Agatha Christies Reifeprüfung

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Nach den unruhigen Tagen und dem Aufruhr rund um ihr mysteriöses Verschwinden und das endgültige Scheitern ihrer Ehe im Dezember 1926 (siehe auch meine Rezension zu „Die großen Vier“) reiste Agatha Christie zu Beginn des kommenden Jahres gemeinsam mit ihrer siebenjährigen Tochter Rosalind auf die Kanarischen Inseln. Gesundheitlich war die Schriftstellerin zu diesem Zeitpunkt in einer äußerst schlechten Verfassung und psychologisch ebenfalls schwer angeschlagen. Die Scheidung von ihrem ersten Ehemann, Archibald Christie, stand bevor und der kürzliche Tod ihrer Mutter verursachte ihr noch ebenso viel Kummer, wie der „Verrat“ vieler sogenannter Freunde, welche ihr in der Zeit der Not den Rücken zugewandt hatten. Hinzu kam die Angst vor finanziellen Engpässen, die mit einer anstehenden Trennung einhergehen würden. Alles andere, als die perfekte Ausgangslage, um ein neues Buch in Angriff zu nehmen.

Im Februar 1927 blieb Agatha Christie aber schlichtweg nichts anderes übrig – die erwähnte Geldnot und ein Vertrag zwangen sie dazu – als erneut zur Feder zu greifen. Wie schon bei „Die großen Vier“, so suchte sie auch diesmal Hilfe bei sich selbst. Da Christie enorme Probleme bei der Komposition eines passenden Plots hatte, griff sie kurzerhand die bereits 1923 erschienene Kurzgeschichte „Das Geheimnis des Plymouth-Express“ (hierzulande erst 1977 im Sammelband „Auch Pünktlichkeit kann töten“ veröffentlicht) wieder auf und schrieb diese zu einem kompletten Roman um. Das Ergebnis ist „Der blaue Express“, welcher knapp ein Jahr später, zuerst als Fortsetzungsroman in der Londoner Abendzeitung „The Star“, in achtunddreißig Folgen von Februar bis März das Licht der Welt erblickte – und im Laufe der Zeit zu einem großen finanziellen Erfolg für die Autorin wurde. Auch die Kritiker waren voll des Lobes für das Werk, das Christie selbst bis zuletzt nur mit der schlimmsten Phase ihres Lebens verband. In ihrer Autobiografie beschrieb sie gar, den ganzen Schreibprozess „immer gehasst“ und das Zählen der Wörter als „Tortur“ empfunden zu haben.

“(…) I could not see the scene in my mind’s eye, and the people would not come alive.” (…) „I found it commonplace, full of clichés and with an uninteresting plot.“ (…)

Der blaue Express“ markiert daher für heutige Literaturwissenschaftler den Wendepunkt in Agatha Christies langer Karriere als Schriftstellerin, den finalen Schritt vom Amateur zum Profi, vom Hobby- zum Berufsschreiber, der eben auch dann ein Werk vollenden und abliefern muss, wenn alle privaten Umstände es auf den ersten Blick eigentlich unmöglich machen. Die spätere Queen of Crime – sie wuchs mit diesem Roman und zog aus ihm auch ihre Lehren. In einen ähnlichen Zugzwang beim kreativen Prozess des Schreibens wollte sie fortan nie wieder geraten, weshalb sie bis in die 1940er Jahre zwei Manuskripte zurückhielt – für den Fall, nochmal in eine ähnliche Schaffenskrise zu geraten. Zwei Joker in ihrem Blatt, die später zu den besten Vertretern ihres Lebenswerks gehören sollten: „Ruhe unsanft“ und „Vorhang“. Letzterer Titel ist auch ein weiterer Hinweis darauf, dass sich Christie spätestens zu diesem Zeitpunkt („Alibi“ deutete es ja schon an) einen Ausweg zurechtgelegt hatte, um Hercule Poirot loswerden zu können. Wie Sir Arthur Conan Doyle so viele Jahre vor ihr, so schien auch sie hier ihres Helden bereits überdrüssig, dessen Popularität in der Bevölkerung aber inzwischen ähnliche Höhen erreicht hatte, wie einst Sherlock Holmes. Neben diesen beiden Jokern auf der Hand, zog sie daher zwei Jahre nach „Der blaue Express“ noch ein Ass aus dem Ärmel. In „Mord im Pfarrhaus“ betrat mit Miss Marple erstmals eine neue Hauptfigur die Bühne und erlaubte ihr im weiteren Verlauf ihrer Karriere eine gewisse Unabhängigkeit von dem egozentrischen Belgier.

All diese oben beschriebenen (auch im Nachwort der alten Fischer-Ausgabe nachzulesenden) Umstände und Informationen sollte der Leser meines Erachtens im Hinterkopf haben, wenn er zur Lektüre dieses Buches und auch zu einer späteren Bewertung ansetzt. Sie sind mit Sicherheit ein Grund dafür, warum „Der blaue Express“ Christies übliche Leichtigkeit und Leichtfüßigkeit im Umgang mit ihren sonst so lebendigen Figuren vermissen lässt und sich stattdessen ein äußerst verkrampfter und sperriger Stil durch das ganze Buch zieht. Nichtsdestotrotz, so viel sei vorangestellt, stellt der Roman eine erhebliche Steigerung zum so viel schwächeren Vorgänger „Die großen Vier“ dar. Eben weil es Christie wieder einmal gelingt, auf kleinstem Raum einen relativ verwinkelten Kriminalfall zu inszenieren, dessen Rahmenhandlung an dieser Stelle kurz angerissen sei:

Der amerikanische Multi-Millionär Rufus van Aldin hat endgültig genug von seinem verschwenderischen und notorisch untreuen Schwiegersohn Derek Kettering und überredet seine Tochter Ruth zur Scheidung. Als brave Tochter beugt sich diese (scheinbar) dem Willen ihres Vaters und besteigt kurz darauf den Train Bleu, den blauen Express, einen Luxuszug zwischen Calais und Ventimiglia, um an die Französische Riviera zu reisen – und um sich dort mit ihrem heimlichen Geliebten zu treffen. Lebend soll sie dort niemals ankommen. Ihre Leiche findet man erdrosselt und mit bis zur Unkenntlichkeit entstelltem Gesicht in ihrem Abteil. Die Geschenke ihres Vaters, eine Sammlung wertvoller Rubine, unter denen sich auch das sagenumwobene „Feuerherz“ befindet, sind verschwunden. Angeblich hatte sie zuvor Besuch von einem fremden Mann, weswegen die lokale Polizei sogleich von einem Raubmord ausgeht. War es vielleicht sogar Derek Kettering, der sich auch unter den Passagieren des Zugs befindet? Ein kleiner, belgischer Fahrgast mit grünen Augen und Eierkopf ist davon nicht ganz überzeugt und stürzt sich, obwohl eigentlich im Ruhestand, sogleich in die Ermittlungen. Und findet in Katherine Grey, die ihren ersten Winter außerhalb Englands verbringen will, eine unerwartete Verbündete bei seinen Nachforschungen …

Mord in einem Zug? Da war doch was? Lässt man die bereits erwähnte Vorlage „Das Geheimnis des Plymouth-Express“ mal außer Acht, stoßt der Leser hier erstmals auf dieses Motiv, dessen sich Agatha Christie einige Jahre später in ihrem wohl erfolgreichsten und bekanntesten Roman, „Der Mord im Orient-Express“, erneut bedienen wird. Und dort, das muss man an dieser Stelle konstatieren, auch um einiges ausgereifter und komplexer ausarbeitet, denn „Der blaue Express“ krankt vor allem an einer, für einen Whodunit sehr wesentlichen Schwäche: Er wartet schlichtweg mit viel zu wenigen wirklichen Verdächtigen auf, wodurch ein möglicher Täter trotz Christies üblichem Kartenspiel und den unter-welchem-Hütchen-ist-die-Kugel-Tricks zumindest relativ schnell einzukreisen ist. Obwohl ich mich selbst in diesem Genre gerne am Nasenring durch die Manege ziehen lasse, kam auch ich nicht umhin, während der Lektüre gewisse Indizien früh deuten zu können, wenngleich es dann am Ende nicht ganz für alle Zusammenhänge gereicht hat. Hier bleibt uns Lesern Hercule Poirot also dennoch ein paar kleine Trippel-Schritte – und die ein oder andere Überraschung – voraus.

Dessen etatmäßiger Begleiter Captain Hastings (in „Das Geheimnis des Plymouth-Express“ an seiner Seite) fehlt jedoch auffallend und kann durch die eher blasse Miss Katherine Grey nicht ansatzweise gleichwertig vertreten werden. Interessant ist jedoch, zumindest für den eingefleischten Krimi-Kenner und Christie-Gourmet, dass die gute Miss Grey ihre Heimat in einem beschaulichen kleinen Dörfchen namens St. Mary Mead hat. Genau das Fleckchen Erde in dem niemand geringeres als Miss Marple, an deren Entstehung Agatha Christie wie bereits erwähnt direkt nach der Veröffentlichung dieses Romans arbeitete, ihre berühmten Fälle lösen wird.

Während in vielen Poirot-Fällen dem Hauptprotagonist oft gar nicht so viel Raum in der Handlung zuteil wird, ist „Der blaue Express“ doch deutlich – und man muss vielleicht sogar sagen zwangsweise – auf den kleinen belgischen Meisterdetektiv ausgerichtet. Das ist Fluch und Segen zugleich, da einerseits der Mord nicht genug Futter hergibt, um für dessen graue Zellen eine wirkliche Herausforderung darzustellen, wir andererseits ihm aber viel näher als sonst über die Schulter schauen dürfen und seine, trotz fehlender Bescheidenheit, charmante und zutiefst sympathische Art für enorm viel Kurzweil sorgt. Poirot, in „Alibi“ eigentlich schon zwischen Cottages und Kürbissen aufs Altenteil und Abstellgleis geschoben, wirkt hier deutlich revitalisiert und verjüngt – und deutet an, dass er vielleicht doch noch nicht zum alten Eisen gehört. Wer konnte zu diesem Zeitpunkt auch ahnen, dass er seine größten Momente und Fälle sogar noch vor sich haben sollte?

Trotz der Widrigkeiten bei der Entstehung, ein paar Ungereimtheiten im Plot und dem übersichtlichen Kreis der Verdächtigen – mit „Der blaue Express“ gelingt Agatha Christie eine merkliche Steigerung zu „Die großen Vier“ und ein heute noch lesenswertes, weil unterhaltsames und atmosphärisches Krimi-Kammerspiel auf der Schiene, an dem Fans und Freunde der Autorin sowie grundsätzlich Liebhaber des klassischen Kriminalromans des Golden Age gleichermaßen ihre Freude finden werden. Also Ticket ziehen, Abteil besteigen, zurücklehnen, miträtseln und sich (ein bisschen) verblüffen lassen.

Wertung: 84 von 100 Treffern

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  • Autor: Agatha Christie
  • Titel: Der blaue Express
  • Originaltitel: The Mystery of the Blue Train
  • Übersetzer: Gisbert Haefs
  • Verlag: Atlantik
  • Erschienen: 03/2018
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 320 Seiten
  • ISBN: 978-3455002249

Wenn der Jongleur einen Ball verliert …

© Matthes & Seitz

Ich bin selbst kein Schriftsteller, also kann ich allenfalls Vermutungen anstellen. Dennoch behaupte ich, dass es wohl kaum einen schlimmeren Moment für einen Schreiberling gibt, als sich nach langer Abwesenheit vom Schreibtisch wieder an den Selbigen zu setzen, um einen neuen Roman, eine neue Geschichte oder einfach einen neuen Text in Angriff zu nehmen. Im besten Fall hat man bereits eine genaue Vorstellung von dem, was auf dem Papier erscheinen soll – im schlechtesten allenfalls lose Ideen, die man nun irgendwie zu einem literarischen Ganzen zusammenfügen muss. Ob letztere Ausgangslage zur Herausforderung wird, hängt dann vielleicht auch nicht zuletzt von der Tagesform ab. An manchen Tagen bewegt sich die Hand automatisch über die Tastatur oder der Stift über das leere Blatt – an anderen braucht es Stunden und manchmal gar Tage, bis der vermaledeite Knoten im Kopf sich löst und endlich ein paar Wörter erscheinen, die es wert sind, nicht gleich wieder gelöscht zu werden.

