzwischen in die Jahre gekommen ist – auch Doyles spätes Werk hat sich das Prädikat des immer noch lesenswerten Klassikers redlich verdient, was allein schon daran deutlich wird, dass sich aktuell immer wieder zahlreiche Autoren daran verheben, den lockeren Stil des Originals zu kopieren. Den echten, den richtigen Sherlock Holmes – ihn konnte nur sein Schöpfer, Sir Arthur Conan Doyle.

Wertung: 85 von 100 Treffern

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  • Autor: Sir Arthur Conan Doyle
  • Titel: Seine Abschiedsvorstellung
  • Originaltitel: His Last Bow
  • Übersetzer: Leslie Giger
  • Verlag: Insel
  • Erschienen: 11/2007
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 318 Seiten
  • ISBN: 978-3458350200

Nachtrag: Ich habe mich bei der Verlinkung des Titels bewusst für die ältere Insel-Ausgabe entschieden, da sie – leider gibt es den Haffmans Verlag ja in dieser Form nicht mehr und die Kein & Aber Ausgabe ist ebenfalls vergriffen – vor allem optisch der äußerst lieblosen Fischer-Version vorzuziehen ist. Ansonsten sollte vor allem bei antiquarischen Stücken darauf geachtet werden, dass es sich um die Übersetzungen von Gisbert Haefs, Hans Wolf etc. handelt. Von gekürzten Ausgaben oder gar solchen, wo Holmes und Watson sich duzen, ist abzuraten.

Unterhalten wir uns über Angst …

© Lübbe

Maine, USA, in den späten 70er Jahren. Im Hause King herrscht Aufbruchstimmung. Nachdem er sich jahrelang mit diversen Nebenjobs nur notdürftig über Wasser halten konnte, bedeutet die Veröffentlichung von „Carrie“ für ihn den persönlichen Wendepunkt. Stephen King, der sich schon seit jeher immer in erster Linie als Schriftsteller verstanden hat, scheint nun endlich am Ziel seiner lang gehegten Träume angekommen.

Nicht nur, dass er finanziell von seinem Erstlingswerk profitiert (auch „Shining“ entwickelt sich, diesmal sogar gleich im Hardcover, als Riesenerfolg), es ermöglicht ihm im selben Zug, lang gehegte Ideen umsetzen, Manuskripte und Notizen weiter ausarbeiten zu können. Eine davon ist „The Stand – Das letzte Gefecht“, welches er später als sein persönliches Vietnam bezeichnen sollte, denn die Geschichte um einen todbringenden Virus schien auch den jungen Autor unheilbar zu infizieren, der sich stellenweise um Kopf und Kragen schrieb und schier kein Ende finden konnte. Eine Situation, welche sein Verlag Doubleday, der auf den Vertrag mit der Vorgabe eines Buchs pro Jahr pochte, zunehmend mit Sorgen betrachtete. King, der in naher Zukunft nicht mit der Fertigstellung seines Epos (bis heute ist es sein Roman mit den meisten Seiten) rechnete, schlug als „Entschädigung“ eine Sammlung seiner Kurzgeschichten vor. Einige davon waren bereits in der Vergangenheit in verschiedenen Magazinen (u.a. im „Penthouse“ und dem „Cavalier“) erschienen, andere hatte er gerade erst geschrieben. Ein Vorwort (das erste, von vielen die folgen sollten) sollte das Paket abrunden.

Der Vorschlag Kings stieß seitens des Verlags anfangs auf wenig Gegenliebe. Schon damals waren Kurzgeschichtensammlungen weit schwerer an den Mann zu bringen als Romane und so ganz schien mich man sich der Strahlkraft des Autors zudem noch nicht sicher. Am Ende willigte Doubleday doch ein, druckte eine kleine Auflage von ein bisschen mehr als 10.000 Exemplaren – und musste zügig nachsteuern, denn die Nachfrage war riesengroß. 1979 wurde die Sammlung in der Kategorie „Collection“ gar für den „World Fantasy Award“ nominiert. Das aus der Not geborene Experiment erwies sich letztlich als großer Erfolg – und King sollte dem Format der Kurzgeschichte auch in Zukunft (zum Glück für uns Leser) treu bleiben. Folgende Stories sind in „Nachtschicht“ enthalten:

  • Briefe aus Jerusalem

  • Spätschicht

  • Nächtliche Brandung

  • Ich bin das Tor

  • Der Wäschemangler

  • Das Schreckgespenst

  • Graue Materie

  • Schlachtfeld

  • Manchmal kommen sie wieder

  • Erdbeerfrühling

  • Der Mauervorsprung

  • Der Rasenmähermann

  • Quitters, Inc.

  • Ich weiß, was du brauchst

  • Kinder des Mais

  • Die letzte Sprosse

  • Der Mann, der Blumen liebte

  • Einen auf den Weg

  • Die Frau im Zimmer

In Angesicht des inzwischen so umfangreichen Werks von Stephen King wird sich jetzt vielleicht manch einer fragen, warum man sich unbedingt seine Kurzgeschichten aus den 70er Jahren zu Gemüte führen sollte. Eine Frage, die sich kurz und bündig beantworten lässt: Weil „Nachtschicht“ tatsächlich ein paar seiner besten Erzählungen beinhaltet, welche zudem noch vielfältigste Aspekte des Horros, aber auch anderer Genres bedienen. Den Anfang macht dabei „Briefe aus Jerusalem“, zu der ich an dieser Stelle nicht mehr viel schreiben möchte (meine Meinung lässt sich in der Rezension zur „Brennen muss Salem“-Ausgabe nachlesen). Dass es sich hierbei um eine Reminiszenz an die Werke Lovecrafts (und um eine Vorgeschichte von „Brennen muss Salem“) handelt, dürfte aber sowohl aufgrund des Schauplatzes und des zeitlichen Kontexts sowie der Erzählform (In Briefen wird von den Geschehnissen berichtet) klar erkennbar sein. Und auch das „De Vermis Mysteriis“, um das es in der Geschichte geht, wurde in der Vergangenheit bereits öfters von Lovecraft und anderen Autoren verwendet.

Einen starken, stilistischen Kontrast dazu stellt dann „Spätschicht“ dar, welche nicht nur zu den frühesten Werken Stephen Kings zählt, sondern sich fast als Archetyp des 70er Jahre Horrors präsentiert, wenn, ja wenn der Autor nicht auch unterschwellig die sozialen Missstände, insbesondere in Bezug auf die Arbeitsbedingungen, kritisieren würde. Die Aufräumarbeiten in einer alten Spinnerei müssen unter denkbar unwürdigsten Umständen stattfinden, was den autoritären Vorarbeiter aber nicht davon abhält, seine Untergebenen anzutreiben. „Spätschicht“ (1990 als „Nachtschicht“ mit u.a. Brad Dourif verfilmt) überzeugt vor allem durch seine unheimliche und klaustrophobische Atmosphäre, hinterlässt aber sonst keinen größeren Eindruck. Das gilt auch für „Nächtliche Brandung“, sozusagen ein Teaser zum kommenden „The Stand“, in der wir eine Gruppe von Jugendlichen zum Strand begleiten, wo einer ihrer Freunde als Menschenopfer verbrannt wird, um vermeintlich „Böse Geister“ zu besänftigen und deren Zorn von den Verbliebenen abzuwenden. Ein, wie wir wissen, nutzloses Unterfangen, denn gegen Captain Trips, das Supervirus A6, gibt es keine Heilung. So ist dann auch diese Geschichte wenig überraschend und bleibt entsprechend kurz im Gedächtnis.

Anders sieht das dann schon bei „Ich bin das Tor“ aus, in dem Stephen King Science-Fiction mit Horror verknüpft, wenn ein Astronaut, Rückkehrer einer Mission zur Venus, als Transportmittel für einen aggressiven Symbionten fungiert, der nach und nach die Kontrolle übernimmt. Eine gruselige, kompromisslose Geschichte, die etwaigen Hoffnungen bezüglich des Protagonisten ganz am Ende nochmal den Boden unter den Füßen wegzieht. Wer meint, damit schon den Höhepunkt in Punkto fehlendem Realismus gelesen zu haben, wird sich mit „Der Wäschemangler“ eines Besseren belehrt sehen, in der die titelgebende Maschine zum menschenfressenden Monster mutiert, dem sich nur zwei Menschen mutig mittels christlicher Teufelsaustreibung entgegenstellen. Wer in der Lage ist, sein Gehirn hier mal ein paar Minuten Ruhe zu gönnen, wird durchaus Spaß an dieser vollkommen absurden Geschichte haben, zu der Stephen King wohl seine eigene Vergangenheit (er arbeitete selbst eine Zeitlang als Bügler in einer Industriewäscherei in Bangor) maßgeblich inspiriert hat. Und für die King-Fans noch ein kleiner Hinweis bzw. eine weitere Verbindung: Auch „Carries“ Mutter und Barton Dawes („Sprengstoff“) haben in der Blue Ribbon Wäscherei ihre Finanzen aufgebessert.

Es folgen mit „Das Schreckgespenst“, „Graue Materie“ und „Schlachtfeld“ drei weitere äußerst kurzweilige und solide Geschichten, wobei erstere in gewisser Weise auch eine Blaupause für „Shining“ darstellen dürfte, dient doch auch hier der Vater als Parabolspiegel für das nicht greifbare Böse (in dessen Beschreibung fühlte ich mich an die Beschreibungen zu Beginn von „Cujo“ erinnert), wohingegen in „Graue Materie“ die Alkoholsucht zentrales Element der Erzählung ist und maßgeblichen Anteil an einer verhängnisvollen Verwandlung hat. Inwieweit Stephen King an dieser Stelle seine eigenen Dämonen beschrieben hat, kann nur erahnt werden. Es wird sicher eine Rolle gespielt haben. „Schlachtfeld“ kommt einmal mehr aus der Abteilung abstrus. Ein Profikiller sieht sich mit lebendig gewordenen und äußerst schießwütigen Spielzeugsoldaten konfrontiert. Erneut ein Beweis dafür, dass selbst eine völlig hanebüchene Ausgangssituation von einem King immer noch in ein spannendes und äußerst unterhaltsames Erlebnis umgeschmiedet werden kann.

Nach den Spielzeugsoldaten folgen nun die „Lastwagen“, welche gleich mehrere Menschen in einer Raststätte umzingelt haben und mit röhrenden Motoren darauf warten, die Fliehenden über den Haufen zu fahren. Bekloppt, oder? Mag sein, aber wieder für den Leser ein riesiger und bis zum (bitteren) Schluss äußerst mitreißender Spaß. Noch besser – und meines Erachtens eine der gelungensten Geschichten der Sammlung – ist „Manchmal kommen sie wieder“, in der ein High-School-Lehrer, der als Kind seinen Bruder an vier mörderische Jugendliche verloren hat, sich in der eigenen Klasse mit deren haargenauen Abbildern konfrontiert sieht. Und wieder beginnen die Morde und er muss sich den Albträumen seiner Vergangenheit stellen. Eine ganz starke Erzählung! Das gilt auch für „Erdbeerfrühling“, in der ein Serienmörder alle 7 bis 8 Jahre brutale Morde an der Universität begeht. Ein kurzer, aber äußerst gruseliger Horror-Trip, an dessen Ende eine gewisse Agatha Christie vielleicht ihre Freude gehabt hätte.

