Die Reise des Rob Jeremy Cole

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Vor wenigen Tagen – genauer gesagt am 22. November 2021 – starb der US-amerikanischer Autor Noah Gordon im respektablen Alter von 95 Jahren. Bekannt geworden war er vor allem durch sein historisches Epos „Der Medicus“ – ein Buch, das sich mir bei der ersten Lektüre im Jugendalter noch aufgrund der eher ausschweifenden, detaillierten Erzählweise etwas in den Weg gestellt bzw. dessen Faszination sich mir nicht wirklich erschlossen hatte. Zu diesem Zeitpunkt war ich noch eher Ken Folletts und Rebecca Gablés Stil gewöhnt. Zwei Kollegen/innen, welche zwar ähnlich komplex ihre Welt aufbauen, aber in ihren Büchern dann doch auch immer auf ein relativ zügiges Vorankommen des Lesers Wert legen.

Gut fünf Jahre später wagte ich dann einen zweiten Anlauf und erinnerte mich an die Worte von Doris Lessing, welche mal in einem (nebenbei bemerkt äußerst lesenswerten) Interview mit dem Diogenes-Verlag behauptet hatte:

Man muss ein Buch zur richtigen Zeit lesen. (…) denn es ist der Schlüssel zum Vergnügen an der Literatur.

Insofern musste der erste Versuch zur falschen Zeit geschehen sein, da ich nun die Lektüre nicht nur auf ganzer Länge genießen konnte, sondern seitdem auch Gordons großes literarisches Verdienst er- und anerkennen kann, das er sich mit diesem Buch zweifelsfrei erschrieben hat. (Die Tatsache, dass mir viele Einzelheiten in den Jahren dazwischen entfallen sind, kam dem Lesespaß natürlich zusätzlich entgegen) Die Geschichte des Buches sei schnell angerissen:

London im Jahre 1021. Der neun Jahre alte Rob Jeremy Cole muss die ganze Härte des Lebens erfahren, als seine Mutter bei der Geburt des jüngsten Bruders stirbt und ihr kurze Zeit später der Vater nach einer schweren Krankheit folgt. Nachdem die Londoner Zimmermannszunft seine Geschwister in verschiedenen anderen Familien untergebracht hat, bleibt nur Rob alleine zurück. Ihm droht schon das Leben eines Unfreien in den gefährlichen Eisenminen, als ihn eines Tages ein Bader unter seine Fittiche nimmt. Gemeinsam ziehen sie quer durch England und Wales, wobei der junge Rob nicht nur die Kunst des Jonglierens trainiert, sondern gleichzeitig auch einfache Griffe in der Medizin und bei der Versorgung der Kranken erlernt. Zu seiner großen Freude macht ihn der Bader dann schließlich sogar zu seinem Lehrling. Es folgen glückliche und vor allem profitable Jahre, da sich Robs Gabe, den Tod bei kranken Menschen zu spüren, als äußerst nützlich erweist. Als der Bader dann jedoch eines Tages ebenfalls eines plötzlichen Todes stirbt, steht Rob am Scheideweg. Sein Wissensdurst bezüglich der Heilung ist noch nicht annähernd gestillt und so beschließt er, sich auf den Weg nach Persien zu machen, um sich in Isfahan als Arzt ausbilden zu lassen.

Rob reist quer durch Zentraleuropa bis nach Konstantinopel, wobei er nicht nur unterschiedlichsten Kulturen und Menschen begegnet, sondern auch innerhalb der Zweckgemeinschaft einer Karawane seine große Liebe findet. Von den mitreisenden Juden erlernt er zudem vorsorglich das Wichtigste ihrer Religion, da ihn das Erreichen der Grenzen des Abendlands nämlich vor ein neues Problem stellt: Christen ist das Studium im Heiligen Land auf Todesstrafe verboten. Fortan gibt sich Rob als Jude aus. Unter dem Namen Jesse ben Benjamin durchquert er die heutige Türkei, um nach vielen Monaten endlich Isfahan zu erreichen und dort festzustellen, dass die Zeit des Lernens erst jetzt wirklich beginnt …

Vorneweg: Wer Tolkiens „Der Herr der Ringe“ bereits nach wenigen Seiten gelangweilt abgebrochen hat, der wird höchstwahrscheinlich auch an Gordons „Medicus“ (zumindest anfangs) kaum Gefallen finden, denn wie beim großen Fantasywerk, so nimmt auch hier das Umherreisen reichlich viel Platz innerhalb der Handlung ein. Und wie Tolkien, so nutzt auch Gordon diesen Platz, um seine Protagonisten näher auszuarbeiten und im weiteren Verlauf die Unterschiede der verschiedenen Kulturen, Religionen und Landschaften ausführlicher zu skizzieren. Das wird bei Freunden geradliniger Bücher vielleicht für nur wenig Begeisterung sorgen. Fakt ist aber: Noah Gordon gelingt damit die Wiederbelebung der schillernden Welt des Mittelalters, welche der Leser Seite um Seite mit einem ähnlich kindlichen Staunen betrachtet wie der junge Rob Jeremy Cole. Bader und Gaukler, marodierende Ritter, reisende Kaufleute, pilgernde Christen, Pest, Hungersnöte und blinder religiöser Fanatismus. Der Autor hat in „Der Medicus“ eine einfach stimmige Mischung auf Papier gebracht, welche zwar nur auf wenigen überlieferten Fakten beruht (Gordon gibt dazu im Nachwort eine aufschlussreiche Erklärung ab) und sich einige Ungenauigkeiten herausnimmt (z.B. Steinburgen gab es in der Zeit vor William, dem Eroberer noch nicht; es existierte kein Gildensystem; England war unter dänischer Herrschaft – entsprechend passt der Name Cole nicht), dafür jedoch die persönliche Geschichte von Jeremy Cole schlichtweg passend in die damalige Zeit einbettet.

Und dieser ist ohne Frage das Zugpferd der gesamten Geschichte. An seinem Schicksal nimmt man, nicht zuletzt wegen seiner nahbaren, menschlichen Art, ziemlich früh Anteil. Man betrauert familiäre Verluste und berufliche Rückschläge, fiebert beim Werdegang des Waisenjungen mit. Stets in der Hoffnung, er möge eines Tages sein Ziel erreichen und als ausgebildeter Medicus nach England zurückkehren. Bis dahin ist es für Cole und den Leser ein weiter, aber lohnenswerter Weg, an dessen Rand man immer wieder Neues entdecken kann. Für Zartbesaitete könnte dieser Weg allerdings mitunter beschwerlich sein, schildert doch Gordon medizinische Eingriffe und Operationen nicht selten bis in kleinste, blutige Detail (Die blumige Ausdrucksweise dürfte für die ganz konservativen unter den Iny-Lorentz-Lesern vielleicht nur schwer zu verkraften sein).

Auch die lange Feindschaft zwischen den Christen und den Juden wird intensiv beleuchtet, wobei hier Gordon (selbst Jude) ein großes Lob für die äußerst moralfreie Betrachtung dieser Thematik auszusprechen ist. Dass die differenzierte Darstellung der kulturellen Gegensätze trotzdem bis zum heutigen Tag noch aktuell ist, ist weniger Gordon, als vielmehr der gesamten Menschheit anzulasten, auf welche folgender Ausspruch wohl immer noch am besten passt: „Aus der Geschichte lernen wir, dass wir nichts aus der Geschichte lernen.

Nach mehr als 700 Seiten schließt das Buch dann mit einem unerwarteten und unkonventionellem Ende, das allerdings gerade auch deswegen so befriedigend ist und dazu nochmals den Eindruck verstärkt, mit Gordons „Medicus“ ein ganz besonderes Buch gelesen zu haben.

Der Medicus“ ist ein farbenprächtiges und lebendiges Historien-Epos, das Unterhaltung und Tiefgang sehr bemerkenswert in Einklang bringt und dabei sogar die eigene Wissbegierde weckt. Ein Klassiker des Genres, der auch nach fast einem Vierteljahrhundert immer noch seinen Platz in den Regalen der Buchhandlungen sicher hat und durch zwei weitere Bände zu einer Trilogie komplettiert wurde.

Wertung: 91 von 100 Trefferneinschuss2

  • Autor: Noah Gordon
  • Titel: Der Medicus
  • Originaltitel: The Physician
  • Übersetzer: Ulrike Wasel, Klaus Timmermann
  • Verlag: Heyne
  • Erschienen: 04.2011
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 864
  • ISBN: 978-3453471092

Fedoras im Fernen Osten

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Auch Tom Bradby reiht sich in die Gruppe der Autoren ein, welche ich im Mitte der 2000er Jahre noch lebendigen Forum der Krimi-Couch für mich entdecken durfte und seitdem nicht mehr von meinem persönlichen Radarschirm verschwunden sind, was insbesondere an dessen herausragenden Roman „Der Gott der Dunkelheit“ liegt (zu diesem Werk werde ich mich in der kriminellen Gasse nochmal detaillierter äußern), der im Sub-Genre des Agentenromans den Vergleich mit den ganz großen Namen nicht scheuen muss.

Zwei Jahre zuvor erschien im Original bereits „Der Herr des Regens“, mit dem Bradby nicht nur ebenfalls sein Faible für exotische Schauplätze vor einem historischen Kontext untermauert, sondern bereits andeutet, welch talentiertes Händchen er dafür besitzt, Geschichte vor den Augen des Lesers lebendig zu machen und damit die Grenzen zwischen dem Jetzt und dem Früher aufzuweichen. Ohne vorab zu viel verraten zu wollen, würde ich gar behaupten, dass es genau diese Fähigkeit ist, die den Autor nochmal aus der Masse heraushebt und letztlich seinen Werken auch jene ganz besondere Atmosphäre verleiht, an der sich viele andere Kollegen, trotz detailliertester Beschreibungen, regelmäßig verheben. Gleichzeitig sorgt dieses vor uns ausgebreitete, äußerst stimmungsvolle literarische Buffet dafür, dass wir nicht so genau auf die Simplizität des Rezepts achten, würde doch ein genauerer Blick genügen, um zu erkennen, dass sich Bradby hier nicht nur einiger Klischees bedient, sonder auch die Handlung das Rad ganz sicher nie neu erfindet. Diese sei hier kurz vorgestellt:

Shanghai im Jahre 1926. Die Stadt ist ein Schmelztiegel der verschiedensten Nationen. Chinesen, Engländer, Amerikaner, Russen und Franzosen leben eng an eng, in einzelne so genannte „Settlements“ unterteilt und arbeiten in einigen Behörden, wie der Polizei und dem Geheimdienst, sogar zusammen. Richard Field – ein junger Grünschnabel von der Polizeiakademie aus Yorkshire, der vor seiner eigenen Vergangenheit in den Fernen Osten geflüchtet ist, um neu anzufangen – wird bereits nach wenigen Tagen im Dienst mit einem äußerst heiklen Mordfall konfrontiert. Eine russische Prostituierte wurde brutal gefoltert und anschließend getötet. Alle Indizien weisen daraufhin, dass der Gangsterboss „Lu Huang“, Oberhaupt der mächtigen „Grünen Triade“, dabei seine Finger mit ihm Spiel hat. Von Eifer und Idealismus beseelt stürzt sich Field in die Ermittlungen, nur um schon bald zu erfahren, dass es in der fremdartigen und pulsierenden Metropole vor allem eine Regel gibt: Traue niemanden.

Hartnäckig treibt er dennoch seine Nachforschungen voran und gerät dabei immer tiefer in ein verstricktes Netz der Korruption und kriminellen Machenschaften, welche auch vor dem Geheimdienst selbst nicht halt macht. Vom Verrat und Widerstand in den eigenen Reihen desillusioniert, scheint die wunderschöne Natascha, eine weitere russische Prostituierte und Freundin der Ermordeten, das einzige Beständige. Doch kann er ihr vertrauen? Oder spielt auch sie ein falsches Spiel?

