Von Kunst und vom Tod

© Piper

Es ist nun mehr als sechs Jahre her, seitdem ich mich in der kriminellen Gasse das letzte Mal mit Thomas Adcock beschäftigt habe – und mein Wunsch, er möge doch bitte hierzulande endlich wieder (auch als Print-Ausgabe) neu und in angemessener Ausstattung aufgelegt werden, ist bis heute unerfüllt geblieben. In der Hoffnung, dass nicht noch einmal so viel Zeit vergehen wird – und auch von einem gewissen ostwestfälischen Sturkopf geleitet – nutze ich daher an dieser Stelle mal wieder die Gelegenheit, um den New Yorker Autor zumindest etwas in das Scheinwerferlicht zu rücken, das er aufgrund seines Werks eigentlich verdient hat. Dieses hat, anders als das von so namhaften Kollegen wie James Lee Burke oder oder Michael Connelly, nie einen derart großen Eindruck auf dem deutschen Buchmarkt hinterlassen. Seltsamerweise, möchte man behaupten, den wirft man einen näheren Blick auf Adcocks Vita, so muss sich auch er hinter diesen namhaften Konkurrenz kaum verstecken.

Thomas Adcock wuchs zwar in seiner Geburtsstadt Detroit auf, verließ diese jedoch in jungen Jahren um als Polizeireporter und Journalist bis 1978 in Michigan und Minnesota erste Erfahrungen mit dem kreativen Schreiben zu sammeln, bevor es ihn schließlich nach New York zog. Hier arbeitete er einige Zeit in der Werbebranche, schrieb mehrere Hörspiele und Drehbücher für diverse Fernsehserien und veröffentlichte 1984 sein erstes Buch unter eigenem Namen. In „Precinct 19“ schildert er im Format eines Tatsachenberichts den Alltag der Polizei im gleichnamigen Revier in Manhattan. Ein Jahr später folgten schließlich die ersten Krimi-Kurzgeschichten für das „Ellery Queen’s Mystery Magazine“, wobei die Leser in „Christmas Cop“ (1986) erstmals Bekanntschaft mit dem New Yorker Cop Neil „Hock“ Hockaday machen. Der grimmige Ermittler gewinnt schnell die Herzen der Leser, die Geschichte selbst wird sogar für den Edgar Allan Poe Award nominiert, so dass bald weitere mit derselben Figur folgen. Vom Erfolg motiviert legt Adcock 1989 dann „Hell’s Kitchen“ (orig. „Sea of Green“) vor, den ersten Kriminalroman mit Hockaday, dessen irische Abstammung er im Verlauf seiner Serie größere Aufmerksamkeit zollen wird. So auch im vorliegenden zweiten Band der Reihe, „Feuer und Schwefel“, mit dem sich der Autor nicht nur gegenüber dem Vorgänger gesteigert, sondern auch die Auszeichnung mit dem Edgar Allan Poe Award für den besten Taschenbuchkrimi von 1992 wohlverdient hat.

Nach weiteren vier Hockaday-Romanen ist es im Krimi-Genre inzwischen ruhig um Thomas Adcock geworden, der jedoch über seine regelmäßigen, sehr lesenswerten (!) Beiträge im CulturMag den deutschen Lesern zumindest noch ein wenig erhalten blieben ist. Doch natürlich ist es gerade diese besagte New Yorker-Reihe, welche endlich wieder mehr Aufmerksamkeit verdient, zumal ihr Schöpfer zu den wenigen seiner Zunft gehört, die den Balanceakt zwischen dem klassischen Hardboiled und dem Thema des Serienmörders auf hohem literarischen Niveau begeistert. Und ein Serienmörder spielt tatsächlich auch in „Feuer und Schwefel“ eine gewichtige Rolle:

Frühling in New York, Anfang der 90er. Normalerweise eine Jahreszeit, in der sich selbst die Verbrecher eine Auszeit gönnen und das sonst so raue Hell’s Kitchen mit einem beinahe rustikalen Charme aufwartet, der selbst den ein oder anderen Touristen in die Gegend lockt. Für Neil „Hock“ Hockaday, den etwas abgehalfterten Detective von der SCUM-Patrol, ist es vor allem der beste Zeitpunkt, um endlich seinen langersehnten und wohlverdienten Urlaub zu nehmen. Gerade mal ein halbes Jahr ist es her, seit „Hock“ im Fall um den ermordeten Father Love ermittelt und dabei sein Leben aufs Spiel gesetzt hat und Ruhe daher dringend vonnöten. Doch erstens kommt es immer anders und zweitens als man denkt, denn ausgerechnet die Kunst soll seinen Plänen einen Strich durch die Rechnung machen. In diesem Fall verkörpert durch ein meisterhaftes, aber auch grauenerregendes Gemälde, welches die Fassade eines Gebäudes im alten New Yorker Stadtteil Coney Island ziert – und der Feder eines bekannten, aber auch berüchtigten heimischen Malers entstammt, den man auf den Straßen nur unter den Namen „Picasso“ kennt. Der Titel des Gemäldes: „Feuer und Schwefel“.

Ausgerechnet diesen „Picasso“, der in der Vergangenheit u.a. auch für die Gestaltung der Vergnügungsparks auf Coney Island verantwortlich zeichnete, inzwischen sich aber nur noch mit Gelegenheitsjobs und Betteln über Wasser hält, trifft „Hock“ eines Abends, scheinbar zufällig und in erregten Zustand an. Der ehemalige Künstler prahlt unverhohlen mit der Absicht, an denjenigen Rache zu nehmen, die für sein jetziges Leben verantwortlich sind. Notfalls auch mit Gewalt. Der Cop schenkt dem wirren Gefasel des offensichtlich Geistesgestörten keinerlei Beachtung und versucht den Vorfall schnell wieder zu vergessen. Bis er in seiner Lieblingskneipe auf ein Bild „Picassos“ stößt, das eine in grün gekleidete Frau porträtiert – und ausgerechnet diese einige Stunden später an derselben Stätte erschossen wird. Auf einmal häufen sich die Morde im Umfeld „Picassos“ und „Hock“ sieht sich gezwungen, selbst Ermittlungen anzustellen, um hinter das wahre Motiv der Taten zu kommen und dem blutigen Spiel ein Ende zu setzen …

Der versoffene, sture Cop. Die paragraphenreitenden Vorgesetzten. Das heruntergekommene, von Verbrechen und schrägen Typen durchsetzte Milieu. Ja, wenn man „Feuer und Schwefel“ nur einen kurzen, ungenauen Blick schenkt, so erwartet den Leser auch hier ein typischer Hardboiled-Vertreter nach Schema F, der sich vielleicht allenfalls durch den Schauplatz noch von seiner Konkurrenz unterscheidet und ansonsten gewohnte Kost bietet. Und es wäre dann am Ende genau dieser Oberflächlichkeit, mit dem er sich selbst einen Bärendienst erweisen würde, denn gerade in der Reihe vom Neil „Hock“ Hockaday steckt soviel zwischen den Zeilen, so viel Herz und Seele seitens des Autors, das man mit der obigen Einschätzung nicht weiter daneben liegen könnte. Adcocks Vergangenheit als Journalist, sie erweist sich bei der Konzeption dieser Reihe als echter Segen, schwitzen seine Krimis doch geradezu nur vor Atmosphäre und Authentizität, da hier eben kein Autor irgendwo im sonnigen Hawaii zum Stift gegriffen, sondern von der Welt direkt vor der Haustür berichtet hat. „Hocks“ Schrullen sind mitnichten irgendwelchen künstlerischen Einfällen ihres Erfinders geschuldet, sondern logische Begleiterscheinungen seines Umfelds und letztlich auch die Erkenntnisse aus Adcocks eigenen Beobachtungen als Polizeireporter.

Wie schon Michael Connelly, so gelingt es auch Thomas Adcock meisterhaft, diese Barriere zwischen Fiktion und Realität zu überwinden, persönliche Erfahrungen seiner Arbeit mit einfließen zu lassen, um den Leser nach und nach in das echte New York, das echte Hell’s Kitchen hineinzuziehen. In „Feuer und Schwefel“ präsentiert sich dies nicht mehr so sehr als kalter und ungemütlicher Ort wie im ersten Band – hier hat man beim Lesen unwillkürlich bibbernd den Rollkragen hochklappen wollen – sondern tatsächlich von seiner frühlingshaften Seite. Diese jahreszeitbedingte Hochstimmung schwappt sowohl auf uns als auch auf „Hock“ über, zumindest bis er immer tiefer in das abgründige Wirken des mysteriösen Maler hineingezogen wird. Und sich beharrlich weigert, sich ab sofort etwas anderem zu widmen. Wie ein Terrier beißt er sich an dem Fall und den Fersen der Verdächtigen fest, entwirrt mit scheinbar engelsgleicher Geduld nach und nach die Umstände und Hintergründe der Morde.

Adcock vermeidet es dabei, sich der üblichen Serienmörder-Elemente zu bedienen, so dass sich das Gesamtprodukt weit eher wie ein Police Procedural mit Hardboiled-Einschlag liest. Im Gegensatz zum Auftakt der Reihe fährt er zudem den Brutalitätsgrad etwas zurück, was vielleicht auch daran liegt, dass „Hock“ diesmal die wunderschöne Ruby zur Seite steht, welche nach seiner gescheiterten Ehe einen neuen Lichtblick im doch arg tristen Junggesellendasein darstellt. Dies scheint sich gleichzeitig auf seine Gewohnheiten auszuwirken, denn der einst einsame Wolf raucht und säuft nicht mehr annähernd soviel wie noch in „Hell’s Kitchen“. Ob dies jedoch so bleibt – der Ausgang des Romans macht dies mehr als fraglich. Bis zu diesem Ende liest sich auch der zweite Auftritt des New Yorker Cops wie aus einem Guss und – nicht unwichtig für dieses Genre – bleibt vor allem durchgehend spannend.

Im Dunstkreis von John Rebus, Harry Bosch und Dave Robicheaux dürfte auch Neil Hockaday in Deutschland sicher seine Leser finde – eine längst fällige Wiederveröffentlichung vorausgesetzt. Mit „Feuer und Schwefel“ kann sich Adcock nicht nur nochmal steigern, er bereitet auch den Boden für den dritten Band „Ertränkt alle Hunde“, der, über die Grenzen des Genres hinaus, zum Besten gehört, was über den andauernden Konflikt in Irland bis dato veröffentlicht worden ist. Doch dazu mehr an anderer Stelle.

Wertung: 91 von 100 Trefferneinschuss2

  • Autor: Thomas Adcock
  • Titel: Feuer und Schwefel
  • Originaltitel: Dark Maze
  • Übersetzer: Jürgen Bürger
  • Verlag: Piper
  • Erschienen: 01.1998
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 348
  • ISBN: Serien978-3492256759

… und sie taten nichts.

© Arche

Die Welt ist ein gefährlicher Ort. Nicht wegen denen, die Böses tun, sondern wegen denen, die dabei zusehen und nichts tun, um es zu verhindern.