Was hat das nun mit Emmanuel Carrères „Der Widersacher“ zu tun? Nun, genau genommen gar nichts. Es ist ein Trick, eine List, um mich selbst zu täuschen, mich davon zu überzeugen, dass ich nach Monaten gesundheitlicher Rückschläge und damit einhergehender fehlender Muße für mein liebstes Hobby, eben jene Hürde, jene Blockade überwinden und wieder die richtigen Worte finden kann. Worte, die zu lesen sich für die Besucher dieses Blogs auch lohnen, weil man zwischen ihnen hoffentlich herauszulesen vermag, dass ich nicht nur den Spaß an der Sache, sondern auch den Zugang zu diesem Stück Literatur (zurück)gefunden habe, welches wohl wie kaum ein anderes besonderes Fingerspitzengefühl meinerseits erforderlich macht.

Der Widersacher“ (2001 bereits auf Deutsch beim Fischer-Verlag unter dem Titel „Amok“ erschienen) ist – ganz in der Tradition von Truman Capotes „Kaltblütig“ – ein True-Crime-Roman, der in seiner moralischen Integrität auf einem dünnen, aber scharfen Seil balanciert. Und dieses Seil, an dem sich die Geschichte entlanghangelt, hinterlässt wiederum schmerzhafte Abdrücke beim Leser. Es ist eine Koketterie mit dem morbiden Grauen und der seelischen Qual, mit dem Unsag- und Untolerierbaren, die immer kurz davor ist, ein Stück zu weit zu gehen. Immer die Grenzen noch ein bisschen weiter zu verschieben versucht – und mich damit auf halber Strecke fast verloren hat. Doch vor dem Warum, kommen wir vorher kurz zum Inhalt:

Jean-Claude Romand wächst als Sohn eines Försters und dessen depressiver Frau im französischen Jura auf. Schon früh lernt er, die seelischen Probleme seiner Mutter zu ignorieren und gemeinsam mit seinem Vater für Außenstehende stets neue Ausreden für Ihren Zustand zu erfinden. Bereits in jungen Jahren verstetigt sich dadurch der innere Impuls von Selbstleugnung und Selbstbetrug. Die eigene Traurigkeit wird verborgen, Unsicherheit mit selbstbewusstem Auftreten überspielt – Lügen ersetzen die Wahrheiten, werden zu den festen Stegen seines inneren Laufrads. Sein wahres Ich bleibt für alle anderen unsichtbar, gut versteckt hinter der bürgerlichen, wohlmeinenden Fassade eines Schauspielers, die zwar immer wieder Risse bekommt, aber über achtzehn lange Jahre durch fast unheimliches Glück dennoch nie in sich zusammenfällt, weil Romand mit der Selbstverständlichkeit eines Hauptmanns von Köpenick und der Fantasie eines Baron von Münchhausen seine Rolle spielt, dem wackeligen Lügengebäude mit immer wieder neuen Einfällen und Ausreden notdürftige – und meist auch nur kurzfristige – Stabilität verleiht.

Im Studium schwänzt er eine wichtige Zwischenprüfung, bleibt aber vor seinen Freunden beharrlich bei der Geschichte, diese bestanden zu haben. Ohne abgeschlossenes Medizinstudium droht ihm trotzdem die berufliche Bedeutungslosigkeit, worauf er kurzerhand behauptet, als Arzt und Forscher auf dem Gebiet für Arteriosklerose bei der WHO eine neue Stelle gefunden zu haben. Um den immer teurer werdenden Lebenswandel und die gut betuchten Bekannten weiter finanzieren zu können, nimmt er Kontakt zu seiner Verwandtschaft auf. Unter dem Vorwand, ihr Geld zu günstigen Konditionen in einem Hedgefonds anzulegen, erschleicht er sich über die Jahre ein enormes Kapital. Rückfragen zu seinem Beruf weicht er oft geschickt aus. Seine angeblichen Dienst- und Geschäftsreisen führen ihn in ein Hotelzimmer am Flughafen Genf, wo er medizinische Zeitschriften liest und sich in Reiseführern über seine angeblich besuchten Länder informiert.

Als er seine zukünftige Frau Florence kennengelernt, ist das für ihn nur ein weiterer Ball in seinem ganz persönlichen Jonglierspiel. Auch sie ahnt nichts von seinem Doppelleben, glaubt ihn täglich zur Arbeit gehen zu sehen, während er stattdessen ausgedehnte Wanderungen durch die anliegenden Wälder oder ganze Städtetouren unternimmt. Die Situation belastet ihn aber mehr und mehr und seine immer häufiger werdenden Stimmungsschwankungen erklärt er nun kurzum mit einer stets neu ausbrechenden Krebserkrankung. Während die Frau krank vor Sorge ist, findet Romand kurzfristig Trost in den Augen seiner Geliebten in Paris, bis diese ebenfalls zu viele Fragen stellt und er stattdessen seine Zeit mit Schlaf in seinem geparkten Wagen verbringt. Den weiterhin bohrenden Fragen kann er jedoch inzwischen nicht mehr aus dem Weg gehen. Und im Gegensatz zu früher, verliert das Lügen unter Druck für ihn zunehmend an Reiz. An dem Tag, wo die Geliebte das ebenfalls von ihm „angelegte“ Geld zurückverlangt, reift in ihm der Entschluss, sich das Leben zu nehmen. Am 9. Januar 1993 kauft er sich eine Pistole samt Schalldämpfer sowie einen Benzinkanister. Und was dann passiert, geht als einer der grauenvollsten Kriminalfälle der jüngeren Zeit in die französische Geschichte ein …

Ich habe lange mit mir gehadert, ob ich auf die weiteren Einzelheiten seiner Taten direkt eingehen soll, es aber schließlich doch unterlassen. Möglicherweise geht es dem ein oder anderen wie mir, und er war vor der Lektüre dieses Buches mit diesem speziellen Fall nicht vertraut. Wodurch er mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die nachfolgenden Geschehnisse mit noch großer Fassungslosigkeit verfolgen wird, zumal Carrère die klinische und selbstsichere Gründlichkeit von Romand in einer Art und Weise betont, die in der gespenstischen Ruhe seiner Vorgehensweise umso lauter beim Leser nachhallt. Der Autor taucht dabei tief in die menschlichen Abgründe ein, ohne uns jedoch ein Sauerstoffgerät an die Hand zu geben oder den Ausweg zur Oberfläche aufzuzeigen, weswegen man das Geschriebene nicht nur fast durchgängig mit atemloser Fassungslosigkeit verfolgt, sondern in all den Gräueln gefühlt zu Ertrinken droht.

Und das von Beginn an, wo Carrère im Vorwort relativ knapp zusammenfasst, wie er vom Verbrechen Jean-Claude Romands in der Zeitung Libération erfuhr, während er gleichzeitig das letzte Kapitel seiner Biographie über Philip K. Dick (mit dem in diesem Zusammenhang irritierend passenden englischen Titel „I Am Alive and You are Dead“) beendete. Kurz zuvor hatte er noch eine Versammlung an der Schule seines Sohnes besucht. Zum damaligen Zeitpunkt war dieser fünf Jahre alt. Genauso alt wie Romands Sohn, Antoine. Schon hier deutet sich die Marschrichtung des Buches an, in dem zwar äußerst deutlich Carrères dokumentarischer Stil mit einfließt, aber auch seine Eigenart zum Tragen kommt, sich selbst zum Teil der Geschichte zu machen – und damit gleichzeitig eine objektive Betrachtungsweise hinter sich lässt. Mit jedem Ort aus Romands Geschichte, den der Autor besucht und mit jedem Freund oder Verwandten, den er interviewt, scheinen die Grenzen zwischen Tatsachenbericht und Roman vollkommen ihre Konturen zu verlieren. Sie zerfließen vor den Augen des Lesers, den die zunehmend enge Verbindung mit dem Mörder verstört (Carrère besucht ihn – mit mehreren Unterbrechungen – sieben Jahre im Gefängnis) – der jedoch auch immer wieder merkt, wie sehr Carrère selbst damit gekämpft hat, den richtigen Ton zu treffen, die Person Jean-Claude Romand so zu fixieren, dass sich ein klares Bild ergibt.

Romands Taten stehen so im Kontrast zu allem, was einem gemeinhin als richtig und normal vorkommt, dass Carrère scheinbar nichts anderes übrig blieb, als immer mehr Nähe zu dem Täter zu suchen, dem das sichtlich Recht zu sein scheint und der jede Gelegenheit nutzt, um seine Beweggründe zu erklären – dabei aber nie konkrete Details nennt oder sonst in irgendeiner Form Stellung zum Verbrechen selbst bezieht. In seinen fast beiläufigen Erzählungen werden die eigenen Morde zu einer scheinbar folgerichtigen Tragödie, die es zwar zu bedauern, aber nicht zu bereuen gilt, da sich im Menschen Romand etwas standhaft weigert eine Gemütsregung zu zeigen, Position zu beziehen und Verantwortung zu übernehmen. Stattdessen verkauft er sich als Beifahrer eines Autos, das vom Beginn der Reise an schon außer Kontrolle ist. Ein Gefährt ohne Bremsschläuche, dessen letztendlicher Aufprall genauso so unvermeidlich war, wie die damit verbundenen „Kollateralschäden“. Genau in solchen Passagen muss man sich mühen, nicht voller Ekel die Buchdeckel zu zuklappen, nicht dem starren, ausdruckslosen Blick zwischen den Seiten auszuweichen. „Der Widersacher“ fordert von uns eine Standhaftigkeit im Angesicht des Bösen ab, die manch einer, verständlicherweise, nicht aufbringen möchte.

Wenn Carrère dann noch am Ende in die Ich-Perspektive von Romand wechselt, der uns vorgeblich lückenlos, aber offensichtlich ebenso manipulativ seine Sicht der Dinge in einer Art Zeugenaussage darlegt, wird das Buch auf mehreren Ebenen seinem Titel vollends zurecht. Einerseits passt er zum inneren Gegner, den Jean-Claude Romand nie niederzuringen geschafft hat (hat er es überhaupt je probiert?), da sein Umgang mit einem Problem stets vom Ignorieren und Umgehen des selbigen geprägt war. Andererseits beschreibt es genau das, was wir hier als Leser vorfinden. Einen nicht ganz 200 Seiten umfassenden Widersacher, der sich standhaft weigert, in einem Stück konsumiert zu werden und uns in weiten Teilen der Erzählung äußerst quer im Magen liegt.

Hat Carrère hier einem „Monster“ und „Ungeheuer“ eine unverdiente Bühne gegeben? Ist es überhaupt legitim, den Ursachen solcher Taten auf den Grund zu gehen, wenn man dabei vielleicht Gefahr läuft, die Schuld zu relativieren? Möchte ich in die Scheinwelt eines Mörders, in der es sich dieser sichtlich gemütlich gemacht hat, überhaupt einen Fuß setzen? Was können wir Leser Romand und am Ende auch Carrère überhaupt glauben? Wie viel Schlimmes ist bisher ungesagt und damit unentdeckt geblieben?

All diese Fragen muss sich der Leser selbst beantworten, weswegen ich unterm Strich keine uneingeschränkte Empfehlung aussprechen kann. Nüchtern betrachtet ist „Der Widersacher“ aber mit Sicherheit eins der prägendsten, qualvollsten und erschütterndsten Werke aus dem True-Crime-Genre, das ich bis dato in meinen Fingern hatte. Wer sich ernsthaft für die Psychologie eines Mörders interessiert (und nicht nur aus morbider Neugier Interesse an dieser Art Literatur zeigt), wird schwerlich an dem Titel vorbeikommen.

Wertung: 80  von 100 Treffern

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  • Autor: Emmanuel Carrère
  • Titel: Der Widersacher
  • Originaltitel: L’Adversaire
  • Übersetzer: Claudia Hamm
  • Verlag: Matthes & Seitz Verlag
  • Erschienen: 02.2011
  • Einband: Hardcover
  • Seiten: 195 Seiten
  • ISBN: 978-3957576125

Der Name ist Bond. James Bond.

© Cross Cult

Bond, James Bond. 007. Es gibt wohl kaum einen bekannteren Spion, als den Mann aus der Doppel-Null-Abteilung des britischen Geheimdiensts MI6 mit der Lizenz zum Töten, was diese inzwischen popkulturelle Figur wohl allerdings in erster Linie den diversen Auftritten auf der Kinoleinwand zu verdanken hat.

Verkörpert von legendären Schauspielern wie Sean Connery, Roger Moore, Pierce Brosnan oder zuletzt Daniel Craig, sind es besonders ihre Interpretationen, welche für verschiedene Generationen von Zuschauern das Bild von James Bond nachhaltig geprägt haben. Die Bandbreite reicht dabei vom maskulinen, frauenfressenden Macho (Sean Connery) über den wortwitzigen Gentleman (Roger Moore) und den smarten, eleganten Anzugträger (Pierce Brosnan) bis hin zur menschlichen Dampframme, welche sich letztlich gar in einen von Gefühlen geleiteten Familienvater wandelt (Daniel Craig). Wie immer man selbst die einzelnen Interpretationen von 007 auch für sich beurteilt – und ja, auch Lazenby und Dalton (über David Niven decken wir lieber den Mantel des Schweigens) haben natürlich den Spion um zusätzliche Facetten erweitert – alle haben eine Tatsache gemeinsam: der literarischen Vorlage wird jede von ihnen nur in Teilen gerecht.