Freunde des „Hardboiled“ und „Noir“ dürften wiederum bei „Der Mauervorsprung“ bestens unterhalten werden, das vollkommen ohne übersinnliche Elemente auskommt. Das Gefahrenelement – ein nur wenige Zentimeter breiter Vorsprung im 43. Stockwerk eines Hochhauses. Die Art Lektüre, bei der man das Buch unwillkürlich fester packt – um es dann bei „Der Rasenmähermann“ am liebsten an die Seite zu legen. Selbst für King-Verhältnisse war mir dieses benzingetränkte Gebrumme dann doch eine Spur zu albern und zu grotesk. Ja, auch hier gibt es einen verborgenen Subplot, den man mit etwas Aufmerksamkeit entdecken kann. Das ändert aber nichts daran, das mir diese Geschichte nicht wirklich positiv in Erinnerung geblieben ist. Ganz anders verhält es sich dann wieder mit „Quitters, Inc.“, welche insbesondere den Rauchern unter den Lesern ans Herz gelegt sei. Ob die danach noch zur Zigarette greifen werden, darf aber immerhin bezweifelt werden. Grandiose Geschichte!

Bei „Ich weiß, was du brauchst“ vermischt King Voodoo mit einem Schuss Romantik – oder ist es doch andersherum – kann mich dabei aber nicht überzeugen. Voll in seinen Fängen hat er mich dann dafür wieder in „Kinder des Mais“, an dessen Verfilmung sich vielleicht mal N. Night Shyamalan versuchen sollte, der sich im Aufbau einer sich immer mehr anspannenden Atmosphäre ja trefflich auskennt. Diese atemlose, gehetzte Flucht durch scheinbar undurchdringliche Maisfelder wird mir jedenfalls noch lange in Erinnerung bleiben. Hier ist man wirklich traurig, das es so schnell vorbei ist.

Jede Sekunde und Zeile auskosten sollte man bei der Lektüre von „Die letzte Sprosse“, in der Stephen King seine meines Erachtens – mit großem Abstand – beste Leistung in der ganzen Sammlung abliefert. All diejenigen, die ihn immer, wider besseren Wissens, als Unterhaltungsautor müde belächeln, sollten sie lesen, um zu erkennen, welch begnadeter, aber auch einfühlsamer Schriftsteller er in Wirklichkeit ist. Ein trauriges, melancholisches, tief berührendes Juwel, nach dessen Beendigung es automatisch einer längeren Pause braucht, um die nächsten Geschichten in Angriff zu nehmen. Diese sind alle ebenfalls von guter bis sehr guter Qualität.

Zu einen auf den Weg“ habe ich mich ebenfalls schon bei „Brennen muss Salem“ geäußert. In „Der Mann, der Blumen liebte“ wird der Leser geschickt auf die falsche Fährte geführt. Und in „Die Frau im Zimmer“ verarbeitete Stephen King den Tod seiner eigenen Mutter und setzt sich zugleich mit dem Thema Sterbehilfe auseinander.

Wenn man so nach oben hochscrollt, erscheinen mir das ziemlich viele Worte für eine schon so alte Kurzgeschichten-Sammlung, welche die meisten King-Fans wohl ohnehin schon kennen werden und die jüngeren vielleicht gar nicht mehr lesen mögen. Letzteres wäre aber, und soviel sollte hoffentlich deutlich geworden sein, ein Fehler, denn bereits in diesen frühen Erzählungen läuft der Meister des Horror, trotz ein paar Durchhängern, zur Höchstform auf. Sein Talent für die Kurzform, es hat diese Würdigung und eine Wiederentdeckung sicher verdient.

Wertung: 87 von 100 Treffern

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  • Autor: Stephen King
  • Titel: Nachtschicht
  • Originaltitel: Night Shift
  • Übersetzer: verschiedene
  • Verlag: Lübbe
  • Erschienen: 10.2010
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 448 Seiten
  • ISBN: 978-3404131600

The unknown troubles on your mind

© Suhrkamp

Geister- und Gruselgeschichten. Seit jeher üben sie auf den Menschen eine oft nicht ganz greifbare Faszination aus, scheint uns dieses, letztlich dann doch immer harmlose Spiel mit der Angst, der literarische Kontakt mit dem unnatürlichen Bösen in den Bann zu ziehen. Und dennoch sind es gerade diese Erzählungen, denen nicht selten ein gewisser Wert abgesprochen wird oder – noch schlimmer – als Schund bezeichnet, ihr Dasein im Schatten anderer, eher respektierter Genres fristen. Dass sich der Kriminalroman inzwischen dazu zählen darf, war ein langer, steiniger (und noch nicht überall zu Ende gegangener) Weg – der Horror aber, ihm haftet dieses Etikett des vermeintlich billigen Kitsches weiterhin an, gespeist aus den Assoziationen, welche vor allem cineastische Werke in den letzten Jahren zuhauf geboten haben.

Der klassische Schauer und Schrecken, er ist der schockierenden Brutalität und dem voyeuristischen Ekel vor Blut und Gedärm gewichen, wobei die Psyche bzw. der Kopf, ehemals Ziel des künstlichen „Angriffs“, seinen Platz für den Magen und den Rest des Verdauungstrakts geräumt hat. Zugegeben – eine vielleicht allzu plakative und verallgemeinernde Aussage, aber man lehnt sich wohl nicht zu weit aus dem Fenster, wenn man behauptet, dass sich inzwischen gerade der ziselierte, psychologische Ansatz zwischen den Buchdeckeln äußerst rar gemacht hat. Ein Grund mehr, den Blick zurückzuwerfen und sich, wie in diesem Fall Algernon Blackwood, den alten Meistern zuzuwenden. Und „Meister“ darf hier durchaus wörtlich genommen werden, denn kaum ein anderer Autor beherrscht diesen eng geführten Tanz mit unseren Urängsten derart eindrucksvoll wie der hierzulande zu Unrecht in Vergessenheit geratene Engländer. Von ein paar wenigen Veröffentlichungen abgesehen, ist er in den letzten Jahren fast vollkommen vom deutschen Buchmarkt verschwunden. Während Lovecraft, maßgeblich von Blackwood beeinflusst, immer wieder neu aufgelegt wird, müssen wir daher weiterhin auf die alten Suhrkamp-Ausgaben zurückgreifen. Nachdem ich bereits „Das leere Haus“ mit Muße genossen haben, steht nun also die Kurzgeschichten-Sammlung „Besuch von Drüben“ auf dem Prüfbestand.

Folgende Erzählungen sind in dem Sammelband enthalten:

  • Der Horcher

  • Die Spuk-Insel

  • Besuch von drüben

  • Gestohlenes Leben

  • Kein Zimmer mehr frei

  • Ein gewisser Smith

  • Seltsame Abenteuer eines Privatsekretärs in New York

  • Griff nach der Seele

Authentizität mag ein etwas unpassendes Attribut für eine Gruselgeschichte sein, aber irritierenderweise ist es genau diese Vokabel, welche unmittelbar in unserem Kopf herumspukt, wenn wir uns uns als Leser mit den acht vorliegenden Erzählungen beschäftigen, da es Algernon Blackwood in durchgängig allen gelingt, auf äußerst intelligente Art und Weise zu unterhalten. Obwohl vom Unmöglichen und Unfassbaren berichtet wird, ertappt man sich schnell dabei, die Logik des Ganzen nie zu hinterfragen, derart fest nimmt uns der Autor an die Hand und erschafft, bar jeder Künstlichkeit, einen atmosphärischen Rahmen, in dem er nach und nach scheinbar mühelos Zugriff auf die Fantasie seines Publikums erhält. Das liegt vor allem an den stimmungsvollen Schauplätzen, die, anders als z.B. bei einem John Dickson Carr, nicht eigens aufgebaute „Kulissen“ sind, sondern Blackwoods eigenen Beobachtungen während seiner vielen Reisen entstammen – und Beleg dafür sind, dass das Schaudern nicht mit Kitsch verbunden sein muss, eine spannende, unheimliche Szenerie keinerlei billige Effekte benötigt.

Stets geht es dabei um den Einfluss andersweltlicher Phänomene auf seine Protagonisten, wodurch sich auch der Leser, meist schon allein aufgrund der bildreichen Beschreibungen, als Teil der Erzählung empfindet. Blackwood will hier nicht einfach nur erschrecken – nein, er nötigt uns quasi, sich näher mit der jeweiligen Materie zu beschäftigen. Das Grauen, es wird nicht auf ein durchsichtiges Gespenst oder einen rachsüchtigen Verfluchten reduziert, sondern ist vielmehr allgegenwärtig, nicht fassbar – und gerade deswegen letztlich auch in diesem Maße bedrohlich und beklemmend. Wie viele seiner Zeitgenossen, z.B. auch Sir Arthur Conan Doyle, so kann sich auch Blackwood einen gewissen lehrerhaften Unterton nicht verkneifen und versucht immer wieder seine Expertise auf dem Gebiet des Okkulten (er war seit 1900 Mitglied im „Hermetic Order of the Golden Dawn“) zu verarbeiten, was sich dann auch in der Wahl seiner Figuren widerspiegelt.

Die bekannteste unter ihnen dürfte Dr. John Silence sein. Ein ziemlich von sich selbst überzeugter, parapsychologischer Seelendoktor, der wohl nicht ganz ungewollt als Reminiszenz an Doyles Sherlock Holmes daherkommt und wie dieser ebenfalls in beratender Funktion tätig ist – und sich natürlich auch die Freiheit nimmt, nur die Fälle zu bearbeiten, die ihn interessieren. In „Griff nach der Seele“ nimmt er sich seines ersten (von insgesamt sechs Kurzgeschichten, die Algernon Blackwood in seiner Karriere über ihn geschrieben hat) an, wobei sich der Autor des Drogengebrauchs als verbindendes Mittel zur Geisterwelt bedient. Natürlich eine weitere augenzwinkernde Parallele zu dem großen Meisterdetektiv und dessen dunklen Laster. „Griff nach der Seele“ ist übrigens auch eines der Highlights dieser Zusammenstellung, die eigentlich keine wirklich schwache Story aufweist und in der Zusammenstellung zudem äußerst abwechslungsreich geraten ist. Obwohl tendenziell die meisten davon ein gutes Ende nehmen, sind sie allesamt von der Grundstimmung ziemlich düster geraten, hängt die Gefahr stets wie dichter Nebel, nicht greifbar, zwischen den Zeilen.