Albert Einsteins Zitat setzt den Schlusspunkt in dem gerade mal 160 Seiten umfassenden Tatsachenbericht, der, in Romanform verfasst, zum Besten gehört, was ich im Genre des sogenannten „True Crime“ zwischen den Händen gehalten habe. Und die Worte des schlauen Mannes mit der langen Zunge sind auch mehr als gut gewählt, bezieht doch Didier Decoins Rekonstruktion eines echten Verbrechens ihre Stärke nicht nur aus den dramatischen Vorgängen des Tathergangs, sondern auch aus der beklemmenden Ungeheuerlichkeit – was zu gleichen Teilen am Vorgehen des Mörders wie dem Verhalten der zahlreichen Zeugen liegt.

Queens, 13. März 1964: Um 3.15 Uhr stellt die 28-jährige Kitty Genovese, die von ihrer Schicht als Kellnerin nach Hause kommt, ihren Wagen in der Nähe ihres Apartments ab. Als sie aus dem Auto steigt, nähert sich ihr ein Mann. Dieser Mann ist Winston Moseley, der mit seiner Frau und zwei Kindern ebenfalls in Queens lebt. Winston Moseley arbeitet als Bürokraft, hat keine Schulden, ist nicht vorbestraft und bisher nie auffällig geworden. Trotzdem erregt etwas an der Art, wie er sich Kitty Genovese nähert, deren Misstrauen. Sie versucht, eine Notrufsäule zu erreichen, wird jedoch von Moseley eingeholt und auf offener Straße niedergestochen. Über einen Zeitraum von mehr als einer halben Stunden wird Kitty Genovese von Winston Moseley vergewaltigt, schwer verletzt und am Ende ermordet – während mindestens 38 Zeugen ihre Schreie hören oder aus erleuchteten Fenstern heraus das Geschehen beobachten.

Niemand hilft …

Die Aufgabe einer Rezension ist es naturgemäß, den vorliegenden Inhalt eines Buches sachlich zu beschreiben, zu analysieren und zu bewerten, um unter anderem etwaig interessierten Lesern bzw. potenziellen Käufern einen kurzen Überblick zu geben und eventuell sogar bei der Entscheidungsfindung unter die Arme zu greifen. Didier Decoins „Der Tod der Kitty Genovese“ hebelt diese übliche Herangehensweise jedoch bereits nach wenigen Seiten aus, so dass am Ende der Lektüre viel mehr die eigenen Gefühle, als der vorliegende Text verarbeitet werden wollen. Seit „Kaltblütig“ von Truman Capote – das völlig zurecht von dem politischen Wochenmagazin „Le Point“ auf dem Titelbild als Vergleich hinzugezogen wird – habe ich nicht mehr eine solche Anteilnahme an dem Inhalt eines Buches empfunden, fühlte ich derart intensiv den Finger in die Wunde gelegt, ob die eigenen Beteuerungen der Zivilcourage im Angesicht eines Verbrechens wirklich standhalten würden. Wie hätte ich selbst in dieser Situation reagiert? Wie würde ich damit umgehen, nichts getan zu haben? Wie anmaßend ist es von mir, Scham und Wut angesichts der 38 (!) Personen zu empfinden, die sich tatenlos abgewandt und damit den Mord an dieser jungen Frau im Prinzip erst ermöglicht haben?

Wo sich sonst die Behandlung eines Verbrechens auf die Tat selbst konzentriert, beleuchtet Decoin das Vergehen aus psychologischer Sicht. Wir wissen wer das Opfer ist, was es vorher tat, was ihr Umfeld war. Wir wissen, dass der Angeklagte der Täter war, wissen warum er es getan (auch wenn wir weit davon entfernt sind, es zu verstehen bzw. verstehen zu wollen). Wir wissen, wie die Geschworenen im Prozess entscheiden werden. Was wir aber nicht wissen ist: Welche Rolle haben die Zeugen gespielt? Wie ist es möglich, dass 38 Menschen NICHT gesehen haben wollen, dass vor ihren Augen, unter ihren Fenstern, vor ihrer Haustür, ein brutaler Mord geschehen ist. Und warum eine Frau – mehrmals – so laut sie konnte um Hilfe schrie, ohne diese von irgendjemanden zu erhalten. Decoin geht diesen Punkt geschickt an, indem er aus der Perspektive eines fiktiven Erzählers – ein Anwohner, welcher zum Zeitpunkt des Mordes gemeinsam mit seiner Frau verreist war – die schrecklichen Ereignisse dieser Nacht minutiös rekapituliert. Und er tut dies mit einer präzisen, pragmatischen Sachlichkeit, welche die grausamen Umstände genauso hervorhebt, wie der Schnee das Blut des Tatorts.

Didier Decoins schriftstellerische Fähigkeiten angesichts einer solchen, wirklich begangenen Gewalttat hervorzuheben, ist nicht ohne einen gewissen makabren Zynismus, aber dennoch notwendig, ist es doch die Wahl der Worte, die hier relativ schnell den Schutzpanzer des Lesers durchdringt, weshalb zumindest mir dieses relativ kurze Buch stärker an die Nieren ging, als so mancher 500 Seiten umfassenden Serienkillerplot. Schnörkellos und vor allem ohne moralischen Fingerzeig skizziert er diesen halbstündigen Ausfall des menschlichen Mitgefühls, der es Moseley erlaubte, sein Verbrechen ohne größere Störung zu begehen und in seinem Sinne zu beenden. Eine halbe Stunde – vom ersten Stich des Messers über die zwischenzeitlich geglückte Flucht Kittys bis hin zur Vollendung der Tat im Hausflur eines riesigen Mehrfamilienhauses. Erst hier, das Opfer ist bereits tödlich verletzt und geschändet worden, greift eine der Zeuginnen zum Telefonhörer. Viel zu spät …

Auch wenn sich Decoin mit Verurteilungen zurückhält (lediglich in der Aussage des ermittelnden Polizisten deutet er die Abscheu angesichts des Ausbleibens jeglicher Hilfeleistung an), ist „Der Tod der Kitty Genovese“ natürlich ein Fingerzeig auf den Mangel an Zivilcourage, der mit Sicherheit kein Relikt der 60er – erst im August 2008 kam es in Queens wieder zu einem ähnlichen Verbrechen – sondern immer noch Teil unserer Gesellschaft ist. Der Fall zeigt gleichzeitig auf, wozu Menschen fähig und wozu sie eben nicht fähig sind, was, und das haben Sozialpsychologen herausgefunden, im höchsten Maße von der Gruppendynamik abhängig ist. Je mehr Menschen Zeuge eines Verbrechens sind, umso mehr verlässt sich jeder einzelne auf das Einschreiten des anderen, wird sich untereinander im Stillen die Verantwortung zugeschoben, um nicht selbst in die schrecklichen Umstände mit hineingezogen zu werden. Genau diese Thematik griff 1964 auch der „New York Times“-Journalist Martin Gansberg auf, welcher die Diskussion über Zivilcourage mit seiner schonungslosen Reportage über den Mord an Kitty Genovese befeuerte. Seitdem nennt man die anhaltende Untätigkeit von Zeugen auch „Bystander-Effekt“ oder „Genovese-Syndrom“.

Gansbergs Reportage wird – wie auch Decoins Buch – sicherlich einige schockiert und sprachlos gemacht, aber angesichts der vielen ähnlichen Fälle in den Jahren danach, nur wenig Wirkung gezeigt haben. Beide geben sie zwar Antworten auf viele Fragen, aber die eine, bereits oben genannte, kann nur jeder für sich selbst – und das wohl ebenfalls nicht ohne Zweifel – für sich beantworten: Was hätte ich getan?

Der Tod von Kitty Genovese“ ist von literarisch herausragender Qualität. Eine protokollarische, klar gegliederte Kriminalgeschichte, welche genauso tief berührt und schockiert, wie sie nachdenklich macht.

Wertung: 96 von 100 Treffern

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  • Autor: Didier Decoin
  • Titel: Der Tod der Kitty Genovese
  • Originaltitel: Est-ce ainsi que les femmes meurent
  • Übersetzer: Bettina Bach
  • Verlag: Arche
  • Erschienen: 02.2011
  • Einband: Hardcover
  • Seiten: 240 Seiten
  • ISBN: 978-3716026601

„The spirit of one Irishman who doesn’t want to be broken …“

© Atrium

Es erscheint mir nach der Lektüre von Sam Millars Autobiographie nur folgerichtig und angemessen diese Besprechung mit einem Auszug aus einem Zitat des irischen Widerstandskämpfers Bobby Sands zu beginnen. Und ja, es hat durchaus eine gewisse Bedeutung, dass ich explizit Widerstandskämpfer und nicht IRA-Terrorist schreibe, denn durch die Art und Weise wie der Nordirland-Konflikt, die sogenannten „Troubles“, und der scheinbar aussichtslose Kampf der Blanket-Men aus Millars am eigenen Leib erfahrenen oder erlittenen Perspektive hier geschildert wird, bekommt dieser Abschnitt der britischen Geschichte ein äußerst hässliches, schwer erträgliches Gesicht. Wohingegen man zwar nicht grundsätzlich alle Taten der IRA, aber doch die Motive und vor allem die Gefühlswelt der Iren nun äußerst genau nachvollziehen kann. 

Mehr noch: Diese gänzliche Abwesenheit jeglicher Menschlichkeit und Moral, welche die Inhaftierten des berüchtigten Hochsicherheitsgefängnisses Long Kesh auf beinahe täglicher Basis durch ihre Wärter erleiden mussten – sie bleibt mir auch Wochen später immer noch präsent vor Augen und wirkt auf mich persönlich ähnlich intensiv nach wie vor vielen Jahren mein erster Kontakt mit den Videos der Befreiung von Ausschwitz im Geschichtsunterricht der Schule.

Dieser Vergleich sei bewusst gewählt, denn diese Rezension gestaltet sich für mich bereits auf diesen ersten Zeilen erwartet schwer, ist mir „True Crime“ doch noch viel tiefer als erwartet unter die Haut gegangen, was möglicherweise auch daran liegt, dass ich seit einigen Jahren einen recht lockeren, aber regelmäßigen Kontakt mit Sam Millar über die sozialen Medien pflege und dessen stoische Unbeugsamkeit bei einem sturen Ostwestfalen auf durchaus fruchtbaren Boden fällt. Nein, natürlich kann man Millar nach Beendigung des Buchs deswegen nicht gleich von allen kriminellen Sünden freisprechen – aber diese drängende Frage „Was hätte ich getan?“, sie lässt sich diesmal weit schwerer von sich schieben als sonst, zumal in keiner Passage überhaupt nur der Versuch seitens des Autors unternommen wird, die eigenen Taten schön reden oder entschuldigen zu wollen. Sein zäher, nie gebrochener Widerstand – er speiste sich nicht in erster Linie aus dem Hass auf seine Feinde, sondern vor allem aus der tiefen Überzeugung, durch seine Art des Kampfes irgendwann dem Recht zum Sieg zu verhelfen. Ein Ziel, das er letztlich immer noch nicht erreicht hat. Und wo keine Gerechtigkeit, keine Einsicht und keine Reue ist, da kann dann auch kein Frieden, keine Versöhnung und keine Vergebung sein. Oder wie Millar es durch Sartre sagt:

Ich hasse Opfer, die ihren Henker lieben.“

Aus ganz persönlicher, bitterer Erfahrung kann ich da wenig widersprechen.