Nachdem nun mit „Keine Zeit zu sterben“ im vergangenen Jahr das Franchise zumindest im Kino zu einem vorläufigen Ende gekommen ist – das Wie möchte ich an dieser Stelle lieber ausklammern, würde doch mein Frust ob dieser 163minütigen Demontage einer Filmikone sicher ganze Seiten füllen – scheint daher nun der richtige Zeitpunkt gekommen, sich näher den Wurzeln von James Bond zu widmen. Und diese haben ihren Ursprung in Ian Flemings Erstlingswerk (zuvor geschriebene Bücher blieben unveröffentlicht) „Casino Royale“ aus dem Jahr 1953, das mit etwas Verspätung (dazu weiter unten mehr) nicht nur ein ganzes Sub-Genre nach dem Zweiten Weltkrieg revitalisierte, sondern zugleich auch in vielerlei Hinsicht autobiografisch stark von seinem Schöpfer geprägt ist. Bevor wir uns daher genauer mit dem Inhalt der Geschichte befassen, lohnt vorab ein Blick auf den Autor selbst, der das Porträt des Anti-Helden mit der Vorliebe für schöne Frauen und schnelle Autos bis heute wie kein anderer maßgeblich beeinflusst.

Im Jahr 1908 in London geboren, wuchs er im Stadtteil Mayfair auf und kam aufgrund guter schulischer Leistungen im Alter von 13 Jahren auf das Eton College, wo er nicht nur diverse Sprachen erlernte (u.a. Deutsch, Französisch und Russisch), sondern sich auch durch sportliche Leistungen hervortat. Zu Disziplin und Regeln hatte er jedoch schon in jungen Jahren ein eher distanziertes Verhältnis und so passt es auch angesichts seiner späteren Biographie fast ins Bild, das er das College aufgrund eines Vorfalls mit einem Mädchen verlassen musste. Für Fleming ging es im Anschluss an die Militärakademie nach Sandhurst, welche er aber krankheitsbedingt ebenfalls nicht abschließen konnte. Damit begann für ihn die Zeit der Reisen. Über eine Privatschule im österreichischen Kitzbühel (hier lernte er Ski fahren und den ehemaligen Geheimdienstler Ernan Forbes und seine Frau, die Schriftstellerin Phyllis Bottome kennen) ging es an die Universitäten von München und Genf. Im Herbst des Jahres 1931 trat er seine Stellung als Journalist bei Reuters an, wo er immer wieder direkt von den damals sehr beliebten Motorsportwettbewerben in den Alpen berichtete, welche sein Interesse an der Rennfahrerei und Sportwagen generell weckte. Größer von sich Reden machte er erstmals mit einem Bericht aus Moskau, wo sechs britische Ingenieure in einem stalinistischen Schauprozess der Spionage angeklagt wurden. Eine Zeit, die Flemings Bild von der Welt hinter dem Eisernen Vorhang und von dem Gegner Sowjetunion nachhaltig prägen sollte.

Ian Flemings kostspieligen Lebensstil – er war als Frauenheld und Lebemann inzwischen berüchtigt – konnte seine Arbeit als Journalist jedoch nicht finanzieren und da auch kein größeres Erbe in Aussicht stand, versuchte er sich zwischenzeitlich erfolglos als Börsenmakler bis ihn schließlich der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs in die Dienste der Armee zwang. Er trat als Lieutenant in den Marine-Nachrichtendienst British Naval Intelligence ein und arbeitete hier ab 1939 als persönlicher Adjutant des Direktors, Konteradmiral John Godfrey. In dieser Funktion war er u.a. für den Schutz von Gibraltar und Südspanien verantwortlich. Die Abwehr der deutschen Radarüberwachung lief damals übrigens unter dem Codenamen „Operation Goldeneye“. Desweiteren diente er als Verbindungsoffizier zum US-Marinegeheimdienst (später rühmte er sich selbst damit, einen großen Beitrag für die Reorganisation der amerikanischen Nachrichtendienste geleistet zu haben) und besuchte in dieser Zeit auch das Casino Estoril in Portugal, das damals größte Casino in Europa und erlernte dort das Baccara-Spiel. Ohne es zu wissen, war bereits hier die Blaupause für die Kulisse von „Casino Royale“ geboren. Als weiterer Einfluss auf sein Werk gilt schließlich auch das Kommando für eine speziell ausgebildete Einheit der Royal Marines, für die er ab 1943 einige gefährliche Einsätze plante und sein Besuch von Jamaika im Jahr 1944. Fleming war von der exotischen Landschaft beeindruckt und bekundete seine Absicht, nach Kriegsende hierhin zurückzukehren.

Mit welcher Frau an seiner Seite, das stand lange nicht fest, hatte doch Ian Fleming gleich mehrere Affären und – laut seinem Umfeld – auch eindeutige sadomasochistische Vorlieben wie das Spanking, die eine längere Beziehung zumindest erschwerten, wenn nicht gar für diese Zeit gänzlich unmöglich machten. Es gilt heute als sicher, dass sich diese Neigungen in den diversen Folter-Szenen und Beinahe-Vergewaltigungen der Bond-Romane widerspiegeln, welche erst spät ihren Weg auf die Leinwand fanden (Erst mit der Veröffentlichung der ungekürzten Ausgaben durch den Cross Cult Verlag im Jahr 2012 liegen diese hierzulande auch literarisch auf Deutsch vor). Dennoch heiratete Fleming Anfang 1952 schließlich seine langjährige Geliebte Ann. Noch im gleichen Jahr kam ihr Sohn Casper auf die Welt, mit dem sie vor allem die Wintermonate auf Jamaika verbrachten, wo Fleming inzwischen ein Grundstück erworben und „Goldeneye“ getauft hatte. Finanziert wurde dies durch seine Anstellung als leitender Kolumnist der „Sunday Times“, welche immer noch viel Zeit zum Schreiben ließ. Inmitten der Flitterwochen begann er mit seinem ersten Spionageroman – „Casino Royale“. Den Namen seines Protagonisten „klaute“ sich der passionierte Vogelbeobachter bei dem Autor eines ornithologischen Bestimmungsbuchs. James Bond war geboren.

Damit nähern wir uns nun endlich auch inhaltlich dem Auftakt der Reihe. Man möge mir die lange Einleitung verzeihen, aber sie ist meines Erachtens notwendig, um vor dem Hintergrund Flemings eigener Biographie Bond näher zu verstehen. Aber jetzt zum Buch:

Das kleine (fiktive) Provinznest Royale-les-Eaux an der französischen Kanalküste. Wir schreiben das Jahr 1951. Einst war dieses Feriendorf ein Anlaufpunkt für die Reichen und Schönen, aber mit den Wirren des Krieges hat es zunehmend an Bedeutung verloren. Wie die Farbe an der Häuserfassaden, so ist auch der Glanz von Royale-les-Eaux längst abgeblättert und der faden Tristesse gewichen. Allein das Casino besitzt noch einen gewissen überregionalen Ruf, der vor allem diejenigen anlockt, welche lieber unter dem Radar bleiben und dennoch um äußerst hohe Beträge spielen wollen. Einer von ihnen ist James Bond, 007. Den Agenten mit der Lizenz zum Töten hat jedoch nicht die eigene Vorliebe für das Glücksspiel nach Nordfrankreich geführt. Vielmehr wurde er persönlich vom British Secret Service, genauer gesagt dem MI6, ausgewählt, um vor Ort eine einmalige Gelegenheit zu nutzen: Le Chiffre, ein sowjetischer Meisterspion und langjähriger Gegenspieler, befindet sich ebenfalls im Casino, um am Spieltisch die Verluste gut zu machen, welche ein fehlgeschlagenes Unterweltgeschäft verursacht hat. Dass er sich dafür eines Geldbetrags bedient hat, welcher seitens des russischen Geheimdiensts eigentlich für die Unterwanderung der französischen Gewerkschaften gedacht war, macht das Ganze umso prekärer. Niemand bestiehlt Stalin ungestraft. Und die eigens dafür installierte Einheit „Smersch“ hat sich bereits an seine Fersen geheftet.

Ein finanzieller Ruin von Le Chiffre ist also im Interesse der Briten, weswegen James Bond sein Geschick nutzen soll, um im Baccara-Duell den Sieg davon zu tragen. Für den jungen Agenten ist es die erste große Bewährungsprobe. Zwar hat er bereits zweimal Gebrauch von seiner Lizenz gemacht, aber noch nie stand so viel auf dem Spiel. Auch aus diesem Grund schickt man ihm zur Unterstützung Vesper Lynd, welche als Kontakt nach oben dienen und gleichzeitig darauf achten soll, dass Bond seinerseits nicht zu verschwenderisch mit den eigenen monetären Mitteln umgeht. Das Raubein hat nur wenig für seine neue Partnerin übrig, welche seinen Hass auf den Kommunismus nicht wirklich zu teilen und auch sonst für den Job viel zu grün zu sein scheint. Wenigstens ist ihr Anblick etwas für die Augen. Eine Eigenschaft, die er sich vielleicht zu Nutze macht, wenn sich Zeit und Gelegenheit ergeben. Bis dahin soll sie vor allem eins tun: Ihm nicht im Weg stehen.

Am Anfang scheint alles nach Plan zu laufen, denn Bond schlägt – auch mit Hilfe der CIA in Person von Felix Leiter – Le Chiffre am Spieltisch und besteht so seine Feuertaufe. Doch im Überschwang seines Erfolgs unterschätzt er seinen Gegenspieler. Als er gemeinsam mit René Mathis vom Deuxième Bureau und Vesper auf seinen Triumph anstoßen will, wird Letztere vor seinen Augen entführt. In einem Bentley aus den Dreißigern nimmt James Bond die Verfolgung auf, wird jedoch in eine Falle gelockt und verliert in einem spektakulären Unfall die Kontrolle über seinen Wagen. Als er wieder zu sich kommt, befindet er sich in Le Chiffres Händen. Und der hat sich eine ganz ausgeklügelte Folter ausgedacht, um wieder in den Besitz seines Geldes zu kommen …

Mehr soll an dieser Stelle nicht verraten werden, zumal gerade an diesem Punkt der Handlung das Buch eine ziemlich unerwartete Wendung nimmt – zumindest für diejenigen, welche die Verfilmung mit Daniel Craig aus dem Jahr 2006 noch nicht kennen sollten (so viele dürften das aber nicht sein). Und damit kommen wir vorneweg gleich zu meiner persönlich erstaunlichsten Erkenntnis nach dieser Lektüre: Martin Campbells cineastische Verarbeitung orientiert sich – ganz im Gegensatz zu früheren Verfilmungen – inhaltlich erstaunlich nah an der literarischen Vorlage, von gewissen Zugeständnissen an das moderne Publikum mal abgesehen. Das ist insofern überraschend, weil es unterstreicht, welche bahnbrechende Wirkung der Roman auf die damaligen Leser gehabt haben muss. Zumindest auf diejenigen, die ihn in den 50ern überhaupt gelesen haben, denn ein breitenwirksamer Erfolg blieb Ian Fleming mit den James-Bond-Titeln noch bis Anfang der 60er Jahre verwehrt. Bis ein gewisser John F. Kennedy eine Liste mit seinen Lieblingsbüchern veröffentlichte – und sich darunter ein Titel mit dem Namen „Liebesgrüße aus Moskau“ wiederfand. Im Zuge der darauffolgenden Popularität wurde schließlich das Fundament für eine Erfolgsgeschichte gelegt, die bis zum heutigen Tag andauert. Aber auch zurecht?

Entgegen meiner üblichen Gewohnheit habe ich diesmal tatsächlich einen Blick in die Einschätzungen diverser Literaturkritiker geworfen, die fast alle ein überwiegend negatives Bild von „Casino Royale“ zeichnen – von einem Roman, dem der Zahn der Zeit ordentlich zugesetzt hat und der heutzutage nur noch mit viel Mühe konsumierbar ist. Auffällig dabei: Viele der deutschen Rezensenten fällen dieses Urteil auf Basis der gekürzten deutschen Auflagen früherer Jahre, die vom Umfang her allenfalls noch knapp als Novelle durchgehen dürften und wichtige Passagen komplett außen vor gelassen haben. Andere kritisieren die Inkohärenz der Figur James Bond, welche zwar als Profi eingeführt wird, jedoch im weiteren Verlauf des Romans immer wieder diverse Anfängerfehler macht und mitunter ziemlich leichtsinnig – und vermeintlich eines Agenten unwürdig – agiert. Der Fakt, das Fleming betont, das wir Bond hier noch am Anfang seiner Karriere begegnen, wird bei dieser Beurteilung gerne ausgeblendet. Genauso wie der zeitliche Kontext, in dem letztlich das ganze Gebaren des Agenten Bond begründet liegt.