Besonders in „Seltsame Abenteuer eines Privatsekretärs in New York“ tritt dies zutage, welche, für Blackwood eher ungewohnt lebhaft, ja, fast actionreich daherkommt und mit einem Gänsehaut fördernden Ende in der Tradition Edgar Allan Poes aufwartet. Ein schaurig-humoriger Genuss zum mithorchen und Zähne klappern, prädestiniert für die Erzählung im Schein eines von Dunkelheit umhüllten Lagerfeuers. Soviel „Handlung“ begegnet uns allerdings in den wenigsten Geschichten, denn Blackwood lässt die Protagonisten oder Erzähler vor allem viel reden und erklären, wobei es erstaunlich ist, wie es dem Autor dabei dennoch gelingt, in den inneren Monologen und Dialogen die Gefühle, Eindrücke und Wahrnehmungen der jeweiligen Figuren zu transportieren.

Bestes Beispiel ist dafür wohl „Die Spuk-Insel“, in der ein einsamer Besucher einer kleinen Insel inmitten der kanadischen Wildnis des Nachts Besuch von indianischen Geistern bekommt. Unwillkürlich hält man in dieser Geschichte gleich mehrfach den Atem an, meint selbst die Schweißperlen im Nacken fühlen zu können, derart detailliert und präzise wird die Angst des Protagonisten eins zu eins auf uns übertragen, während der Protagonist, ein Student auf der Suche nach Erholung, sich in der Dunkelheit seiner Blockhütte seinen Angreifern ausgesetzt sieht. Und dann dieses Ende! Für mich ohne Zweifel eine der besten Gruselgeschichten, die je geschrieben wurden.

Auch über die anderen Geschichten gäbe es genug zu bemerken, was hier jetzt aber unerwähnt bleiben soll, um nicht unnötig zu spoilern oder ihnen gar diese spezielle Faszination und ihre Wirkung zu nehmen. Wer also wissen möchte, warum in „Besuch von Drüben“ Marriott plötzlich dem elenden Antlitz seines alten Freundes gegenübersteht oder der Abenteurer und Geisterjäger Shorthouse in „Gestohlenes Leben“ eine Nacht mit einem Phantom verbringen muss, der möge dies bitte lieber selbst lesen.

Und soviel sollte spätestens an dieser Stelle deutlich geworden sein – diese Sammlung ist nicht nur ein absolutes Muss für alle Freunde von stimmungsvollen Gruselgeschichten aus dem guten, alten viktorianischen England, sondern wohl die Abstand beste Zusammenstellung vom Suhrkamp-Verlag. Man kann nur hoffen, dass diese fantastischen Erzählungen bald wieder in würdiger Aufmachung und zumindest stellenweise etwas zeitgemäßerer Übersetzung der heutigen Generation zugänglich gemacht werden. Bis dahin heißt es aber: Antiquarische Suche lohnt, unbedingt!

Wertung: 95 von 100 Treffern

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  • Autor: Algernon Blackwood
  • Titel: Besuch von drüben
  • Originaltitel
  • Übersetzer: Friedrich Polakovics
  • Verlag: Suhrkamp
  • Erschienen: 04/1997
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 246 Seiten
  • ISBN: 978-3518392010

Geschichten aus der Finsternis

© Ullstein

Ein Abend am Lagerfeuer. Ein düsterer Wald. Ein Kreis aus nebeneinander sitzenden Freunden, welche der undurchdringlichen Dunkelheit den Rücken zukehren. Ein wirklich stimmungsvolles Bild, aber auch eins, das in Zeiten von Computerspielorgien und Facebook-Partys Seltenheitswert besitzt und an dem sich wohl nur noch Nostalgiker oder verklärte Romantiker erfreuen können. Zum Glück aber gehöre ich dieser aussterbenden Gattung an, der noch ein Fünkchen Fantasie geblieben ist und die eine gut erzählte Horrorgeschichte vor entsprechender Kulisse zu schätzen weiß. Wenn man dann gleich 15 dieses Kalibers in die Finger bekommt – umso besser.

Folgende sind in diesem Sammelband enthalten:

  • Der Krebscowboy reitet
  • Mr. Pettingers Dämon
  • Der Erlkönig
  • Die neue Tochter
  • Das Ritual der Knochen
  • Der Heizungskeller
  • Die Hexen von Underbury
  • Der Affe auf dem Tintenfass
  • Treibsand
  • Manche Kinder laufen aus Versehen weg
  • Dunkles Grün
  • Miss Froom, Vampirin
  • Nocturne
  • Die Wakefordschlucht
  • Das spiegelnde Auge

Nocturnes“ von John Connolly reiht sich, nachhaltig beeindruckend, in die Liste meiner Horrorfavoriten ein und nimmt damit Platz neben Genre-Größen wie Algernon Blackwood, Edgar Allan Poe oder Stephen King. Die Befürchtung, der irische Autor könne seine Wortgewalt nur über größere Distanz zur Geltung bringen, erweist sich bereits mit der ersten Geschichte aus dieser Anthologie als unbegründet.

Der „Krebs-Cowboy“ ist nicht nur einer der widerlichsten Bösewichte seit langem, sondern auch derart bizarr und furchterregend, dass man sich unwillkürlich selbst nach Geschwüren abtastet und sich am Körper Gänsehaut breitmacht. Krebs als durch Berührung übertragbare Krankheit? Ein schrecklicher Gedanke und gerade wohl deswegen so beängstigend für den Leser, dem der fiktive Horror plötzlich sehr real vorkommt. Sicherlich, Connollys Stil erinnert hier (oder z.B. auch in den Geschichten „Treibsand“ oder „Manche Kinder laufen aus Versehen weg“) stark an Altmeister King, ahmt diesen vielleicht sogar stellenweise nach – Connollys eigener Ton, sein Hang zur Mystik, wird dadurch aber nicht verwässert. Im Gegenteil: Eindrücklich stellt er hier sein Können unter Beweis, seine Fähigkeit, mit den Besten des Genres auf Augenhöhe zu konkurrieren. Und dabei zeigt er sich zudem als äußerst vielseitig und wortgewandt.

Brutalen, blutigen Horror findet man hier ebenso vor wie klassische Gothic-Geschichten, bei dem auch Freunde des viktorianischen Zeitalters und des altmodischen Grusels voll auf ihre Kosten kommen. In „Die Hexen von Underbury“ vergisst man beinahe glatt, dass hier ein moderner Schreiberling am Werk gewesen ist, derart „very british“ wirkt diese stimmungsvolle Erzählung, die immer wieder augenzwinkernd Bezug auf Meisterdetektiv Holmes und seinen Freund Dr. Watson nimmt. Und wenn der Ermittler, wie in den Sümpfen Dartmoors, im dichten Nebel zwischen Büschen Bewegungen ausmacht, ihn unsichtbare Finger tastend im Nacken berühren, packt man die Seiten unwillkürlich fester. Connolly dosiert in richtigem Maße, setzt jeden Satz an die richtige Stelle und nimmt den Leser mit geschickt geführter Feder gefangen. Selbst Schnellleser dürften sich jetzt dabei ertappen, wie sie das Tempo drosseln, um ja kein Wort zu überlesen bzw. der angespannten Atmosphäre nicht den sehnlichst erwarteten Effekt zu nehmen.

Am Ende gibt es natürlich meist, so verlangt es das Genre, kein Happy-End. Und selbst ein kurzfristiger Triumph wird noch auf den letzten Seiten mit bitterem Geschmack versetzt. Das Gute obsiegt letztlich nie, das Böse lauert in der Finsternis nur auf eine zweite Chance, um zuzuschlagen. Sei es in der tiefen Erde eines Grabhügels oder am Grunde eines nachtschwarzen Sees.

Hätte Connolly es bei 14 Geschichten belassen, „Nocturnes“ wäre schon ohne Frage ein sicherer, wärmstens empfohlener Tipp für Horror-Freunde geworden. Mit der 15. Erzählung erwartet den Leser dann aber noch ein besonderer Leckerbissen. In „Das spiegelnde Auge“ (eigentlich schon eine Novelle, die zeitlich zwischen „Die weiße Straße“ und „Der brennende Engel“ spielt) feiern wir ein Wiedersehen mit Charlie „Bird“ Parker, der dem Geheimnis eines alten Hauses nachgeht, das einst als Unterschlupf für die blutigen Praktiken eines gnadenlosen Kindesentführers gedient hat. Der Birdman, dem natürlich auch diesmal Louis und Angel zur Seite stehen, stolpert im Fall Grady dabei über einen Gegenspieler, der in den folgenden Parker-Romanen noch von größerer Bedeutung sein wird und der bezüglich seiner boshaften Ausstrahlung, den Vergleich mit Caleb Kyle oder Mr. Pudd nicht zu scheuen braucht.

Nocturnes“ ist, trotz der ein oder anderen schwächeren Story, eine lesenswerte, äußerst vielseitige Anthologie, in dem der Horror uns so mühelos gefangen nimmt, wie ihn Connolly scheinbar auf Papier gebracht hat. Klasse übersetzt, sprachlich wirklich stark, atmosphärisch allererste Kajüte – was mehr kann ein Freund dieses Genres verlangen? Eine antiquarische Suche lohnt in jedem Fall.

Wertung: 90 von 100 Treffern

einschuss2
  • Autor: John Connolly
  • Titel: Nocturnes
  • Originaltitel: Nocturnes
  • Übersetzer: Charlotte Breuer, Norbert Möllemann
  • Verlag: Ullstein
  • Erschienen: 01.2007
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 416 Seiten
  • ISBN: 978-3548264127

Die frühen Abenteuer des Hercule Poirot

© Fischer

England, Mitte der 20er Jahre. Agatha Christie hat sich zwar inzwischen bereits einen Namen gemacht, wird aber immer noch mit großen Schriftstellern wie Sir Arthur Conan Doyle und Gilbert Keith Chesterton verglichen und ihr Werk entsprechend auch an deren gemessen. So mutet es fast als ob sie genau jenen nacheifern will, als sie mit „Poirot rechnet ab“ 1924 eine Kurzgeschichtensammlung vorlegt, in welcher der belgische Detektiv in elf kniffligen Fällen seinen detektivischen Spürsinn – und sein Partner Captain Hastings mal wieder eine Menge Geduld beweisen muss.

In Wirklichkeit ging dieser Impuls damals jedoch von Christies Lektor Bruce Ingram aus, der, beeindruckt von ihrem Debüt „Das fehlende Glied in der Kette“, sie dazu animierte, es ihren Vorbildern doch ebenfalls in knapperer Form gleichzutun. Eine Anregung, der sie der Überlieferung zu Folge nur äußerst widerwillig nachkam, zumal die ganze Vorbereitung des Buches unter äußerst schlechten Vorzeichen stattfand, entzündete sich doch an diesem Titel ein eskalierender Zwist zwischen der Autorin und ihrem Verleger John Lane. Mit ihm hatte sie erst ein paar Jahre zuvor, zu Beginn ihrer Karriere, einen Vertrag über sechs Bücher abgeschlossen, den sie nun nicht nur als ausbeuterisch erkannte, sondern der ihr im Fall von „Poirot rechnet ab“ auch die Auswahl der Geschichten für die Sammlung und deren Veröffentlichungsdatum diktierte. Allen hinsichtlich des finalen Titels konnte sich Christie durchsetzen und zudem festhalten, dass das Buch offiziell zu ihrem Sechs-Bücher-Vertrag gezählt wurde. Da die Geschichten zuvor bereits im Sketch-Magazine erschienen waren, kam es zu einer Verhandlung vor Gericht, welche die Autorin letztlich für sich entscheiden konnte. Das Tischtuch war jedoch endgültig zerschnitten, was man heute noch daran erkennen kann, dass auch jegliche Widmung in der Kurzgeschichtensammlung fehlt.