Genügt dies nun, um einen ausreichenden Eindruck von diesem Werk zu bekommen? Nein, nicht im Ansatz, denn das Besondere, ja, Herausragende an Millars autobiographischen Thriller ist eben genau die Tatsache, dass dieser sich eben nicht wie die Abrechnung eines alten, unversöhnlichen Kriegsveteranen liest, sondern er selbst den dunkelsten Abschnitten seines Lebens stets diesen typisch-irischen Witz abringen kann und zwischen all dem Schmerz, der Wut und der Verzweiflung sowohl Buch als auch Protagonist selbst nie gänzlich ihre Leichtigkeit verlieren. Im Gegenteil: Es sind gerade diese Szenen im gestreiften Schatten der Gefängnisgitter, welche eine Lebensfreude versprühen, die, wenn auch bittersüß, ein (manchmal auch salziges) Lächeln auf das Gesicht des Lesers zaubern. Im Angesicht all dieser Schrecken versagen Millar und seine Mitstreiter ihren Peinigern den endgültigen Triumph. Das Menschliche – sie lassen es sich nicht nehmen. Und es zeugt von der Stärke des Autors, dass er damit auch jenen Menschen ein Gesicht verleiht, die er selbst trotz der räumlichen Nähe jahrelang nie zu sehen bekommt – und welche am Ende dann teilweise ihren Protest sogar mit dem eigenen Leben bezahlen.

Der Geist von Bobby Sands – er weht immer wieder durch die Seiten. Und das ist insofern nicht verwunderlich, ist doch der Werdegang beider Männer in vielerlei Hinsicht ähnlich. Wie Sands, so ist auch der junge Sam Millar anfangs ein alles andere als politischer Mensch. Im Januar 1955 als Samuel Ignatius Millar geboren nimmt er die religiösen Konflikte in Belfast zwar durchaus früh wahr, doch fordern erst einmal viel konkretere Dinge seine Aufmerksamkeit. Seine Familie ist arm, sein Vater aufgrund seiner Heimat für die Handelsmarine so gut wie nie zuhause und die Mutter mit der alleinigen Erziehung völlig überfordert. Während sie sich immer mehr in den Alkohol flüchtet, verbringt Millar so viel Zeit wie möglich auf der Straße, lässt seiner Fantasie durch die Lektüre von Comics freien Lauf und lernt früh, sich gegen Ältere zu behaupten. Während die Spannungen zwischen Protestanten und Katholiken auch durch die steigende Präsenz der britischen Armee immer mehr zunehmen, ändert sich zunehmend die Stimmung in seiner Heimatstadt.

Obwohl er aufgrund des Großvaters selbst protestantische Wurzeln hat, muss er als Jugendlicher am 30. Januar 1972 hautnah miterleben, was er für jemanden mit katholischer Religion bedeutet, für gleiche Rechte in einem von Engländern besetzten Irland demonstrieren zu wollen. An diesem Tag in Derry, welcher später als „Bloody Sunday“ in die Geschichte einging, werden dreizehn der Demonstranten von der britischen Miliz niedergeschossen. Entgegen späterer Behauptungen hatte es seitens der Iren keinerlei Anlass für diesen Beschuss gegeben. Verurteilt wurde dennoch niemand der beteiligten Soldaten. Eine von einem englischen (!) Lord durchgeführte Untersuchung sprach sie alle frei, einige wurden für ihre Dienste gar mit einem Orden ausgezeichnet.

Ivan Cooper, Abgeordneter des nordirischen Parlaments, Vorsitzende der friedlichen Bürgerrechtsbewegung und selber Protestant, gibt noch am Ende des blutigen Tages eine Pressekonferenz, in der er erklärt:

Ich will der britischen Regierung nur folgendes sagen … Ihr wisst, was ihr gerade getan habt, oder? Ihr habt die Bürgerrechtsbewegung zerstört und der IRA den größten Erfolg beschert, den sie je haben wird. In der ganzen Stadt werden heute junge Männer… Kinder der IRA beitreten und den Sturm bringen, den ihr gesät habt.

Sam Millar gehört nicht zu denen, die sofort zu den Waffen greifen, doch auch ihn prägt dieser Tag tief. Als kurze Zeit später ein ehemaliger Schulfreund erschossen wird, zeigt er offen seine Sympathie für den militanten Republikanismus und tritt schließlich auch der IRA bei, welche ihrerseits durch Anschläge auf englischen Boden für tote Zivilisten sorgt. In dieser eskalierenden Gewaltspirale wird Millar erst in die Haftanstalt Crumlin Road, dann kurz darauf aufgrund von Waffen- und Sprengstoffbesitz in das legendäre Gefängnis Long Kesh eingewiesen. Ein ordentliches Gerichtsverfahren mit einer Möglichkeit zur Verteidigung bleibt ihm dabei verwehrt. Als sich die Tore hinter ihm schließen ist er der Willkür seiner Peiniger endgültig schutzlos ausgeliefert. Es dauert nicht lange und es kommt zu einem gewaltsamen Aufstand der Häftlinge, welche damit auf die unerträglichen Bedingungen in der Haftanstalt aufmerksam machen und ihren Widerstand gegen die britische Besetzung des Landes bekunden wollen. Ein Großteil des Gefängnisses brennt dabei ab und an dessen Stelle werden die H-Blocks errichtet. Eine Hölle auf Erden, in der auch die Unbeugsamsten gebrochen werden sollen. Unter ihnen ist auch Sam Millar.

Da man ihm und seinen Mitstreitern den Status des politischen Gefangenen verwehrt und stattdessen in die normale Gefängniskluft eines gemeinen Verbrechers stecken will, entledigen sie sich kurzerhand ihrer Kleidung und hüllen sich in Decken. Über mehrere Jahre werden die „Blanket-Men“ gefoltert und misshandelt, leben isoliert in winzig kleinen Zellen, an deren Wände sie ihre eigenen Extremente schmieren. Immer wieder kommt es zu Hungerstreiks, denen letztlich u.a. auch Bobby Sands erliegt. Es dauert eine gefühlte Ewigkeit bis sich diese politische Situation zumindest soweit entspannt, dass Millar Anfang der 80er Jahre freigelassen wird. Er hält sich nicht mehr lange in Nordirland auf, kehrt Belfast den Rücken und beginnt ein zweites Leben in New York. Und für den Leser damit der zweite Teil des Buches – wenn er bei all der geschilderten menschlichen Verdorbenheit es bis hierhin durchgehalten hat.

Man kann nur hoffen, dass er es hat, denn auch im weiteren Verlauf des Buches lässt uns Sam Millar nicht aus seinen Fängern und schildert mit viel Esprit und Humor seine ersten Schritte als Croupier in einem illegalen Casino, während er sich in Bezug auf seine Familie eher in Schweigen hüllt. Dass er heiratet und dreimal Vater wird, erfährt man eher nebenbei. Stattdessen bereitet er mit dem Überfall auf Brink’s, die älteste und größte Firma für gesicherte Geld- und Warentransporte, nochmal die Bühne für einen weiteren äußerst wirkungsvollen Spannungsbogen. Dieser Coup gilt bis heute als einer der spektakulärsten in der Geschichte Amerikas. Mehrere Millionen Dollar werden gestohlen, Millar später mit drei weiteren Verdächtigen verhaftet. Hergang bzw. Ablauf der Tat bleiben jedoch bis heute ungeklärt. Und natürlich erfahren wir von Sam an dieser Stelle natürlich auch nicht mehr (Wo ist der Rest von der Knete versteckt, Sam? ;-) ). Dafür amüsieren wir uns nochmal darüber, mit welch zarten Methoden das FBI Millar im Verhör zu brechen versucht. Nach dem Martyrium von Long Kesh kann man fast nicht anders, als in das Schmunzeln des Erzählers mit einzustimmen.

Ganz am Schluss klappt man den Buchdeckel dann aber doch nachdenklich zu. Wer sich schon wie ich etwas länger mit dem Nordirland-Konflikt beschäftigt, der ist sich der begangenen Gräueltaten (beider Seiten) durchaus bewusst. Derart nah wie hier bin ich ihnen aber bis dato nicht gekommen. Und wenngleich Brendan Behan in „Borstal Boy“ einen durchaus (nachhaltigen) Einblick in sein Leben als Häftling geben konnte – auf der emotionalen Ebene hat „True Crime“ doch noch einmal tiefere Spuren hinterlassen. Und das ist wohl dann auch das am Ende größte Kompliment, das ich aussprechen kann.

Wertung: 93 von 100 Treffern

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  • Autor: Sam Millar
  • Titel: True Crime
  • Originaltitel: On the Brinks
  • Übersetzer: Joachim Körber
  • Verlag: Atrium
  • Erschienen: 01.2015
  • Einband: Hardcover
  • Seiten: 416 Seiten
  • ISBN: 978-3855355136

Montys letzte Stunden

© Heyne

Oftmals sind es die kleinen Dinge am Wegesrand, welche einen den Tag versüßen oder einfach nur glücklich machen. Für die meisten anderen unscheinbar, sind sie für uns selbst etwas Besonderes, etwas das in Erinnerung bleibt. Das gilt in diesem Fall auch für „25 Stunden“, den Debütroman vom US-amerikanischen Schriftsteller und später vor allem durch seine Beteiligung an der TV-Serie „Game of Thrones“ bekannten Drehbuchautor David Benioff.

Obwohl bereits 2002 auf Deutsch veröffentlicht, führte sein Erstling ein über lange Zeit unbeachtetes Schattendasein auf dem Buchmarkt, bis durch sein zweites Werk „Stadt der Diebe“ der Name Benioff wieder neu in den Fokus rückte. „25 Stunden“ bekam daraufhin ein neues Cover verpasst und ward erneut aufgelegt. Die ganz große Aufmerksamkeit ist ihm aber dennoch versagt geblieben. Angesichts des Inhalts zwischen den Buchdeckeln ist das mehr als erstaunlich, denn der Roman ist ein tiefgängiges Kleinod im riesigen, an vielen Stellen sehr flachen Becken des Belletristik-Genres. Möglich, dass es nur an meiner zuvor eher neutralen Erwartungshaltung lag, aber Fakt ist: Über „25 Stunden“ seinen Senf abzugeben, ohne dabei nicht mindestens einmal das Wort „Meisterwerk“ in den Mund zu nehmen, fällt schwer.