(…) „in keiner Stadt einen je einen solchen Eindruck von einem dichten Morast üppig verflochtenen Lebens wie hier“ (…)

Aldous Huxley über Shanghai

Weitestgehend unbeobachtet und ohne größere Aufmerksamkeit zu erzeugen, erschien zuletzt 2019 mit „Secret Service“ ein Titel von Tom Bradby auf dem deutschen Buchmarkt (den ich, zu meiner Schande, bisher auch selbst noch nicht gelesen habe), womit sich dann auch irgendwie ein Trend fortsetzt, denn der britische Autor hat es bis zum heutigen Tag nicht geschafft, sich hierzulande einen größeren Namen zu machen. Während ein Richard Harris mit ähnlicher Produktivität seit „Vaterland“ in Deutschland ein gewisses Lesepublikum fast sicher sein Eigen nennen kann, musste man schon für „Der Gott der Dunkelheit“ in der Vergangenheit kräftig die Trommel rühren. Insofern stellt diese Besprechung auch meinen zweiten Versuch da, Tom Bradby einer etwas größeren Leserschaft – oder zumindest meiner eigenen Blog-Klientel bekannt und auch schmackhaft zu machen. Dass dabei die Wahl zuerst auf „Der Herr des Regens“ fiel (und eben nicht auf das noch weit gelungenere „Der Gott der Dunkelheit“), ist auch ein wenig Clementine Skorpils (bereits von mir rezensierten) Roman „Gefallene Blüten“ geschuldet, der im gleichen Jahr vor gleicher Kulisse angesiedelt ist, aber sich auf einen anderen Aspekt der Geschichte Shanghais konzentriert – und damit mit Bradbys Buch ein kongeniales Duo bildet.

Denn Fakt ist: Einmal mehr gelingt es Tom Bradby beinahe traumwandlerisch sicher, aus einem historischen Schauplatz eine lebendige Bühne zu kreieren, welche, ein Jahr nachdem die britischen Truppen einen Studentenprotest niedergeschlagen haben, zunehmend den beginnenden Einfluss des Kommunismus zu spüren beginnt und die ohnehin aufgeheizte Stimmung in dem kosmopolitischen, äußerst dynamischen Moloch aus verschiedensten Kulturen zum Überkochen bringt. Wohlgemerkt noch weitestgehend unbemerkt von den Europäern, für die, insbesondere bei den Briten, Shanghai immer noch als Stadt der unbegrenzten Möglichkeiten gilt, in welcher der mutige Abenteuer nicht nur zu Reichtum kommen, sondern auch alle anderen niederen Gelüste hemmungslos befriedigen kann. In ausgerechnet diesem Morast der Versuchungen wagt der Hauptprotagonist Richard Field seinen Neuanfang. Und muss dabei schnell erkennen, dass Recht und Gerechtigkeit nicht immer dasselbe sind und auch nicht allen Polizeikräften daran gelegen ist, die Wahrheit ans Tageslicht zu fördern.

Der Herr des Regens“ ist nicht nur thematisch, sondern auch von der Tonalität her ein klassischer „Noir“ und Gangsterroman, dessen Zutaten allesamt höchsten Wiedererkennungswert bieten. Männer mit Fedoras. Langläufige Thompsons mit Trommelmagazin. Schwarze Limousinen mit verdunkelten Scheiben. Stinkende, regennasse Gassen. Verruchte und verrauchte Nachtclubs. Bradby konstruiert einen Sündenpfuhl aus Hass, Verrat und Gewalt, der beim Lesers nicht ohne Wirkung bleibt und sogar darüber hinwegtäuschen kann, dass der eigentliche Spannungsbogen sich nicht in allerhöchste Höhen schwingt, so düster, ja, und damit auch nachhaltig bedrückend das Setting. Der Plot, er lebt von dieser desillusionierten, beinahe nihilistischen Atmosphäre, dieser immer präsenten Gefahr, die wie ein Damoklesschwert bedrohlich über allen Beteiligten hängt. Nein, sonderlich innovativ ist das alles nicht (das Ende riecht arg nach Hollywood), aber wer Filme wie „Chinatown“ und „Die Unbestechlichen“ mag oder mit Ellroy schon das historische L.A. unsicher gemacht hat, der wird wohl auch hier voll auf seine Kosten kommen.

Tom Bradbys „Der Herr des Regens“ ist ein schillernder, wendungsreicher und für einen „Noir“ überraschend politischer Roman, der allen Fans klassischer Gangstergeschichten ans Herz gelegt sei, die jedoch aufgrund der mitunter ausschweifenden Erzählweise etwas Geduld und Einfühlungsvermögen mitbringen sollten.

Wertung: 86 von 100 Treffern

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  • Autor: Tom Bradby
  • Titel: Der Herr des Regens
  • Originaltitel: The Master of Rain
  • Übersetzer: Ina Kleinod
  • Verlag: Heyne
  • Erschienen: 12/2005
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 576 Seiten
  • ISBN: 978-3453470224

Into the Great Wide Open

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„Unendlichkeit“ ist nicht nur der Auftakt zum „Revelation-Space“-Zyklus, sondern gleichzeitig auch das Erstlingswerk des Walisers Alastair Reynolds, welcher lange Zeit als Physiker für die ESA (European Space Agency) gearbeitet hat und damit in Punkto Technik bereits durchaus das qualifizierte Rüstzeug für einen erfolgreichen Sci-Fi-Schriftsteller mitbringt. Leider kann er davon im ersten Band seines im weiteren Verlauf sich stetig steigernden Epos noch nicht viel Gebrauch machen, zumal der beinahe 800 Seiten umfassende Roman trotz beeindruckender Kulisse, vielfältigster Ideen und interessanter Figuren jeglichen Funken von Lebendigkeit bzw. Atmosphäre vermissen lässt.

Gerade den „reichlichen Charakter“, welchen Rezensent Frank A. Dudley von der Phantastik-Couch so begeistert lobt, habe ich hier schmerzlich vermisst, ist doch das Gesamtkonstrukt von Reynolds Universum eigentlich äußerst stimmig konzipiert. Allein die Beschränkung der Menschheit auf Reisen unterhalb der Lichtgeschwindigkeit ist ein gelungener Kniff, der aus der in vielen Elementen futuristischen Sci-Fi-Opera eine gleichzeitig auch konsequente Weiterentwicklung des derzeitigen Stands der Wissenschaft macht. Die Handlung von „Unendlichkeit“ kann, im Gegensatz zu den folgenden Bänden des Zyklus, von solchen Einfällen leider (noch) nicht profitieren.

Aufgeteilt ist sie zu Beginn in drei, später zwei parallel laufende Handlungsstränge, welche jedoch in verschiedenen zeitlichen Ebenen spielen. Ihren Anfang nimmt die Geschichte auf dem Planeten Resurgam, welcher im äußersten Winkel der von Menschen kartographierten Galaxis liegt und vor etwa einer Million Jahren Heimat des Volkes der Amarantin war. Von ihnen und ihrer Kultur sind nur noch tief im Boden verschüttete Ruinen übrig geblieben. Eine mysteriöse planetare Katastrophe hat sie vollständig ausgerottet – und Dan Sylveste, egozentrischer Wissenschaftler und Archäologe, arbeitet versessen daran, die näheren Hintergründe der Vernichtung in Erfahrung zu bringen, zumal er befürchtet, dass der Menschheit, welche trotz ihrer weiten Ausbreitung bisher nicht auf nennenswerte Alienvölker gestoßen ist, in nicht allzu ferner Zukunft dasselbe Schicksal drohen könnte.

Zehn Jahre zuvor begleiten wir das Lichtschiff „Sehnsucht nach Unendlichkeit“, das sich, gestartet im Epsilon Eridani System, der Heimat Silvestes, auf der langen Reise nach Resurgam befindet. Mit an Bord ist auch die professionelle Killerin Ana Khouri, welche im Auftrag der geheimnisvollen Mademoiselle, einen Weg finden sollen, den bekannten Archäologen zu eliminieren. Keine leichte Aufgabe, ist doch das Schiff mittlerweile fest im Griff der Schmelzseuche und wird von einem rätselhaften Virus namens „Sonnendieb“ immer wieder sabotiert …

Wenn ich ehrlich bin, ist dieser kurze Anriss des Inhalts doch sehr geschönt, braucht es doch viele hundert Seiten bis überhaupt absehbar wird, dass die einzelnen Handlungsstränge ineinanderlaufen bzw. näher miteinander zu tun haben. Alastair Reynolds springt schneller zwischen Perspektiven, Zeiten und Schauplätzen als Hamilton Rennen fährt, weshalb es besonders im ersten Drittel des Romans höchste Aufmerksamkeit bedarf, um zumindest ein wenig den Überblick zu behalten. Mehr als einmal stand ich kurz davor, diesen dicken Schinken in die Ecke zu knallen, wurde dann aber stets wieder schwach, da es dem Autor, trotz des komplexen Handlungskonstrukts, schließlich doch gelingt für gewisse Spannungsmomente zu sorgen und durch rätselhafte Ereignisse den Detektiv im Leser zu wecken. Mit fast schon unverschämter Dreistigkeit hält er uns immer wieder den leckeren Knochen hin, um ihn kurz vor Erreichen unter der Nase wegzuziehen. Bestes Beispiel sind die eindrucksvollen Beschreibungen der „Schleierweber“, deren im Dunkeln lauernde Gefahr man sich (wie auch die „Schmelzseuche“) viel detaillierter ausgearbeitet wünscht. Reynolds belässt es aber bei einer kurzen Geschmacksprobe und konzentriert sich stattdessen auf das konfliktreiche Katz-und-Maus-Spiel der Figuren.

So wird der Leser durchgehend an der langen Leine gehalten, was von der Besetzung des Romans noch verstärkt wird, die – und daran krankt „Unendlichkeit“ besonders – ziemlich blass daher kommt. Ob Ana Khouri, Volyova oder Sylveste selbst – inmitten der durchaus beeindruckenden Kulissen (hier ist vor allem das düstere, schaurige Ultra-Raumschiff „Sehnsucht nach Unendlichkeit“ hervorzuheben) wirken sie allesamt wie ungewollte Staffage, derart lieblos sind sie gezeichnet. Eine größere Verbindung zwischen Leser und Figuren will so nicht aufkommen. Der Mangel an sympathischen Charaktere ist Reynolds dabei weniger vorzuwerfen, als die emotionale Gleichgültigkeit mit der sie handeln.

Kalt, rücksichtslos, verschlagen – alles schön und gut. Aber was geht in den Köpfen eigentlich vor? Was sind die Motive? Und warum fühlen wir nicht mit ihnen? Womit Reynolds in „Chasm City“ (mehr dazu bald hier) zu begeistern weiß, das gelingt hier noch nicht oder zumindest nicht lang genug, um an irgendeinem der Schicksale Anteil zu nehmen. Torpediert wird das Ganze noch durch ein vorangestelltes Personenregister, das unnötigerweise bereits vor dem ersten Satz der Geschichte Auskunft darüber gibt, was mit wem wo und wann passiert bzw. wer was und wie im Schilde führt. Daher vorweg an alle künftigen Leser: Unbedingt ignorieren, um sich nicht vorab die ohnehin rar gesäten Aha-Momente zu nehmen.

So kritisch die Rezension nun klingen mag, ein Flop ist „Unendlichkeit“ beileibe nicht. Allein die detaillierten physikalischen Beschreibungen Reynolds sowie der umfangreiche Aufbau beeindrucken, machen einfach Appetit auf dieses Universum, das augenscheinlich noch so viele Überraschungen bereithält, welche in den kommenden Bänden dann tatsächlich auch auf den Leser warten. Um diese in vollen Zügen genießen zu können, sollte man „Unendlichkeit“ allerdings unbedingt gelesen haben, da hier der Boden für zukünftige Ereignisse bereitet wird. Dieser „Erst die Arbeit, dann das Vergnügen“-Charakter des Buches wird natürlich nicht bei allen Sci-Fi-Freunden auf Begeisterung stoßen.

Letztlich bleibt nur zu sagen: Der Kampf durch dieses manchmal arg staubige und zähe Machwerk lohnt. „Unendlichkeit“ präsentiert sich als verheißungsvolle Spitze eines weit größeren Eisbergs, an dem Freunde der dystopisch-dreckigen Science-Fiction sicherlich ihren Spaß haben werden. Wer hier jedoch nicht bis zum Ende durchhält, hat trotzdem mein vollstes Verständnis.