Umso erstaunlicher, dass sich die Stories – welche in verschiedenen Jahren von Poirots Karriere spielen, aber bis auf ein paar Ausnahmen (u.a. überquert er in „Der raffinierte Aktendiebstahl“ den Atlantik) vorwiegend im Umkreis von London angesiedelt sind – auch heute immer noch äußerst kurzweilig lesen und als Rätselspaß für zwischendurch einen durchaus guten Job machen. Poirot und sein Partner Captain Hastings, mittlerweile fester Begriff im Gesellschaftsleben der Hauptstadt, werden immer dann zu Rate gezogen, wenn ein Problem zu schwierig oder ein Fall zu mysteriös ist. Geschildert werden ihre gemeinsamen Ermittlungen dabei (in bester Watson-Manier) aus der Sicht des ehemaligen Soldaten, der sich nicht selten von seinem belgischen Freund unterschätzt fühlt und sich stets aufs Neue angesichts dessen offensichtlicher Eitelkeit die Haare raufen muss. Neben seinen kriminalistischen Fähigkeiten, so hat Poirot auch die Selbstverliebtheit auf ein ganz neues Niveau gehoben, was es für seine Mitmenschen zu ertragen gilt. Und das diesmal in den folgenden 11 Fällen:

  • Die Augen der Gottheit
  • Die Tragödie von Marsdon Manor
  • Die mysteriöse Wohnung
  • Das Mysterium von Hunter’s Lodge
  • Der raffinierte Aktiendiebstahl
  • Das Abenteuer des ägyptischen Grabes
  • Der Juwelenraub im Grand Hotel
  • Der entführte Premierminister
  • Das Verschwinden Mister Davenheims
  • Das Abenteuer des italienischen Edelmannes
  • Das fehlende Testament

Größere Ausfälle gibt es unter den einzelnen Geschichten keine. Ganz im Gegenteil: Ein paar gehören sogar zu den besten Kurzabenteuern des belgischen Detektivs, was interessanterweise dann auch eins zu eins für ihre ITV-Verfilmungen mit David Suchet in der Hauptrolle gilt. Hier ist zum Beispiel schon der Auftakt, „Die Augen der Gottheit“, zu nennen, in dem der Diebstahl eines legendären chinesischen Diamanten angekündigt und Poirot als Ratgeber hinzugezogen wird. Was folgt ist ein Katz-und-Maus-Spiel mit einer gut aufgelegten Spürnase, das natürlich gleichzeitig auch als Verbeugung vor dem großen Wilkie Collins zu verstehen, an dessen „Monddiamant“ sich Christie ganz unverblümt orientiert. Der zweite Streich folgt sogleich mit der Geschichte „Die Tragödie von Marson Manor“, welche, von einer gespenstischen und unbehaglichen Atmosphäre durchdrungen, eine Vogelflinte ins Zentrum von Poirots Interesse rückt. In „Das Mysterium von Hunter’s Lodge“ übernimmt stattdessen Hastings die Zügel, während der Detektiv selbst von einer Grippe ans Bett gefesselt ist. Der Fall rund um den Sohn von Baron Windsor (interessante Namenswahl seitens Agatha Christie) führt den etwas tolpatschigen Ex-Soldaten gemeinsam mit dem allgegenwärtigen Inspektor Japp in eine einsame Jagdhütte in den Mooren von Derbyshire – und den Leser damit in ein unheimliches, bedrohliches Ambiente.

Mit „Das Abenteuer des ägyptischen Grabes“ offenbart Agatha Christie erstmals ihr starkes Interesse an die Archäologie – einem Themenfeld, dem auch ihr späterer zweiter Ehemann Max Mallowan entstammt und das sich im Laufe der Zeit, neben der Schriftstellerei, zu ihrer anderen große Leidenschaft entwickelt. Poirot und Hastings reisen hier zu einer Ausgrabungsstätte nahe der Pyramiden von Gizeh, wo vermeintlich die Kräfte des Bösen am Werk sind und die sonst so sachliche Herangehensweise des Detektivs auf eine schwere Probe gestellt wird. Weitere Highlights sind „Der entführte Premierminister“ (Gegen Ende des Ersten Weltkrieges werden Poirot und Hastings in eine rasante Spionagegeschichte hineingezogen) sowie „Das Verschwinden Mister Davenheims“ (Poirot löst einen Fall, ohne sich vom Stuhl zu erheben) und „Das Abenteuer des italienischen Edelmannes“ (Ein Mord in einem geschlossenen Raum will aufgeklärt werden).

Wie schon in Christies Romanen, so stellt die Autorin auch hier die Kombinations- und Beobachtungsgabe des Lesers immer wieder vor einige Herausforderungen. Eifrig habe ich mich in die Fälle gestürzt, versucht mit Poirots Augen zu sehen und die kleinen grauen Zellen zu aktivieren, um Licht in die oft unlösbar wirkenden Fälle zu bringen. Ehrlicherweise muss ich gestehen, dass ich bei einem Großteil der Geschichten ähnlich ratlos war wie der gute Hastings, was wiederum für ihn oder gegen mich spricht. In jedem Fall ein Beleg dafür, wie gut Christie ihre Plots auch auf kleinstem Raum konstruiert bzw. konzipiert hat, denn Hinweise, welche der Schlüssel zur Lösung gewesen wären, findet (wer sich die Mühe macht) man im Nachhinein, wenn auch gut versteckt, immer. Dabei kommt natürlich, ganz in der Tradition des Whodunit, keine Spannung im wörtlichen Sinne auf, was der Kenner des Genres jedoch weiß und ihn wenig überraschen dürfte.

Poirot rechnet ab“ ist am Ende ein wirklich guter, eleganter und auch intelligenter Sammelband, der mit seinem vorzüglichen Humor und den schrägen Figuren bestens unterhält – und gleichzeitig das Verbrechen als Form der Unterhaltung gesellschafts- und salonfähig macht. Ein Leckerbissen für alle Fans der Queen of Crime und von klassisch-britischen Detektivgeschichten.

Wertung: 83 von 100 Treffern

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  • Autor: Agatha Christie
  • Titel: Poirot rechnet ab
  • Originaltitel: Poirot investigates
  • Übersetzer: Ralph von Stedman
  • Verlag: Fischer
  • Erschienen: 09/2004
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 208 Seiten
  • ISBN: 978-3596167647

Nachtrag: In der ursprünglichen Fassung dieser Rezension habe ich behauptet, die Serie mit David Suchet wäre eine BBC-Produktion. Das ist natürlich Unsinn, zeichnet hierfür doch ITV verantwortlich. Vielen Dank an Joachim Feldmann für den Hinweis zur Korrektur.

Auferstanden von den Toten …

© Insel

London, 1893. In der gesamten Stadt, dem Herzen des damals weltumspannenden britischen Empires, herrschten Entrüstung, schwelten Zorn und Wut. Menschen brachten mit Trauerbändern die Schwere ihres Verlusts und ihre Enttäuschung zum Ausdruck, belagerten die Türen zum „Strand Magazine“, so dass man als Ausstehender zur Auffassung gelangen konnte, der Premierminister höchstpersönlich sei wie ein räudiger Hund auf offener Straße erschossen worden. Grund für die niedergedrückte Stimmung war aber der Tod von jemanden, der eigentlich nie gelebt hat: Sherlock Holmes.

Nach dem sein Schöpfer, Arthur Conan Doyle, bereits Ende des Jahres 1891 seines Protagonisten, und der damit zunehmenden Reduzierung seines Werks auf allein diesen, überdrüssig wurde, plante er zielgerichtet dessen Ableben, welches er in „Das letzte Problem“ schließlich auf Papier umsetzte. Abgedruckt in eben jenem, später harsch kritisierten „Strand Magazine“, ließ er Sherlock Holmes und seine Nemesis, den „Napoleon des Verbrechens“ Professor Moriarty, in den reißenden Wogen der Schweizer Reichenbach Fälle ihr Ende finden. Zurück blieb lediglich eine Art Abschiedsbrief an Dr. Watson, welcher sich gleichzeitig auch an die treue Leserschaft richtete. Allen Bitten zum Trotz – selbst Doyles eigene Mutter bekniete ihn um weitere Geschichten – das Kapitel Sherlock Holmes schien beendet.

Die Frage bleibt bis heute unbeantwortet, ob Doyle den großen Detektiv je hätte wiederkehren lassen, wäre er nicht 1900 an Typhus erkrankt und nach Norfolk gereist. Dort lernte er Bertram Fletcher Robinson kennen, der aus Devonshire kam, und auf Dartmoor aufgewachsen war. Es war Robinson, welcher Doyle von den alten Legenden seiner Heimat erzählte, unter denen sich auch einige Gruselgeschichten um einen Geisterhund befanden. Diese inspirierten den Autor, der Dartmoor kurz darauf selbst aufsuchte, für einen neuen Roman, der wiederum einen Helden in der Form eines Detektivs brauchte, welcher die mysteriösen Vorgänge im düsteren Moor untersuchen konnte. Und wer wäre dafür besser geeignet gewesen als Sherlock Holmes? Der Rest ist aus heutiger Sicht Literaturgeschichte.

In „Der Hund der Baskervilles“ (1902 veröffentlicht), Doyles bis heute bekanntestem Buch, das chronologisch vor dem Reichenbach Vorfällen spielt, feierte der Mann mit dem Deerstalker und der Meerschaumpfeife ein beeindruckendes und auch finanziell einträgliches Comeback, dem der Autor in den folgenden beiden Jahren dreizehn Kurzgeschichten folgen ließ. Die erste, „Das leere Haus“, revidierte nicht nur Holmes‘ Tod, sondern lieferte gleichzeitig eine Erklärung für dessen langjährige Abwesenheit. Weitere Geschichten waren:

  • Der Baumeister von Norwood
  • Die tanzenden Männchen
  • Die einsame Radfahrerin
  • Die Abtei-Schule
  • Der schwarze Peter
  • Charles Augustus Milverton
  • Die sechs Napoleons
  • Die drei Studenten
  • Der goldene Kneifer
  • Der verschollene Three-Quarter
  • Abbey Grange
  • Der zweite Fleck

Die Rückkehr des Sherlock Holmes“, ein 1905 erschienener Sammelband, fasst diese nun zusammen, wobei ich heutigen Lesern besonders die Ausgaben von Kein+Aber und dem Insel Verlag ans Herz lege, welche, durch die zwar altmodischere, aber auch authentischere Übersetzung von Werner Schmitz, dem originalen Ton von Doyle weit näher sind als andere Fassungen. Vor allem die grausige Angewohnheit des „Duzens“ zwischen Sherlock Holmes und Dr. Watson glänzt hier glücklicherweise durch Abwesenheit. Das ist bei weitem aber nicht der einzige Grund, warum ein Griff zu diesem Klassiker auch mehr als hundert Jahre später noch lohnt.