Die Geschichte ist, auch wegen der Kürze des Buchs, relativ schnell erzählt: Tiefer Winter in New York. Für Montgomery „Monty“ Brogan ist das Leben, so wie er es bisher kannte, ab morgen vorbei. Wegen eines Rauschgiftdeliktes muss er für 7 Jahre hinter Gittern. Und ab diesem Zeitpunkt, und auch danach, nur für den Fall, das er den Knast überlebt, wird nichts mehr wieder so sein wie es war. Monty weiß das, und seine besten Freunde Slattery und Jacob wissen das auch. So beginnt der letzte Tag, die letzten 25 Stunden in Freiheit für Monty, der noch einmal seine Lieblingsplätze in New York aufsucht, um diese so intensiv und lebendig wie möglich zu erleben, auf das diese Stadt, in der er sein ganzes Leben verbracht hat, auch in Gedanken weiterhin lebendig bleibt …

Auf den ersten Blick betrachtet ist das eine Handlung, die so spannend ja eigentlich nicht sein kann. Was will man schon in diese „25 Stunden“ pressen? Schießereien? Morde? Abrechnungen mit alten Feinden? Benioffs Erstling spielt mit den Erwartungen, um dann letztlich etwas zu bieten, mit dem man nicht gerechnet hat. In verschachtelten Rückblenden erfährt der Leser, wer Monty ist, und wie er zu dem wurde, der er nun ist. Ziemlich schnell wird dabei deutlich: Brogan ist smart, beliebt und angesehen. Ein Mensch, der bisher fast immer nur auf der Sonnenseite gelebt und alles erreicht hat, was er wollte. Und der damit im krassen Widerspruch zu den üblichen Gangsterklischees steht. Selbst die Kindheit war eine glückliche, wäre da nicht der frühe und schmerzliche Tod seiner Mutter gewesen, der ihn aus der Bann geworfen hat. Eine einzige Entscheidung, getroffen aus dem Bauch heraus und doch die falsche, ein simpler Zufall, begründet schließlich seine kriminelle Laufbahn. Und hier zeigt sich das Besondere an diesem Buch: Benioff verurteilt nicht, noch ergreift er Partei. Er überlasst den Leser seinen Betrachtungen, lässt ihn sich seine eigene Meinung bilden. Und diesem wird es schwer fallen, Monty nicht zu mögen.

Durch die Augen der beiden Freunde Slattery und Jacob, über deren Leben man so nebenbei auch noch einiges erfährt, gewinnt Montys Geschichte im Laufe der Handlung immer mehr an Tiefe und erweckt eine Figur so bildreich zum Leben. Seine Schicksalsschläge teilt man, die Angst vor dem, was hinter den Gefängnisgittern auf ihn wartet, beginnt man unweigerlich selbst zu spüren. Es ist eine Angst vor der Hoffnungslosigkeit, aber auch vor dem Abschied. Von Menschen, die Monty lieb gewonnen hat, die seinen Weg begleitet haben. Und von einem Pitbull, dem er einst vor dem sicheren Tod rettete und der nun an seinen Freund Jacob gehen soll. Ein Mensch wird ins Gefängnis geschickt, der einen Fehler gemacht hat. Einen großen Fehler. Aber er ist dennoch ein guter Mensch, dem man eben das nicht wünscht, was er zweifellos verdient hat. Was soll er tun? Weglaufen? Den Selbstmord wählen? Montys letzter Abend in Freiheit für mindestens 7 Jahre nimmt für alle Beteiligten einen dramatischen Verlauf.

Benioff pflegt dabei eine Dramaturgie der wenigen und vor allem der ruhigen Worte. Das pulsierende Leben in der Großstadt, die einsamen Momente in der Dämmerung am Fluss, Montys Gedanken, Ängste und unerfüllte Träume, Schuld und Sühne, eine Ahnung von Glück. Alles wird so klar und treffend geschildert, als würde man es selbst erleben. Benioff greift die großen Themen der Literatur auf: mitreißend und nachdenklich, bewegend und differenziert. Hierbei spielt New York eine wesentliche Rolle. Wie Monty selbst liebt David Benioff diese Stadt, diesen Ort der Verführung, des Zynismus, aber auch der unbegrenzten Möglichkeiten, der Treue und der Heimat, dessen Kulturszene der Autor ebenso beschreibt, wie die Menschen und die vor Eis klirrende, kalte Winternacht. „25 Stunden“ ist eindeutig mehr als nur der Abgesang auf einen Gangster. Es ist eine Liebeserklärung an New York und die Suche nach der Antwort auf existentielle Fragen: Wer bin ich? Was macht das Leben wirklich aus? Sind Ruhm und das Geld es wert, seine Träume und Ideale zu verraten?

Die gefühlvollen Inneneinsichten der einzelnen Protagonisten werden für den Leser zu einem unterschwelligen Appell an die Dinge, die im Leben von Bedeutung sind: Freundschaft, Liebe, Vertrauen. Gleichzeitig ist es eine Warnung vor dem falschen Weg, vor dem was am Ende wartet. Wenn man so will ist „25 Stunden“ also ein Knastroman, der sich zwar nie in die Mauern des Gefängnisses begibt, aber trotzdem – oder gerade deswegen – die Atmosphäre einer solchen Institution vor Augen führt. Eine Hölle für diejenigen, die zu viel Gutes in sich haben, die eben noch nicht skrupellos und abgestumpft sind. David Benioff ist es gelungen, den Spagat zwischen Unterhaltung und Anspruch ebenso zu meistern, wie den zwischen Komplexität und klarer Linie. Er schreibt mit einer schon erschreckenden Souveränität und kreiert einen bis zum Ende steigenden Spannungsbogen.

25 Stunden“ ist ein Buch, das mich atemlos und nachhaltig beeindruckt zurückgelassen hat, gerade weil es diese in der heutigen Zeit verloren gegangene Erkenntnis, dass das Leben einzigartig und schätzenswert ist, wieder mehr ins Bewusstsein gerückt hat. Warum dieses grandiose, in den USA hochgelobte Werk hierzulande (trotz der relativ zeitnahen Verfilmung durch Spike Lee mit Edward Norton in der Rolle als Monty) so untergegangen ist, wissen wohl nur die Verleger.

Wertung: 93 von 100 Treffern

einschuss2
  • Autor: David Benioff
  • Titel: 25 Stunden
  • Originaltitel: The 25th Hour
  • Übersetzer: Frank Böhmert
  • Verlag: Heyne Verlag
  • Erschienen: 10/2009
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 224 Seiten
  • ISBN: 978-3453434783

Eine zerrissene Zeit

© Kiepenheuer & Witsch

Wenn von den wichtigsten zeitgenössischen Schriftstellern der USA die Rede ist, fällt sein Name unweigerlich: Edgar Lawrence Doctorow. Der Sohn russisch-jüdischer Einwanderer, welcher seine Jugend in der Bronx verbrachte, unterrichtete seit 1982 auf einem eigens für ihn geschaffenen Lehrstuhl für englische und amerikanische Literatur an der New Yorker University. Und auch für viele moderne Autorenkollegen gilt der Faulkner-Award-Preisträger bis heute als stilistisches Vorbild. Im Vergleich zu Philip Roth, John Updike oder Jonathan Franzen ist Doctorows Bekanntheitsgrad hierzulande jedoch eher gering, obgleich er in Besprechungen und Rezensionen des Feuilletons fast durchgehend gepriesen wird.

Alles gute Gründe für mich, meinerseits einen Blick auf den im Jahr 2015 verstorbenen Amerikaner und seinen ersten größeren Erfolg „Ragtime“ zu werfen, der im Big Apple des anbrechenden 20. Jahrhunderts spielt und gleich mehrere Handlungsebenen miteinander verwebt. Und soviel sei vorab schon verraten: Das war sicher nicht mein letzter Doctorow.

Die übliche „Im-Mittelpunkt-der-Geschichte-steht“-Zusammenfassung entfällt an dieser Stelle, da es eigentlich eine kaleidoskopisch angeordnete Handvoll Geschichten sind, zwischen denen sich wiederum mehrere Verbindungen entwickeln. Wenn es überhaupt so etwas wie eine Hauptfigur gibt, dann ist es der afro-amerikanische Ragtime-Pianist Coalhouse Walker, dessen nagelneues Ford Model T von rassistischen Feuerwehrleuten zerstört wird. (Die Ähnlichkeit zu der Erzählung „Michael Kohlhaas“ von Heinrich von Kleist, in welcher der Protagonist im Streben um soziale Gerechtigkeit ebenfalls scheitert, ist augenscheinlich gewollt) In seinem Versuch den ursprünglichen Status Quo wiederherzustellen und sein Recht, die Reparatur des Wagens, durchzusetzen, ruiniert sich Walker schließlich nach und nach selbst. Aus dem Protest wird ein hoffnungsloser Amoklauf, dem sich bald weitere schwarze Mitbürger anschließen.

Desweiteren erzählt Doctorow von einer weißen Familie der Mittelschicht, von zwei jüdischen Einwanderern, vom Entfesselungskünstler Houdini, vom Wirken der Anarchistin Emma Goldman, von den Ideen des Automobilherstellers Henry Ford, von der Schauspielerin und Amerikas erster Sexgöttin Evelyn Nesbit und der Dienstreise der Psychoanalytiker Sigmund Freud, Carl Gustav Jung und Sándor Ferenczi. Und das alles auf knapp 340 Seiten …

Als ob dem Autor diese Fülle an Personen nicht schon genügen würde, um seine Leser zu überrollen, erstreckt sich gleich der erste Absatz des Romans über mehr als zwei Seiten – und die Sätze kommen wie ein Sturzbach daher. Fast scheint es, als hätte hier Doctorow vergessen Luft zu holen, derart schnell und komprimiert folgen die knappen Aussagen, welche uns, einem Schlaggewitter gleich, um die Ohren gehauen werden. Ein atemlos schwingendes Stakkato von Eindrücken, im farbigen Verschnitt zusammengefügt, so dass nicht nur ein Bild vom Leben in den USA zu Beginn des 20. Jahrhunderts Gestalt annimmt, sondern dieses, wie auch oft von dieser Epoche der Geschichte behauptet, laufen lernt. Tempo ist das Schlagwort. Und selbst wenn die Handlung noch ein paar Jahre von den „Roaring Twenties“ trennt, deutet doch vieles in dieser Vor-Gatsby-Welt an, dass sich gesellschaftliche Veränderungen von nun an radikal und vor allem viel schneller vollziehen.

Es ist gerade dieser „Wochenschau“-Charakter, dieser quirlige Jazz in Doctorows Prosa, welcher sofort und über das Ende hinaus beeindruckt, da er mit auf den ersten Blick einfachsten Mitteln ein großes Panorama zeichnet – und gleichzeitig einen Abgesang auf den „American Way of Life“ darstellt, den Sigmund Freud im Buch gar als „gigantischen Irrtum“ bezeichnet. Der Autor schlendert dabei stilsicher vom lakonischen über das ironische bis hin zum melancholischen, ohne sich künstlicher Effekte bedienen zu müssen. Stattdessen sprechen die Taten oder halt ihr Unterbleiben für die verschiedenen Protagonisten seines Romans. Dennoch muss dieser Berg von Episoden erst einmal vom Leser bestiegen werden, der sicherlich seine Zeit brauchen wird, um das Konstrukt von „Ragtime“ zu durchschauen und in Folge dessen die Suche nach einem roten Faden in der Handlung aufzugeben. Inwieweit auch die deutsche Übersetzung diese Ragtime-Rhythmen gestutzt hat, kann mangels Kenntnis des Originals nicht beurteilt werden. Es wäre jedenfalls eine Erklärung, warum sich die amerikanische Begeisterung für dieses Buch in Deutschland nie so in diesem Maße wiederholt hat.

Nach Beendigung der Lektüre steckte ich jedenfalls in einem Dilemma. Wirklich gemocht habe ich „Ragtime“ nicht, von lieben ganz zu schweigen. Und doch ist da diese unterschwellige Begeisterung, dieses nachhaltige Wirken des Romans, der mich wohl in Bälde zu weiteren Doctorow-Werken greifen lässt. Denn egal wie amerikanisch das Werk letztlich auch ist: Für raffiniert ausbalancierte Nostalgie und derb-grinsende Gesellschaftskritik bin ich immer zu haben. Vor allem wenn es gegen Schluss hin derart spannend kredenzt wird wie hier.

