Nico Walkers Debütroman „Cherry“ ist wohl kaum die am besten geeignete Lektüre, um nach längerer Kunstpause mal wieder die Niederschrift einer Buchbesprechung in Angriff zu nehmen – und das gleich aus vielerlei Gründen. Zum einen ist da schon die beinahe penetrant omnipräsente Attitüde dieses Werks, das, beginnend mit dem auffälligen und um Aufmerksamkeit buhlenden Cover, die amerikanische Anfälligkeit für einen perfekt inszenierten Hype genauso gezielt nutzt, wie die zum Zeitpunkt der Veröffentlichung einen neuen Höhepunkt erreichende Opioid-Epidemie in den USA. Und zum anderen ist es gerade Walkers Stil – oder sollte ich besser sagen, der Mangel daran – der mir bei der schriftlichen Auseinandersetzung mit diesem Erstling immer wieder auf enervierende Art und Weise die Notebook-Tastatur verklemmt hat.
Es ist tatsächlich schwer, „Cherry“ analytisch gerecht zu werden, ohne sich gleichzeitig auch mit der schon beinahe kitschigen Entstehungsgeschichte dieses Werks zu beschäftigen, dessen Hauptprotagonist natürlich die künstlerische Essenz des echten Nico Walkers ist, der ab 2011 eine langjährige Haftstrafe wegen mehrerer Banküberfälle absaß und 2019 frühzeitig entlassen wurde, um sich um seine schwer erkrankte Mutter kümmern zu können. In dem gleichen Jahr, knapp zwölf Monate nach der Veröffentlichung des im Gefängnis verfassten Romans, erhielt „Cherry“ schließlich landesweite literarische Anerkennung. 2021 folgt nun die filmische Verarbeitung durch die bereits im Marvel-Universum extrem erfolgreichen Russo-Brüder. Die Hauptrolle spielt Spider-Man-Darsteller Tom Holland.
Buch und Film erzählen beide die Geschichte vom Absturz eines jungen Mannes, der, aufgewachsen in den Suburbs von Cleveland, seine Uni frühzeitig abbricht, sich dort aber noch in die junge Emily verliebt, nachdem er von seiner eigentlichen Freundin nach allen Regeln der Kunst verarscht wurde. Dem unkonventionellen Paar mangelt es einem konkreten Ziel und Engagement. Ihr Alltag besteht aus Gelegenheitsjobs, die mehr oder weniger ernst genommen und immer wieder gewechselt werden. Um der grauen Tristesse zu entfliehen, verticken sie nebenbei Drogen, welche sie gelegentlich auch selbst konsumieren – doch die aussichtslose Hoffnungslosigkeit bleibt. Während Emily zurück nach Pennsylvania geht – nicht ohne ihn noch vorher zu heiraten – schreibt er sich bei der Army ein, bringt die triste Grundausbildung irgendwie hinter sich und wird 2003 schließlich als Sanitäter in den Irak geschickt. Schon nach kurzer Zeit im Einsatz wird er Zeuge der schlimmsten Gräuel des Krieges, muss zu Dutzenden sterbende Kameraden letzte Hilfe leisten und sich immer wieder mit der eigenen Sterblichkeit auseinandersetzen. Um es irgendwie zu ertragen nimmt er Schmerzmittel, konsumiert Pornos, schnüffelt Klebstoff und wird nach elf Monaten Dienst schwer traumatisiert zurück in die Heimat geschickt, die den „Kriegsheld“ mit allen Ehren empfängt, um ihn letztlich dann ohne weitere Unterstützung in den Alltag zu entlassen.
Alsbald übernehmen alte Gewohnheiten wieder die Kontrolle, doch um nun die Traumata zu ertragen, reichen leichte Drogen längst nicht mehr aus. Nun muss es mindestens Heroin sein, wofür das Geld bald hinten und vorne nicht mehr langt. Um irgendwie an den Stoff zu gelangen, schreckt er bald auch nicht mehr vor kriminellen Aktionen zurück, bis er irgendwann seinen ersten Bankraub begeht …
Genau hier, also quasi am Ende, beginnt auch die Lektüre von „Cherry“, womit dem Leser das Endprodukt eines selbstzerstörerischen Prozesses präsentiert wird, an dem Mensch und Staat gleichermaßen ihren Anteil tragen und welches exemplarisch für so viele andere kaputte Leben in den Vereinigten Staaten steht, die besonders unter der Ägide Donald Trumps aufgrund des gänzlich außer Kontrolle geratenen Heroin-Handels ab 2017 auch international (unerwünschte) Aufmerksamkeit auf sich zog. Ein äußerst ernstes Thema also, welches uns Nico Walker rückblickend in diesem scheinbar unaufhaltsamen, unabdingbaren Abstieg äußerst schonungslos und vor allem provokativ präsentiert – und dabei ein Bild zeichnet, das mit dem angestrebten „American Dream“ nicht das geringste zu tun hat. Ganz im Gegenteil: Perspektivlos ist wohl das Adjektiv, das die Lebenssituation der Hauptfigur am Besten beschreibt, die in ihrer Existenz – und den Existenzen um ihr herum – einfach keinerlei Sinn sehen kann und will, dieser Leere mittels Droge instinktiv entfliehen will und der für diese kurze Zeit des Eskapismus fast jegliche Mittel recht sind.