In Zeiten blutrünstiger Splatter-Thriller und forensischer Such-Orgien ist „Die Rückkehr des Sherlock Holmes“ eine erfrischend nostalgische Rückbesinnung auf die Anfänge des Kriminalromans, in denen Mord nicht das einzige Verbrechen war, das es aufzuklären galt und der Leser tatsächlich noch selbst seinen Kopf benutzen durfte, um den Ermittlern bei den Lösung des Rätsels zuvorzukommen (Was bei Sherlock Holmes zugegebenermaßen ein schweres Unterfangen ist). Gepaart mit der unverwechselbaren Atmosphäre des Molochs Londons bieten die Geschichten kurzseitige, aber doch stets ansprechende und fordernde Unterhaltung, die, nicht selten mit typisch britischen Humor versehen, die Nachforschungen als Katz-und-Maus-Spiel zwischen Jäger und Gejagtem präsentiert. Und die Fangquote keiner Katze war wohl je besser als die von Sherlock Holmes. Das trifft selbst auf seine späteren Abenteuer zu, wenngleich man der allgemeinen Kritik zustimmen muss, welche die Werke der zweiten Schaffensperiode qualitativ doch mit gewissem Abstand hinter denen der ersteren einordnet. Wahr ist: Nach Holmes‘ vermeintlichen Tod hat Doyle nie wieder ganz diese alte Magie erreicht, diesen besonderen, unverfälschten Funken Genialität, der die Figur des großen Detektivs zu so etwas einzigartigem gemacht hat. So fehlt neben der bemerkenswerten Leichtigkeit auch schlichtweg das Flair der frühen Geschichten.

Nass glänzendes Kopfsteinpflaster. Undurchdringlicher Bodennebel. Laut klappernde Droschken in finsteren Gassen. Dämmrig-träges Gaslaternenlicht. Diese Szenerie des viktorianischen Londons, in dem auch Jack the Ripper unbestraft mordete, gehörte 1903, während der Veröffentlichung von „Das leere Haus“, längst in vielen Teilen der Vergangenheit an. Wo früher Holmes von loyalen Laufburschen seine Nachrichten und Telegramme durch die Stadt tragen ließ, da wird nun immer öfter auf das Telefon zurückgegriffen. Und auch das Geräusch von Pferdegespannen ist vielerorts dem Brummen der Automobile gewichen. Die größte Stadt der damaligen Welt hatte einen gewaltigen Schritt in die Moderne getan und Sherlock Holmes einige Mühe Schritt zu halten. So sehr sich Doyle bemühte – die Erfolge der Vergangenheit ließen sich lediglich kommerziell und nicht literarisch wiederholen. Das lag auch daran, dass der Autor die Bekanntheit seiner Figur zuletzt vor allem dafür nutzte, um den dadurch erworbenen Profit in andere Projekte zu stecken. Vor allem seinem Interesse für Spiritismus widmete er nun wesentlich mehr Zeit und Aufmerksamkeit als Sherlock Holmes, der nach seiner Wiederkehr aus der Schweiz plötzlich auch nicht mehr dem Kokain verfallen war – und damit, neben der letzten, eigentlichen Schwäche, ebenfalls einen gewissen Reiz verlor.

All das wird vor allem dem „Sherlockian“ auffallen, welcher den Holmes‘-Kanon auswendig und natürlich jegliche Hintergründe über deren Entstehung kennt. Gelegenheitsleser werden dies höchstwahrscheinlich kaum bemerken, was wiederum aber auch daran liegt, dass, trotz gerechtfertigter Kritik, Doyle selbst in „Die Rückkehr des Sherlock Holmes“ nochmal einige Highlights zu setzen weiß. Diese sind, neben Holmes‘ überraschender Wiederauferstehung und dem fesselnden Duell mit dem Scharfschützen Sebastian Moran in „Das leere Haus“, vor allem „Der Baumeister von Norwood“, „Die einsame Radfahrerin“, „Die Abtei-Schule“ und „Der goldene Kneifer“.

Arthur Conan Doyles dritter Kurzgeschichten-Sammelband „Die Rückkehr des Sherlock Holmes“ hält zwar nicht das Niveau seiner Vorgänger, ein Klassiker des Kriminalromans ist er dennoch. Ein Muss für alle Freunde der guten, alten „Whodunit“-Geschichten, die es sich am liebsten bei herbstlich-ungemütlichem Wetter und dampfenden Earl Grey im kuscheligen Ohrensessel für ihre Lektüre bequem machen wollen.

Wertung: 88 von 100 Treffern

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  • Autor: Sir Arthur Conan Doyle
  • Titel: Die Rückkehr des Sherlock Holmes
  • Originaltitel: The Return of Sherlock Holmes
  • Übersetzer: Werner Schmitz
  • Verlag: Insel
  • Erschienen: 11/2007
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 461 Seiten
  • ISBN: 978-3458350194

Nachtrag: Ich habe mich bei der Verlinkung des Titels bewusst für die ältere Insel-Ausgabe entschieden, da sie – leider gibt es den Haffmans Verlag ja in dieser Form nicht mehr und die Kein & Aber Ausgabe ist ebenfalls vergriffen – vor allem optisch der äußerst lieblosen Fischer-Version vorzuziehen ist. Ansonsten sollte vor allem bei antiquarischen Stücken darauf geachtet werden, dass es sich um die Übersetzungen von Gisbert Haefs, Hans Wolf etc. handelt. Von gekürzten Ausgaben oder gar solchen, wo Holmes und Watson sich duzen, ist abzuraten.

Sherlock Holmes kommt zu Fall

© Insel

Wer diesen Blog bereits etwas länger besucht, der weiß um meine besondere Beziehung zu den Werken von Sir Arthur Conan Doyle, insbesondere zu seinen berühmten Sherlock Holmes Geschichten, welche nicht nur meine Entwicklung als Leser, sondern vor allem das Interesse an der Kriminalliteratur in jungen Jahren maßgeblich beeinflusst haben. Insofern bedeutet eine Rezension über einen Titel aus dem Kanon rund um den größten Detektiv der Literaturgeschichte auch immer mehr als gewohnte Pflichterfüllung und wird vielmehr zu einer echten Herzensangelegenheit, ist mir doch sehr daran gelegen, dass bei all den modernen, vornehmlich visuellen Adaptionen des Mannes mit der scharfen Adlernase, die eigentliche Vorlage nicht in Vergessenheit gerät und ihre wohlverdiente Würdigung erfährt.

Nachdem im Jahre 1892 mit „Die Abenteuer des Sherlock Holmes“ die erste Sammlung der zuvor im Strand Magazine abgedruckten Kurzgeschichten veröffentlicht wurde, ließ Doyle bereits ein Jahr später eine weitere mit dem Namen „Die Memoiren des Sherlock Holmes“ folgen, welche, vollkommen zur Recht, unter neutralen Literaturkritikern und beseelten Sherlockians als erster Höhepunkt des Kanons gilt, mit seinem Titel aber auch schon verrät, wie es um die Beziehung zwischen dem Schriftsteller und seiner Figur zu damaligen Zeitpunkt stand. Das Schreiben war längst zu einer Routine verkommen. So hatte der geborene Schotte zwar zu einer gewissen traumwandlerischen Balance gefunden, einem Rezept, das sich beliebig und ohne größere Schwierigkeiten vervielfältigen ließ – der künstlerische Anspruch, er war aber in den Augen des Autors längst nicht mehr gegeben. Doyle befand sich dadurch in einem Zwiespalt, denn einerseits sicherte ihm sein Detektiv ein sicheres Auskommen, ja, sogar einen gewissen Wohlstand – andererseits fühlte er sich aber in einem Hamsterrad gefangen, dass ihn regelmäßig zu neuen Abwandlungen altbekannter Rätsel nötigte, da sein Publikum längst mit einer konkreten, fast ritualhaften Erwartung zu den Geschichten griff.

Der Ausgang dieses persönlichen Dilemmas ist vielfach bekannt: In „Das letzte Problem“ versucht sich Doyle seines ihm damals verhassten Helden zu entledigen. Wie wir heute wissen vergeblich, da Sherlock Holmes – dies sollte inzwischen keinen Spoiler mehr darstellen – den Sturz in den Reichenbach Fällen in der Schweiz überlebt und (vom Roman „Der Hund der Baskervilles“ abgesehen) in „Das leere Haus“ (enthalten in „Die Rückkehr des Sherlock Holmes“) sein überraschendes Comeback feiert. Dennoch ist es bis dato die Tragik dieses vermeintlichen Todes, welche uns nach all der kalten Logik auf einmal tiefer berührt und uns den sonst so unnahbaren, aber auch durch und durch moralischen Detektiv endgültig näher ans Herz wachsen lässt.

Neben „Das letzte Problem“ enthält der Sammelband noch folgende zehn Geschichten:

  • Silberstern
  • Das gelbe Gesicht
  • Der Angestellte des Börsenmaklers
  • Die „Gloria Scott“
  • Das Musgrave-Ritual
  • Die Junker von Reigate
  • Der Verwachsene
  • Der niedergelassene Patient
  • Der griechische Dolmetscher
  • Der Flottenvertrag

Ursprünglich wären es sogar insgesamt 12 Kurzgeschichten gewesen, doch „Die Pappschachtel“ (engl. „The Cardboard Box“) fiel der Selbstzensur durch den Autor zum Opfer, dem das Ehebruch-Thema für eine Veröffentlichung letztlich zu heikel war, allerdings den Beginn der Erzählung, in der Sherlock Holmes einmal mehr seine Genialität unter Beweis stellt, kurzerhand in „Der niedergelassene Patient“ einbaute.

Aber auch ohne diese eine fehlende Episode, weiß „Die Memoiren des Sherlock Holmes“ nachhaltig überzeugen, denn Doyle befindet sich nicht nur auf dem Gipfel seines Könnens – er traut sich auch zu, mit der ein oder anderen Gesetzmäßigkeit des Kanons zu brechen. Bestes Beispiel dafür ist „Gloria Scott“, welche, entgegen der üblichen Gewohnheit, nicht von Dr Watson wiedergegeben wird, sondern direkt von Sherlock Holmes selbst, der hier von seinem allerersten Fall berichtet und dabei, überraschend offen, sogar eigene Fehler eingesteht. Dem Autor ist dabei die Charakterisierung des jungen Holmes am Beginn seiner Karriere gut gelungen, während uns als Leser gleichzeitig endlich ein näherer Einblick in die sonst so mysteriöse Geschichte des großen Detektivs gewährt wird. Und soviel sei gesagt – es soll nicht der letzte in dieser Kurzgeschichtensammlung sein.