Wertung: 89 von 100 Treffern

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  • Autor: Edgar Lawrence Doctorow
  • Titel: Ragtime
  • Originaltitel: Ragtime
  • Übersetzer: Angela Praesent
  • Verlag: Kiepenheuer & Witsch
  • Erschienen: 2/2011
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 336 Seiten
  • ISBN: 978-3462043198

Daly Business

© Fischer

Elizabeth Daly. Selbst den Viellesern unter den Krimifans wird dieser Name wohl heute nichts mehr sagen. Dafür muss man sich auch sicher nicht schämen, ist doch die amerikanische Autorin schon seit Ende der 50er Jahre vom deutschen Büchermarkt verschwunden. Nur drei ihrer sechzehn Romane wurden überhaupt übersetzt und selbst die Originalausgaben sind in ihrem Heimatland begehrte Raritäten. Daly ist in Vergessenheit geraten, obwohl sie 1960 mit dem Edgar Award ausgezeichnet worden ist und die große „Queen of Crime“, Agatha Christie, zu ihren glühensten Verehrerinnen gehörte. Umso mehr war die Entscheidung des Fischer Verlags zu begrüßen, eines ihrer Werke im Rahmen der „Crime Classic“-Reihe neu zu veröffentlichen. Mit „Das Buch des Toten“ ging diese Serie in die zweite, und, da sie leider bereits wieder eingestellt worden ist, gleichzeitig letzte Runde. Nach den klassischen englischen Krimis der ersten Staffel, konzentrierte man sich jetzt auf die alten Perlen aus den USA.

Das Buch des Toten“ führt uns zurück in das New York des Jahres 1943. In Europa tobt ein erbitterter Krieg, der auch immer mehr Amerikaner das Leben kostet. An der Heimatfront werden Arbeitskräfte knapp. Zudem leidet die Bevölkerung in diesem Sonne unter einer erdrückenden Hitzewelle. Henry Gamadge, „eine Art Spezialist für alte Bücher und Familiendokumente“, hat sich in die Kühle seiner Privatbibliothek zurückgezogen, als ihn die junge Zahnarzthelferin Adele Fisher um Hilfe bittet. Diese ist gerade aus Vermont zurückgekommen, wo sie in ihrem Heimatdorf Stonehill den Urlaub verbracht und dabei Howard Crenshaw kennen gelernt hat. Der ältere Herr war zum Zeitpunkt ihres Treffens bereits sterbenskrank und willens, die letzten Tage seines Lebens in der Abgeschiedenheit seines Hauses zu verbringen. Nähere Angehörige hat er nach eigenen Aussagen keine. Trotzdem kam man ins Gespräch und freundete sich an. Allein der Diener Perry störte diese Idylle. Zu Adeles Überraschung setzte dieser alles daran, Crenshaw, der immer wieder in großer Furcht zu sein schien, vollkommen zu isolieren. Als Herr und Diener urplötzlich nach New York abreisten und Adele kurz darauf vom Tode Crenshaws erfuhr, kamen ihr Zweifel. Warum diese Angst bei Crenshaw? Und was hat es mit diesen seltsamen schriftlichen Anmerkungen auf sich, die sich auf den Seiten des Shakespeare-Bandes befinden, den der ältere Herr ihr geliehen hat? Sind es vielleicht gar Hilferufe?

Gamadage, der sich schon oft als Privatdetektiv betätigt hat, soll jetzt Licht ins Dunkel bringen und das Rätsel lüften. Gemeinsam mit Adele versucht er die letzten Tage von Howard Crenshaw nachzuvollziehen, wobei er auf einige Unregelmäßigkeiten stößt. Obwohl äußerst wohlhabend, ließ sich der todkranke Mann von dem abgewrackten Arzt Florian Billing betreuen. Eine ungewöhnliche Wahl, zumal Billing in Kontakt mit dem Woods-Heim steht. Eine Einrichtung für Geisteskranke, Alkoholiker und Rauschgiftsüchtige, in die nicht selten auch ehemalige Verbrecher abgeschoben werden. Gamadage stellt Fragen und setzt ein paar befreundete Detektive auf den Fall an. Und bald wird ihm klar, dass er in ziemlich dunklen Wassern gefischt hat. Adele Fisher wird auf offener Straße der Schädel eingeschlagen. Und auch Gamadage, der nun noch entschlossener die Nachforschungen vorantreibt, bekommt zu Hause ungebetenen Besuch…

Unauffällig und unspektakulär wären wohl die ersten Wörter, die mir im Zusammenhang mit Dalys „Das Buch des Toten“, besonders in Hinblick auf die Figur Henry Gamadge, in den Sinn kommen würden. Im Gegensatz zu den meisten anderen klassischen Detektiven der Golden Age-Krimis, bleibt dieser weitesgehend blass. Während sonst die Genialität exzentrisch zelebriert oder in Proben unter Beweis gestellt wird, kann man sie hier nur erahnen. Gamadge ist farblos, ohne Ecken und Kanten, „ein gewissenhafter Staatsbürger“. Eine Person, welche in einem Holmes oder Fell-Fall allenfalls als Constable besetzt werden würde. Auch sein Aktionsraum ist äußerst begrenzt. Gamadge beschränkt sich darauf im Hintergrund zu bleiben und von dort Suche, Jagd und Fang des gesuchten Täters zu koordinieren. Wo sonst gerade die überzeichneten Schurken und arroganten Ermittler den Charme des typischen Cozys ausmachen, wird hier Dalys Hang zum Realismus ziemlich deutlich. Verdunklung, Benzinrationierung, Männermangel. Der vor dem Hintergrund des Krieges spiegelnde Fall hat einen ebenso ernsten Ton, was ihn zwar um ein vielfaches authentischer, aber letztendlich auch ziemlich langweilig macht.

Zudem muss man sich fragen, ob „Das Buch des Toten“, welches 1944 erschien, überhaupt noch zu den Werken des „Golden Age“ gezählt werden darf, denn gerade die Cozys dieser Epoche haben es besonders mit der Realitätsnähe nicht immer so genau genommen. Und auch die Atmosphäre der Gemütlichkeit geht diesem Buch, trotz beschaulicher Landsitze und Gasthöfe, irgendwie ab. Dafür kann wiederum der Aufbau des Falles überzeugen, denn dieser wurde nicht nur genial konstruiert, sondern ist für einen Krimi mit gerade mal 228 Seiten gleichzeitig ziemlich komplex geraten. Die Hintergründe des begangenen Verbrechens (und damit auch der Leser) werden lange im Dunkel gelassen, der anfänglich eindeutig wirkende Fall mit jeder Seite undurchsichtiger und nebulöser. Auffällig ist dabei, dass man dank einiger Perspektivwechsel einen Wissensvorsprung gegenüber Gamadge gewinnt. Szenen, an denen er nicht beteiligt ist, geben uns zusätzliche Informationen. Das diese dann trotzdem am Ende nicht ausreichen, um vor dem Hobbydetektiv das Rätsel zu entwirren, ist ein Beleg für Dalys Qualitäten.

Diese will auch ich ihr nicht absprechen. Fakt bleibt aber: Ihr geringer Bekanntheitsgrad hierzulande ist für mich nach dieser Lektüre nachvollziehbar. Neben all den Nero Wolfes, Philo Vances und Sam Spades bleibt Henry Gamadge leider eine ziemlich graue, langweilige Maus. Diese Figur ist es, die den Lesespaß des gesamten Buches dann auch etwas schmälert.

Das Buch des Toten“ ist ein intelligent konstruierter Whodunit, ohne viel Schnörkel und Schminke, der, sehr nüchtern erzählt, für wenig Unterhaltung sorgt, abereinen Blick in die Anfänge des amerikanischen Krimis erlaubt. Dessen Geschichte widmet sich übrigens Lars Schafft in einem der zwei aufschlussreichen und informativen Nachworte (oder sind es Nachwörter?), welche für Interessierte allein schon den Kauf dieses Buches lohnen würden.

Wertung: 75 von 100 Treffern

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  • Autor: Elizabeth Daly
  • Titel: Das Buch des Toten
  • Originaltitel: The Book of the Dead
  • Übersetzer: Heinz F. Kliem
  • Verlag: Fischer
  • Erschienen: 04/2009
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 244 Seiten
  • ISBN: 978-3596184668

Wenn die Dinge aus dem Lot kommen …

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© Heyne

Nein, die größte Strahlkraft besitzt Stephen Kings 1980 erschienener Roman heute nicht mehr. Und auch an die – meines Erachtens eher missratene – Verfilmung mit der jungen Drew Barrymore, welche vier Jahre später auf die Leinwand gebracht wurde, erinnern sich wohl nur noch die ganz enthusiastischen Anhänger des „Grand Master of Horror“.

In beiden Fällen mag dies daran liegen, dass der Plot vergleichsweise schlecht gealtert ist bzw. seine Sogkraft aus Themen zieht (Telekinese, halluzogene Mittel, Mutationen und Verschwörungstheorien), die bei Veröffentlichung von „Feuerkind“ voll im Trend lagen, heute aber nur noch die wenigsten Leser hinter dem Ofen hervorlocken, da sie in der Zwischenzeit bereits viel zu oft in verschiedensten Medien behandelt worden sind. Grund genug also, dieses Werk links liegen zu lassen und zu überspringen?

Das hängt vor allem von der Erwartungshaltung mit der man die Lektüre herangeht ab, denn nach klassischen Horror- und Gruselgeschichten wie „Brennen muss Salem“ oder „Shining“ sowie einem Endzeit-Szenario („The Stand“) deutete bereits „Dead Zone“ an, dass King das literarische Spiel mit unserer Angst weit komplexer definiert, als man es vom reinen Horror-Genre bis dato gewöhnt war. Wie schon zuvor Algernon Blackwood dient das Übersinnliche oder Übernatürliche lediglich als Fundament, um darauf eine Handlung aufzubauen, der man – auch wenn das viele seiner Kritiken nicht gerne hören bzw. wahrhaben wollen – so auch in der modernen Unterhaltungsliteratur begegnen könnte. Es ist nun also die Frage, ob einem als King-Leser einzig und allein der „magische Effekt“ interessiert oder auch die Bühne, auf der dieser aufgeführt wird. Ist Letzteres der Fall, so vermag auch das etwas antiquierte „Feuerkind“ zu unterhalten, da es, wie zuvor schon „Carrie“ (und später „Es“ und andere Werke), eine „Coming-of-Age“-Geschichte erzählt, welche eben trotz der aus heutiger Sicht kruden Begleitumstände nichtsdestotrotz auf gefühlsmäßiger Ebene genau ins Schwarze trifft.