Die kurze Phase des Friedens und die aus der Not geborene Allianz der Alliierten nach Ende des Zweiten Weltkriegs hatte sich 1953 bereits in eine deutliche Auseinandersetzung der zwei Blöcke gewandelt – mit der NATO auf der einen und dem Warschauer Pakt auf der anderen Seite. Eine jede Seite strebte nach größtmöglicher Ausbreitung, versuchte ihre Ideologie und damit auch ihren Einflussbereich stetig zu erweitern – mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln. Während wir in Deutschland diese Phase vor allem etwas oberflächlich als Zeit des Wirtschaftswunders und neu gefundener Freiheiten, wie das Reisen in ferne Länder, verklären, fand hinter den Kulissen des Kalten Krieges ein heißer Konflikt statt, in dem sich tatsächlich Geheimdienstler auf diverse Art und Weise ihre Finger schmutzig machen mussten. James Bond ist daher einerseits ein Produkt von Flemings Erfahrungen und andererseits eines dieser Zeit. Entsprechend kaltblütig, rücksichtslos, manipulativ und emotional oberflächlich hat ihn der Autor gezeichnet. Eine Charakterisierung, die er jedoch in späteren Werken nicht nur mehr und mehr differenzierte, sondern auch etwas aufweichte (Eine gänzliche weichgespülte Version wie in „Keine Zeit zu Sterben“ blieb den Lesern aber gottseidank erspart) und zudem immer mit einer gehörigen Position Stil würzte, der Fleming bekanntermaßen äußerst wichtig war. Nur aus diesem Grund trägt James Bond die besten Anzüge, isst die feinsten Delikatessen, steigt in den teuersten Hotels ab und trinkt stets seinen Martini – geschüttelt, nicht gerührt.

Ja, wie Judi Denchs M in „Goldeneye“ treffend feststellt: James Bond ist ein Dinosaurier, ein Relikt des Kalten Krieges. Aber dies ändert nichts am formidablen Vergnügen, das sich bei der Lektüre dieses Romans sofort einstellt. Lange vor einem Elmore Leonard definiert hier Ian Fleming den Begriff „Coolness“ im Kriminalroman, setzt er die Richtlinien dafür, wie ein schurkischer, überlebensgroßer Oberbösewicht zu agieren hat, nutzt er die literarischen Freiheiten aus, um das bis dahin in seinen Konventionen gefangene Genre des Agententhrillers um eine ganz neue Bandbreite an Möglichkeiten zu erweitern. Dafür nimmt er sich trotz kurzen 240 Seiten erstaunlich viel Zeit, verzichtet (von wenigen Momenten wie der Verfolgungsjagd oder eine gezündeten Autobombe abgesehen) auf ausufernde Action und legt Bonds erstes Abenteuer besonders gegen Ende hin ziemlich „character driven“ an. Während sich manche gerade über diesen „Epilog“ nach der ansteigenden Spannungskurve und die damit abfallende Dramaturgie echauffieren, empfinde ich speziell dieses retardierende Moment als sehr gelungen und kennzeichnend für den weiteren Verlauf der Reihe. Die Welt ist eben nicht genug – es muss stets gleichfalls ein persönlicher Preis in der Waagschale liegen, um der Suspense Bedeutung zu verleihen.

Auch wenn James Bond hier noch lange nicht der Profi ist, als den ihn Sean Connery in „James Bond jagt Dr. No“ einst verkörpert und weltweit bekannt gemacht hat (selbst die Walther PPK trägt er in „Casino Royale“ noch nicht) – sein erster Auftritt beeindruckt auch heute noch durch archaische Wucht, britischen Stil und zielgerichtete Eleganz, welche der Cross Cult Verlag in seiner wunderschön aufgemachten Neuauflage dieses Klassikers einer neuen Generation von Lesern (äußerst gelungen übersetzt) zugänglich gemacht hat. Ich kann daher nur jedem Freund von klassischen Agentengeschichten raten: Unbedingt lesen!

Wertung: 95 von 100 Treffern

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  • Autor: Ian Fleming
  • Titel: Casino Royale
  • Originaltitel: Casino Royale
  • Übersetzer: Anika Klüver, Stephanie Pannen
  • Verlag: Cross Cult
  • Erschienen: 09.2012
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 240 Seiten
  • ISBN: 978-3864250705

Meine Name ist Poirot, Hercule Poirot

© Atlantik

Während sie in ihrer schriftstellerischen Tätigkeit immer größeren Erfolg verbuchen kann – mit „Alibi“ gelang ihr endgültig der große Durchbruch – verlaufen die 20er Jahre privat für Agatha Christie eher unglücklich. Aus beruflichen Gründen lässt ihr Mann sie häufig allein und Ende 1926 stirbt auch ihre geliebte Mutter, welche als erstes ihr schriftstellerischen Talent erkannt hatte und förderte. Dieses Ereignis, und die Tatsache, dass sie die Villa Ashfield, das Zuhause in dem sie aufgewachsen war, räumen muss, nehmen sie stark mit. Dem Geständnis ihres Mannes, er habe eine Affäre mit einer Golfpartnerin, folgt schließlich der totale Zusammenbruch.

Nach einem heftigen Streit zwischen den Eheleuten verlässt Agatha Christie am 3. Dezember 1926 das Haus und wird nach einer spektakulären Suchaktion erst zehn Tage später, unter einem falschen Namen, in einem Hotel in Harrogate aufgefunden – mit einem fast kompletten Gedächtnisverlust bezüglich des gesamten Zeitraums. Und auch im Anschluss kommt die Autorin nicht richtig auf die Beine, gerät zunehmend in Geldnot und bald auch aufgrund ihres Vertrages unter Zeitdruck, denn ein weiteres Buch muss dringend veröffentlicht werden. Doch Christie fehlen Muße und Ideen, um irgendetwas zu Papier zu bringen. Es scheint, als neige sich ihre Karriere dem Ende entgegen.

Ein rettender Einfall kommt dann von ihrem Schwager Campbell Christie, der ihr vorschlägt, doch einfach die im Jahr 1924 bereits im The Sketch Magazine (Ausgaben 1614 bis 1625) erschienenen Kurzgeschichten (zwölf an der Zahl) zu einem Roman zu verarbeiten. Campbell hilft ihr bei diesem „Recycling“ sogar, den Anfang und das Ende der einzelnen Erzählungen so zu verändern, dass sie besser in den Fluss (wenn man bei diesem Werk davon sprechen kann) des Romans passen – wohlgemerkt ohne dabei die Reihenfolge zu verändern. Als das Ergebnis, „Die großen Vier“, am 27. Januar 1927 veröffentlicht wird, entwickelt es sich in Rekordzeit zu ihrem bisher dahin größten Erfolg, wobei dieser vor allem auf zwei Gründe zurückzuführen ist: Der anhaltenden kontroversen Diskussion um den Vorgängerroman „Alibi“ und dem Aufruhr rund um ihr Verschwinden. Agatha Christie selbst urteilte rückblickend:

Ich habe einmal in einer Position, wo ich schreiben wollte, um Geld zu verdienen, gemerkt, dass ich es nicht kann – das ist so ein nervenaufreibendes Spiel. Hätte ich damals nur ein Manuskript im Ärmel gehabt, es hätte einen riesigen Unterschied gemacht. Das war die Zeit, als ich das scheußliche Buch „Die großen Vier“ produzierte und mich selbst zu „Der blaue Express“ zwang.“

Ihre nachträgliche Selbstkritik ist ebenso ehrlich wie zutreffend, denn „Die großen Vier“ gehört in der Tat zu ihren schlechtesten Werken, da es von Beginn an unter der nur folgerichtigen Inkohärenz leidet und sich in etwa so flüssig liest, wie es geschrieben wurde. Die Handlung – auch ein Begriff mit dem man hier vorsichtig sein muss – sei dennoch zum besseren Verständnis kurz angerissen:

Einige Monate nach den Ereignissen aus „Alibi“. Captain Hastings kehrt aus Argentinien nach London zurück, um dort seinen alten Freund Hercule Poirot in dessen Wohnung zu überraschen, der selbst gerade im Begriff ist, nach Südamerika abzureisen, gelockt von einem gut bezahlten Job des Multimillionärs Abe Ryland. Ihre Wiedersehensfeier wird allerdings von einem unbekannten Mann gesprengt, der vollkommen abgerissen und verwirrt wiederholt Poirots Adresse murmelt, um schließlich immer wieder Vieren auf ein Stück Papier zu schreiben. Bezieht er sich vielleicht auf die geheimnisvolle Organisation „Die großen Vier“, von welcher der belgische Detektiv Gerüchte gehört hat? Bevor sie viel mehr aus ihm herausbringen können, fällt der Mann in Ohnmacht und sie geben ihm Zeit zum Ausruhen – nur um ihn bei der Wiederkehr ermordet vorzufinden. Vergiftet durch Blausäure.

Poirot und Hastings beginnen gemeinsam Nachforschungen anzustellen und stoßen dabei auf ein international agierendes Verbrecherkartell, das nichts geringeres als die Weltherrschaft anstrebt und sich dabei als erstes den Sturz des britischen Empires zum Ziel gesetzt hat. An der Spitze der Organisation scheint ein Chinese namens Li Chang Yen zu stehen, der zusammen mit einer Französin, einem US-Amerikaner und einem Mann unbekannter Nationalität sämtliche Strippen zieht und Kontakte in die höchsten internationalen politischen Ämter hat. Letzterer ist dabei vor allem als eiskalter Vollstrecker tätig und führt das Ermittler-Duo durch diverse Verkleidungen immer wieder auf eine falsche Fährte. In Folge dessen kommt Poirot gleich mehrfach einen Schritt zu spät und muss dann stets am Fundort einer weiteren Leiche die Spur wieder mühsam aufnehmen. Dennoch: Die „Vier“ empfinden seine Einmischung alsbald als lästig – und Poirot und Hastings geraten plötzlich selbst in Lebensgefahr …

Bereits jetzt sollte dem geneigten Christie-Leser auffallen, dass „Die großen Vier“ so überhaupt nichts mit der Art von gemütlichen Kriminalroman zu tun hat, welche man gemeinhin sonst bei einem Titel aus der Poirot-Reihe erwarten dürfte. Oder um es noch deutlicher zu sagen: Es handelt sich hierbei in der Tat nicht um einen klassischen Whodunit, sondern um den eindeutig äußerst bemühten Versuch der Queen of Crime aus ganz viel Stückwerk irgendwie einen rasanten Agententhriller – ein Genre, das zum damaligen Zeitpunkt auch immer mehr Zulauf bekam – zusammenzubauen. Ein Versuch, den man auf ganzer Linie als gescheitert erklären darf, denn bis heute merkt man dem Werk die Hast an, in der dieses Buch wohl damals „verfasst“ worden sein muss. „Die großen Vier“ liest sich an keiner Stelle homogen, krankt an der episodischen Erzählweise, welche der Herkunft aus den Kurzgeschichten geschuldet ist und verhindert, dass überhaupt so etwas wie ein Lesefluss aufkommen kann. Sind die einzelnen Fälle für sich genommen noch irgendwie interessant, da Poirot sie einmal mehr mit der ihm eigenen Genialität und den „kleinen grauen Zellen“ zu lösen vermag, bilden sie im Verbund eine verwirrend, oftmals gänzlich unlogische Geschichte, die einen roten Faden einfach vermissen lässt.

Stattdessen ist man als Leser einer schon fast penetranten Hektik der Figuren unterworfen, die scheinbar vollkommen kopflos – und entgegen ihrem Charakter – von einem Ort zum nächsten hetzen. Hercule Poirot, der sonst am liebsten gar nicht erst sein Büro verlässt, um sein Schuhwerk sauber zu halten und in „Alibi“ bereits als alt und gebrechlich gezeichnet wurde, muss hier nun zwangsweise zum Actionhelden mutieren, dem nur noch eine Walther PPK und eine gepflegte Partie Baccara zu fehlen scheinen. Wenn die Bezeichnung „out of character“ je zugetroffen hat, dann wohl bei „Die großen Vier“. Da hilft es dann auch nichts, dass Christie die körperlichen Handycaps des Belgiers alle Nase lang erwähnt und diesen über jeden zweiten Schritt stöhnen lässt. Ganz im Gegenteil: Wenn er dann bei nächster Gelegenheit wieder wieselflink seinen Häschern entkommt, fühlt man sich – vollkommen zurecht – einfach am Nasenring durch die Manege gezogen.