Den Anfang in der Riege macht jedoch die Story „Silberstern“ in der Sherlock Holmes und sein getreuer Freund Dr. Watson ins Dartmoor reisen, um ein verschwundenes Rennpferd mit dem titelgebenden Namen zu finden und gleichzeitig den Mord an dessen Trainer John Straker aufzuklären. Arthur Conan Doyle trug damit der Beliebtheit des Pferderennens in seiner Heimat Rechnung, die bis heute ungebrochen ist. Da dabei meist mit horrenden Geldbeträgen gewettet wird, sind Bestechungen und Betrug an der Tagesordnung, Zusätzlich ist die Geschichte aufgrund des Schauplatzes erwähnenswert, kehrt doch Holmes in seinem wohl bekanntestem Abenteuer, „Der Hund der Baskervilles“, noch mal in diese ursprüngliche und stellenweise undurchdringliche Sumpflandschaft Devons zurück, deren unheimliche Atmosphäre sich in beiden Geschichten äußerst schnell auf den Leser überträgt. Wer, wie ich, selbst einmal durch das Dartmoor wandern durfte, weiß zu schätzen, wie plastisch Doyle diese ganz besondere Stimmung des Ortes einfängt.

Eine noch beklemmendere Stimmung erzeugen die beiden Erzählungen „Das gelbe Gesicht“ und „Das Musgrave-Ritual“ – beide eine vortreffliche Hommage an den klassischen Schauerroman bzw. die Gespenstergeschichte, wodurch sie sich perfekt für die Lektüre an einem verregneten, stürmischen Herbsttag eignen. Weit vor John Dickson Carr löst Sherlock Holmes in „Der Verwachsene“ auch einen Mordfall in einem verschlossenen Raum und unterstützt in „Der Flottenvertrag“ die britische Regierung dabei, ein für die europäische Politik brisantes Dokument zurückzubekommen. Für den Holmes-Kanon ist auch „Der griechische Dolmetscher“ von Bedeutung, in der Sir Arthur Conan Doyle mit Mycroft erstmals den Bruder des beratenden Detektiv einführt. Auch wenn dieser zugegebenermaßen etwas überraschend und unglaubwürdig aus der Versenkung auftaucht – seine Präsenz erlaubt doch einen ganz neuen Blick auf die familiäre Seite von Sherlock Holmes. Zwar hätte die Geschichte um den Übersetzer Melas, der im elitären Diogenes Club um die Hilfe des Detektivs bittet, die Figur Mycroft nicht zwingend gebraucht – dennoch ist Doyle mit ihr ein brillanter Wurf gelungen, der bis heute seine Wiederkehr in vielen Pastichés feiert. Völlig zurecht, ist doch das Zusammenspiel (und Konkurrenzgehabe) der intellektuell gleichwertigen Brüder immer äußerst amüsant zu verfolgen.

Dennoch, bei aller Qualität der enthaltenen Geschichten – es wäre ein Sammelband ohne große, herausragende Highlights, hätte Doyle nicht eben jenes, bereits oben erwähnte, Aufsehen erregende Ende gefunden. Das Kräftemessen zwischen dem genialen Meisterdetektiv und dem „Napoleon des Verbrechens“, Professor Moriarty, gehört zweifelsohne zu den großen Momenten der Kriminalliteratur-Geschichte und ist ein Grund für die spätere weltweite Berühmtheit des Autors. Natürlich darf man bemängeln, dass dieser große Gegenspieler vorher nie Erwähnung fand und wie unvermittelt er von Doyle eingeführt wird. Doch es ändert nichts an der Tatsache, dass ich auch nach der x-ten Lektüre wieder schlucken muss, wenn sich der traurige Watson am Rande des tosenden Wasserfalls über Holmes‘ letzte Notiz bückt und voller Schmerz über seinen verlorenen Freund resümiert:

Der beste und weiseste Mensch, den ich je gekannt habe.“

Der Sammelband „Die Memoiren des Sherlock Holmes“ – er gehört zu den ganz großen Werken der Kriminalliteratur, versprüht die Magie eines längst vergessenen Zeitalters stets aufs Neue und sei jedem Freund intellektueller Detektivgeschichten unbedingt ans Herz gelegt. In meiner Sammlung hat dieses Buch – in mehrfacher Ausführung – einen ganz besonderen Ehrenplatz.

Wertung: 92 von 100 Treffern

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  • Autor: Sir Arthur Conan Doyle
  • Titel: Die Memoiren des Sherlock Holmes
  • Originaltitel: Memoirs of Sherlock Holmes
  • Übersetzer: Nikolaus Stingl
  • Verlag: Insel
  • Erschienen: 11/2007
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 356 Seiten
  • ISBN: 978-3458350187

Nachtrag: Ich habe mich bei der Verlinkung des Titels bewusst für die ältere Insel-Ausgabe entschieden, da sie – leider gibt es den Haffmans Verlag ja in dieser Form nicht mehr und die Kein & Aber Ausgabe ist ebenfalls vergriffen – vor allem optisch der äußerst lieblosen Fischer-Version vorzuziehen ist. Ansonsten sollte vor allem bei antiquarischen Stücken darauf geachtet werden, dass es sich um die Übersetzungen von Gisbert Haefs, Hans Wolf etc. handelt. Von gekürzten Ausgaben oder gar solchen, wo Holmes und Watson sich duzen, ist abzuraten.

„Elementar, mein lieber Watson.“

© Insel

Wer bereits das ein oder andere Mal diesem Blog einen Besuch abgestattet hat, dem wird vielleicht – neben meiner Faszination für eine gewisse schottische Stadt – auch meine besondere Verbindung zu dem größten Detektiv der Literaturgeschichte aufgefallen sein. Die Rede ist natürlich von Niemand geringerem als Sherlock Holmes. Sein Name ist untrennbar mit meinem erwachenden Interesse für den Krimi verbunden, weshalb die Werke Sir Arthur Conan Doyles wohl Zeit meines Lebens eine Ausnahmestellung einnehmen werden (Mehr dazu auch hier). Neben seinen vier Romanen, so war es hier besonders die Kurzgeschichtensammlung „Die Abenteuer des Sherlock“, welche diese Begeisterung nachhaltig befeuert hat.

Und sie ist es auch, die, nachdem die ersten beiden Romane „Eine Studie in Scharlachrot“ und „Das Zeichen der Vier“ kommerziell eher mäßig erfolgreich waren, Sir Arthur Conan Doyle zum endgültigen Durchbruch verhalf. Von Juli 1891 bis Juni 1892 erschien monatlich jeweils eine kleine Holmes-Erzählung im Strand Magazine, welche den Zeitgeist genau traf, wodurch mit jeder neuen Ausgabe die Auflagen in die Höhe stiegen. Bereits im Oktober desselben Jahres (1892) folgte dann der illustrierte Sammelband mit dem vorliegenden Titel. Diese zwölf Geschichten gelten sowohl bei den „Sherlockisten“ als auch den Literaturkritikern als die mit Abstand besten Werke aus der Feder Doyles, zeigen sie doch noch den wahren, unverfälschten und Kokain spritzenden Meisterdetektiv, der im vernebelten, düsteren London Queen Victorias mit traumwandlerischer Sicherheit kleine Probleme und große Verbrechen gleichermaßen löst. Dieser Esprit, dieses spezielle Flair – in späteren Geschichten glänzt es doch oft durch Abwesenheit, schimmert zwischen den Zeilen immer wieder der Verdacht durch, dass Doyle in erster Linie nur noch des benötigten Geldes wegen und auf Wunsch der Leser hin weiterschrieb.

In „Die Abenteuer des Sherlock Holmes“ zeigt er sich jedoch auf dem Zenit seines Könnens, als der begnadete Unterhaltungs-Schriftsteller, welcher das von Edgar Allan Poe entwickelte Modell der modernen Detektivstory ausgebaut und damit ein bis heute noch gültiges Vorbild für kriminalistische Rätselgeschichten aus der Taufe gehoben hat. Und die Form der Kurzgeschichte scheint bis heute nur folgerichtig, denn Holmes‘ Begabung, aus der Interpretation minimaler Spuren zu verblüffenden Schlussfolgerungen zu gelangen und gleichsam beiläufig Verbrechen aufzuklären, findet in den folgenden zwölf Erzählungen tatsächlich ihre ideale ästhetische Form:

  • Ein Skandal in Böhmen
  • Die Liga der Rotschöpfe
  • Eine Frage der Identität
  • Das Rätsel von Boscombe Valley
  • Die fünf Orangenkerne
  • Der Mann mit der entstellten Lippe
  • Der blaue Karfunkel
  • Das gesprenkelte Band
  • Der Daumen des Ingenieurs
  • Der adlige Junggeselle
  • Die Beryll-Krone
  • Die Blutbuchen

Bei näherer Betrachtung fällt auf: Der Anteil wirklich „kriminalistischer“ Fälle ist verhältnismäßig gering, tritt doch Sherlock Holmes nur als letzte Instanz in der Lösung allgemeiner rätselhafter Angelegenheiten auf (z.B. in „Eine Frage der Identität„). Dennoch reicht die geringe Seitenanzahl aus, um den Leser mit seiner analytischen „Deduktion“ zu beeindrucken, eine von Holmes zu einer wahren Kunst entwickelten Fähigkeit, die es ihm ermöglicht, viele Spuren und Indizien zu einem Gesamtbild zusammenzusetzen, das Sinn ergibt und die wahren Hintergründe einer rätselhaften Geschichte offenbart.

Es ist eine Maxime von mir, dass das, was übrig bleibt, wenn man das Unmögliche ausgeschieden hat, die Wahrheit sein muss, so unwahrscheinlich es auch scheinen mag.

Der Detektiv ist dabei in nicht geringem Maße dem Mediziner Joseph Bell nachempfunden, welcher, von 1874 bis 1901 Dozent an der medizinischen Fakultät der Universität, nicht nur die Rolle des Mentors von Doyle einnahm, sondern rückblickend auch zu den Pionieren der modernen Forensik gehört. Schon in seinen Vorlesungen, die der spätere Autor mit Begeisterung besuchte, betonte Bell die Wichtigkeit von genauen Beobachtungen für eine Diagnose und bediente sich oft eines fremden Zuschauers, um seine Methoden zu verdeutlichen. Ein kurzer Blick genügte ihm meist, um die berufliche Beschäftigung oder vergangene Aktivitäten präzise herzuleiten. Während man sich zuvor vor allem auf die Zeugenaussagen verließ, so erweiterte Bells Herangehensweise die polizeilichen Ermittlungen um ein ganz neue Ebene. Der Beweismittelsicherung am Tatort wurde fortan weit größere Aufmerksamkeit zuteil (und Bell sogar beim Jack the Ripper-Fall hinzugezogen). Eine Neuerung, welche Doyle, ebenso wie Bells Kombinationsgabe, mit Begeisterung für sein Werk aufgriff. „Die Abenteuer des Sherlock Holmes“ ist nicht ohne Grund seinem Mentor gewidmet.