Wertung: 74 von 100 Treffern

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  • Autor: Alastair Reynolds
  • Titel: Unendlichkeit
  • OriginaltitelRevelation Space
  • Übersetzer: Irene Holicki
  • Verlag: Heyne
  • Erschienen: 05/2006
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 768 Seiten
  • ISBN: 978-3453521865

The Boring Bourne

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Sechs lange Jahre hat es gedauert, bis der US-amerikanische Schriftsteller Robert Ludlum, der unter anderem auch als Schauspieler und Produzent tätig war, eine Fortsetzung zu „Die Bourne-Identität“ folgen ließ – dem hierzulande heute wohl bekanntesten Roman des Autors. Das ist eine nicht unerhebliche Zeitspanne zwischen Band eins und Band zwei einer Trilogie, die entweder zu Beginn nicht als solche geplant oder absichtlich für länger auf Eis gelegt worden war. Was auch immer der Grund für die Pause ist (in der Ludlum mit „Das Parsifal-Mosaik“ und „Die Aquitaine-Verschwörung“ allerdings zwei Bücher außerhalb der Reihe veröffentlichte) – man merkt dem Nachfolger eine gewisse kreative Auszeit an.

Wie schon im Vorgänger, so hat auch an „Das Bourne-Imperium“ der Zahn der Zeit genagt, ist der Titel in vielerlei Elementen veraltet bzw. hat er eine Überarbeitung nötig. Während ersteres vor allem auf den politischen (und damals aktuellen) Kontext der Story zurückzuführen ist, zielt letztere Kritik in erster Linie auf den Übersetzer, der hier schlichtweg schlechte Arbeit abgeliefert hat (hatte Heinz Zwack hier evtl zu wenig Zeit bekommen?) . Selten, wirklich sehr selten, habe ich eine solch miserable Übertragung ins Deutsche gelesen, welche ich, mit zusätzlicher Kenntnis des Originals, wohl noch schärfer kritisieren müsste. Dass ich das gleich zu Beginn der Rezension tue, hat einen triftigen Grund: Es hat ganz den Anschein, dass es zu großen Teilen auch diese Übersetzung ist, die den Lesespaß des mit über 800 Seiten nicht gerade kurzen Romans bereits im Ansatz killt, dessen Story durchaus ähnlich komplex daherkommt, wie die in „Die Bourne-Identität“.

Seit den Ereignissen rund um Treadstone 71 ist mittlerweile ein ganzes Jahr vergangen. Jason Bourne, der seinen ursprünglichen Namen David Webb angenommen hat und auch wieder seiner alten Arbeit als Professor nachgeht, lebt gemeinsam mit seiner Frau Marie St. Jacques unter Schutz der Regierung in Maine. Große Teile seines Erinnerungsvermögens hat er, auch dank der Hilfe des Psychiaters Mo Panov, inzwischen wiedergewonnen. Und auch die ehemals stetig auftretenden Alpträume sind weniger geworden. Jason Bourne scheint endgültig Geschichte zu sein. Doch die Idylle ist trügerisch, denn in Fernost braut sich eine Krise zusammen, die das neu gefundene Glück schon recht bald stören soll:

Der Vizepräsident der Volksrepublik China wurde in einem Nachtlokal ermordet – und alle Spuren der brutalen Tat deuten nur auf einen Mann: Jason Bourne. Als kurz darauf auch noch seine Frau entführt wird, muss David Webb erneut zu dem Mann werden, den er hasst. Entschlossen reist Jason Bourne, Delta von Medusa, nach Hongkong – um seinen Doppelgänger zu stoppen und die große Liebe seines Lebens zu retten. Er kann noch nicht ahnen, dass weit mehr auf dem Spiel steht. Sollte seine Mission scheitern, droht der ganze Pazifikraum zum Kriegsschauplatz zu werden. Ein hoher Einsatz für ein Spiel, in dem Bournes Leben allen Seiten nicht viel wert zu sein scheint …

Hongkong, Kuomintang, Kowloon, New Territories. Wer nicht gerade Fernost-Experte ist oder regelmäßig Urlaub im Reich der Mitte macht, wird besonders zu Beginn mit einer Flut von Begriffen und Ortsbezeichnen bombardiert, die den Blick ins Lexikon unabdingbar machen. Hinzu kommt, dass der heutige Leser hier ein Hongkong wiederfindet, welches noch Teil der britischen Empire und damit ein Dorn im Auge des kommunistischen Chinas ist. Ludlum greift die von tiefem Misstrauen geprägte Außenpolitik der beiden Länder auf, in der natürlich auch die USA kräftig mitmischt, welche ihrerseits alles daran setzt, bis zur Rückgabe der Kronkolonie im Jahre 1997 (der Roman spielt gut 10 Jahre davor), soviel Einfluss wie möglich zu behalten. Wie auch bei seinem Kollegen Tom Clancy, so legte auch Ludlum größtmöglichen Wert auf den aktuellen Bezug, was seinerseits wohl unter anderem auch die hervorragenden Verkaufszahlen erklärte (jeder Roman Ludlums landete auf Platz 1 der New-Yorks-Times Bestsellerliste), heutzutage aber wiederum gerade dem Zugang zur Geschichte etwas im Weg steht. Die geopolitische Lage ist inzwischen eine gänzlich andere, wenngleich sich das Vorgehen der Geheimdienste, insbesondere des US-amerikanischen, seitdem wenig geändert hat.

In der Beschreibung dieser Institutionen wird übrigens auch der große Unterschied deutlich: Während bei Clancy dem Helden oft die geballte Macht der amerikanischen Militär-Struktur zur Verfügung steht, geht Ludlum das Thema von einer ganz anderen Perspektive aus an. Bei ihm kämpft stets der Einzelne gegen scheinbar übermächtig und ihren Ausmaßen kaum zu fassende Organisationen, wobei der US-amerikanische Held erfreulich wenig unreflektierten Patriotismus zeigt, sondern stattdessen gerade die Institutionen hinterfragt, welche Clancy dem Leser mit Glanz und Gloria kredenzt. Diese Systemkritik, welche bereits im Vorgänger zum Tragen kam und die Identifikation mit dem Einzelgänger Bourne befeuert, reicht diesmal jedoch nicht aus, da Ludlum gerade in der Figurenzeichnung einfach zu viel Potenzial verschenkt.

Aus dem von Instinkt getriebenen Killer ist hier eine unkontrollierbare Ein-Mann-Kampfmaschine am Rande des Wahnsinns geworden, deren geistigen Zustand man zwar nachvollziehen, mitunter aber schwer ertragen kann. Insbesondere die gewaltsame Trennung von seiner Frau Marie wird von Ludlum derart zuckersüß emotional behandelt, dass man sich als Leser nur mit äußerster Mühe ein Augenrollen verkneifen kann. Überhaupt ist Marie St. Jacques, deren Figur ich schon im Vorgänger für gänzlich überflüssig erachtete, hier endgültig zu meinem persönlichen Roten Tuch geworden.

Mein Liebster“, „Geliebter“, „Liebe meines Lebens“. Seufzend, klagend und jammernd stolpert sie durch Hongkongs Straßen, auf der Suche nach dem „armen David“, der zum selben Zeitpunkt gerade im Begriff ist, die gesamte Wachmannschaft an Maos Grab ins Jenseits zu befördern. Das ist Kitschfaktor Hoch Zwölf, der den eigentlich tiefernsten Ton der Geschichte völlig grundlos unterwandert und nicht selten ungewollt parodiert. Das gilt auch für die ellenlangen Dialoge, welche immer wieder den Status Quo wiederholen – und das in Situationen unter Beschuss oder auf der Flucht, in der „Fresse halten“ wohl wesentlich eher angesagt gewesen wäre. Die Krone setzt dem das Finale auf, in dem Bourne seinem Gegner, der mit einer Waffe bereits auf ihn zielt, erst einen fünfsätzigen Monolog entgegen schreit, um dann im grellen Suchscheinwerferlicht eines Helikopters zum Angriff anzusetzen.

Gerade dieser Showdown ist es ironischerweise aber auch, der letztlich „Das Bourne-Imperium“ vor einer ganz schlechten Bewertung rettet. Auf den letzten 150 Seiten zieht Ludlum endlich die Schrauben enger, vollführt der Plot die Art von Spannungsbogen, die man zuvor schmerzlich vermisst hat. Endlich wird gehandelt, kommt es zu der Konfrontation, die einem zuvor fast 700 Seiten wohlriechend unter die Nase gehalten und doch dann immer wieder von dort weggezogen wurde. Ludlum hat da einfach zu wenig aus den Möglichkeiten gemacht, welche die Geschichte durchaus geboten hätte, womit auch (zumindest mir) der Anreiz fehlt, den Abschluss der von ihm verfassten Trilogie ebenfalls in Angriff zu nehmen.

Das Bourne-Imperium“ ist (leider auch wegen der extrem ungenießbaren Übersetzung) ein in Präsentation und Handlungsrahmen veralteter Agenten-Thriller mit einem zu geringen Spannungsfaktor, um über die gesamte Länge zu unterhalten. Zu viel gesprochenes Wort, zu wenig eigentliche Handlung. Schade, von mir kann es hier leider keine uneingeschränkte Empfehlung geben.

Wertung: 78  von 100 Treffern

einschuss2
  • Autor: Robert Ludlum
  • Titel: Das Bourne-Imperium
  • Originaltitel: The Bourne Supremacy
  • Übersetzer: Heinz Zwack
  • Verlag: Heyne
  • Erschienen: 08.2016
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 848 Seiten
  • ISBN: 978-3453438590

Schatten der Vergangenheit

© Heyne

Es hatte nach der Lektüre einige Tage gedauert, bis ich diese Rezension zu Robert Ludlums Auftakt der Bourne-Reihe in Angriff nehmen konnte – nicht zuletzt deshalb, weil die Lektüre, welche sich doch so gänzlich von der Verfilmung mit Matt Damon und Franka Potente in den Hauptrollen unterscheidet, auch noch nach der Beendigung auf den Leser einwirkt und aufgrund der vielen offenen Fragen Raum für Spekulationen lässt.

Die Bourne-Identität“, 1980 erschienen und hierzulande erst unter dem Titel „Der Borowski-Betrug“ veröffentlicht, bietet für Kenner des Films erfrischend viel Neues und nimmt, vom Beginn einmal abgesehen, einen Verlauf, der sich in erster Linie an der Ära des Kalten Krieges und der für die USA so schwerwiegenden Niederlage in Vietnam orientiert. Eine Ausgangslage, die gerade für jüngere Leser der Smartphone-Generation das ein oder andere Hindernis darstellen dürfte, sind doch nicht nur die hier dargestellten Möglichkeiten der Kommunikation äußerst gewöhnungsbedürftig. Während andere Agentenromane des Genres dies mit typischen „Klassiker“-Charme wettmachen können, hat Ludlums Werk doch hier und da eindeutig etwas Staub angesetzt. Es bedarf einer gewissen Geduld, um unter der grauen Patina das geniale Konstrukt der Handlung zu entdecken, welches für damalige Verhältnisse sicherlich einzigartig war. Diese sei hier kurz angerissen:

Im Mittelmeer ziehen Fischer einen schwer verletzten Mann aus den stürmischen Fluten. Sein Körper ist mit Schusswunden übersät, eine schwere, tief gehende Kopfverletzung scheint irreparablen Schaden hinterlassen zu haben. Dennoch bringen die Seeleute ihn zu einem britischen Arzt, in dessen Obhut der namenlose Patient nach langer Zeit wieder zu Bewusstsein gelangt. Doch wer ist der Mann? Von wo kommt er? Und wer ist für seinen Zustand verantwortlich? Nur langsam dringen Erinnerungsfetzen durch die Amnesie, kehren Teile des Gedächtnisses zurück. Aber erst ein Implantat in seiner Hüfte gibt ihm den entscheidenden Hinweis – ein Bankschließfach in Zürich, das unter dem Namen Jason Bourne läuft.