Und nun kurz zum Inhalt: Geld ist etwas, das man als Student in den späten 60er Jahren genauso gut gebrauchen konnte wie heute. Und Andy McGee und Vicky Tomlinson glauben sich dies besonders leicht verdienen zu können, als sie sich am 6. Mai 1969 als Freiwillige für ein (vermeintlich) harmloses wissenschaftliches Experiment zur Verfügung stellen. Doch in dem Moment wo ihnen die neuartige Substanz Lot 6 verabreicht wird, ändert sich ihr ganzes Leben. Andy erlebt hautnah mit, wie einige der Probanden ihren Verstand verlieren und kann urplötzlich eine geistige Verbindung zu seinem behandelnden Arzt herstellen. Der ist in Wirklichkeit ein Mörder und Vergewaltiger, welcher für eine geheime Organisation namens „Die Firma“ arbeitet, die mittels der Tests herausfinden will, ob Drogen paranormale Fähigkeiten bei Menschen wecken können. Während sich der Patient neben ihm vor Wahn die Augen mit bloßen Händen aus dem Kopf reißt, erfasst Andy das ganze Ausmaß des Komplotts. Nach dem er in seinem Bett aufgewacht ist, flieht er gemeinsam mit Vicky – nicht wissend, dass die Firma sie die nächsten Jahre in den Augen behalten wird.

Für eine lange Zeit kehrt fast so etwas wie Normalität im Leben der beiden ein, die mittlerweile geheiratet und eine gemeinsame Tochter bekommen haben. Charlie hat jedoch nicht nur die kinetische Begabung ihrer Eltern geerbt, sondern kann sogar Kraft ihrer Gedanken Feuer entfachen. Mehr noch: Gerät ihre Fähigkeit außer Kontrolle, birgt sie das Potenzial den ganzen Planeten zu vernichten. Eine Gefahr, die drohend über dem Glück der Familie schwebt. Als die „Firma“ von der Stärke ihrer Begabung erfährt, macht sie Jagd auf die McGees. Und für Vater und Tochter beginnt die Flucht und der Kampf uns Überleben …

… und für den Leser damit die Lektüre, denn anders als bei den meisten anderen Büchern aus Stephen Kings Feder, verzichtet er hier auf eine längere Einführung, sondern schmeißt uns direkt ins Getümmel der Metropole New York, aus der Andy McGee und Charlie entfliehen wollen. Dicht gefolgt von den Agenten der „Firma“, die erst kurz zuvor Charlies Mutter auf brutale Weise gefoltert und umgebracht haben. Ein Sprung in das kalte Wasser bzw. in diesem Fall heiße Wasser, sind doch sowohl Vater als auch Tochter im Verlauf der weiteren Stunden gleich mehrmals auf ihre Fähigkeiten angewiesen, worunter insbesondere ersterer zu leiden hat, der bei jedem Einsatz seiner Gedankenkontrolle seinem Gehirn mehr Schaden zufügt. Viel prasselt auf den ersten Seiten auf den Leser ein, dem nur nach und nach in Rückblicken offen gelegt wird, was die Gründe für die Jagd auf die beiden sind und wie sie zu ihren Kräften kamen – wodurch wiederum gerade zum Anfang hin das Tempo ziemlich hoch gehalten wird. „Ungewöhnlich actionreich“ war da mein erster Eindruck, kenne ich King sonst eher doch als bedächtigen Plot-Baumeister, der den Spannungsbogen zugunsten von Kurzweil und Dynamik stattdessen weit ausholend emporhebt.

Im Zuge dessen ist es vor allem das erste Drittel von „Feuerkind“, das sich am besten gehalten hat bzw. an dem am wenigsten der Zahn der Zeit genagt hat, auch weil man relativ einfach Zugang zu den Figuren, hier an erster Stelle Andy, findet. Wenn dieser andere Menschen beeinflusst, geht das genauso wenig am Leser spurlos vorbei, wie die Schicksalsschläge, welcher dieser immer wieder verkraften muss. Wo sich sonst bei King der Horror eher gemächlich in den Alltag schleicht, wird der Frieden diesmal urplötzlich gestört und gebrochen, wodurch das Gefahrenmoment umso greifbarer wird. Auch wenn es sich um Personen mit besonderen Fähigkeiten handelt – letztlich versucht doch nur ein Vater seine Tochter zu beschützen. Und dieses simple Rezept funktioniert, zumindest am Anfang, hervorragend.

Den gerade gezogenen, strammen Faden verliert King allerdings im Mittelteil des Buches und das obwohl das namensgebende „Feuerkind“ nun weit mehr in den Fokus rückt und sich mit dem Indianer Rainbird ein skrupelloser Antagonist der Besetzung anschließt. Dessen Wirken auf die junge Charlie ist noch das beklemmendste Element eines an Höhepunkten eher armen Abschnitts, dem es mir persönlich einfach zu sehr an Konsequenz gemangelt hat. Über die Andeutungen von Gefahren kommt „Feuerkind“ über viele Seiten nicht hinaus – zu wenig, um auf Dauer bei der Stange zu halten. Erst als Andy wieder die Initiative ergreift, wird das Steuer herumgerissen und Fahrt aufgenommen, wobei es mich selbst überrascht hat, dass ich seinen geistigen Einfluss (und die Folgen) für lange Zeit als weit erschreckender empfand, als das pyrokinetische Zerstörungspotenzial seiner Tochter. Erst am Ende wird diese dann – in gewisser Weise als Reminiszenz an „Carrie“ – von Kings Leine gelassen. Mit dem sprichwörtlich heißen Finale kriegt er dann letztendlich noch die Kurve und schafft es mal wieder mit traumwandlerischer Sicherheit dem Leser seine zuvor (unbewusst) zu den Figuren aufgebaute Beziehung emotional vor Augen zu halten.

Feuerkind“ mag kein Meilenstein von Stephen King sein, ist aber auch weit davon entfernt zu den schlechtesten seiner Werke zu gehören. Menschliche Schicksale menschlich darzustellen – darin ist und bleibt er auch hier einfach ein Großer. Ein Buch das zufrieden sättigt, wenn man auf Kingsche Feinkost steht, den einzigartigen Geschmack seiner Klassiker aber über weite Strecken vermissen lässt.

Wertung: 83 von 100 Treffern

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  • Autor: Stephen King
  • Titel: Feuerkind
  • Originaltitel: Firestarter
  • Übersetzer: Harro Christensen
  • Verlag: Heyne
  • Erschienen: 10.2007
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 560 Seiten
  • ISBN: 978-3453432734

 

Entmystifizierung des amerikanischen Traums

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© Penguin

„Zeiten des Aufruhrs“ (engl. „Revolutionary Road“), dessen Erstveröffentlichung im Jahre 1961 auf großen Beifall stieß, genießt bei den Lesern amerikanischer Literatur seit Beginn der 60er Kultstatus, während man es hierzulande eher in der Kategorie der „modernen Klassiker“ führt. Ein Prädikat, das nicht selten einfach nur bedeutet: „Buch steht ungelesen im Schrank“. Dabei lohnt dieses Werk gelesen zu werden, ist es doch ein Abgesang auf den „American Way of Life“, der heutzutage immer noch Gültigkeit hat und der, durch Richard Yates‚ illusionslose Betrachtungsweise, den amerikanischen Traum endgültig entmystifiziert.

Yates‘ Debütroman führt den Leser zurück in die glücklichen Fünfziger Jahre. Eine Ära des allgemeinen Wohlstands, ein Neuanfang nach den Schrecken der großen Kriege am Anfang des Jahrhunderts. Man wohnt in schicken Einfamilienhaussiedlungen außerhalb der Stadt, gleitet in übergroßen Straßenkreuzern dahin und genießt im Allgemeinen die luxuriösen Bequemlichkeiten der Moderne. Doch inmitten dieser finanziellen Sicherheit und dem familiären Glück schwärt die Unzufriedenheit, finden sich die Ursachen der Langeweile. Plötzlich ist der erreichte Status Quo nicht mehr ausreichend, sucht man Wege heraus aus dem kleinbürgerlichen Käfig, den man sich vorher so bestrebt selbst geschaffen hat. Und unter den Dächern der bunten Häuschen mit den eiscremefarbenen Autos vor der Garage gärt es, klaffen plötzlich Lücken zwischen Schein und Sein, Erwartung und Realität.

So auch bei Frank Wheeler, der Hauptfigur des Buches. Ein Möchtegern-Intellektueller dem jeglicher Ehrgeiz abgeht und dies mit „der Suche nach seiner Bestimmung“ zu erklären versucht. Gerade mal Ende zwanzig scheint für ihn das Leben mit Ehefrau und Kindern schon keine Überraschungen mehr zu bieten. Das gemütliche Heim, die lieben Nachbarn, sein einfacher Job – all das hängt ihm genauso zum Halse raus, wie seine Gattin April, die als unterforderte Hausfrau die Stütze ihres Mannes spielt und ihre wahre Gemütslage unter einem strahlenden Lächeln versteckt. Gemeinsam leben sie in der „Revolutionary Road“ auf dem „Revolutionary Hill“, einer Reihenhaussiedlung außerhalb von New York, wo man in einstudierten und aufwendig inszenierten Gesten seine Freizeit mit Freunden verbringt, stets darauf bedacht falsche Themen zu meiden und darum bemüht, das spießbürgerliche Verhalten des jeweils anderen nicht zu bemerken. Wunschträume und Luftschlösser bilden das Fundament des Zusammenlebens, halten die bröckelnden Steine der Fassade zusammen. Als April jedoch eines Tages den Vorschlag unterbreitet, durch einen Umzug nach Paris den eingefahrenen Verhältnissen zu entfliehen, stürzt die aus Lebenslügen gemauerte bürgerliche Existenz zusammen …

„Schelmisch überspitzte Schilderungen noch kleinster menschlicher Eitelkeiten und gesellschaftlicher Rituale, schwarze Porträts von grotesk zerrütteten Ehen, hochpräzise Miniaturen von Nebenfiguren und ungewöhnlich böse Urteile über Arroganz, die sich als Unschuld gibt“.

Diese Auszüge aus dem Nachwort von Richard Ford könnten Yates‘ Roman nicht besser beschreiben, ist doch bereits der Titel (der deutsche wie das Original) ironisch zu verstehen, da es zu einem Aufruhr oder gar einer Revolution niemals kommt. Stattdessen legt der Autor nach und nach die Spannungen unterhalb der Oberfläche frei, seziert mit boshafter Eleganz die Tücken einer einstudierten, nie auf Liebe gebauten Ehe, ohne dabei eines moralischen Zeigefingers zu bedürfen. Er beschreibt den langweiligen Alltag einer typischen Vorzeigefamilie und tut dies mit einer Spannung, die elektrisierend wirkt, die uns Anteil nehmen lässt, ja, die am Ende schlichtweg betroffen macht. Nicht weil Yates seine Figuren so gut gezeichnet hat, sondern gerade weil sie nicht „gezeichnet“ wirken. Vielmehr begegnen uns hier Menschen, in denen sich ein jeder auf erschreckende Art und Weise selbst wiederfindet. Wie oft ist es mir während der Lektüre passiert, dass mir das Ganze plötzlich zu nah ging, weil ich das Gefühl nicht los wurde, dass mich da jemand selbst analysiert.

Hierin besteht Yates große Kunst. „Zeiten des Aufruhrs“ ist nicht einfach nur als das Psychogramm einer Ehe oder als Satire auf das System zu verstehen – es ist ein Roman über die Unzulänglichkeit des Menschen, über die Gefahren von übergroßer Zufriedenheit und Unehrlichkeit. (Das gerade der schizophrene Sohn der Hausmaklerin, John Givings, derjenige ist, der die Wahrheit ausspricht und dafür den Rest des Lebens in der Irrenanstalt fristen muss, entbehrt da nicht einer gewissen Ironie und Symbolik.) Und gerade weil dies der Autor nicht wie ein Plädoyer oder eine Anklage klingen lässt, wirkt das Ganze umso mehr.