Natürlich – in der heutigen Zeit wird die Wiederbeschaffung einer Weihnachtsgans vermutlich viele nicht mehr groß vom Hocker reißen (Man ist abgestumpft, taub und ein Opfer zunehmender bluttriefender Schmalspur-Literatur). Für damalige Verhältnisse stellten die überraschenden Wendungen aber den Stoff da, den die Leserschaft nur allzu gierig verschlang, weil er dem Verbrechen eine fast spielerische Perspektive verlieh. Was schließlich dazu führte, dass Doyle seine bald verhasste Figur am Ende sogar wiederauferstehen lassen musste, nachdem sie in „Sein letzter Fall“ eigentlich das vermeintliche Ende fand, die aufgebrachte Fangemeinde im Anschluss jedoch zum stürmenden Protest aufrief. Um es also allegorisch zu sagen: In all dem himmelschreienden, betäubenden Lärm sind die Geschichten um den Meisterdetektiv eine leise, aber meisterhafte Melodie, welcher der Leser auch heute noch vortrefflich lauschen kann, sofern man denn gewillt ist sich mit ihr auseinanderzusetzen. Und es sind schließlich auch diese Geschichten, die das Bild des exzentrischen Detektivs prägen, dieses arroganten Dandys und Kopfmenschen, der seine Langeweile allein mit Opium und Kunst bekämpfen kann und in Dr. Watson einen verlässlichen Freund und Helfer an seiner Seite hat, der sich als Chronist seiner Abenteuer betätigt. Letzterer ist es auch, der genau jene Fragen stellt, die dem Leser selbst auf der Zunge liegen, im Angesicht des Rätsels schnell kapituliert und sich schließlich an unserer statt zur Zielscheibe von Holmes Spötterei macht.

Ein Spott, den er weitestgehend schicksalsergeben und mit Fassung erträgt, um stattdessen als Chronist Holmes‘ detektivische Kunststücke festzuhalten, was dieser wiederum in der Regel eher abfällig kommentiert. Unsereins ist natürlich dankbar über diese genauen „Aufzeichnungen“, können wir doch dank ihnen daran teilnehmen, wenn das ungleiche Duo aus der Baker Street 221B ausschwärmt und im weihnachtlichen London auf Gänsejagd geht („Der blaue Karfunkel“) oder einen besonders diabolischen, milchliebenden Mörder in flagranti überrascht („Das gefleckte Band“). Gerade letztere Geschichte gehört übrigens – trotz offenkundigen Mangels an Realismus – zu den stärksten Auftritten von Sherlock Holmes. Die angespannte und gruselige Atmosphäre, welche sich in der überraschenden Auflösung entlädt, sie vermag mich auch nach der x-ten Lektüre noch in den Bann zu ziehen. Und ja, DIE eine Frau, Irene Adler, muss hier ebenfalls erwähnt werden („Ein Skandal in Böhmen“). Neben Moriarty und Sherlocks Bruder Mycroft wohl der einzige Mensch, der dem großen Detektiv in List und Tücke ebenbürtig ist. Dass ich an dieser Stelle auf so hervorragende und schaurig-stimmungsvolle Geschichten wie „Die Blutbuchen“ aus Platzgründen gar nicht mehr näher eingehen kann, verdeutlicht zusätzlich die hohe Qualitätsdichte der vorliegenden Sammlung.

Eine Sammlung, die alle Jahre wieder den Weg aus dem Regal in meine Hände findet und die jedem Freund klassischer Kriminalliteratur nur ans Herz gelegt werden kann.

Wertung: 91 von 100 Treffern

einschuss2
  • Autor: Sir Arthur Conan Doyle
  • Titel: Die Abenteuer des Sherlock Holmes
  • Originaltitel: The Adventures of Sherlock Holmes
  • Übersetzer: Gisbert Haefs
  • Verlag: Insel
  • Erschienen: 11/2007
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 432 Seiten
  • ISBN: 978-3458350170

Nachtrag: Ich habe mich bei der Verlinkung des Titels bewusst für die ältere Insel-Ausgabe entschieden, da sie – leider gibt es den Haffmans Verlag ja in dieser Form nicht mehr und die Kein & Aber Ausgabe ist ebenfalls vergriffen – vor allem optisch der äußerst lieblosen Fischer-Version vorzuziehen ist. Ansonsten sollte vor allem bei antiquarischen Stücken darauf geachtet werden, dass es sich um die Übersetzungen von Gisbert Haefs, Hans Wolf etc. handelt. Von gekürzten Ausgaben oder gar solchen, wo Holmes und Watson sich duzen, ist abzuraten.

John Rebus – Die frühen Jahre

© Goldmann

Es mag für den ein oder anderen vielleicht wenig Sinn ergeben, dass ich Ian Rankins Kurzgeschichtensammlung „Eindeutig Mord“ hier überhaupt eines näheren Blickes würdige, ist sie nicht nur bereits seit längerem vergriffen, sondern inzwischen auch durch ein Buch mit dem schlichten Titel „Rebus“ ersetzt worden, welches, im Januar 2017 auf Deutsch veröffentlicht, sämtliche Stories (aus „Eindeutig Mord“ und „Der Tod ist erst der Anfang“ sowie zehn hierzulande zuvor unveröffentlichte Geschichten) rund um den Detective Inspector aus Edinburgh enthält. Ich tue es dennoch, da ich „Rebus“ bis dato noch nicht mein Eigen nenne – und weil „Eindeutig Mord“ genau die gut portionierte Dosis Rebus darstellt, die ich nach meinem eigenen Trip in die Stadt am Arthur’s Seat gebrauchen und zeitlich dazwischen quetschen konnte (Das sich bei Interesse natürlich der Kauf des lieferbaren Gesamtpakets eher lohnt, steht außer Frage).

Für mich war die kürzlich erfolgte Lektüre von „Eindeutig Mord“ bereits meine zweite und insofern schon lohnenswert, weil ich erstmals die eigenen Bilder dieser so vielschichtigen Stadt mit den Beschreibungen Ian Rankins in Kontrast stellen konnte. Es ist erstaunlich, um wieviel sich dadurch das Leseerlebnis intensiviert hat bzw. die Geschichten nochmal an Atmosphäre gewonnen haben, wenngleich auch Nichtkenner Edinburghs hier (Achtung Wortspiel) nicht zu kurz kommen. Im Gegenteil: Auch auf kurzer Distanz weiß der schottische Krimi-Autor zu überzeugen, lohnt gar besonders für Kenner der Reihe dieser Rückblick, da der bärbeißige Bulle hier gleich mehrfach außerhalb seines üblichen polizeilichen Tätigkeitsfeldes angetroffen wird, was uns wiederum einen näheren und perspektivisch anderen Blick auf den Menschen John Rebus erlaubt. Und zwar den frühen John Rebus, denn diese Kurzgeschichtensammlung, 1992 im Original erschienen, konfrontiert den Leser noch mit dem labilen Ex-Soldat, der weit davon entfernt ist, sein Trauma überwunden zu haben und weiterhin an dem psychischen Zusammenbruch (nachzulesen in „Verborgene Muster“) zu knabbern hat (siehe Kurzgeschichte „Sonntag“). Eine Thematik, welche die Bände ab Mitte der 90er hinter sich gelassen bzw. durch andere Schwerpunkte (z.B. den Konflikt mit Big „Ger“ Cafferty) ersetzt haben.

In folgenden zwölf Erzählungen begleiten wir John Rebus durch sein persönliches Edinburgh:

  • Playback
  • Der Fluch des Hauses Dean
  • Frank und Freitag
  • Eine Leiche im Keller
  • Ansichtssachen
  • Gut gehängt
  • Von Menschen und Meisen
  • Not Provan
  • Sonntag
  • Auld Lang Syne
  • Der Gentlemen’s Club
  • Monströse Trompete

Wer erst später im Verlauf der John-Rebus-Romane eingestiegen und daher in erster Linie an einen komplexen, vielschichtigen Handlungsaufbau über vierhundert Seiten und mehr gewöhnt ist, wird an dieser Stelle vielleicht skeptisch die Augen hochziehen, ob Rankin diese Stärke auch in weit geringerem Umfang „auf die Straße bringt“. Eine Frage, die ich in meinem Fall mit Ja beantworten kann, da der Autor nicht nur das Kaleidoskop der Figur um neue Facetten erweitert, sondern auch dem restlichen Personal (u.a. Detective Constable Brian Holmes) mehr Profil verleiht. Wenngleich allerdings nicht in der ersten Geschichte „Playback“, wo sich der mit der Technik auf Kriegsfuß stehende John Rebus mit der Funktionalität eines Anrufbeantworters herumschlagen muss und im Stile der klassischen Spürnasen aus dem Golden Age nach dem einen entscheidenden Indiz herumschnüffelt. Der Einstand in diese Sammlung ist spürbar sperrig und Rebus-untypisch geraten. Ein wie aus der Zeit gefallenes Krimi-Rätsel, welches in den 30ern – und mit einem anderen Hauptprotagonist – weit besser aufgehoben wäre.

Durchhalten lohnt jedoch, denn schon mit „Der Fluch des Hauses Dean“ (natürlich eine Anspielung Dashiell Hammetts „Der Fluch des Hauses Dain“) findet Ian Rankin zu gewohnter Stärke zurück, da er sich genau auf diese besinnt und – neben der Ermittlung um einen Dieb, der ein Auto stiehlt, in dem sich eine Bombe befindet – seine zweite „Hauptfigur“ Edinburgh, insbesondere ihre dunkle Vergangenheit, in den Vordergrund rückt. So ist der Fall auch weniger detailliert beschriebene Polizeiarbeit, als die liebgewonnene Konfrontation mit dem Milieu und ihren Bewohnern. Gewohnt rotzig und lakonisch, durchsetzt von einem Humor der Earl-Grey-schwarzen Sorte. Ein Highlight dieser Sammlung.

Kurzweilig unterhalten auch die nächsten fünf Kurzgeschichten, geben sie doch einen Vorgeschmack auf Rankins spätere Interpretation des Genres Kriminalromans, die weit über das eigentliche Verbrechen hinausgeht und vielmehr gesellschaftliche Zusammenhänge verbildlichen will bzw. eine ihn immer wieder beschäftigende Frage thematisieren: „Warum tun Menschen anderen Menschen böse Dinge an?“ Um dem näher auf den Grund zu gehen, entzieht er John Rebus auch schon mal dem Fokus, sowie in „Frank und Frei“, in welcher man den Detective Inspector schon fast vergessen glaubt, bis er schließlich seinen kleinen, aber feinen (und denkwürdigen) Auftritt hat. Überhaupt kommt bei einem Schottland-Freund wie mir hier fast durchgängig nur Freude auf, denn wer schon mal selbst in Kontakt mit diesen schrulligen, aber auch unheimlich liebenswerten und zuvorkommenden Menschen gekommen ist, wird in „Eindeutig Mord“ sicher das ein oder andere Déjà-vu-Gefühl durchleben. Rankin fängt diese Eigenartigkeit und Einzigartigkeit mit viel Witz und Selbstironie ein, ohne die Dualität der Stadt, ihre helle und ihre dunkle Seite, außer Acht zu lassen. Für jedes Lächeln wartet an anderer Stelle ein Verbrechen, für eine hell erleuchtete Einkaufsmeile zweigen gleich mehrere enge Gassen (schott. „Closes“) in die Düsternis der Old-Town ab.