Nach sechs Monaten der Regeneration macht er sich auf den Weg in die Schweiz, nur um relativ schnell feststellen zu müssen, dass auch dort gewisse Männer immer noch seinen Tod wollen. Bourne beweist nun ungeahntes Geschick und beeindruckende Fähigkeiten – sowohl im Kampf wie beim listenreichen Katz-und-Maus-Spiel. Mit Hilfe der jungen Marie St. Jacques, die er als eine Art Lebensversicherung zur Geisel nimmt, tritt er die Flucht nach vorne an. Stets getrieben von Furcht, Instinkt und dem festen Willen, die Wahrheit über seine Identität in Erfahrung zu bringen, jagt er jedem noch so kleinem Indiz hinterher. Doch die Suche nach der eigenen Vergangenheit wird auch zum Wettkampf mit dem Tod, denn Carlos, ein international agierender Auftragskiller, ist ebenso hinter ihm her wie Teile des US-amerikanischen Geheimdienstes.

Cain ist für Charlie. Delta ist für Cain.“ Als Bourne den Sinn des Satzes begreift, der ihm immer wieder durch den Kopf geht, erkennt er schließlich wer und was er ist …

Auch wenn Jason Bourne bereits im TV-Mehrteiler „Agent ohne Namen“ Ende der 80er sein Filmdebüt feierte – richtig bekannt geworden ist die Geschichte um den unter Gedächtnisverlust leidenden Mann mit den vielen Eigenschaften erst durch Doug Limans cineastische Umsetzung aus dem Jahr 2002. Ein Erfolg, den sein Erfinder Robert Ludlum, der bereits im März des vorherigen Jahres an einem Herzinfarkt starb, nicht mehr miterleben durfte. Drei Kino-Fortsetzungen und weitere von Ghostwritern geschriebene Bücher künden von der immer noch großen Beliebtheit der Figur Jason Bourne, welche uns zwar wie James Bond in die Welt der Spionage führt, dem Leser aber einen schmutzigeren und weit weniger glamourösen Einblick in die Tätigkeiten und das Gegeneinander von Geheimdiensten, Agenten, Killern und Terroristen gewährt. Realismus heißt das Schlagwort der Bourne-Serie – und dem hat sich letztlich auch die Handlung unterzuordnen. Technische Gadgets, wunderschöne Frauen, nigelnagelneue Autos, auf hochglanzpolierte Stützpunkte größenwahnsinniger Bösewichte – all dies sucht man im Bourne-Universum vergebens. Stattdessen finden wir uns in dreckigen Gassen, dunklen Spelunken oder auf alten Bauernhöfen wieder, Spiegelbilder der Figuren, welche sie bevölkern. Und diese sind ebenfalls weitaus komplexer und düsterer angelegt, als man es sonst vom Genre des Polit- und-Agententhrillers gewohnt ist.

Obwohl ebenfalls Amerikaner, fehlt der US-typische Pathos hier fast gänzlich. Robert Ludlum lässt von Beginn an keinen Zweifel daran, dass Jason Bourne mit dem üblichen, moralisch erhabenen Helden, nichts gemein hat. Sein Handeln hat wenig gemeinnützige Züge, sondern ist vielmehr vom Instinkt geleitet, gleich einem Tier, das zum Jäger werden muss, um nicht selbst erlegt zu werden. Dies beeinflusst letztlich auch den Bezug des Lesers zum Hauptcharakter, dem man nicht wirklich mögen kann, da er uns dazu eigentlich kaum Anlass gibt. Auf der anderen Seite fasziniert die Amnesie der Figur, die aufgrund ihrer unbekannten Vergangenheit auch für uns Beobachter über lange Zeit unvorhersehbar bleibt. Plötzliche Wendungen und Erkenntnisse überraschen Leser und Hauptfigur gleichermaßen, lassen nur nach und nach ein größeres Bild in den vielen Puzzleteilen entdecken. Und selbst dies bleibt unscharf.

Die Faszination Jason Bourne, sein Reiz, liegt letztlich in der Einsamkeit der Figur. Er kann weder auf die geballte Macht eines Britischen Secret Service zurückgreifen, noch teilt er den Wissensstand seiner Gegner, die ihm, in der Person des Killers Carlos und dessen weltumspannenden Organisation, immer einen Schritt voraus sind – trotzdem gelingt es ihm nach und nach, den Spieß umzudrehen, mit kleinen, gezielten Hieben, seine Verfolger aus der Deckung zu locken. Immer wieder meistert er brenzlige Situationen, muss er Entscheidungen treffen, in Unkenntnis davon, ob ihn diese auf den richtigen oder falschen Weg führen. Doch gibt es diese Wahl für Bourne überhaupt? Ludlum lässt die wahren Wesenszüge nur sporadisch durchblitzen, zeigt uns einen gespaltenen Protagonisten, der sich und uns die Frage stellt, ob man durch das Wiedererlangen der verlorenen Vergangenheit auch wirklich ein anderer Mensch werden oder dem Schicksal am Ende doch nicht entrinnen kann.

Die Art und Weise, wie Ludlum Bourne um Facetten bereichert und Erfahrungen ergänzt, in immer wieder mögliche Richtungen wendet und dreht – das liest sich unheimlich spannend und packend, bildet gar das Fundament des ansonsten eher flachen Spannungsbogens, den der Autor mit Actionsequenzen garniert, die kurz aber dafür umso drastischer geraten sind. Sprachlich reißt Ludlum zwar keine stilistischen Bäume aus. Seine atmosphärische Schreibe passt aber zum doch sehr intensiven und gefühlsbetonten Plot, der mitunter schwierig zu durchschauen ist. Besonders am Anfang ist Aufmerksamkeit gefragt, um die vielen verschachtelten Zusammenhänge überblicken zu können. Wenige gute Arbeit leistet Ludlum in Punkto Dialoge. Vor allem die Konversationen zwischen Jason und Marie schaben haarscharf am Kitsch vorbei und beißen sich mit der ansonsten äußerst naturalistisch gestalteten Handlung. Überhaupt erachte ich die Figur Marie St. Jacques (zumindest für diesen ersten Band der Reihe) als vollkommen überflüssig. Da hat mir Franka Potentes Interpretation der Marie im Film weit besser gefallen.

Die Bourne-Identität“ ist eine gelungene Mischung aus Agenten-Thriller und „Hardboiled“-Action, die dank der unvorhersehbaren Geschichte und der schwer einzuordnenden Hauptfigur immer wieder aufs Neue in den Bann zu ziehen weiß. Ein kühles, schroffes, aber äußerst komplexes Werk, das allen Freunden anspruchsvollerer Spannungsliteratur nur ans Herz gelegt werden kann. Ich freue mich bereits auf die Fortsetzung „Das Bourne-Imperium“. Schließlich sind noch einige Rechnungen zu begleichen…

Wertung: 88  von 100 Treffern

einschuss2
  • Autor: Robert Ludlum
  • Titel: Die Bourne-Identität
  • Originaltitel: The Bourne Identity
  • Übersetzer: Heinz Zwack
  • Verlag: Heyne
  • Erschienen: 08.2016
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 656 Seiten
  • ISBN: 978-3453438583

Hey, hier kommt Alex!

© Heyne

„In einer Welt, in der man nur noch lebt,
Damit man täglich roboten geht,
Ist die größte Aufregung, die es noch gibt,
Das allabendliche Fernsehbild.

Jeder Mensch lebt wie ein Uhrwerk,
Wie ein Computer programmiert.
Es gibt keinen, der sich dagegen wehrt,
Nur ein paar Jugendliche sind frustriert.

Wenn am Himmel die Sonne untergeht,
Beginnt für die Droogs der Tag.
In kleinen Banden sammeln sie sich,
Gehn gemeinsam auf die Jagd.

Hey, hier kommt Alex!
Vorhang auf für seine Horrorschau.
Hey, hier kommt Alex!
Vorhang auf für ein kleines bisschen Horrorschau.“

Wer hat sie nicht schon lauthals mitgebrüllt, diese Strophen aus dem ersten großen Song der Toten Hosen von 1988? „Hier kommt Alex“ war, nicht zuletzt aufgrund des damals scharf diskutierten Texts, der Durchbruch für die Düsseldorfer Band. Bis dato nur in Insiderkreisen bekannt, wurden sie nun auch außerhalb der Punkszene als anspruchsvolle Rockmusiker wahrgenommen. Doch viele (mir ist selbst erst vor knapp 10 Jahren der Zusammenhang aufgegangen) wissen nicht um die Ursprünge dieses Lieds, dessen Titel sich direkt auf einen bestimmten Alex bezieht.

Gemeint ist Alex Delarge, der Protagonist des düsteren Zukunftsroman-Klassikers „Clockwork Orange“, den Autor Anthony Burgess 1962 veröffentlichte und welcher bis heute, nicht nur unter Punks, absoluten Kultstatus genießt. Wer also wissen will, warum der Song mit Beethovens 9. Sinfonie beginnt, was mit „roboten“ und „Horrorschau“ gemeint ist und wer diese „Droogs“ sind, von denen Campino singt, sollte mal einen näheren Blick auf dieses Werk werfen. – Und auch diejenigen, die mit den Hosen so gar nichts anfangen können, sei zur Lektüre geraten, ist doch die Problematik der grundlos randalierenden, Gewalt ausübenden Jugend heute leider genauso aktuell wie vor fünfzig Jahren.

Im Mittelpunkt der Geschichte steht wie erwähnt der 15-jährige Alex Delarge, der mit seiner Bande, den „Droogs“, des Nachts ziellos durch die Gassen London zieht. Eine Stadt, welche in dem totalitär regierten Land längst nicht mehr sicher ist und vor allem bei Dunkelheit zum Spielplatz der Jugendlichen wird. So stehlen, foltern, vergewaltigen und töten die „Droogs“, immer auf der Suche nach dem noch größeren Kick, noch mehr Spaß. Alex sieht sich dabei als Anführer. Er gibt den Ton an, erstickt jede mögliche Rebellion seiner „Freunde“ im Keim. Als sie eines Tages bei einer alten Dame einbrechen, wendet sich jedoch das Blatt. Alex wird von den „Droogs“ an die Polizei verraten. Und weil die Frau ihren schweren Verletzungen erliegt, wandert er, den die Justiz schon lange im Auge hatte, für 14 Jahre ins Gefängnis.

An seinem Verhalten ändert dies jedoch nichts. Im Gegenteil: Der Gewalt im Knast begegnet er mit noch größerer Brutalität und gerät damit ins Visier des Direktors. Dieser bietet ihm vorzeitige Haftentlassung an, wenn er als Testobjekt am neuen Resozialisierungsprogramm, der Ludovico-Technik, teilnimmt. Alex willigt ein. In den folgenden zwei Wochen wird ihm tagtäglich ein Serum verabreicht, unter dessen Einfluss er stundenlang schlimmste Gewaltdarstellungen auf einer Kinoleinwand betrachten muss. Mit jedem weiteren Film, jeder weiteren Minute, wird Alex‘ Persönlichkeit umprogrammiert, bis er schließlich wie ein Uhrwerk funktioniert und schon beim geringsten Gedanken an Gewalt von grausamen Schmerzen und Übelkeit übermannt wird. Wieder auf freiem Fuß, ist er nun ein friedliebender Bürger – doch zu welchem Preis?

Alex ist unfähig sich zu wehren. Und seine Opfer, wie auch die „alten Freunde“, warten bereits auf ihn…

Vorneweg: Um Burgess‘ „Clockwork Orange“ erfassen (von „genießen“ will ich in diesem Fall lieber nicht sprechen) zu können, braucht es zu Beginn vor allem eins: Geduld. Der im Stil eines Berichts und in „Nadsat“, ein auf Basis der russischen Sprache konstruierter Jugendslang, vorgetragene Roman, macht den Einstieg alles andere als leicht. Stil und Wortwahl sind vom Fleck weg scharf, kantig, unverdaulich. Nur dank des Glossars am Ende des Buches, in dem man die Bedeutung der einzelnen Begriffe nachschlagen kann, kommt man überhaupt über die ersten Seiten. Hat man die jedoch schließlich im wahrsten Sinne des Wortes überstanden, stellt sich recht bald ein Leserhythmus ein. Und mehr noch: Burgess‘ Gebrauch des Nadsat verfremdet nicht nur nur die beschriebenen Gewaltdarstellungen – er verleiht dem Erzählten zugleich dieses Quäntchen mehr Authentizität, welches es uns ermöglicht, die Welt von „Clockwork Orange“ besser zu begreifen. In gewissem Sinne ist hier also eher die Sprache als letztlich der Inhalt Informationsträger, weshalb sich wohl der Autor auch eine längere Einleitung gespart hat.