Und in dieser wird leider auch vom Zirkus ein Programm geboten, das uns so gar nicht vom Hocker reißen will, da Christie – oder ihr Schwager – schlichtweg nicht erkannt haben, was einen Thriller eigentlich wirklich ausmacht und vollkommen falsche Schwerpunkte setzen. Und das obwohl sich fleißig bei den Genrekollegen bedient wird. Nicht nur findet der geneigte Leser hier gleich einige Parallelen zu Doyles Holmes-Geschichten „Das letzte Problem“ und „Seine Abschiedsvorstellung“, auch Li Chang Yen ist mehr als offensichtlich von Sax Rohmers Fu Manchu inspiriert worden – und damit vom britischen Ressentiment gegen die „gelbe Gefahr“, welche den armen, unschuldigen Engländer immer wieder gegen seinen Willen in die verraucht-exotischen Opiumhöhlen der Hafenviertel lockt, wo das Verbrechen unkontrolliert prosperieren kann – und in diesem Fall nebenbei noch gleich der Putsch gegen den Staat geplant wird. Die Art und Weise, wie die „Vier“ dabei ihr Ziel erreichen wollen, lässt selbst manchen Bond-Bösewicht im Rückblick feinfühlig und taktvoll erscheinen.

Apropos Bond. Es erscheint nur logisch, dass der finale Showdown uns in eine Alpenfestung in den Dolomiten führt, wo Poirot dem Oberbösewicht höchstpersönlich in einer von Sprengstoff gespickten Höhle (Ken Adam hätte seine Freude daran gehabt) entgegentritt. Was, damit habe ich zu viel verraten? Nun, ganz ehrlich, ich war nicht davon ausgegangen, dass sie das Buch dennoch lesen wollen. Das sollte man in der Tat nur dann anstreben, wenn man ein hartnäckiger Christie-Komplettist ist, nichts anderes mehr im Bücherschrank stehen hat oder sich einfach mal vor Augen halten will, wie man es eben nicht macht. Allen anderen rate ich tatsächlich hiervon die Finger zu lassen und stattdessen zu Eric Ambler oder dem eben erst wiederentdeckten John Mair zu greifen, der in „Es gibt keine Wiederkehr“ eine ähnliche Geschichte weit geschickter und gekonnter zu erzählen weiß.

Wertung: 68 von 100 Treffern

einschuss2
  • Autor: Agatha Christie
  • Titel: Die großen Vier
  • Originaltitel: The Big Four
  • Übersetzer: Giovanni Bandini
  • Verlag: Atlantik
  • Erschienen: 09/2015
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 224 Seiten
  • ISBN: 978-3455650532

Krieg der Lügen

© Kampa

Es gibt sie immer noch – diejenigen, welche als Grenzschützer die vermeintlichen Übergänge zwischen den Genres überwachen, peinlich genau darauf achten, dass sich das sogenannte Triviale nicht mit der Hochliteratur vermischt, bloß keine Brücken zwischen Niveau und Unterhaltung geschlagen werden.

Sie merken nicht, dass sie die Entwicklungen der letzten Jahre, ja Jahrzehnte vollkommen verschlafen haben, wir nicht mehr länger in diesen Kategorien urteilen und Maß nehmen können, da sich das einstmals Ausschließende inzwischen längst vereinigt hat – vorangetrieben von Autoren, die diese willkürlich gesetzten roten Linien einfach nicht als solche wahrgenommen oder mittels der künstlerischen Freiheit überwunden haben. Und während es einige Schriftsteller gab, wie zum Beispiel Graham Greene, wo dies bereits zu früheren Zeiten akzeptiert worden ist, muss sich der ein oder andere heute weiterhin zu diesem Eiertanz zwischen klassischer Belletristik und Spannungsroman auffordern lassen. Zu ihnen gehört auch William Boyd, dessen Roman „Ruhelos“ man vor einigen Jahren in den Buchhandlungen in verschiedenen Abteilungen finden, leider aber sich in keiner davon augenscheinlich einen dauerhaften Platz erobern konnte.

Das ist weiterhin bedauernswert, zumal gerade „Ruhelos“ bei der damaligen Veröffentlichung hierzulande größere Aufmerksamkeit bekommen hat, welche einen Durchbruch in Deutschland erhoffen ließ. Boyd aber bleibt bis heute, unverständlicherweise, ein Geheimtipp. Und während das Lebenswerk des kürzlichen verstorbenen John Le Carré allenthalben gefeiert und nochmal ins Scheinwerferlicht gerückt wird, muss daher wohl die kriminelle Gasse für den schottischen Autor, der aktuell wieder beim tollen Kampa-Verlag neu aufgelegt wird, Schützenhilfe leisten. Mit Freuden wohlgemerkt, denn Boyd ist hier ein Spionageroman klassischer Schule gelungen, der sowohl sprachlich als auch in seinem Aufbau zu überzeugen weiß und dem Leser nebenbei noch eine Geschichte kredenzt, die gleich mehrere Ebenen aufweist – und sich mitunter äußerst beklemmend liest.

Ihren Anfang nimmt sie im England des Jahres 1976, genauer gesagt im beschaulichen Oxford. Die Bevölkerung der Universitätsstadt leidet unter einem ungewöhnlich heißen Sommer. Unter ihnen auch die allein erziehende Sprachlehrerin Ruth Gilmartin mit ihrem Sohn Jochen, welche sich nicht nur aufgrund der Hitze zunehmend Sorgen um die Gesundheit ihrer alten Mutter Sally macht. Diese sitzt nach einem Hausunfall mittlerweile im Rollstuhl und sucht in letzter Zeit vermehrt und äußerst nervös den angrenzenden Waldrand mit dem Fernglas ab. Ihr Haus verlässt sie selbst kaum noch, Telefonanrufe nimmt sie nur nach einen vorher vereinbarten Klingelzeichen ab. Was Ruth anfangs für den Beginn von Altersdemenz hält, hat jedoch viel tiefer gehende Gründe. Und eines Tages kommt seitens Sally zu einer überraschenden Eröffnung: In Wirklichkeit heißt sie nicht Sally sondern Eva Delektorskaja und war früher für viele Jahre als Spionin für den britischen Geheimdienst tätig. Und genau deswegen, bangt sie nun um ihr Leben …

Was klingt wie mit ziemlich heißer Nadel gestrickt und anfangs noch vielleicht den oder anderen Zweifel aufgrund der Ausgangskonstellation beim Leser erweckt, entfaltet zwischen denn Buchdeckeln aber tatsächlich nach wenigen Seiten (wie so oft bei Boyd) eine schon fast unheimliche Sogwirkung, verlieren wir uns in den zeitgeschichtlichen Ereignissen, die vom Autor in zwei Handlungsstränge aufgeteilt werden, deren Auswirkungen wiederum bis in das Heute spürbar sind. Der Hauptstrang führt uns zurück in das Jahr 1939, genauer nach Paris, wo die russische Emigrantin Eva nach dem Tod ihres Bruders durch die Nazis, von dem mysteriösen Lucas Romer für den britischen Geheimdienst angeworben wird. Es folgt eine intensive Ausbildung in Schottland mit anschließenden Einsätzen in Belgien, England und vor allem in den USA. Das Ziel der geheimen Unterabteilung des British Secret Service: Falschmeldungen zu lancieren, welche die Vereinigten Staaten von Amerika zum Eintritt in den Krieg bewegen sollen. Und dafür ist den Engländern, die ab 1940 die letzte Bastion gegen Hitlers Armeen bilden und sich in einer verzweifelten Lage befinden, beinahe jedes zur Verfügung stehende Mittel recht.

Selbst wer sich grundsätzlich eher wenig für die militärhistorischen Konstellationen vor Pearl Harbour interessiert, wird sich dank Boyds zielsicherer, feinfühliger Schreibe, dem sich zuspitzenden Plot und der facettenreichen Figur Eva und ihren Erlebnissen nur schwerlich entziehen können. Der Autor profitiert dabei von seiner Besetzung, denn in einem Milieu der Geheimdienste, wo man mit erfundenen Geschichten, Falschmeldungen und bewusst konstruierten Fährten die Weltgeschichte in die jeweils gewünschte Richtung lenken will, fällt eine Lüge mehr oder weniger nicht auf, verschwimmen die sonst deutlicher getrennten zwischen Fiktion und historischer Realität. Es ist ein heikles Spiel, welches Boyd hier schildert und das vor allem von Taktik geprägt ist, weswegen sich „Ruhelos“, im Kontrast zum Titel, immer wieder Zeit nimmt, um ausführlich zu erzählen, was in Zeiten geradlinig durchkomponierter und mit Action vollgestopfter Thriller schnell auf Ungeduld stoßen dürfte. Gerade an die Geduld möchte ich aber appellieren, sind doch diese behäbigeren Passagen nur das Luftholen, nur der minutiös geplante Aufbau für eine ganze Reihe von Eröffnungen, die mehr als nur eine Überraschung in sich birgen.

Das einzige Manko: Bis dahin müssen wir auch immer wieder in die 70er Jahre zurückwechseln, wo sich die Ich-Erzählerin Ruth nicht nur mit wachsender Faszination durch die schriftlichen Dossiers ihrer Mutter arbeitet, sondern über Umwege auch noch in den Dunstkreis der Baader-Meinhof-Gruppe gerät. Wie und warum, das sei hier nicht näher geschildert, verkommt doch dieser nicht weiter ausgearbeitete Handlungsstrang zu einem Sturm im Wasserglas, nachdem man sich umso mehr auf Evas Erzählungen aus ihrem „ruhelosen“ Leben freut. Gerade das geschilderte Doppel- und Dreifachspiel der Agenten, die gezielten Seitenhiebe auf die Macht der Medien und der psychologische Unterbau samt der finalen Auflösung, sorgen dafür, dass man nicht nur hochklassig und kurzweilig unterhalten wird, sondern am Ende auch der festen Überzeugung ist, einen völlig neuen und anderen Einblick in das Leben dieser Epoche erhalten zu haben.

So ist „Ruhelos“ schließlich eine auf- und anregende Lektüre, die trotz einiger, unübersehbarer Schwächen den wehrlosen Leser in seinen Bann zu Ziehen vermag und nebenbei noch eine Lanze für das zuweilen abschätzig betrachte Genre des Spionage-Thrillers bricht. Ein Katz-und-Maus-Spiel zwischen feindlichen Agenten kann sehr wohl spannend, literarisch und tiefgründig zugleich sein. Dieses Buch beweist es.

Wertung: 92 von 100 Treffern

einschuss2
  • Autor: William Boyd
  • Titel: Ruhelos
  • Originaltitel: Restless
  • Übersetzer: Chris Hirte
  • Verlag: Kampa
  • Erschienen: 03.2019
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 384 Seiten
  • ISBN: 978-3311100058

Schatten der Vergangenheit

© Heyne

Es hatte nach der Lektüre einige Tage gedauert, bis ich diese Rezension zu Robert Ludlums Auftakt der Bourne-Reihe in Angriff nehmen konnte – nicht zuletzt deshalb, weil die Lektüre, welche sich doch so gänzlich von der Verfilmung mit Matt Damon und Franka Potente in den Hauptrollen unterscheidet, auch noch nach der Beendigung auf den Leser einwirkt und aufgrund der vielen offenen Fragen Raum für Spekulationen lässt.

Die Bourne-Identität“, 1980 erschienen und hierzulande erst unter dem Titel „Der Borowski-Betrug“ veröffentlicht, bietet für Kenner des Films erfrischend viel Neues und nimmt, vom Beginn einmal abgesehen, einen Verlauf, der sich in erster Linie an der Ära des Kalten Krieges und der für die USA so schwerwiegenden Niederlage in Vietnam orientiert. Eine Ausgangslage, die gerade für jüngere Leser der Smartphone-Generation das ein oder andere Hindernis darstellen dürfte, sind doch nicht nur die hier dargestellten Möglichkeiten der Kommunikation äußerst gewöhnungsbedürftig. Während andere Agentenromane des Genres dies mit typischen „Klassiker“-Charme wettmachen können, hat Ludlums Werk doch hier und da eindeutig etwas Staub angesetzt. Es bedarf einer gewissen Geduld, um unter der grauen Patina das geniale Konstrukt der Handlung zu entdecken, welches für damalige Verhältnisse sicherlich einzigartig war. Diese sei hier kurz angerissen:

Im Mittelmeer ziehen Fischer einen schwer verletzten Mann aus den stürmischen Fluten. Sein Körper ist mit Schusswunden übersät, eine schwere, tief gehende Kopfverletzung scheint irreparablen Schaden hinterlassen zu haben. Dennoch bringen die Seeleute ihn zu einem britischen Arzt, in dessen Obhut der namenlose Patient nach langer Zeit wieder zu Bewusstsein gelangt. Doch wer ist der Mann? Von wo kommt er? Und wer ist für seinen Zustand verantwortlich? Nur langsam dringen Erinnerungsfetzen durch die Amnesie, kehren Teile des Gedächtnisses zurück. Aber erst ein Implantat in seiner Hüfte gibt ihm den entscheidenden Hinweis – ein Bankschließfach in Zürich, das unter dem Namen Jason Bourne läuft.