Dieser Gegensatz kommt speziell in „Not Provan“ und „Auld Lang Syne“ zum Tragen. Während John Rebus in ersterer Geschichte sogar die Auslegung des Gesetzes bewusst anders interpretiert und den Verbrecher auf äußerst unkonventionelle Art und Weise dingfest macht, sieht er sich in „Auld Lang Syne“ einmal mehr mit dem zu kurzen Arm der Justiz konfrontiert. Inmitten des Trubels rund um Hogmanay, den Silvesterfeierlichkeiten in den Straßen von Edinburgh, wird er auf einen Gewaltverbrecher aufmerksam, den er eigentlich im Gefängnis glaubte. Licht und Schatten, Recht und Unrecht – sie halten sich in dieser Stadt die Waage und auch Rebus kann an diesen Naturgesetzmäßigkeiten wenig ändern, wie er äußerst verbittert in „The Gentleman’s Club“ feststellen muss, als der Schuldige der Gerechtigkeit gar ganz entgeht.

Getragen wird das Ganze natürlich von John Rebus selbst, welcher, nach außen hin standhafter Zyniker, unter der rauen Schale einen weichen Kern verbirgt und als unverbesserlicher Idealist immer wieder den Weg mit dem Kopf durch die Wand sucht, was öfters Erfolg zeitigt, als sein Kollege Brian Holmes sich selbst eingestehen mag. Rebus ist ein Anarchist und ein Getriebener, und doch stets fähig zum Mitleid, wenn es um die Kleinen und sozial Schwachen geht, bei denen er auch mal gewillt ist, ein Auge zuzudrücken. Äußere Einmischung, wie hier durch einen französischen Polizeikollegen, trägt er nur scheinbar mit Fassung und wird am Besten – wie auch Zurechtweisungen durch seinen Vorgesetzten „Farmer“ Watson – mit einem Pint Ale in der Oxford Bar heruntergespült. Um anschließend wieder den Kragen hochzuklappen, die Schultern hochzuziehen und sich in seine Stadt zu stürzen.

Eindeutig Mord“ ist trotz seines Alters eine gelungene Collage krimineller Kurzgeschichten, welche eine ohnehin schon äußerst vielschichtige Figur um zusätzliche Ebenen erweitert, äußerst „schottisch“ unterhält und am Ende vor allem eins macht: Lust auf mehr.

Wertung: 88 von 100 Treffern

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  • Autor: Ian Rankin
  • Titel: Eindeutig Mord
  • Originaltitel: A Good Hanging and Other Stories
  • Übersetzer: Giovanni Bandini, Ditte Bandini
  • Verlag: Goldmann
  • Erschienen: 05.2008
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 318 Seiten
  • ISBN: 978-3442456048

Pulp Fiction, Rediscovered

© Pulp Master

„Totschlag“ prangt in schwarzer Schrift auf dem kleinen, braunen Buch (Beschreibung bezieht sich auf den gebundenen Sondereinband, hier nicht abgebildet), das, vom Hamburger Künstler 4000 dezent illustriert, auf den ersten Blick nicht wirklich Anlass gibt, einen zweiten darauf werfen zu müssen, zumal sich dabei die Einordnung in eine spezifische Literaturgattung auch nicht gerade einfach gestaltet. Und überhaupt – wer ist eigentlich dieser Paul Cain?

Im Anschluss an diese, selbst von vielen Krimikennern nicht zu beantwortenden Frage, wird der interessierte Käufer höchstwahrscheinlich das Werk zur Seite legen, um sich anderen Büchern zuzuwenden oder gar das Antiquariat (der 1994 in der „pulp master“-Reihe des Maas-Verlags erschienene Titel ist bereits seit einiger Zeit vergriffen) zu verlassen. Damit er aber genau dies nicht tut, sehe ich mich geradezu genötigt, eine Besprechung zu schreiben, um nicht nur den Stellenwert von Cains vorliegender Kurzgeschichtensammlung zu betonen, sondern auch gleichzeitig damit einen Autor wieder ins Scheinwerferlicht zu rücken, der gemeinsam mit Größen wie Dashiell Hammett und Raymond Chandler in besonderem Maße für die Entstehung des späteren „Pulp“-Genres verantwortlich zeichnet. Und, um mal die sonstige Zurückhaltung des objektiven Rezensenten über Bord zu werfen, „Totschlag“ als eine der besten Anthologien zu preisen, welche zu Lesen ich das Vergnügen hatte.

Als George Caryl Sims 1902 in Des Moines, Iowa, geboren, war Paul Cains Einfluss auf die Geschichte des Kriminalromans äußerst kurz, aber in Stil und Inhalt nachhaltig und vor allem Weg ebnet und Weg weisend für spätere Vertreter des Genres wie James M. Cain, Mickey Spillane oder Lawrence Block. In einer Zeit als der Lärm des Börsenkrachs die grenzenlose Ausgelassenheit der „Roaring Twenties“ verstummen ließ, auf der Wall Street Spekulanten als letzten Ausweg den Sprung aus dem Fenster nahmen und der Höhepunkt der Prohibition Gangster wie Al Capone zu reichen Männern machte, tauchte Cain in New York auf und lieferte bei Cap Shaw, dem Herausgeber des legendären Pulp-Magazins „Black Mask“, ein paar Stories und einen Roman ab. Sein Timing war mehr als perfekt, denn Hammett und Daly hatten so eben das „Hardboiled“-Genre aus der Taufe gehoben – und Pulps fanden reißenden Absatz. Auf dem Höhepunkt seiner Popularität verkaufte „Black Mask“ mehr als 100.000 Hefte pro Monat.

Wir brauchen Geschichten, in denen Gewalthandlungen direkt und schnörkellos geschildert werden.

So lautet das Konzept von „Black Mask“. Und Cain verstand und lieferte, ohne groß Aufhebens um seine Herkunft zu machen, wenngleich der Ton seiner Geschichten, welche oft von Spielern, Killern, leichten und leichtsinnigen Mädchen handelten und die durchweg kalt und amoralisch geschrieben waren, den Verdacht nahelegten, dass der Autor mit solchen Leuten nicht bloß literarischen Umgang gehabt hatte. „Totschlag“ enthält folgende sieben dieser Geschichten:

  • Taubenblut
  • Eins, zwei, drei
  • Black
  • Rote 71
  • Ausgetrickst
  • Hinrichtung in Blau
  • Bombenstimmung

Wie kaum ein anderer Schriftsteller zuvor begab sich Paul Cain in die schattige Grauzone zwischen Gesetzt und Gangster, ergänzte er die Galerie der schießwütigen Detektive von Hammett und Daly um die Figur des kriminellen Grenzgängers, welcher nicht darauf aus ist, ein bestimmtes Problem zu lösen, sondern vor allem darauf seinen Schnitt, seinen Profit zu machen. Notfalls auch auf Kosten von Menschenleben, wenn es das erfordert, um den eigenen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Zweifelhafte, zwielichtige Helden sind die Helden in „Totschlag“. Kleine Erpresser, die das große Geld wollen. Kleine Banditen, die sich mit mächtigen Gangsterbossen anlegen. Bewohner aus den dunklen Gassen der Städte, der Halb- und Unterwelt. Eine Welt, in der Moral ein Fremdwort und Loyalität eine Hure ist. Ob Black, der in der gleichnamigen Kurzgeschichte zwei Kleinstadtbanden gegeneinander ausspielt oder Doolin („Hinrichtung in Blau“), für den die Gefahr ein Kick ist, für den er sich gerne bezahlen lässt – allesamt können sie als Prototypen des zynischen, amoralischen Einzelgängers verstanden werden, dessen Variation später u.a. auch in Richard Starks Parker seinen Widerhall gefunden hat.

Aber es ist nicht allein die literarische Bedeutung der Motive und Elemente, welche Cain verwendet hat, die „Totschlag“ auch heute noch lesenswert machen – es ist der unverwechselbare, prägende und vor allem zeitlose Stil. Kurz, knapp, kantig, karg. Vollkommen schmucklos sind die Geschichten ausformuliert. Sie erlauben weder einen Blick ins Innere der Figuren, noch scheren sie sich einen Dreck um irgendwelche Details, die die Story am Ende dann sowieso nicht weiterbringen. Hier ist kein Wort zu viel, werden die Punkte wie präzise Fäuste am Ende jedes Satzes versenkt. In keiner Passage hat es den Anschein, als hätte der Autor auch nur im geringsten Zeit verschwendet, um seine Gedanken auf Papier zu bringen. Wie bei einem geübten Mechaniker wurden die Teile methodisch aneinander gesetzt, ein bisschen geölt und verschraubt und letztlich auf dem Band weitergeschickt. Das Ergebnis: Plot, Spannungsbogen, Dialoge – sie alle funktionieren noch genauso tadellos wie am Tag ihrer Entstehung. Es bedarf keinerlei Anstrengung, sich in das Geschehen zu versetzen, noch zerrt uns ein störender geschichtlicher Kontext aus der Handlung. Wie seitdem fast alle Vertreter des „Pulps“ reduziert Cain mit diesen sieben Geschichten eine immer schneller und komplexer gewordene Welt auf ihre Grundkonflikte, macht er das sichtbar, was die Fassade der Zivilisation zu verdecken droht.

Hass, Eifersucht, Gier, Neid, Liebe, Rache, Betrug – es sind diese Ingredienzien, mit denen Cain würzt. Oder wie Chandler in seinem Essay „Die simple Kunst des Mordens“ über Hammett schrieb:

Er „brachte den Mord zu der Sorte von Menschen zurück, die mit wirklichen Gründen morden, nicht nur, um dem Autor eine Leiche zu liefern . . . Er brachte diese Menschen aufs Papier, wie sie waren, und er ließ sie in der Sprache reden und denken, für die ihnen unter solchen Umständen der Schnabel gewachsen war.

Totschlag“ war für mich eine der größten Überraschungen der letzten Jahre und einmal mehr auch ein Beweis für Frank Nowatzkis untrüglichen Riecher in Sachen guter, verschollener oder einfach bisher noch nicht entdeckter Spannungsliteratur. Dickes Lob und Danke für diese Übersetzung, welche mein Interesse am Pulp Master Verlag in einem noch höheren Maße entfacht hat, der im Mai mit der Neuveröffentlichung von „Ansturm auf L. A.“ (bereits bei Ullstein als „Null auf Hundert“ herausgebracht) einen weiteren Titel von Cain nachlegen wird.

Wertung: 92 von 100 Treffern

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  • Autor: Paul Cain
  • Titel: Totschlag
  • OriginaltitelSeven Slayers
  • Übersetzer: Thomas Rach
  • Verlag: Pulp Master
  • Erschienen: 01/1995
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 189 Seiten
  • ISBN: 978-3927734210