Neben der anfänglichen Geduld verlangt Burgess dem Leser zudem ein gewisses dickes Fell ab, da Alex und seine „Droogs“ Gewalt nicht einfach nur ausüben, sondern diese mit voller Freude und Euphorie zelebrieren. Brutal und grausam werden Frauen vergewaltigt, Wehrlose bis zur Bewusstlosigkeit und darüber hinaus geprügelt. Je mehr Angst das Opfer hat, je mehr Schmerzen es leidet, um so mehr ergötzen sich die Täter an ihrem Spiel. Zartbesaitete werden hier bereits recht früh ausgesiebt und das Buch wohl an die Seite legen. Doch Burgess‘ detaillierte Schilderungen des Zerstörungsrausches sind mehr als nur ein zweckfreies Stilmittel. Besonders im Hinblick auf die zweite Hälfte des Romans gewinnen die von Alex‘ verübten Gewalttaten eine tiefere Bedeutung.

Zentrale Frage ist nämlich schließlich, was schlechter ist: Den Menschen zum Gutsein zu konditionieren oder ihm die Freiheit lassen, selbst zu entscheiden, ob er gut oder böse sein will. Wie weit sollte und darf ein Staat überhaupt gehen, um die asozialen, nicht zu integrierenden Elemente in der Gesellschaft so weit medizinisch zu behandeln, damit sie keine Bedrohung mehr darstellen? Und wenn die Würde des Menschen unantastbar ist – gilt dies nicht auch für den Täter? Im Anschluss an Alex‘ „Heilung“ muss sich der Leser diesen Fragen unausweichlich stellen. Und es ist der Genialität des Autors zu verdanken, dass es ihm gelingt, trotz Alex‘ vorangegangener Taten, Mitleid für diesen zu erwecken. Plötzlich begreift man, nicht zuletzt auch durch die Handlungen der Eltern, dass er auch schon vor dem medizinischen Eingriff ebenfalls in gewisser Art und Weise ein Opfer war. Ihm nun seine Entscheidungsfähigkeit zu nehmen, sogar die Freude an der Musik, stellt somit letztlich genauso ein Verbrechen dar. Nur halt diesmal verübt vom Staat.

Burgess geizt in seinem Roman aber sowieso mit moralischen Leitlinien. Alle Figuren (vielleicht mit Ausnahme des frommen Geistlichen im Gefängnis) bilden hassenswerte Charakterzüge aus. Niemand handelt wirklich selbstlos. Ein jeder hat Hintergedanken oder Ängste, die ihn schließlich gegen seine eigenen moralischen Grundsätze handeln lassen. Keiner dabei, der wirklich die Sympathien des Lesers genießt. Das wiederum macht eine Verurteilung einzelner Figuren schwer. Auch weil die von Burgess geschilderte Welt der heutigen erschreckend ähnlich ist. Ein Blick in die Fußballstadien oder gewisse Bezirke deutscher Großstädte ermöglicht den Blick auf viele Menschen wie Alex. Und sowohl der Lösung, als auch noch viel wichtiger der Ursache des Problems, ist man auch nach einem halben Jahrhundert nicht wirklich näher gekommen.

Bei all der drastischen Gewalt, den brutalen Schilderungen, der erbarmungslosen Härte – „Clockwork Orange“ ist, besonders gegen Ende hin, ein Roman, welcher zur Reflexion anregt, nachdenklich stimmt. Ein in seinen Mitteln vielleicht ungewöhnlicher und sperriger, aber in der Wirkung äußerst treffsicherer Klassiker, dessen Vision in großen Teilen bereits ernüchternde Wirklichkeit ist.

Nachtrag: „Clockwork Orange“ wird inzwischen von Klett Cotta in neuer Übersetzung verlegt.

Wertung: 85 von 100 Treffern

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  • Autor: Anthony Burgess
  • Titel: Clockwork Orange
  • Originaltitel: A Clockwork Orange
  • Übersetzer: Wolfgang Krege
  • Verlag: Heyne
  • Erschienen: 11/1997
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 224 Seiten
  • ISBN: 978-3453130791

The truth is for those who seek it

© Heyne

„Als würden Caleb Carr und Frederick Forsyth aufeinandertreffen.“

So das Zitat von Lee Child, welches dick und fett auf der Rückseite der deutschen Ausgabe von Christopher Hydes „Die Weisheit des Todes“ aus dem Heyne Verlag prangt, um damit – branchenüblich – den bis dato hierzulande eher unbekannten kanadischen Autor einem größeren Publikum schmackhaft zu machen. Doch kann der Roman diesem Vergleich tatsächlich standhalten oder verbirgt sich auch hier hinter, wie so oft, nur der Versuch, ein lahmes literarisches Pferd zumindest zum humpeln zu bringen?

Bereit seit Jahren auf meinem überbordenden SUB dümpelnd, habe ich mir Hydes Werk nun endlich mal zu Gemüte geführt, um genau dieser Frage auf den Grund zu gehen, nur um abschließend mit Begeisterung feststellen zu dürfen – selten haben sich Reklame und Inhalt derart treffend gedeckt, wie bei „Die Weisheit des Todes“. Einem Buch, das sicherlich rückblickend zu meinen größten positiven Überraschungen der letzten Jahre gehören wird.

Da leider auch dieser Titel bereits seit Jahren nicht mehr lieferbar und aufgrund des geringeren Bekanntheitsgrad des Schriftstellers in Deutschland auch in naher Zukunft kaum mit einer Neuauflage zu rechnen ist, wird sich vielleicht manch einer fragen, welchen Sinn aktuell eine ausführliche Besprechung überhaupt macht. Wer allerdings schon länger zu den Besuchern dieses Blogs zählt, der weiß, dass Aktualität für mich kein Qualitätskriterium darstellt und es sich zudem in der Vergangenheit immer mal wieder ausgezahlt hat (Stichwort z.B. James Lee Burke), auch ältere Perlen aus dem Bereich der Kriminalliteratur ins Scheinwerferlicht etwaiger Leser, oder noch wichtiger, möglicher Verlagshäuser zu ziehen. Hyde hätte es mit Sicherheit verdient, denn wie er seine fiktive Handlung mit den realen Geschehnissen rund um das Attentat an John F. Kennedy verwebt – das kann sich wahrlich sehen und vor allem lesen lassen.

Besagte Handlung setzt zwei Tage vor dem Besuch des Präsidenten John F. Kennedy in Dallas an. Wir schreiben den 20. November 1963. Während die ganze texanische Stadt im Ausnahmezustand ist und insbesondere die Polizeikräfte fast gänzlich mit den Vorbereitungen der Sicherheitsmaßnahmen vorbereitet sind – Kennedys Auftritt in Chicago war zuvor bereits aufgrund von Gerüchten über ein mögliches Attentat abgesagt worden – hat Detective Sergeant Horatio „Ray“ Duval vom Dallas Police Department ganz andere Probleme: Zum einen ist da eine grausam verstümmelte männliche Leiche, welche in einem alten Kühlschrank auf der örtlichen Müllhalde gefunden wurde und der man offensichtlich post mortem Arme und Beine hat, nur um sie danach wieder mit Draht am Körper zu befestigen. Zum anderen ist da sein persönlicher Gesundheitszustand. Duval wurde erst kürzlich eine kongestive Herzkrankheit diagnostiziert, welche heute zwar therapierbar ist, Mitte der 60er Jahre aber nicht heilbar war und letztendlich das Todesurteil bedeutete. Er weiß nicht, wie lange er noch zu leben hat. Und zu allem Überfluss steht jetzt in der kommenden Woche auch der Fitnesscheck an. So oder so – Duval bleibt also nicht mehr viel Zeit.

Das Opfer, ein homosexueller (zum damaligen Zeitpunkt war diese sexuelle Ausrichtung noch strafbar) Antiquitätenhändler und Antiquar, der offensichtlich sein Geld vor allem durch illegale Transaktionen und Betrügereien verdiente, hatte nicht nur eine unübersichtliche Liste von Liebhabern, sondern in der Vergangenheit auch schon den ein oder anderen Geschäftspartner über den Tisch gezogen. Könnte es sich also um eine Tat aus Rache handeln? Duvals erste Ermittlungen führen alle in eine Sackgasse. Und überhaupt deuten die Umstände der Tat eher auf einen Ritualmord hin. Als er bei einem Besuch zuhause von seinem Vater erfährt, dass es in den 30er Jahren nahezu identische Fälle im Norden Texas gegeben hat, ist seine Neugier geweckt. Bei den Opfern hier handelte es sich jedoch fast durchgehend um zehn bis zwölfjährige Mädchen. Die meisten von ihnen waren schwarz.

Duval, der inzwischen ziemlich sicher ist, es mit einem Serienmörder zu tun zu haben, macht es nun zu seiner letzten Aufgabe, ihm das Handwerk zu legen. Eine beinahe aussichtslose Mission, sind doch alle vorhandenen Spuren inzwischen seit Jahren kalt. Zudem kann er nicht mit Unterstützung durch seine Behörde rechnen, denn auch im Texas der 60er Jahre interessiert sich niemand wirklich für das Schicksal von ein paar getöteten schwarzen Mädchen. Ganz im Gegenteil: Ein Großteil der Kollegen trägt in der Freizeit immer noch stolz die weiße Kapuze. Während drei Schüsse am Dealey Plaza John F. Kennedys Leben auslöschen und um ihn herum eine ganze Stadt in Aufruhr gerät, treibt Duval unerbittlich seine Nachforschungen voran. Ein Wettlauf mit dem Tod beginnt, im wahrsten Sinne des Wortes …

Ich bin ganz ehrlich: Ohne die Empfehlung meines ehemaligen Krimi-Couch-Kollegen Jürgen Priester wäre wohl dieser Titel schon aus mehreren Gründen nicht in meinem Regal gelandet. Neben dem absolut gruseligen Cover, das wohl eher Freunde von Tom Clancy ansprechen dürfte, sind es eben genau die obige Kurzbeschreibung wie auch der Prolog des Buches, welche vor allem eine Sache erwarten lassen – mehr vom ewig blutigen Gleichen. Ein brutaler Psychopath von Serienmörder, der seine Opfer ritualisiert anordnet und nur als „das Monster“ bezeichnet wird – das klingt nicht wirklich nach höchster, literarischer Krimi-Kunst oder einem Werk, das in irgendeiner Art und Weise das Genre bereichern könnte. Nach der Lektüre von „Die Weisheit des Todes“ bleiben mir jedoch nur zwei Dinge zu sagen: So kann man sich irren. Und gut, dass ich Jürgens Empfehlung gefolgt bin. Christopher Hyde, der seit Jahren unter vielen verschiedenen Namen seine Bücher unter das vor allem US-amerikanische Volk bringt, ist mit diesem lupenreinen Thriller ein Riesenwurf gelungen, der mir nebenbei bemerkt auch gleich aus einer Vielzahl von Gründen noch lange im Gedächtnis bleiben wird.

Zuallererst ist da das Setting zu nennen: Hyde gelingt es hervorragend die Stimmung des Dallas der 60er Jahre einzufangen, seinen Blick über die Stadt schweifen zu lassen, welche, vor allem von der Öl- und Baumwollindustrie geprägt, zu diesem Zeitpunkt auch das drittgrößte Technologiezentrum der Vereinigten Staaten war. Die Bevölkerung hatte sich zwischen den 50er und 60er Jahre mehr als verdoppelt – und mit dem Geld kam naturgemäß vermehrt auch Korruption und die organisierte Kriminalität in die Metropole. In „Die Weisheit des Todes“ vor allem zusammengeführt durch die historische Figur Jack Ruby, Sohn polnisch-jüdischer Einwanderer und Nachtclub- und Stripteaselokalbesitzer, der stets enge Verbindungen zu lokalen Mobstern pflegte und als Mörder des Kennedy-Attentäters Lee Harvey Oswald in die Geschichte gegangen ist.