Nico Walker deutet dabei an, dass er in einem anderen Umfeld, unter anderen Umständen, auch ein anderer Mensch hätte werden können. Dass da in ihm keine nicht behandelbare Bösartigkeit lauert, sondern er von seiner eigenen Wertigkeit einfach nie auch nur ansatzweise genug überzeugt war, um das Leben mit all seinen Herausforderungen irgendwie in Angriff nehmen zu können. Dabei muss man dem Autor hoch anrechnen, dass er dies in keinster Weise als Entschuldigung für seine Taten missbraucht und er sich allen Verfehlungen klar und deutlich stellt. Mitunter so klar und deutlich, dass man es als Leser nur noch schwer ertragen kann. Und damit kommen wir jetzt auch zum größten Kritikpunkt, den ich an diesem Roman habe, denn so überzeugend, nachvollziehbar und auch nachdrücklich die letztliche Moral, die Sozialkritik von „Cherry“ auch ist – das Vehikel in dem all das transportiert wird, hat eine mehr als holprige Straßenlage und verliert nach einem fulminanten Start auch schnell an Tempo.
Es wird sie sicher geben – die Leser, welche den Roman für seine voyeuristische Authentizität und destruktive Kompromisslosigkeit feiern, der äußerst radikal die Ungerechtigkeiten eines Systems beklagt, in welchem eben nicht alle gleich sind, sondern das Glück einer teure Hure ist, die sich eben nicht jeder leisten kann. Doch was bietet „Cherry“ darüber hinaus? Und hier bin ich am Ende bei der Antwort: Nicht viel. So sehr mich die Ausgangssituation auch gewinnen und – auf eine fast sadistische Art und Weise – begeistern konnte, so wenig macht Nico Walker im weiteren Verlauf daraus. Ein Plot im eigentlichen Sinne oder einen roten Faden lässt sich alsbald in dieser Aneinanderreihung von schockierenden Einzelheiten nicht mehr ausmachen, verliert sich in dem mäandernden Gewirr aus Sex, Gewalt und Drogen, das sich aufgrund der ewigen Wiederholungen vor allem deswegen abnutzt, weil es der Autor sprachlich schlicht nicht entsprechend präsentieren kann, ihm einfach die künstlerischen Mittel fehlen, um dem Ganzen auch Bedeutung zu verleihen. Nichts gegen eine einfache Sprache, aber gerade bei der Gegenüberstellung mit anderen bekannten Autoren, welche die Selbstzerstörung mittels Drogenkonsum thematisieren, macht „Cherry“ keinerlei gute Figur.
Dabei muss man nicht zwingend auf Charkes Bukowski, Nelson Algren, David Foster Wallace, Bret Easton Ellis oder Hunter S. Thompson verweisen, sondern kann auch jüngere Beispiele wie Tony O’Neill heranziehen, welche es allesamt wesentlich besser verstehen, die stilistischen Möglichkeiten auszuschöpfen, um Inhalt und Botschaft in eine Form zu kleiden, welche auch, unabhängig von der Art und Weise, irgendwie ihren Widerhall beim Leser findet. Das genau fehlt „Cherry“. Walkers reine, einfache Wiedergabe lässt letztlich kalt, dupliziert sich in den Beschreibungen zu oft, um nachhaltig Eindruck zu hinterlassen oder nach Beendigung der Lektüre noch weiter große Gedanken an sein Schicksal zu verschwenden.
So bleibt am Ende zwar ein ehrliches, schonungsloses und wohl auch wichtiges, aber in seiner Wirkung auch stumpfes und wenig eindringliches Buch, das meines Erachtens über den Status einer persönlichen Aufarbeitung nicht hinauskommt. Empfehlenswert für mich tatsächlich am ehesten noch aufgrund der im Irakkrieg spielenden Passagen, wenngleich „Cherry“ in diesem Punkt ebenfalls nicht viel Neues bieten kann.
Wertung: 76 von 100 Treffern
- Autor: Nico Walker
- Titel: Cherry
- Originaltitel: Cherry
- Übersetzer: Daniel Müller
- Verlag: Heyne Hardcore
- Erschienen: 04.2019
- Einband: Hardcover
- Seiten: 384 Seiten
- ISBN: 978-3453271975