Nach sechs Monaten der Regeneration macht er sich auf den Weg in die Schweiz, nur um relativ schnell feststellen zu müssen, dass auch dort gewisse Männer immer noch seinen Tod wollen. Bourne beweist nun ungeahntes Geschick und beeindruckende Fähigkeiten – sowohl im Kampf wie beim listenreichen Katz-und-Maus-Spiel. Mit Hilfe der jungen Marie St. Jacques, die er als eine Art Lebensversicherung zur Geisel nimmt, tritt er die Flucht nach vorne an. Stets getrieben von Furcht, Instinkt und dem festen Willen, die Wahrheit über seine Identität in Erfahrung zu bringen, jagt er jedem noch so kleinem Indiz hinterher. Doch die Suche nach der eigenen Vergangenheit wird auch zum Wettkampf mit dem Tod, denn Carlos, ein international agierender Auftragskiller, ist ebenso hinter ihm her wie Teile des US-amerikanischen Geheimdienstes.

Cain ist für Charlie. Delta ist für Cain.“ Als Bourne den Sinn des Satzes begreift, der ihm immer wieder durch den Kopf geht, erkennt er schließlich wer und was er ist …

Auch wenn Jason Bourne bereits im TV-Mehrteiler „Agent ohne Namen“ Ende der 80er sein Filmdebüt feierte – richtig bekannt geworden ist die Geschichte um den unter Gedächtnisverlust leidenden Mann mit den vielen Eigenschaften erst durch Doug Limans cineastische Umsetzung aus dem Jahr 2002. Ein Erfolg, den sein Erfinder Robert Ludlum, der bereits im März des vorherigen Jahres an einem Herzinfarkt starb, nicht mehr miterleben durfte. Drei Kino-Fortsetzungen und weitere von Ghostwritern geschriebene Bücher künden von der immer noch großen Beliebtheit der Figur Jason Bourne, welche uns zwar wie James Bond in die Welt der Spionage führt, dem Leser aber einen schmutzigeren und weit weniger glamourösen Einblick in die Tätigkeiten und das Gegeneinander von Geheimdiensten, Agenten, Killern und Terroristen gewährt. Realismus heißt das Schlagwort der Bourne-Serie – und dem hat sich letztlich auch die Handlung unterzuordnen. Technische Gadgets, wunderschöne Frauen, nigelnagelneue Autos, auf hochglanzpolierte Stützpunkte größenwahnsinniger Bösewichte – all dies sucht man im Bourne-Universum vergebens. Stattdessen finden wir uns in dreckigen Gassen, dunklen Spelunken oder auf alten Bauernhöfen wieder, Spiegelbilder der Figuren, welche sie bevölkern. Und diese sind ebenfalls weitaus komplexer und düsterer angelegt, als man es sonst vom Genre des Polit- und-Agententhrillers gewohnt ist.

Obwohl ebenfalls Amerikaner, fehlt der US-typische Pathos hier fast gänzlich. Robert Ludlum lässt von Beginn an keinen Zweifel daran, dass Jason Bourne mit dem üblichen, moralisch erhabenen Helden, nichts gemein hat. Sein Handeln hat wenig gemeinnützige Züge, sondern ist vielmehr vom Instinkt geleitet, gleich einem Tier, das zum Jäger werden muss, um nicht selbst erlegt zu werden. Dies beeinflusst letztlich auch den Bezug des Lesers zum Hauptcharakter, dem man nicht wirklich mögen kann, da er uns dazu eigentlich kaum Anlass gibt. Auf der anderen Seite fasziniert die Amnesie der Figur, die aufgrund ihrer unbekannten Vergangenheit auch für uns Beobachter über lange Zeit unvorhersehbar bleibt. Plötzliche Wendungen und Erkenntnisse überraschen Leser und Hauptfigur gleichermaßen, lassen nur nach und nach ein größeres Bild in den vielen Puzzleteilen entdecken. Und selbst dies bleibt unscharf.

Die Faszination Jason Bourne, sein Reiz, liegt letztlich in der Einsamkeit der Figur. Er kann weder auf die geballte Macht eines Britischen Secret Service zurückgreifen, noch teilt er den Wissensstand seiner Gegner, die ihm, in der Person des Killers Carlos und dessen weltumspannenden Organisation, immer einen Schritt voraus sind – trotzdem gelingt es ihm nach und nach, den Spieß umzudrehen, mit kleinen, gezielten Hieben, seine Verfolger aus der Deckung zu locken. Immer wieder meistert er brenzlige Situationen, muss er Entscheidungen treffen, in Unkenntnis davon, ob ihn diese auf den richtigen oder falschen Weg führen. Doch gibt es diese Wahl für Bourne überhaupt? Ludlum lässt die wahren Wesenszüge nur sporadisch durchblitzen, zeigt uns einen gespaltenen Protagonisten, der sich und uns die Frage stellt, ob man durch das Wiedererlangen der verlorenen Vergangenheit auch wirklich ein anderer Mensch werden oder dem Schicksal am Ende doch nicht entrinnen kann.

Die Art und Weise, wie Ludlum Bourne um Facetten bereichert und Erfahrungen ergänzt, in immer wieder mögliche Richtungen wendet und dreht – das liest sich unheimlich spannend und packend, bildet gar das Fundament des ansonsten eher flachen Spannungsbogens, den der Autor mit Actionsequenzen garniert, die kurz aber dafür umso drastischer geraten sind. Sprachlich reißt Ludlum zwar keine stilistischen Bäume aus. Seine atmosphärische Schreibe passt aber zum doch sehr intensiven und gefühlsbetonten Plot, der mitunter schwierig zu durchschauen ist. Besonders am Anfang ist Aufmerksamkeit gefragt, um die vielen verschachtelten Zusammenhänge überblicken zu können. Wenige gute Arbeit leistet Ludlum in Punkto Dialoge. Vor allem die Konversationen zwischen Jason und Marie schaben haarscharf am Kitsch vorbei und beißen sich mit der ansonsten äußerst naturalistisch gestalteten Handlung. Überhaupt erachte ich die Figur Marie St. Jacques (zumindest für diesen ersten Band der Reihe) als vollkommen überflüssig. Da hat mir Franka Potentes Interpretation der Marie im Film weit besser gefallen.

Die Bourne-Identität“ ist eine gelungene Mischung aus Agenten-Thriller und „Hardboiled“-Action, die dank der unvorhersehbaren Geschichte und der schwer einzuordnenden Hauptfigur immer wieder aufs Neue in den Bann zu ziehen weiß. Ein kühles, schroffes, aber äußerst komplexes Werk, das allen Freunden anspruchsvollerer Spannungsliteratur nur ans Herz gelegt werden kann. Ich freue mich bereits auf die Fortsetzung „Das Bourne-Imperium“. Schließlich sind noch einige Rechnungen zu begleichen…

Wertung: 88  von 100 Treffern

einschuss2
  • Autor: Robert Ludlum
  • Titel: Die Bourne-Identität
  • Originaltitel: The Bourne Identity
  • Übersetzer: Heinz Zwack
  • Verlag: Heyne
  • Erschienen: 08.2016
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 656 Seiten
  • ISBN: 978-3453438583

Wer anderen eine Grube gräbt

© Atlantik

Aller guten Dinge sind drei. Nachdem ihr Debütwerk, „Das fehlende Glied in der Kette“, sowie der erste Band aus der Tommy-und-Tuppence-Beresford-Reihe, „Ein gefährlicher Gegner“, zwar beide positive Resonanz erfuhren, aber der große literarische Durchbruch bis dato ausgeblieben war, ließ Agatha Christie im Jahr 1923 mit „Mord auf dem Goldplatz“ den zweiten Kriminalroman um Hercule Poirot und seinen Freund Captain Hastings folgen – und hatte damit nun endlich den lang ersehnten Erfolg. Nicht zuletzt wohl auch deshalb, weil Zeitungen, wie z.B. „The Times“, den belgischen Detektiv jetzt in einem Atemzug mit der bisherigen Ikone, Sherlock Holmes, nannten, was dem Bekanntheitsgrad der noch neuen Figur enorm zugute kam.

Persönlich begannen für Agatha Christie die frühen 20er Jahre jedoch weniger erfreulich. In ihrer Ehe mit Oberst Archibald Christie begann es zu kriseln, weil er sie zum einen berufsbedingt häufig allein ließ und zum anderen eine, laut ihren eigenen Worten „an Sucht erinnernde Vorliebe“, für das Golfspiel entwickelt hatte. Wenn er überhaupt einmal zuhause weilte, verbrachte er den Großteil seiner Freizeit auf den Golfplatz, weswegen sich Agatha Christie bald als „Golf-Witwe“ bezeichnete. Ihren Frust verarbeitete sie daraufhin kurzerhand in dem vorliegenden Roman, dessen Widmung natürlich als ironischer Wink mit dem Zaunpfahl an den Gatten interpretiert werden kann. Archibald hatte nie viel Interesse an ihrer Schreiberei gezeigt und letztlich sollte die Autorin den Konkurrenzkampf mit dem Sport Golf auch verlieren. Im Jahre 1926 gestand er ihr einer Affäre mit seiner neuen Golfpartnerin, die er nach ihrer Scheidung sogar heiratete. Agatha Christie nahm nie wieder einen Golfschläger in die Hand und mied fortan auch jeglichen Golfplatz.

Vor diesem Hintergrund ist es umso erstaunlicher, dass „Mord auf dem Golfplatz“ mit Sicherheit zu ihren besten Werken mit dem Protagonisten Hercule Poirot zählt, der hier nicht nur einen seiner kniffeligsten Fälle zu lösen hat, sondern auch – als einziger Roman der Reihe – fast ausschließlich im Norden Frankreichs spielt, wo Christie als junge Frau selbst einige Zeit lebte. Die Handlung nimmt ihren Anfang im fiktiven Dorf Merlinville-sur-mer, das laut Poirots eigenen Worten irgendwo zwischen Boulogne und Calais liegt:

Nachdem Poirot und Hastings, die sich mittlerweile in London eine Wohnung teilen, ein Brief erreicht, überqueren sie den Kanal, um sich mit Monsieur Renauld zu treffen, der, hier ansässig, sein Leben in Gefahr glaubt und um die dringende Unterstützung des bekannten Detektivs bittet. Poirot, dessen kleine graue Zellen schon lange nicht mehr gefordert wurden und der von den unspektakulären Fällen der letzten Zeit genug hat, kommt trotz aller Eile zu spät. Noch bevor er mit seinem Mandanten ein Wort wechseln kann, wird dieser tot in einer ausgehobenen Grube auf dem nahe gelegenen Golfplatz gefunden, während man seine Ehefrau gefesselt und geknebelt im Schlafzimmer entdeckt. Alle Indizien scheinen eigentlich klar auf einen Einbruch hinzudeuten. Und auch für den arroganten Ermittler der Sûreté, Monsieur Giraud, scheint der Fall gelöst. Niemand anderes als der Sohn, Jack Renauld, der für den Abend kein Alibi aufzuweisen hat, kann die Tat begangen haben. Doch Poirot selbst kommen Zweifel, die sich auch schon nach kurzer Zeit als berechtigt erweisen sollen …

Das liest sich auf den ersten Blick wie jeder andere typische Vertreter des klassischen Whodunits, aber „Mord auf dem Golfplatz“ birgt durchaus einige Besonderheiten. Nicht nur kommt der vorliegende Roman weit düsterer daher als die sonst eher gemütlichen Titel dieses Sub-Genres – mit Monsieur Giraud setzt Christie zudem auch einen zweiten „Hahn“ in den Stall, der sich von vorneherein gegen Poirots Teilnahme sperrt und diesem extrem feindlich gesinnt ist. Der Belgier, üblicherweise selbst gewohnt, die Bühne allein für sich zu beanspruchen, zeigt sich anfangs äußerst irritiert darüber, sein Scheinwerferlicht teilen zu müssen und ist derart in dem Konkurrenzkampf gefangen, dass er dadurch fast den eigentlichen Fall vergisst. Christie gibt sich hier viel Mühe, das Kräftemessen der zwei Egomanen in Szene zu setzen und geizt dabei weder mit Situationskomik noch mit einer gewaltigen Portion britischen Humors. Konkurrenz belebt in diesem Buch nicht nur das Geschäft, sondern vor allem die Handlung. Und sorgt letztlich auch dafür, dass der Belgier mit dem eiförmigen Kopf zur Höchstform aufläuft. Ihm spielt dabei vor allem sein gutes Gedächtnis in die Karten, denn sein Wissen über vergangene Fälle mit ähnlichem Tathergang soll sich bei der Lösung als äußerst nützlich erweisen.