Er spielt nicht nur eine wesentliche Rolle bei Duvals Ermittlungen, sondern ist auch ein Beispiel fürs Hydes Geschick, das reale Dallas mit der fiktiven Handlung zu verbinden, welche immer wieder die geschichtlichen Ereignisse kreuzt (daher der passende Forsyth-Vergleich) und den Cop u.a. Zeuge werden lässt, wenn man John F. Kennedy, zu diesem Zeitpunkt bereits tot, unter dem Schutz des Secret Service und gemeinsam mit einer völlig verstörten Jackie Kennedy ins Parkland Memorial Hospital einliefert. Nur eine von vielen Szenen, die nachhaltig Eindruck hinterlässt und in seiner plastischen Schilderung beileibe nichts für Zartbesaitete ist.

Hyde sucht diese Schockeffekte aber nicht, sondern macht immer wieder deutlich, dass wir uns im Raum dessen bewegen, was laut Zeugenaussagen von den damaligen Geschehnissen überliefert ist. Allein diese Erkenntnis reicht, um die Wirkung seiner Worte auf uns, den Leser, nochmal zu verstärken. Selbiges gilt übrigens auch für die Mordserie selbst, welche es tatsächlich ebenfalls gegeben hat und die bis heute unaufgeklärt ist. Hier nimmt sich der Autor die künstlerische Freiheit für einen anderen Ausgang, doch bis wir dorthin gelangen, ist es vielleicht für manchen ein langer Weg, denn polizeiliche Untersuchungen müssen in dieser Ära noch ohne den modernen CSI-Schnickschnack auskommen.

So nimmt Hyde sich viel Zeit, um Ray Duval und sein Umfeld zu zeichnen. Zeit, die aber gut investiert ist, denn mir ist schon lange nicht mehr ein so authentischer Ermittler in einem Spannungsroman begegnet. Auch weil es zur Abwechslung mal einen nachvollziehbaren Grund für die zynische Menschenfeindlichkeit des Protagonisten gibt, der sich inmitten seiner rassistischen Kollegen und aufgrund seines unvermeidlichen Schicksals einfach irgendwann einen Scheißdreck dafür interessiert, was andere von ihm denken. Er hat schlicht nichts mehr zu verlieren. Und es ist auch dieser zunehmende Fatalismus, gepaart mit einen zunehmenden inneren Frieden, der ab der Hälfte das Spannungsmoment befeuert – und, soviel sei verraten, in einem klaustrophobischen, düsteren Finale mündet, das sich in seiner gewaltsamen Konsequenz nicht hinter Caleb Carrs „Die Einkreisung“ verstecken muss.

Mit „Die Weisheit des Todes“ hat Christopher Hyde einen nachtschwarzen Hardboiled-Thriller abgeliefert, der dem durchgekauten, faden Serienkiller-Thema endlich wieder ein paar neue Impulse verleiht und nebenbei noch eines der wichtigsten Ereignisse in der US-amerikanischen Geschichte behandelt, ohne sich in simplen Voyeurismus zu verlieren oder dadurch die eigentliche Handlung zu überladen. Ein sprachlich, inhaltlich und auch im Spannungsaufbau hoch zu lobendes Werk, nach dem sich eine antiquarische Suche mal so wirklich lohnt.

Wertung: 92 von 100 Treffern

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  • Autor: Christopher Hyde
  • Titel: Die Weisheit des Todes
  • Originaltitel: Wisdom of the Bones
  • Übersetzer: Helmut Gerstberger
  • Verlag: Heyne
  • Erschienen: 06/2009
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 448 Seiten
  • ISBN: 978-3453431010

Der Morgen, an dem es über mich kam …

© Heyne

Nach dem für ihn vollkommen unerwarteten Erfolg durch seine Bücher „Carrie“ und „Brennen muss Salem“, den er insbesondere seiner Frau Tabitha zu verdanken hatte (siehe Rezension zu „Carrie“), sah sich Stephen King schon recht bald als Horror-Autor abgestempelt. Eine Kategorisierung, welche er zwar später mit Ehre tragen sollte, ihm zum damaligen Zeitpunkt allerdings die Möglichkeit verwehrte, auch seine bis dato unveröffentlichten Frühwerke an den Verlag – und damit an den Leser zu bringen.

Zu diesen Titeln gehörte auch „Amok“ (das anfangs noch „Getting it on“ heißen sollte), an dem King bereits seit Mitte der 60er Jahre arbeitete, woher sich auch die vielen inhaltlichen Parallelen zur 1968 verfassten Kurzgeschichte „Kains Aufbegehren“ (später erschienen in der Kurzgeschichtensammlung „Blut“) erklären dürften. Fest entschlossen sich selbst und den Kritikern zu beweisen, auch abseits des schlichten Grusels literarisch Fuß fassen zu können, entschied sich der Autor kurzerhand, „Amok“ unter einem Pseudonym auf den Markt zu bringen. Richard Bachman war geboren.

Und damit gleich eine ganze fiktive Biographie. Bachman wurde im Jahre 1942 in New York geboren, diente angeblich vier Jahre bei der Küstenwache bis er anschließend bei der Handelsmarine anheuerte und in den Vietnam-Krieg zog, um nach seinem Ausscheiden aus der Armee schließlich in New Hamsphire eine Milchfarm zu betreiben. Abends, nach der harten getanen Arbeit, hatte Bachman dann stets zum Stift gegriffen und mit dem Schreiben begonnen. Hier – so Kings Fantasie, der über Jahre viele unwissende Leser glauben schenkten – sollte nun auch „Amok“ schließlich das Licht der Welt erblicken. Ein Roman, der zwar kein klassischer „Horror“ sein will, aber letztlich bei der Lektüre eben doch für diesen sorgt und wohl zum unbequemsten und verstörendsten gehört, was der Meister des feinen Grusels in seiner Karriere auf uns losgelassen hat – nur um es später wieder einzufangen, doch dazu mehr im Verlauf der Rezension. Erstmal kurz zur Handlung:

Ein schöner Morgen im Mai in einer Kleinstadt in Maine. Der 17-jährige Schüler Charles Decker, welcher am Tag zuvor seinen Chemie- und Physiklehrer John Carlson beinahe mit einem Schraubenschlüssel erschlagen hatte, wird während des Unterrichts ausgerufen und zum Direktor der Schule zitiert. Thomas Denver hat es bereits mit einigen Querulanten zu tun gehabt, verliert aber recht schnell die Kontrolle über das Gespräch, welches letztlich eskaliert und dazu führt, dass Decker nach Greenmantle versetzt wird. Dieser gibt sich äußerlich unbeeindruckt, nur um dann schreiend das Büro zu verlassen – eine versuchte Vergewaltigung seitens des Rektors vortäuschend, was aber bei niemandem, der den Jungen näher kennt, Eindruck macht. Daraufhin begibt sich Decker zu seinem Spind, wo er erst all seine Schulbücher zerfetzt, die mitgebrachte Waffe seines Vaters entnimmt und schließlich alles in Brand steckt.

Als er wieder an der Tür zum Raum 16, seinem Klassenzimmer, ankommt, zieht er seelenruhig die Pistole aus seinem Gürtel und schießt seiner Algebra-Lehrerin Mrs Jean Underwood direkt in den Kopf. Während seine Klassenkameraden und -kameradinnen fassungslos die Szene beobachten, geht aufgrund des aus dem Spind quellenden Rauchs der Feueralarm los. Ein weiterer Lehrer, Mr. Vance, betritt den Raum, um nach dem Rechten zu sehen. Zwei Schüsse später liegt auch er, tödlich getroffen, am Boden. Nun beginnt für alle im Klassenzimmer eine mehrstündige Geiselnahme, in der sich Charles Decker nicht nur zum Richter über Leben und Tod aufschwingt, sondern mit jedem Einzelnen seine psychologischen Spielchen treibt.

Während sich außerhalb der Schule neben der Polizei und der Feuerwehr auch immer mehr Angehörige und Schaulustige versammeln, brechen sich in der Klasse zwischen den Schülern und Schülerinnen inzwischen alte Konflikte Bahn. Allein Ted Jones erweist sich lange Zeit als Fels in der Brandung und angewidert von Deckers Taten, der jedoch zunehmend das Gefühl der Macht genießt und in dem sturen Mitschüler einen Stolperstein sieht, den es aus dem Weg zu räumen gilt …

Wer sich nun schon auf halbem Weg bereits auf die Suche nach diesem Titel von Richard Bachman/Stephen King aufgemacht hat, wird zu seiner Verblüffung feststellen, dass dieser bereits seit längerem vergriffen ist. Und die Chancen auf eine Neuveröffentlichung sind auch verschwindend gering, denn der Autor höchstpersönlich ließ ihn im Jahr 2000 vom Buchmarkt nehmen. Eine Zeit, in der die Gewalt mit Schusswaffen an US-amerikanischen Schulen einen traurigen Höchststand erreichte und im Zuge der medialen Berichterstattung gleich mehrere der Attentäter mit diesem Roman in Verbindung gebracht werden konnten. Unter ihnen war auch Michael Carneal, welcher am 1. Dezember 1997 drei Mitschüler erschossen und wohl eine Taschenbuchausgabe in seinem Spind aufbewahrt hatte. Ein weiterer, Barry Loukaitis, Mörder von zwei Mitschülern und seiner Algebra-Lehrerin (!), soll angeblich sogar aus dem Roman zitiert haben. All diese Attentate, mit dem schrecklichen Höhepunkt in Littleton, greift King auch in seinem Essay „Guns“ (bisher unübersetzt) auf, in dem er nochmal ausführlich erklärt, warum „Amok“ nicht mehr aufgelegt werden soll.

Bleibt nun die Frage: Lohnt sich denn die antiquarische Suche? Hier tendiere ich eher zu einem „Nein“, denn so interessant es ist, sich mit den stilistischen Mitteln dieses Frühwerks von Stephen King zu beschäftigen, so abstoßend fand ich doch letztlich diese Lektüre. Und das lag tatsächlich nicht allein an dem kaltblütig geschilderten Mord an zwei Lehrkräften, sondern hat auch noch andere Gründe. So ist „Amok“ mit knapp 220 Seiten für einen King-Roman extrem kurz geraten, was manch einer vielleicht als erfrischende Abwechslung mit Erleichterung zur Kenntnis nehmen wird, aber auch dafür sorgt, dass die meines Erachtens größte Stärke dieses Autors – nämlich seine Figurenzeichnung – überhaupt nicht zur Geltung kommen kann. Falls er wollte, dass uns das Schicksal aller Beteiligten genauso egal ist wie Charles Decker – ja, dann war das ein genialer Kniff. Falls nicht, dann muss ich leider konstatieren, dass ich es schmerzlich vermisst habe, mich wie üblich in die Beteiligten hineinversetzen zu können. Hier sind insbesondere die als Geisel genommenen Schüler gemeint, welche hoffentlich nicht den üblichen Querschnitt einer amerikanischen Klasse darstellen, sind sie doch fast allesamt von erschreckender Künstlichkeit und Oberflächlichkeit.

Natürlich hat sich Stephen King in Vorbereitung auf diesen Roman auch mit dem sogenannten Stockholm-Syndroms auseinandergesetzt, welches die zunehmende Sympathie der Geisel zu ihrem Geiselnehmer oder Kidnapper beschreibt – und diese Erkenntnisse letztlich in den Roman einfließen lassen. Wie schnell aber die Klassengemeinschaft sich hier ihrem Peiniger, der soeben gerade ihre Lehrerin vor ihren Augen erschossen hat, zu Füßen wirft, das hat doch schon mehr als nur ein bisschen ein Geschmäckle. Der kompakten Erzählweise geschuldet, mutet dieses abrupte Zerbrechen jeglicher Bündnisse zwischen den Schülern nicht nur seltsam an – es torpediert auch im gleichen Zug den Aufbau einer gewissen Spannung, da die vermeintlichen Opfer sich nun urplötzlich zu Verbündeten des Täters wandeln. Da die Handlung gerade mal wenige Stunden eines Tages abdeckt, liest sich das nicht annähernd so homogen, wie wir das sonst vom späteren „King of Horror“ gewohnt sind, der zum Beispiel den charakterlichen Verfall des Jack Torrance in „Shining“ (ebenfalls 1977 veröffentlicht) viel mehr Zeit widmet und ihn damit auch umso nachvollziehbarer macht.