Zeiten des Aufruhrs“ ist ein sprachlich herausragendes, bewegendes, großartiges Stück moderner amerikanischer Literatur. Ein meisterhaft geschriebener, bis in kleinste Wort durch komponierter Genuss, der mir manchmal die Kehle zugeschnürt, aber vor allem eines – nämlich tief beeindruckt hat.

Wertung: 97 von 100 Treffern

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  • Autor: Richard Yates
  • Titel: Zeiten des Aufruhrs
  • Originaltitel: Revolutionary Road
  • Übersetzer: Hans Ulrich Wolf
  • Verlag: Penguin
  • Erschienen: 09.2017
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 368 Seiten
  • ISBN: 978-3328101543

Chronik eines Gescheiterten

© btb

Edward Hoppers „Nighthawks“ (frei übersetzt: „Nachtschwärmer“) ist nicht nur eines der populärsten Bilder des 20. Jahrhunderts (es wurde oft kopiert und noch öfter zitiert), sondern gehört auch zu meinen persönlichen Favoriten, was insofern erwähnenswert ist, da ich mich ansonsten für Kunst kaum interessiere und noch weniger Ahnung von der Thematik habe. Fakt ist jedenfalls: Hoppers Komposition der Farben spricht mich genauso an, wie die Grundstimmung des Bilds, das drei in einer Bar sitzende Gäste zeigt, welche aneinander vorbeischauen und allem Anschein nach ihren eigenen Gedanken nachhängen.

Während draußen bereits die Nacht hereingebrochen ist, tauchen die Lampen des „Phillies“ alles in ein kühles, grelles Licht, das die Einsamkeit der Figuren noch unterstreicht. Durch die Theke von ihnen getrennt, geht der Barkeeper seiner Arbeit nach. Seine Aufmerksamkeit gilt dem rauchenden Mann vor ihm, der seinerseits die Frau neben sich kaum wahrzunehmen scheint. Abseits von ihnen sitzt ein weiterer Mann, mit der Rückenpartie zum Betrachter. Sein Hut hängt tief im Gesicht, sein Blick ist nach unten gerichtet. Meiner Ansicht nach ist es letztlich er, der die Popularität von „Nighthawks“ begründet. Einsam und in der hellen Ausleuchtung des Diners auch irgendwie exponiert, fungiert er als Fragezeichen für den Betrachter. Wer ist dieser Mann? Wo kommt er her? Warum wirkt er so niedergeschlagen?

Interpretationsansätze und -möglichkeiten gibt es sicherlich genug. Kein anderer hat für mich jedoch bisher eine passendere Hintergrundgeschichte geliefert als Richard Yates, der in seinem dritten Roman „Ruhestörung“, welcher im Jahr 1975 veröffentlicht worden ist, die Geschichte vom Absturz John Wilders erzählt. Und der erinnerte mich mehr als nur einmal, an den Mann auf dem bekannten Bild.

Wir schreiben den September des Jahres 1960. Wilder ist ein unauffälliger, durchschnittlicher New Yorker aus der Mittelschicht, mäßig talentiert, und doch beruflich recht erfolgreich im Verkauf von Anzeigen. Zuhause wartet eine auf ihn liebende Frau täglich auf seine Rückkehr aus dem Büro. Und am Wochenende entfliehen sie zumeist, gemeinsam mit ihrem zehnjährigen Sohn, dem Trubel des Big Apple und fahren aufs Land. Kurzum: Alles scheint gut und Wilder (der regelmäßig dem Alkohol frönt und sich auch immer mal wieder in einer heimlich gemieteten Wohnung mit anderen Frauen vergnügt) ein zufriedenes Leben zu führen. Doch die Idylle trügt … und etwas droht, die Ruhe zu stören.

Statt nach seiner Rückkehr von einem Arbeitstermin in Chicago wieder direkt die Wärme des Eigenheims anzusteuern, ruft er diesmal aus einer Telefonzelle seine Frau Janice an, um ihr mitzuteilen, dass er nicht nach Hause kommen kann. Ihre Frage nach dem Warum beantwortet er kurz und knapp: „Willst du es wirklich wissen, Schatz? Weil ich Angst habe, dass ich euch umbringen werde, deswegen. Euch beide.“ Einige Stunden später findet ihn sein Freund Paul Borg in einer Hotelbar. Wilder hat mehrere Whiskey zu viel Blut, ist mit dem Nerven am Ende und wirkt unberechenbar. Schließlich wird er, nicht ohne vorher noch dessen Frau aufs Übelste zu beleidigen, von Paul direkt ins Bellevue Hospital verfrachtet. Da es jedoch das Wochenende des Labor Day ist, wo ganz Amerika, einschließlich der Ärzteschaft, feiert und frei hat, überstellt man ihn zügig und ohne längere Erklärungen in die Psychiatrie. Hier, in der geschlossenen Station für gewalttätige Männer, zwischen Patienten in Zwangsjacken, Verbrechern, Verrückten und einem hünenhaften Schwarzen ausgeliefert, der mit freudiger Willkür seine Spritzen setzt – hier beginnt der tiefe und bodenlose Fall Wilders …

Richard Yates „Ruhestörung“ wird heute als eines seiner weniger guten Werke bezeichnet, wobei auch dabei die meisten Kritiker einen großen Bogen um das Wort „schlecht“ machen, schrieb der amerikanische Autor doch in solch literarischen Höhen, dass ein solches Adjektiv schlichtweg fehl am Platz wirken würde. Dennoch bin ich insofern geneigt zuzustimmen, dass es wohl Werke wie eben dieser dritte Roman waren, die Yates‘ dauerhaften Ruhm und Erfolg verwehrten. Seine sich durch alle Werke ziehende überaus pessimistische Ansicht vom Leben sowie die fortwährende Entmystifizierung des „American Dream“ stehen im krassen Gegensatz zum zuversichtlichen, gutgläubigen US-Amerikaner, dem ein Blick auf das flatternde Stars-and-Stripes-Banner zu reichen scheint, um voller Hoffnung in die Zukunft zu blicken. Diese Illusion vom lohnenden Happyend, dem letztendlichen Erreichen aller Träume – sie zerschlägt Yates mit einer Beiläufigkeit, welche zwar großen Anklang im Umfeld der Autorenkollegen fand, ihm aber den Beifall des Publikums versagte. Sein ernüchternder Realismus zieht sich wie ein Leitmotiv durch alle seine sieben Romane und Kurzgeschichten, und ist immer auch ein Abbild von Yates‘ eigener Biographie, was in „Ruhestörung“ wieder besonders stark zutage tritt.

Wie Wilder war Richard Yates ein starker Alkoholiker, der, trotz vieler Entziehungsversuche, sein Leben lang in exzessiven Mengen trank und dieses schließlich dadurch sogar beendete, als er 1992 an seinem eigenen Erbrochenen erstickte. Und wie Wilder war Yates in psychiatrischer Behandlung und Patient des Bellevue Hospitals. All das, was den amerikanischen Autor (auch aus seiner eigenen Sicht) scheitern ließ, lässt er hier seinem Protagonisten widerfahren, der ebenfalls glaubt, etwas Großes, Einmaliges erreichen zu können, Filmproduzent zu werden, Hollywood im Sturm zu erobern – und der letztlich mit jedem versuchten Ausbruch aus der Routine des ihm inzwischen so verhassten Familienlebens die Schlinge nur enger zieht, den Treibsand nur noch mehr dazu einlädt, ihn fester zu packen. Schon mit dem ersten Auftritt Wilders ist dem Leser klar, dass der Fahrstuhl in dem er steckt, allein in eine Richtung fahren kann – nach unten. Immer wieder ist es seine Trunksucht, die zuvor aufgewandte Mühen zermalmt, um ihn sich sogleich wieder in Hoffnungen verrennen zu lassen, die nichts als Luftschlösser sind. Wilders Geschichte liest sich somit als Chronik des Scheiterns, wobei Yates gänzlich darauf verzichtet diese mit Pathos und literarischem Zuckerguss zu versüßen.

Stattdessen erwartet uns in „Ruhestörung“ eine trockene, lakonische und distanzierte Sachlichkeit. Nachtschwarz, hoffnungslos, desillusionierend, und doch nicht ohne ein gewisses Gespür für Situationskomik und Witz, welches den Leser die Aneinanderreihung von Enttäuschungen mit einem lachenden und einem weinenden Auge verfolgen lässt. Nicht selten musste ich für kurze Zeit lauthals auflachen, um schon einen Absatz später ernüchtert zu schlucken, weil Yates den Schutzpanzer des Betrachters beharrlich malträtiert. Gerade seine Fähigkeit das Scheitern im kleinen Rahmen darzustellen, die Fehler im Alltag, die Unfähigkeit zur Umkehr in einfachsten Situationen zu betonen, macht seine Bücher so wirkungsvoll – und damit, trotz des düsteren Grundtenors, so lesenswert.

Ruhestörung“ liest sich wie eine rohe Abrechnung, wie ein verbitterter, aber auch zielgerichteter Rundumschlag eines Zeit seines Lebens Verkannten, der uns durch John Wilder gleichzeitig einen Blick in das eigene Befinden erlaubt. Er tut dies nicht als typischer allwissender Erzählender, sondern bodenständig und behutsam. Wir dürfen nur sehen, was Wilder sieht, fühlen, was er selbst fühlt. Wenn dieser einmal mehr vom Ärztepersonal zu Boden gerungen und narkotisiert wird, geht für uns das Licht gleichermaßen aus. Bis dieser wiederum erwacht und mit den Worten „Entschuldigen Sie. Können Sie mir sagen, wo ich bin?“ den Gang in den Abgrund auf ein Neues antritt. Einmal, zweimal, dreimal. Ein stilistischer Kunstgriff, der Wilders Höllenritt nicht nur glaubwürdiger macht, sondern seine geschädigte Psyche auch wesentlich intensiver wirken lässt.

Mit „Ruhestörung“ hat Richard Yates sein vielleicht düsterstes und eindringlichstes Werk abgeliefert. Eine „Tour de Force“ in den Untergang, die uns am Ende mit bitterem Geschmack in eine Wirklichkeit entlässt, welche der Wilders – in vielen Facetten – immer noch ähnelt. Ganz, ganz große, zierlose und geradlinige Literatur – höllisch gut erzählt.

Wertung: 93 von 100 Treffern

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  • Autor: Richard Yates
  • Titel: Ruhestörung
  • Originaltitel: Disturbing the Peace
  • Übersetzer: Anette Grube
  • Verlag: btb
  • Erschienen: 04.2012
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 315 Seiten
  • ISBN: 978-3442744268

Könige der Nacht

© Pendragon

Man kann auf mehrere Arten etwas entbehren. Das eine vermisst man vielleicht erst, wenn es nicht mehr da ist, sich eine Lücke dort auftut, wo sie nie vorhergesehen war. Und dann gibt es aber auch noch den Fall, wo man erst mit Erhalt von etwas merkt, dass es eigentlich immer schon gefehlt, man es sich immer schon herbeigesehnt hat. Die Reihe um die Berufsverbrecherin Crissa Stone von Wallace Stroby fällt für mich persönlich genau in eben jene letztere Kategorie, weshalb das Engagement des Pendragon Verlags, diesen erstklassigen Autor für den deutschsprachigen Krimi-Markt zu entdecken, gar nicht entscheidend genug gewürdigt werden kann.