Weniger nützlich ist diesmal Captain Hastings, der sich Hals über Kopf in die in dem Mordfall verwickelte Dulcie Duveen verliebt, was wiederum im weiteren Verlauf die Freundschaft zwischen ihm und Poirot auf eine harte Probe stellt. Später wird Hastings seine große Liebe heiraten und mit ihr gemeinsam nach Argentinien ausreisen, womit sich Agatha Christie einen persönlichen Wunsch erfüllt, die dieser Figur bereits seit dem ersten Roman überdrüssig geworden war und ihn von der Bildfläche verschwinden lassen wollte. Wie Arthur Conan Doyle, der Sherlock Holmes in den Reichenbachfällen entledigte, um ihn auf Druck der Leserschaft doch wieder zum Leben zu erwecken, so holt aber auch die Queen of Crime Poirots etwas naiven, aber gutmütigen Partner schon früh wieder zurück an dessen Seite. Schon im übernächsten Band der Reihe, „Die großen Vier“, wird er erneut mit von der Partie sein und erst 1937 für längere Zeit aus der Serie verschwinden, um dann sein Comeback und den letzten Auftritt erst wieder im Finale, „Der Vorhang“, zu feiern. Obwohl daher ein Großteil der Hercule-Poirot-Romane ohne Captain Hastings auskommt, ist er, wie Dr. Watson bei Sherlock Holmes, bis heute fest in unserer Erinnerung verwurzelt.

Und was tut sich in Punkto Spannungsmoment? Nun, wie jeder guter Rätselkrimi, so lebt auch dieser – der übrigens nur (wir wissen ja auch jetzt warum) wenige Zeit auf dem Golfplatz spielt – von den geschickt ausgelegten falschen Spuren und überraschenden Wendungen, wobei sich Agatha Christie hier eindeutig von Sir Arthur Conan Doyles Kurzgeschichte „Abbey Grange“ (siehe „Die Rückkehr des Sherlock Holmes“) sowie dessen Roman „Das Tal der Furcht“ inspirieren ließ. Das tut dem Lesevergnügen aber keinen Abbruch, denn wie geschickt und ausgekocht Poirot auch diesmal wieder die losen Fäden verknüpft, das weiß selbst fast hundert Jahre nach der Veröffentlichung des Romans noch zu begeistern. Mehr noch: Frönt Christie in ihren Krimis zumeist eher einer beschaulichen Gangart, entwickelt sich dieser Whodunit gegen Ende hin zu einem fesselnden Pageturner, den man auch für alle guten Worte nicht mehr aus der Hand legen möchte.

Mord auf dem Golfplatz“ – das ist ein herrlich unterhaltsames Krimi-Kammerspiel von der ersten bis zur letzten Seite, das erstaunlich viele Haken schlägt und uns bis zum Schluss gekonnt im Dunkeln tappen lässt. Ein echtes Muss für alle Freunde der Queen of Crime und eine uneingeschränkte Empfehlung für alle Liebhaber des klassischen britischen Krimis aus dem Golden Age.

Wertung: 93 von 100 Treffern

einschuss2
  • Autor: Agatha Christie
  • Titel: Mord auf dem Golfplatz
  • Originaltitel: The Murder on the Links
  • Übersetzer: Gabriele Haefs
  • Verlag: Atlantik
  • Erschienen: 04/2016
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 240 Seiten
  • ISBN: 978-3455651003

Journey into Fear

© Atlantik

In vielerlei Fällen übersteigt der Bekanntheitsgrad einer Verfilmung, den der literarischen Vorlage – und hier bildet auch „Von Agenten gejagt“ (Orig. „Journey into Fear“) keinerlei Ausnahme.

1943, mitten während des Zweiten Weltkriegs, kam diese Umsetzung von Eric Amblers gleichnamigem Thriller – der auf den Deutsch den Titel „Die Angst reist mit“ erhielt – in die Kinos und konnte, trotz der vergleichsweise übersichtlichen Spiellänge von gerade mal 68 Minuten, nicht zuletzt auch aufgrund der starken Besetzung sein Publikum überzeugen. So spielt hier unter anderem Orson Welles, der zwei Jahre zuvor mit „Citzen Kane“ von sich Reden machte, eine der tragenden Hauptrollen und teilte sich die Regie mit Norman Forster, welcher wiederum Krimi-Kennern als Regisseur der Charlie-Chan-Streifen ein Begriff sein dürfte. Doch verdient nun auch das Buch denselben Klassiker-Status wie die erste Leinwandversion (1975 erschien eine weitere, kanadische Produktion mit u.a. Donald Pleasance und Ian McShane)?

Diese Frage kann, soviel sei vorab schon mal gesagt, besten Gewissens mit einem kräftigen „Ja“ beantwortet werden, denn einmal mehr gelingt es dem englischen Autor scheinbar mühelos, aus einer vergleichsweise äußerst alltäglichen und unspektakulären Ausgangssituation ein unfassbar spannendes, intelligentes Kammerspiel zu skulptieren, das einen Großteil moderner Spionagekrimis mühelos hinter sich lässt und äußerst gekonnt die Brücke zum klassischen Whodunit schlägt. Gekonnt und wohlgemerkt gewollt, denn die Reminiszenzen an ein paar der ganz großen Vertreter des Golden Age of Crime sind mehr als offensichtlich, was dem Werk allerdings nicht nur ein größeres Publikum eröffnet, sondern auch unterstreicht, wie vielschichtig und vor allem genreübergreifend der Kriminalroman mit dem richtigen Schriftsteller an der Feder sein kann. Der bedient sich beim Aufbau seiner Handlung auch bei sich selbst und präsentiert dem Leser einen Protagonisten, der Ambler-Kennern in seinen Charakteristika vielleicht etwas bekannt sein dürfte.

Frühjahr 1940, Istanbul. Während die Truppen des Dritten Reichs erbarmungslos ihre Macht über das bereits eroberte Polen festigen und hinter den Kulissen die Planungen für die Eroberung der Benelux-Staaten („Fall Gelb“) und von Frankreich („Fall Rot“) laufen, rüsten sich die Alliierten ihrerseits für den erwarteten Angriff. Unter ihnen ist auch die noch relativ junge türkische Republik, die zwar bis zum August 1944 außenpolitisch ihre Neutralität bewahren sollte, der aber dennoch daran gelegen war, militärisch auf Abschreckung zu setzen. Aus diesem Grund reist der englische Ingenieur Graham von der Rüstungsfirma Cator & Bliss (schon bekannt aus Amblers Erstling „Der dunkle Grenzbezirk“ und „Anlass zur Unruhe“) in die Stadt am Bosporus. Er soll die notwendigen Daten sammeln, um die Kriegsschiffe der türkischen Marine mit neuen Geschützen ausstatten zu können und mit diesen Informationen nach England zurückkehren. Ein Routineauftrag für Graham, der vor seiner Abreise noch die Gastfreundschaft der Türken genießt und, von einem mysteriösen Beobachter in einem Nachtclub mal abgesehen, einen schönen letzten Abend in der Metropole verbringt. Doch dieser soll jäh enden.

Als Graham in sein Hotelzimmer zurückkehrt, wird direkt auf ihn geschossen. Er überlebt nur knapp, zeigt sich typisch englisch empört und glaubt in seiner Naivität lediglich einen Einbrecher überrascht zu haben. Doch als sein türkischer Verbindungsmann Kopeikin ihn ins Bild setzt, eröffnet sich ihm die ganze Ernsthaftigkeit der Situation. Der versuchte Raubüberfall war in Wirklichkeit ein fehlgeschlagenes Attentat auf ihn. Oberst Haki vom türkischen Geheimdienst setzt ihn in Kenntnis, dass bereits zuvor ein Anschlag auf ihn vereitelt wurde und die deutschen Agenten mit aller Macht verhindern wollen, dass Graham zeitnah England erreicht und damit die Aufrüstung der Türken vorantreibt. Obwohl sich der schrullige Ingenieur noch weiterhin gegen die ihn so absurde Vorstellung wehrt, Beteiligter in einem Spionage-Katz-und-Maus-Spiel zu sein, muss er dennoch tatenlos zusehen, wie seine Fahrt mit dem Orient-Express verhindert und er stattdessen an Bord eines Dampfschiffs gebracht wird, das ihn über die griechischen und italienischen Häfen bis nach Südfrankreich transportieren soll.

Die kurze Planänderung gelingt und Graham erreicht das Schiff. Er ist in Sicherheit, so scheint es. Oder haben seine Verfolger diesen Schritt vielleicht auch vorausgesehen? Arbeitet gar einer der anderen Passagiere auch für die Deutschen? Für den Engländer beginnt eine „Journey into Fear“ …

Die Angst reist mit“ kann natürlich in gewisser Weise als Verbeugung Eric Amblers vor der großen Agatha Christie verstanden werden, welche im Jahrzehnt zuvor mit Werken wie „Mord im Orient-Express“ (1934) und „Tod auf dem Nil“ (1937) den „Closed-Room-Mystery“-Roman John Dickson Carrs aus dem klassischen englischen Landhaus erfolgreich in einen neuen, beweglichen Schauplatz transportiert hatte. Und so erinnert gerade die Konstellation auf der Fähre stark an diese Vorbilder, zumal sich dem Leser ein ähnlich diverses Ensemble an möglichen Verdächtigen präsentiert. Recht schnell ist klar – irgendjemand an Bord spielt ein falsches Spiel und versucht Graham noch vor dem Erreichen seines Ziels zu töten. Doch bloß wer? Neben Josette, der aufdringlichen und anhänglichen Kabarett-Tänzerin, welche der Ingenieur bereits in Istanbul kennengelernt hatte, sind dies unter anderem ihr reizbarer Geschäftspartner (Zuhälter wäre wohl passender) Josè, der türkische Tabakhändler Kuventli, der vom Kommunismus begeisterte, französische Geschäftsmann Monsieur Mathis und seine Frau sowie der alte, deutsche Archäologe Dr. Fritz Haller samt dessen Gattin.

Insbesondere die Anwesenheit des Letzteren trägt maßgeblich zu der angespannten Stimmung zwischen den Schiffsreisenden bei, die Hallers Mitfahrt inmitten des Krieges als Affront ansehen und dessen Nähe demonstrativ meiden. Sehr zum Missfallen Grahams, der den einzigen freien Platz ausgerechnet am Tisch des Deutschen in Anspruch nehmen muss. Eric Ambler erweist sich hier – einmal mehr – als ausgezeichneter Beobachter und Charakterzeichner, vermenschlicht den kriegerischen Konflikt in Person der unterschiedlichen Figuren, welche, abseits üblicher Nationalitätenklischees, die politischen und gesellschaftlichen Zustände ihrer jeweiligen Heimatländer widerspiegeln. Das hier insbesondere, verkörpert durch Graham selbst, das britische Empire auch nicht ungeschont davon kommt, spricht für das ehrliche Ansinnen des Autors. Für England ist der Krieg, trotz des Überfalls der Deutschen auf Polen und dem damit ersichtlichen Irrtums Chamberlains nach der Konferenz in München, scheinbar immer noch weit weg und eine allenfalls abstrakte Gefahr. Eine geistige Maginot-Linie scheint jeden Gedanken daran abzuwehren, auch die westlichen Länder könnten nun in naher Zukunft ins Visier von Hitlers Expansionsplänen geraten. Und überhaupt, Mord? Ein dreckiges Geschäft und doch nichts für europäische Gentlemen.

Es ist nicht das erste Mal, dass Ambler einen vollkommen naiven, gutgläubigen Menschen mit den Gefahren der politischen Verwerfungen in Mitteleuropa konfrontiert – aber noch nie zuvor hat sich der Autor so viel Zeit genommen, diese Konfrontation mit der Wirklichkeit in der Gefühlslage seines Protagonisten abzubilden. „Die Angst reist mit“ ist ein mehr als passender Titel, denn mit jeder Meile, die das Schiff zwischen sich und Istanbul bringt, passiert genau das Gegenteil von dem, was sich Graham erhofft hat. Anstatt sich sicherer zu fühlen, droht ihn zunehmend die Panik zu überwältigen, beobachtet er die anderen Passagiere mit steigender Skepsis – und eben Angst. Und genau diese überträgt Ambler äußerst geschickt auf den Leser, der sich mit diesem Jedermann und dessen aufsteigender Furcht und den quälenden Gedanken relativ leicht identifizieren kann. Graham ist kein Profi, ist nicht abgeklärt und hat entsprechend auch keinerlei Kontrolle über diese Situation, woraus wiederum der Plot, trotz dem viele Seiten nichts passiert und vor allem die Dialoge zwischen den Passagieren in Mittelpunkt stehen, seine zunehmend beklemmende Suspense bezieht.