Desweiteren verwundert es nicht, dass viele Leser damals nicht bemerkt haben, dass es sich hierbei um King handelt, da auch die sprachlichen Mittel dieses begnadeten Autors nicht mal zur Hälfte ausgeschöpft werden. Ganz im Gegenteil: „Amok“ liest sich äußerst spröde, kahl, kalt und – und das fand ich persönlich am störendsten – äußerst vulgär. Gerade die Beschreibungen der sexuellen Eskapaden von Deckers Mitschülern pendeln sich auf einem knietiefen Niveau ein, welches man sonst nur von einem Richard Laymon kennt.

Warum der Roman am Ende nicht komplett durch den Qualitätsrost fällt, hat folgende Gründe: Immer dann wenn Bachman/King seinen Scheinwerfer auf Charles Decker richtet, seine Hinter- und Beweggründe beleuchtet, nimmt diese Lektüre Fahrt auf, erkennen wir den Versuch des Autors zu schildern, wie wenig es bedarf, um einen Menschen über die moralische Klippe stürzen und eine so entsetzliche Tat begehen zu lassen. Und gerade zum Schluss, den man wohl am besten mit „bittersüß“ beschreiben dürfte, schimmert etwas von der Genialität durch, die seine weiteren Werke allerdings über die ganze Distanz tragen konnten. So bleibt festzuhalten: Für King-Liebhaber sicher einen Blick wert – alle anderen verpassen hier tatsächlich nichts.

Wertung: 73 von 100 Treffern

einschuss2
  • Autor: Richard Bachman 
  • Titel: Amok
  • Originaltitel: Rage
  • Übersetzer: Joachim Honnef
  • Verlag: Heyne
  • Erschienen: 11.1996
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 220 Seiten
  • ISBN: 978-3453025547

Eine weitere, meines Erachtens sehr lesenswerte Besprechung von meinem Bloggerkollegen Marc Richter von „Lesen macht glücklich“ findet ihr hier.

„Solange es Leben gibt, sind alle Enden ein Anfang“

© Heyne

Ein Buch ist ein Spiegel, wenn ein Affe hineinsieht, so kann kein Apostel herausgucken.

Dieses von mir gerne und viel genutzte Zitat des deutschen Schriftstellers und Experimentalphysikers Georg Christoph Lichtenberg sei an dieser Stelle mal aus einem gänzlich neuen Grund einer Besprechung vorangestellt. Und zwar vor allem um zu verdeutlichen, dass es sich eben nicht beliebig auf jedes Buch anwenden lässt, denn bei der Lektüre von „Der Gottkaiser des Wüstenplaneten“, dem vierten Band von Frank Herberts epischen „Dune“-Zyklus, hätte sich wohl auch der ein oder andere Apostel durchaus zum Affen gemacht.

Versetzen wir uns einmal in die frühen achtziger Jahre. Seit einem halben Jahrzehnt warten die Leser bereits auf eine Fortführung der Abenteuer rund um die auf dem Planeten Arrakis lebende Familie Atreides, welche sich nach ihrem Konflikt mit den Harkonnens schließlich das ganze Universum Untertan gemacht hatte. Paul Atreides tiefer Fall von der Hoffnung der Fremen hin zum religiös-motivierten Diktator sowie die Übergabe des Stabes an seinen Sohn Leto II. – er brach nicht nur mit vielen Erwartungen der Leserschaft, sondern zeichnete auch in gewisser Weise den Weg für zukünftige Entwicklungen heraus.

Dennoch lehne ich mich wohl nicht zu weit aus dem Fenster, wenn ich konstatiere: Mit so etwas wie dem vorliegenden Roman hatten wohl die wenigsten „Dune“-Anhänger selbst nach „Die Kinder des Wüstenplaneten“ gerechnet, erwartet uns doch hier ein über sechshundert Seiten langes, philosophisches Text-Monster, welches Herbert in erster Linie in Monologen und Dialogen präsentiert und dessen eigentliche Handlung in eine durchschnittliche Kurzgeschichte gepasst hätte. Und so stellt man sich schon nach wenigen Seiten die Frage, ob es diesen Aufwand lohnt, um einmal mehr vom Baum der Erkenntnis zu naschen – und vor allem: Erwartet dieser „Baum“ uns am Ende überhaupt? Eine gewisse Portion Argwohn und Skepsis, sie ist angesichts des mehr als verkopften Beginns meines Erachtens jedenfalls durchaus verständlich. Versuchen wir also etwas Ordnung hineinzubringen:

Dreieinhalb Jahrtausende, genauer gesagt 3508 Jahre, sind seit den Ereignissen aus „Die Kinder des Wüstenplaneten“ vergangen. Einem Wüstenplaneten, der längst keiner mehr ist, inzwischen Rakis heißt und durch die Manipulation der Umweltbedingungen fruchtbar gemacht wurde. Statt endlosen Sanddünen und scharfkantigen Felsen dominieren nun dichte Wälder und Flüsse das Erscheinungsbild. Das in der Vergangenheit so kostbare Nass fällt nun regelmäßig vom bewölkten Himmel, wohingegen die gnadenlosen Wüstenstürme nur noch in einem relativ kleinen Gebiet, der Sareer, zu beobachten sind. Der Rest einer riesigen gelben Einöde, welche einst den gesamten Planeten bedeckte und Standort der zitadellenähnlichen Festung von Leto II., der seit tausenden Jahren von hier aus das Universum beherrscht. Während die riesigen Sandwürmer längst verschwunden sind, hat er sich über die Zeit in eine Art Pre-Wurm verwandelt. Ein nur noch entfernt menschliches Wesen von über sieben Meter Länge und wurmähnlicher Gestalt. Er ist der Hüter der Shai-Hulud und des letzten Restes Spice, dem wertvollen Gewürz, das als einziges interstellares Reisen ermöglicht und in früheren Zeiten die Macht der skrupellosen Handelsgilde sicherstellte. Nun kontrolliert allein Leto II. den verbliebenen Gewürzvorrat. Wohlwissend, dass es auf keiner anderen Welt angebaut werden kann und seine Lebensversicherung darstellt, denn mit ihm, dem letzten Wurm, stürbe auch die Hoffnung darauf, je wieder Spice ernten zu können.

Während seine Metamorphose in einen Wurm unaufhaltsam fortschreitet bildet sich jedoch Widerstand gegen ihn und seinen Goldenen Pfad, der von vielen nur noch als tyrannische Willkür empfunden wird …

Puh, tief durchatmen. Also erst einmal vorneweg: Wer befürchtet hat, dass sich Herberts Epos über den Wüstenplaneten irgendwann im Kreise drehen bzw. tot laufen würde, den kann ich hier nachdrücklich vom Gegenteil versichern. Expect the unexpected – das scheint wohl die durchgängige Devise des bereits 1986 verstorbenen Autors gewesen zu sein, der sich auch mit „Der Gottkaiser des Wüstenplaneten“ nochmal neu erfindet und das Geschehen in Richtungen lenkt, die den Leser wieder mit vollkommen neuen Fragen konfrontieren. Und er tut dies mit einer Wortgewalt und Tiefe, welche unsere Gedankenwelt stets aufs Neue befeuert und in philosophische Irrgärten zwingt, die man freiwillig wohl vorher nie betreten hätte – und aus denen man auch nach Beendigung der Lektüre nur schwer wieder herausfindet. Womit man eigentlich auch schon zum springenden Punkt, zur Stärke des Romans, zu Sprechen kommt. Diese liegt wie bereits angedeutet nicht in seiner kurzweiligen, mitreißenden Erzählweise – der Aspekt Unterhaltung wird gänzlich der Wirkung untergeordnet – sondern in der Brillanz von Letos Gedanken, welche letztendlich nun ja Herberts sind bzw. waren.

Leto II. lässt keinerlei Parallelen zu anderen Protagonisten im Genre der Science-Fiction erkennen, zu fremdartig, ja, eben göttlich seine Zeichnung, die den Roman über die gesamte Strecke trägt. Seine Widersprüchlichkeit hat auch bei uns als Leser einen gewissen emotionalen Zwiespalt zur Folge, ist doch Letos tyrannische Herrschaft einerseits allumfassend, andererseits aber auch auf ein Ziel ausgerichtet, das letztendlich zum Besten der Menschheit dienen soll. Oder besser gesagt dient, denn die Gabe der Vorhersage trägt die Gedankenspiele des Gottkaisers nochmal auf eine weitere, höhere Ebene, spielt mit den Gewissheiten und den möglichen Enden des Konflikts zwischen ihm und dem Widerstand. Die früheren Konstanten von Arrakis, allen voran das alte Wüstenvolk der Fremen, aber auch die Bene Gesserit – sie sind hier weitestgehend ohne Einfluss. In kleinen Reservaten fristen Erstere ihr Dasein, wo sie die alten Bräuche und Riten für eine Bezahlung durch Touristen zum Besten geben. Gekleidet in funktionsunfähigen Destillieranzügen, welche in einer richtigen Wüste nicht von Nutzen wären. Besonders die Beschreibung ihres Niedergangs steht im großen Kontrast zu den stolzen Kämpfern der vorherigen Bände – und weist wohl nicht ganz ohne Hintergedanken Parallelen zum Niedergang der Indianer in Nordamerika auf.

Im Gegensatz zum weißen Mann im wilden Westen bedauert Leto II. allerdings den kulturellen Verfall der Fremen und versucht insgeheim den ursprünglichen Zustand wieder herzustellen, aus Arrakis wieder einen Wüstenplaneten zu machen, um eine Rückkehr der Sandwürmer zu ermöglichen. Als rechte Hand dient ihm dabei stets Duncan Idaho. Oder besser gesagt, ein Duncan Idaho, denn dieser wird auf den Wunsch des Gottkaisers von den Tleilaxu stets aufs Neue in deren Axolotl-Tanks geklont. Leto II. weiß um die Loyalität der Duncans zu den Atreides. Und er benötigt dessen Gene für seine Kreuzungsversuche mit den Nachkommen seiner verstorbenen Zwillingsschwester Ghanima. Sein Ziel: Eine menschliche Rasse, die ohne Voraussicht existieren kann und nicht der Versuchung erliegt, sich immer wieder selbst zu zerstören. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass es ausgerechnet eine Nachfahrin Ghanimas ist, welche die Rebellion anführt, die Letos Tod zum Ziel hat.

Dieses komplexe und auch komplizierte Durcheinander entwirren wir an der Seite des neuesten Duncans, für den sich die Situation ähnlich verwirrend und undurchsichtig darstellt, wie für den Leser. Mit jedem Gespräch zwischen ihm und Leto erfahren wir ein wenig mehr über die Motive des Gottkaisers, öffnet sich uns auch Stück für ein Stück die Gefühlswelt dieses mächtigen Wesens, das zwar jederzeit zwischen Leben und Tod entscheidet, für diese Bürde aber auch einen Großteil seiner Menschlichkeit geopfert hat. Bei all seiner Göttlichkeit entbehrt er die körperliche Liebe und das Vertrauen einer Gefährtin. Ein Umstand, den sich seine Feinde zu nutzen machen, was uns als Leser wiederum in die schizophrene Situation bringt, Mitleid für das Leid Letos aufzubringen, dessen brutale Willkür sonst vor allem Abscheu bei uns erregt. Herbert ist mit dieser Gradwanderung innerhalb der Charakterisierung ein echtes Meisterstück gelungen.

Der Gottkaiser des Wüstenplaneten“ – das ist keine selbsterklärende Unterhaltung, sondern ein Sci-Fi-Roman, der ebenso viel von uns fordert, wie er uns gibt. Trotz der mühsamen Auseinandersetzung ohne größere Höhepunkte greift hier eine Faszination, eine unerklärliche Gier nach dem philosophischen Diskurs, aus der sich dann überraschenderweise auch eine stetig zupackendere Spannung speist. Diese Gedankenreise durch die Jahrhunderte – sie fordert uns „Affen“ auf eine Art und Weise, wie das eben nur ein Visionär wie Frank Herbert vermochte. Wer sich auf dieses mitunter zähe Ringen einlässt und die nötige Geduld mitbringt, der wird am Ende konstatieren: Ein Blick in diesen Spiegel ist es mehr als wert.