Eine Würdigung, die meinerseits äußerst subtil vonstatten gehen muss, da man doch als kritischer Rezensent oftmals Gefahr läuft, in Kategorien zu bewerten, Vergleiche anzustellen und Muster herauszuarbeiten, was einerseits den Viellesern des Genres möglicherweise entgegen kommt, sich für den durchschnittlichen Leser jedoch als Hindernis darstellen kann, da dieser wiederum mit all diesen Bezügen wenig bis gar nichts anfangen kann. So ist Lob, gerade hinsichtlich solcher Literatur wie der hier vorliegenden, manchmal ein Ritt auf der Rasierklinge, will ich doch allen etwaigen Interessenten auf möglichst nachdrückliche Weise vor allem eine Botschaft zu verstehen geben: Kauft und liest dieses Buch!

Damit ist, was die Bewertung angeht, ein Teil der Katze zwar bereits aus dem Sack und doch natürlich lange nicht das warum erklärt, dem ich mich jetzt, möglichst überzeugend widmen möchte, wobei ein kurzer Anriss des Inhalts den Anfang macht:

South Carolina, vier Monate nach Crissa Stones Zusammenprall mit dem Mann (siehe „Kalter Schuss ins Herz“), den alle nur unter dem Namen „Eddie der Heilige“ kannten und der dem Leben, so wie sie es bisher führte, ein Ende gesetzt hatte. Zu viel Polizei, zu viele juristische Ermittlungen, zu viel Aufsehen und aufgewirbelter Staub für diese Frau, die ihren dreckigen Job stets sauber über die Bühne bringen und dabei größtmöglichen Profit abkassieren will. Hier im Süden scheint dies seit einiger Zeit relativ ertragreich möglich – einem Schaufellader und vieler exponiert stehender Geldautomaten sei Dank. Wohlgemerkt scheint, denn ihre beiden Partner halten nicht viel von Teamwork und vor allem voneinander, so dass Crissas Mitteilung, nun wieder eigene Wege gehen zu wollen, dazu führt, dass sich beide schließlich über den Haufen schießen. Zwei relativ verlässliche Helfer tot, über 100.000 Dollar kassiert. Unterm Strich kein schlechter Schnitt, mit dem sich Crissa wieder gen Norden aufmacht, um das Geld weiter in die Bestrebungen zu investieren, ihren langjährigen Lebensgefährten und Mentor Wayne frühzeitig aus dem Gefängnis zu holen. Und damit ihrem Traum, vereint mit der gemeinsamen, derzeit bei ihrer Cousine lebenden Tochter ein neues Leben zu beginnen, ein Stück näher zu kommen. Doch vorher will das Geld gewaschen werden. Ein Vorgang für den es schmutziger Hände bedarf, in die sich Crissa nur äußerst ungern begibt.

Zur selben Zeit hat an anderer Stelle ebenfalls jemand Probleme mit dem lieben Geld. Benny Roth, ein ehemaliger Gangster und Mitglied der Mafia in den 70er Jahren, wird von der Vergangenheit eingeholt, als ihn ein paar seiner früheren Weggefährten eines Abends in dem Imbiss aufspüren, in welchem er sich seit seinem Ausstieg aus dem damaligen Zeugenschutzprogramm seinen Unterhalt als Koch verdient. Ein paar der alten Mobster hatten zuletzt bereits alters- und krankheitsbedingt das Zeitliche gesegnet, doch Gerüchte sind im Umlauf, dass mehrere Million Dollar aus einem vor fünfunddreißig Jahren begangenen Geldraub auf das Lufthansa-Cargo-Terminal am Flughafen JFK immer noch irgendwo versteckt sind. Und dass Benny als einziger weiß, wo sich dieses Versteck befindet. Der erkennt recht schnell, dass es wenig Sinn macht, den kaltblütigen Mobster Taliferro vom Gegenteil überzeugen zu wollen. Mit viel Glück kann er diesen und seine Laufburschen überrumpeln und gemeinsam mit seiner viele Jahre jüngeren Lebensgefährtin Marta fliehen.

Über den alten, mittlerweile im Pflegeheim lebenden Mafiaboss Jimmy Falcone kreuzen sich schließlich Crissas und Bennys Wege, die, nach kurzer Überlegung ihrerseits, beschließen, dass eine Zusammenarbeit bei der Suche nach dem Lufthansa-Geld durchaus Sinn macht. Doch sie haben die Rechnung ohne Taliferro gemacht. Der hat sich längst an Bennys Fersen geheftet und stellt recht bald Crissas Credo, keinerlei Leben mehr nehmen zu wollen, schwer auf die Probe …

Dass Wallace Strobys Anti-Heldin Crissa Stone denselben Nachnamen hat wie Robert B. Parkers Schöpfung, der Polizeichef Jesse, ist mit großer Wahrscheinlichkeit nur ein Zufall. Dass beide inzwischen beim Bielefelder Pendragon Verlag veröffentlicht werden, allerdings ganz sicher nicht, sondern einfach nur die Folge des feinen Näschens für noch feinere Kriminal-Literatur, welches Günther Butkus, Eike Birck und ihr Team seit, man darf es wohl sagen, Jahrzehnten immer wieder unter Beweis stellen. Und es ist auch angesichts der vorliegenden Klasse von „Geld ist nicht genug“ einmal mehr unglaublich, dass über vier Jahre lang tatsächlich niemand sonst vorher den Namen Stroby auf dem Zettel hatte. Vielleicht muss Gut Ding aber auch Weile haben, wobei dieses Werk den perfekten Zeitpunkt zur Veröffentlichung sicher nicht bedarf, derart zeitlos die traumwandlerisch sichere Schreibe dieses bis hin zur letzten Zeile so stilsicheren Autors. Auch Crissa Stones zweiter Auftritt könnte in dieser Form genauso in den 60er oder 70ern auf Papier gebracht worden sein, sind doch Mobiltelefone das einzige Zugeständnis an die Entwicklungen der Moderne, derer sich Stroby bedient. Der Rest fußt auf genau dem Prinzip, dass auch Richard Starks „Parker“ oder Garry Dishers „Wyatt“ bis heute so erfolgreich macht.

Womit die Namen genannt wurden, die ich einfach nennen muss, um es greifbar zu machen und die dennoch nicht reichen, Stroby an sich zu klassifizieren. Denn so sehr ich mich hier in manchen Passagen an obige Autoren erinnert fühlte, so anders ist doch auch die Figur Crissa Stone. Eben nicht nur eiskalt, nicht immer Herrin der Lage, nicht mit schon zwei, drei Ausweichplänen in der Hinterhand. Ein Profi im Verbrechen, die sich jedoch der Welt, in die sie für die Begehung eben jenes Verbrechens eintauchen muss, nicht wirklich zugehörig fühlt. Der eben Geld nicht genug ist, sondern nur als Mittel zum Zweck dient, der in diesem Fall heißt, ihre Liebe aus dem Knast und ihre Tochter zurück in ein gemeinsames Leben als Familie zu holen. Stroby gesteht Crissa mehrere Schalen an Persönlichkeit zu, lässt den Leser unter der harten oberen Schicht auch Blicke auf den Kern werfen. Auf eine Seele, die noch nicht nachtfinster ist und welche die Finger noch selbst da vom Abzug nimmt, wo ihre Gegenüber schon längst ein ganzes Magazin entleert haben.

(…) „Du lernst es früh oder erst spät“, sagte er. „Die Karten sind gezinkt. Niemand gibt Dir irgendetwas. Du musst es Dir nehmen.“ (…)

Benny Roths an sie gerichtete Worte sind überflüssig, hat sie Crissa doch seit langer Zeit verinnerlicht. Doch für sie besitzt diese Aussage auch eine Ausstiegsklausel, ein Hintertürchen, von ihrem Herzen offen gehalten, das besagt: Nicht um jeden Preis. Nicht um jedes Leben. Und genau das ist es, was die Faszination dieser Reihe ausmacht. Crissa bewegt sich in einer Grauzone, immer dicht am Schwarz. Ein Ritt auf der Rasierklinge, der uns Leser nie genau wissen lässt, für welche Handlungsweise sie sich entscheidet, wie weit sie zu gehen bereit ist. Oder ob ihre Auseinandersetzung mit „Eddie dem Heiligen“ letztlich doch eine Barriere hat fallen lassen, die sie verändert hat. Von diesen verschiedenen Facetten der Figur lebt der Roman, aus ihnen bezieht er sein Spannungsmoment. Und Stroby gelingt es auch die Gegenüber mit dieser Tiefe zu versehen, so dass gerade die Auftritte von Danny Taliferro zu den Highlights in diesen an Highlights nicht armen „Hardboiled“-Titels gehören. Seine Präsenz ist ein drohender Schatten über unseren Protagonisten, ein beständiger Gefahrenherd, der die Atmosphäre erst auf eiskalte Temperaturen herabkühlt, um sie schließlich in einem heißen Konflikt zu entladen.

Wie Stroby dieses Katz-und-Maus-Spiel um das Geld in Szene setzt und am Rad der Fortuna für alle Beteiligten dreht – das ist einerseits ein großer Spaß, andererseits von gnadenloser Entschlusskraft und zielgerichteter Härte (der Film „Drive“ kam mir oft in den Sinn), weil er sich zwar der Zutaten des Gangster-Romans und dessen Milieus bedient, dabei jedoch nie Gefahr läuft deren Einsatz für künstliche Effekte zu missbrauchen. Dank Alf Mayers Nachwort – dessen Übersetzung übrigens erneut ohne Fehl und Tadel ist – wird der authentische Ton von „Geld ist nicht genug“ nochmal unterfüttert, hat es doch diesen Lufthansa-Raub tatsächlich gegeben und Stroby die Leerstellen „lediglich“ mit einer Geschichte gefüllt. Eine Geschichte, welche zwar nicht die Wahrheit sein muss, aber durchaus sein könnte.

Schon Chandler sagte einst: „Alles was du hast und brauchst ist Stil.“ – Wallace Stroby hat ihn. Und er durchdringt alle 328 Seiten dieses erstklassigen, perfekt getimten und in den Abgründen der finsteren Nacht lebenden Werks. Was weit mehr ist als das, was ein Großteil heutiger „Bestseller“-Autoren vorweisen kann. Man kann nur hoffen, dass er sich diesen in weiteren Bänden in gleichem Maße bewahrt. Das wären in jedem Fall rosige Aussichten für alle Freunde des klassischen „Hardboiled“.

Wertung: 89 von 100 Treffern

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  • Autor: Wallace Stroby
  • Titel: Geld ist nicht genug
  • Originaltitel: Kings of Midnight
  • Übersetzer: Alf Mayer
  • Verlag: Pendragon
  • Erschienen: 02.2017
  • Einband: Klappenbroschur
  • Seiten: 352 Seiten
  • ISBN: 978-3865325778