Wertung: 72 von 100 Treffern

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  • Autor: Frank Herbert
  • Titel: Der Gottkaiser des Wüstenplaneten
  • OriginaltitelGod Emperor of Dune
  • Übersetzer: Frank M. Lewecke
  • Verlag: Heyne
  • Erschienen: 5/2001
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 602 Seiten
  • ISBN: 978-3453186866

Diebe sind gesegnet

© Heyne

Sollte das tatsächlich wahr sein? Ist er das wirklich? So in etwa meine Gedanken bei der Ankündigung der deutschen Ausgabe von „Die Republik der Diebe“, dem dritten Band aus der Reihe um den Meisterdieb, Lügner und Betrüger aus Leidenschaft Locke Lamora, dessen Veröffentlichung über Jahre hinweg immer wieder verschoben wurde und die Geduld der Leser – welche Scott Lynch am Schluss des Vorgängers „Sturm über Roten Wassern“ mit einem ebenso genialen wie gemeinen Cliffhanger beglückte – auf eine harte Probe gestellt hat.

Der Grund für die stets aufs Neue folgenden Verzögerungen blieb dabei lange im Dunkeln. Erst nach einiger Zeit ging Lynch mit seiner Erkrankung an einer schweren Depression in die Öffentlichkeit, wodurch ein weiterer Locke-Band irgendwann immer unwahrscheinlicher erschien. Fünf Jahre später als geplant, gingen Abenteuer des Camorri Lamora (wie schon bei den ersten beiden Büchern weitestgehend unbeachtet von Presse und Feuilleton) endlich weiter, was in meinem Fall jedoch eine große Gefahr bei der Besprechung des Buches barg, da sich in der Vergangenheit eine gewisse Vorfreude aufgestaut hatte, welcher, im Verbund mit den ebenfalls angehäuften Erwartungen, „Die Republik der Diebe“ vielleicht nicht gerecht werden konnte. Oder doch?

Bevor ich an dieser Stelle näher ins Detail gehe und den vorliegenden Roman mit dem üblichen kritischen Maße seziere, sei mir vorab gestattet zu erwähnen, dass die Umstände, unter denen dieser dritte Band erschienen ist, auch zwischen den Zeilen ihren Widerhall finden, dass schlichtweg die Lockerheit, die Ausgelassenheit und der Elan fehlen, die – nicht nur bei mir – im Falle der Vorgänger zu so großen Begeisterungsstürmen geführt haben. Liest man sich mal quer durch die bereits vorhandenen Rezensionen, findet dies großes Bedauern unter den Lesern, führt es gar zu dem ein oder anderen Verriss, was ich wiederum mit gemischten Gefühlen verfolge. Erstens lag die zuvor gelegte Latte ziemlich hoch, zweitens sollte der Krankheitshintergrund Scott Lynchs eine etwaige Bewertung zwar nicht entscheidend beeinflussen, aber zumindest berücksichtigend in diese mit einfließen. Darüber hinaus hat „Die Republik der Diebe“ keinerlei Schonung seitens der Kritiker verdient, geschweige denn nötig, da Lynch in diesem fast tausend Seiten umfassenden Wälzer einmal mehr eindrucksvoll unter Beweis stellt, dass er zum Besten gehört, was das Genre der Fantasy derzeit zu bieten hat.

Die Republik der Diebe“ setzt fast nahtlos da an, wo „Sturm über roten Wassern“ endet. Locke Lamora ist schwer von seiner tödlichen Vergiftung gezeichnet, wartet ausgemergelt und entkräftet auf den unausweichlichen Tod, während sein treuer Gefährte Jean Tannen alles daran setzt, um seinen Freund zu retten. Jeden Tag sucht er aufs Neue Ärzte und Quacksalber auf, doch das aggressive Gift scheint selbst die Fachkenntnisse der allerbesten unter ihnen zu übersteigen. Egal wie sehr sich Jean auch anstrengt – Locke scheint unrettbar verloren. In diesem Moment der schieren Verzweiflung erscheint plötzlich die Soldmagierin Patience, welche den beiden Gentleman-Ganoven verspricht, Locke gegen eine Gefälligkeit zu retten.

In Karthain, der Heimat der Soldmagier, wo diese im Hintergrund die Fäden ziehen und die Menschen der Stadt als so genannte „Präsenz“ aus dem Verborgenen heraus beeinflussen, hat der Fünfjahreswahlkampf begonnen, in dem zwischen den beiden großen Parteien – der „Tiefen Wurzel“ und der „Schwarzen Iris“ – die Regierung ermittelt werden soll. Dieses politische Ereignis wird alle fünf Jahre von zwei verschiedenen Kasten der Soldmagier als spielerische Zerstreuung genutzt – und Locke Lamora soll nun dafür sorgen, dass die „Tiefen Wurzeln“ die Wahl für sich entscheiden. Im Angesicht des sicheren Todes scheint das für die beiden Freunde kein allzu großer Gefallen, weshalb sich Locke – trotz großer Skepsis – einverstanden erklärt. In einer gefährlichen und schmerzhaften Zeremonie gelingt der Soldmagierin seine Heilung, worauf ihr Schiff das Segel gen Karthain setzt. Als sie dort ankommen, erfahren sie recht bald, welchen Spezialisten die Gegenseite ausgewählt hat. Es handelt sich um Sabetha. Lockes seit mehr als fünf Jahren verschwundene große Jugendliebe und wohl die einzige Person, die ihm ebenbürtig ist.

Während beide Parteien nichts unversucht lassen, um mittels Erpressung, Nötigung und schlichtem Betrug als Gewinner hervorzugehen, kehren ihre Gedanken in die gemeinsame Jugend zurück, als ihr Ziehvater Chains sie nach Espara geschickt hatte, um bei einer Theatergruppe den letzten Schliff in ihrer Ausbildung zu erhalten. Das damals zu probende Stück hieß „Die Republik der Diebe“ …

Erpressung? Nötigung? Ja, haargenau richtig gelesen. Anders als im Klappentext angekündigt, wird Sabetha nicht beauftragt, „Locke endgültig zu vernichten“. Wer immer das beim Heyne Verlag verbrochen hat, konnte für die gesamte Lektüre des Buches entweder keine Zeit aufbringen oder wollte den spielerischen Charakter, den diese politische Auseinandersetzung in erster Linie hat, bewusst verschweigen, um mit einem dramatischeren Handlungsverlauf zu locken. Ich tendiere da eher zu letzterem, da man für diese Vorgehensweise insofern Verständnis aufbringen kann, da „Die Republik der Diebe“ tatsächlich einen steileren Spannungsbogen durchaus hätte vertragen können. Insbesondere Quereinsteiger – was angesichts der vielen Anspielungen auf frühere Ereignisse übrigens schon in „Sturm über roten Wassern“ keinen Sinn mehr gemacht hat – werden die vielen Verweise und Anekdoten schlichtweg überlesen bzw. sich darüber wundern, wieso sich der oder die Figur so verhält, wie sie sich verhält. Deshalb nochmal an dieser Stelle extra die Warnung: Entweder die Reihe von vorne beginnen oder gleich die Finger davon lassen.

Ein weiterer Kritikpunkt, welcher in Besprechungen immer wieder aufs Tapet gebracht wird, sind die zu zwei verschiedenen Zeiten spielenden Handlungsstränge, welche allerdings meines Erachtens gut miteinander harmonieren. Vorausgesetzt eben, man hat die zwei Vorgänger gelesen bzw. hat diese noch einigermaßen in Erinnerung. Das gestaltet sich bei mir aufgrund der langen Pause doch als etwas schwierig, weshalb ich kurzzeitig in Erwägung gezogen habe, mir Band eins und zwei nochmal zu gönnen. Allein der Umfang – er schreckt dann doch ab. Und letztlich war diese Maßnahme nicht notwendig. Auch weil Scott Lynch einmal mehr das Kunststück vollbringt, mich vollkommen in seine fantastische Welt zu entführen – an die Seite von Charakteren, die man liebevoller kaum auf Papier bringen kann und die sich so herrlich erfrischend von den typischen Helden abheben, die sonst dieses Genre bevölkern. Statt dem wackeren Streiter auf der Queste begegnen uns hier nur zwei gewitzte, gänzlich moralfreie Arschlöcher mit gutem Herz und spitzer Zunge (Fäkalsprache inklusive), die man vom Fleck weg halt auch in Selbiges schließen muss. Wenn Locke, Jean und Sabetha – im rückblickenden Strang auch Calo und Galdo Sanza – ihre Betrügereien abziehen oder edle Adelsleute mal wieder nach allen Regeln der Kunst an der Nase herumführen, dann kommt einfach Freude auf.

Scott Lynch mag in „Die Republik der Diebe“ ein wenig die Leichtigkeit verlustig gegangen sein – die leidenschaftliche Hingabe zu seinen Schöpfungen merkt man dem Roman aber doch in jeder Zeile an. Vielleicht nimmt er sich auch deshalb so viel Zeit und Raum, um die Liebesgeschichte von Locke und Sabetha zu erzählen, die einige Hürden zu überwinden hat und weniger romantisch veranlagte Leser eventuell auf eine Geduldsprobe stellen wird. In meinem Fall empfand ich ihr Geplänkel als durchaus kurzweilig, was wiederum an der Art und Weise liegt, wie Lynch dieses in Szene setzt. Statt dem üblichen Kitsch und dem vorhersehbaren Ende ist auch hier das einander nahe kommen ein stetiges Auf und Ab voller Finessen, Finten, Angriffen und Paraden. Vergleichbar mit einem Katz-und-Maus-Spiel, bei dem lange nicht sicher ist, ob es sich um ein Paar oder um Kontrahenten handelt. Wer spätestens jetzt nicht mit den Charakteren kann, sich über die sture Sabetha, den treuen Jean oder den hier schwer verliebten Locke empört, hat meines Erachtens die Protagonisten von Beginn an nicht verstanden. Anders als manch Kritiker ist für mich ihr Verhalten in „Die Republik der Diebe“ nur folgerichtig bzw. rundet die Persönlichkeiten entsprechend ab. Zudem hat diese Reihe – nach den grausamen Kämpfen in Camorr und der herben Niederlage im Sündenturm von Tal Verrar – eine kleine positive Wendung samt Hoffnungsschimmer dringend nötig gehabt.

Und mehr als ein Schimmer ist es auch diesmal nicht, meint es doch das Schicksal nicht wirklich gut mit den Gentleman-Ganoven, die, gemeinsam mit dem Leser, im dramatischen Ende von der Soldmagierin einige Dinge über Lockes Vergangenheit erfahren. Lynchs Andeutungen – den Wahrheitsgehalt von Patience‘ Worten lässt er absichtlich offen – könnten die gesamte Reihe nicht nur in eine neue Richtung lenken, sondern Potenzial für weitere spannende Fortsetzungen bergen. Auch weil ein längst besiegt geglaubter Feind auf den letzten Seiten wieder ins Geschehen eingreift.

Die Republik der Diebe“ – das ist wieder mal äußerst intelligente, imposante und vor allem unheimlich lustige und liebenswerte Fantasy-Unterhaltung auf allerhöchstem Niveau, welche diesmal zwar etwas gemächlicher daherkommt, von seiner eindringlichen Wirkung aber nichts verloren hat und vielversprechende Andeutungen für die Zukunft macht. Diese hat mit „Das Schwert von Emberlain“ bereits einen Titel bekommen, ist bereits schon mehrfach nach hinten verschoben worden und soll nach aktuellem Stand im April 2020 ihre Fortsetzung finden. Und wenn es auch diesmal wieder länger dauern sollte – ich kann und werde warten!

Wertung: 88 von 100 Treffern

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  • Autor: Scott Lynch
  • Titel: Die Republik der Diebe
  • Originaltitel: Republic of Thieves
  • Übersetzer: Ingrid Herrmann-Nytko                                  
  • Verlag: Heyne
  • Erschienen: 04.2014
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 944 Seiten
  • ISBN: 978-3453531949