Hinzu kommt Amblers feine Feder bei der literarischen Illustration seiner Schauplätze. Ob das lärmende, nie stillstehende Istanbul oder der glutheiße Hafen von Saloniki – hier sind wir erneut mittendrin statt nur dabei, entsteht vor unseren Augen die Mittelmeerregion der 40er Jahre und das damalige Lebensgefühl wieder auf. Und mit ihnen die letzte Ausgelassenheit vor einem weltumspannenden Krieg, der in wenigen Monaten auch die Etappenziele dieser Schiffsreise mit in den Konflikt hineinziehen wird. Wie Ambler diese scheinbare unvermeidbare Abfolge der Ereignisse durch einen Monolog des Monsieur Mathis wieder auf den Punkt bringt – das ist von beklemmender, unbehaglicher Brillanz. Grandios auf welch intelligentem Niveau dieser fantastische Schriftsteller auch in seinem sechsten Roman unterhält, er am Ende nochmal in bester Bond-Manier (Herr Fleming scheint Ambler wohl auch aufmerksam gelesen zu haben) die Handlung verdichtet.

Die Angst reist mit“ gehört vollkommen unbestritten zu den besten Titeln aus dem an herausragenden Romanen nicht armen Lebenswerk Eric Amblers. Ein atmosphärisch unheimlich stimmiger, den blinden Nationalismus erneut entblößender Thriller, der es tatsächlich schafften dürfte, sowohl Freunde von Agatha Christie als auch Anhänger von John Le Carré gleichsam zu begeistern. Ein Spagat, den so wohl nur auch dieser Ausnahmeschriftsteller hinzulegen imstande war. Ich möchte weniger für eine Wiederentdeckung plädieren, als vielmehr dafür, diesen Autor endlich die ihm gebührende Präsenz im Buchhandel einzuräumen, welcher er seit jeher eigentlich verdient.

Nachtrag: Eric Ambler wird inzwischen vom Atlantik-Verlag neu aufgelegt.

Wertung: 92 von 100 Trefferneinschuss2

  • Autor: Eric Ambler
  • Titel: Die Angst reist mit
  • Originaltitel: Journey into Fear
  • Übersetzer: Matthias Fienbork
  • Verlag: Atlantik
  • Erschienen: 07/2017
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 320
  • ISBN: 978-3455651126

Die ewige Wiederkehr des Gleichen

© Goldmann

Nach sechs Jahren in Frankreich zog Ian Rankin im Herbst 1996 mit seiner Familie zurück nach Edinburgh – und damit zurück in das Land, welches er zehn Jahre zuvor, damals frisch von der Uni abgegangen und gerade erst verheiratet, verlassen hatte. Inzwischen war er zweifacher Familienvater und, dank dem Erfolg seines letzten Romans „Das Souvenir des Mörders“ (engl. „Black and Blue“), endgültig auch ein finanziell erfolgreicher Krimischriftsteller, der die Phase des Ausprobierens hinter sich gelassen und seinem Platz im Genre für sich gefunden hatte.

Gewichtige moralische Themen im Gewand des Spannungsromans, den Zustand der Welt und die menschliche Natur, Schuld und Sühne – sie waren zu Rankins Steckenpferd geworden, wodurch der Autor unbewusst Anteil an einer Entwicklung nahm, welche die zuvor von vielen Akademikern und Feuilletonisten belächelte literarische Form des Krimis in zunehmend ernstere Gefilde rückte, in denen die reine Aufklärung eines Verbrechens längst nicht mehr im Mittelpunkt stand. Auch Rankins jüngstes Projekt sollte diese Entwicklung fortführen und vorantreiben. Die Keimzelle dafür war ein Tagesausflug nach Oradour gewesen – ein Dorf, das im wahrsten Sinne des Wortes „tot“ war.

Niemand weiß genau, wie viele Menschen dort an jenem Tag starben, als im Juni 1944 die 3. Kompanie des SS-Panzerregiments „Der Führer“ einmarschierte und die Einwohner zusammentrieb. Nicht viel weniger als tausend, nimmt man allgemein an, dessen Leichen verbrannt oder in Brunnen geworfen wurden. Männer, Frauen, Kinder – kaum jemand entkam dem Massaker. Bis heute ist das Dorf unverändert geblieben, zeugen ausgebrannte Autos, verrostete Straßenbahnen, ausgebombte Häuser und Einschusslöcher in den Wänden von den Gräueltaten der Nazis. In dem kleinen Museum von Oradour sind heute unscheinbare Exponate wie Haarbürsten oder Brillen zu sehen … Erinnerungen an die Toten. Doch was nicht nur die Franzosen bis heute am meisten bewegt und mitnimmt, ist die Tatsache, dass der Verantwortliche – der General, der das Massaker angeordnet hatte – zwar von den Alliierten gefangen genommen, später aber nach Deutschland zurückgeschickt worden war, wo er den Rest seines Lebens in Frieden und Wohlstand verbringen durfte. Wo war da die Gerechtigkeit? Und welche Gründe gab es für seine Freilassung? Geheime Informationen? Diplomatische Gründe?

Rankin stieß bei seinen Recherchen auf ein Netzwerk, das als „Rattenlinie“ bezeichnet wurde – und hatte urplötzlich die Idee für einen neuen Krimi. „Die ewige Wiederkehr des Gleichen“, erkenntlich in den grausamen Bildern aus dem damaligen Konflikt im ehemaligen Jugoslawien. Und die Frage: Was würde Rebus tun, wenn er im Fall eines angeblichen Nazi-Kriegsverbrechers ermitteln müsste? Sie lieferte die Grundlage für „Die Sünden der Väter“ (engl. „The Hanging Garden“), dessen Inhalt hier kurz angerissen sei:

Chief Super „Farmer“ Watson hat die Nase voll von seinem umtriebigen Untergebenen Detective Inspector John Rebus, dessen vorheriger Alleingang (siehe „Das Souvenir des Mörders“) zwar zur Auflösung eines Drogenrings beigetragen, aber auch gleichzeitig für viel Ärger gesorgt hat. Kurzerhand beauftragt er ihn mit der wenig aussichtsreichen Ermittlung gegen den alten Professor Joseph Lintz, welcher im Verdacht steht, als Angehöriger der Waffen-SS maßgeblich an einem Massaker in Frankreich beteiligt gewesen zu sein, was dieser rigoros bestreitet. Rebus muss schnell feststellen, dass sein Gegenüber ihm rhetorisch mindestens ebenbürtig ist und keinerlei Anstalten macht, auch nur ein wenig Licht auf seine Vergangenheit werfen zu lassen. Schuldig oder nicht schuldig? In dieser Frage kommt Rebus scheinbar einfach nicht voran. Als Ablenkung aus dieser Sackgasse sucht er stattdessen die Kreise des Scottish Crime Squad auf, einer Sondereinheit, der inzwischen auch seine Ex-Kollegin Detective Constable Siobhan Clarke angehört, und die mitten in einer verdeckten Operation steckt. Ihr Ziel: Tommy Telford, der neue Stern am Verbrecherhimmel, welcher sich anschickt den bisherigen Alleinherrscher der Edinburgher Unterwelt, den inhaftierten Gangsterboss Morris Gerald „Big Ger“ Cafferty, vom Thron zu stoßen.

Während Rebus, Siobhan und ihr Kollege Ormiston dessen Nachtklub observieren, kommt es zu einem Zwischenfall. Ein Mann, augenscheinlich aus Telfords Truppe, wird schwer blutend auf den Bürgersteig geworfen. Das Auto entkommt den Verfolgern der Polizei und der Verletzte – inzwischen ins Krankenhaus gebracht – schweigt sich aus. Rebus wittert dennoch die Chance, die Zähne in Telfords Organisation zu schlagen und will sich schon voller Elan in die Arbeit stürzen, als sein Blick in eins der Nebenzimmer fällt, wo Ärzte gerade um das Leben seiner schwer verletzten Tochter Samantha kämpfen, die kurz zuvor angefahren wurde.

Doch war das wirklich ein Unfall? Oder geschah es im Auftrag von Telford, der glaubt, dass Rebus und Cafferty unter einer Decke stecken? Um eine Antwort und Gerechtigkeit zu bekommen, muss er einen Pakt mit dem Teufel schließen. Aber ist es letztlich wirklich Gerechtigkeit, die er sucht oder ist es Rache? Als der Bandenkrieg seinen Höhepunkt erreicht, befindet sich Rebus mitten im Auge des Sturms …

Ich muss gestehen, dass ich mich nach der Lektüre des Klappentexts gefragt habe, ob sich Ian Rankin da diesmal nicht etwas zu viel vorgenommen hat. Nazi-Kriegsverbrecher, angefahrene Tochter, eine Prostituierte auf der Flucht, ein Bandenkrieg. Komplexe und ambitionierte Handlungsstränge sind zwar ein Markenzeichen dieses Autors, aber irgendwann kann sich ja selbst der beste Schriftsteller mal in seinem fein gestrickten Plot verheddern, sich an der schieren Größe verheben. Nun, natürlich hätte ich es inzwischen besser wissen müssen: Woran andere scheitern, das meistert Ian Rankin auch hier wieder mit Bravour, denn obwohl er seinen Protagonisten John Rebus mehr als zuvor vor Herausforderungen stellt und mit Schicksalsschlägen konfrontiert, kommt an keiner Stelle das Gefühl auf, dass die Geschichte den Kontakt zum Boden verliert. Im Gegenteil: Die verschiedenen Handlungsstränge in „Die Sünden der Väter“ dienen nicht allein dem Spannungsaufbau, sondern unterstreichen gleichzeitig auch die Komplexität des Problems, mit dem sich John Rebus konfrontiert sieht – die eigene Machtlosigkeit. Aber auch mit der Machtlosigkeit des Justizapparats, dem die Gegner immer wieder einen Schritt voraus sind und denen mit legalen Mitteln augenscheinlich nicht beizukommen ist, weshalb Rebus an dieser Stelle erstmals eine für ihn bis dahin sakrosante Grenze übertritt.

Getrieben vom Wunsch, den Verantwortlichen von Samanthas Zustand zu fassen – und auch angestachelt von seinem schlechten Gewissen, ihr nie ein richtiger Vater gewesen zu sein bzw. seine Familie zu oft enttäuscht zu haben – geht Rebus ausgerechnet ein Bündnis mit dem Mann ein, der seit jeher sein Todfeind ist: „Big Ger“ Cafferty. Ihre jahrelange Beziehung läutet hier ein ganz neues Kapitel ein, das Ian Rankin gleichzeitig als Aufhänger dient, um den Wandel der verbrecherischen Syndikate in Edinburgh und Großbritannien allgemein zu skizzieren. Rankin, der nie einen Hehl daraus gemacht hat, dass das Dr.Jekyll-und-Mr.Hyde-Element ihrer Feindschaft, die charakterliche Ähnlichkeit der beiden bewusst gewollt ist, deutet in „Die Sünden der Väter“ eine weitere Gemeinsamkeit an.

Sowohl Rebus und auch Cafferty drohen aufs Abstellgleis geschoben und von den modernen Entwicklungen, dem so genannten Fortschritt überholt zu werden. Der eine gilt im Gefüge der Polizei immer mehr als Dinosaurier, als Ermittler der alten, nicht mehr zeitgemäßen Schule. Der andere als zu weich und mit zu vielen Skrupeln behaftet, um die Unterwelt seiner Stadt zu kontrollieren. Es bleibt jedoch bei der Andeutung (spätere Fälle der Reihe werden dies viel expliziter ausführen), da Rebus und Cafferty, gemäß dem Motto „Der Feind meines Feindes ist mein Freund“, ihre vergangenen Differenzen kurzfristig begraben und an einem Strang ziehen. So scheint es zumindest, stellt man sich als Leser doch auch die Frage: Was ist wenn Cafferty hinter allem steckt?

Rebus‘ Einsatz ist in jedem Fall so hoch wie nie. Oder um es im Pokerlatein zu sagen. Er geht „All in“. Er weiß, dass er ein Spiel spielt, dass er nicht gewinnen kann, setzt alles auf eine Karte, jedoch nicht ohne sich dabei noch ein kleines Hintertürchen offenzuhalten, mit dem er im günstigsten Fall vielleicht gleich alle Fliegen mit einer Klappe schlagen kann. Und von denen wimmelt es in „Die Sünden der Väter“ nur so. Neben Telfords aufstrebenden Imperium zeigen auch andere Syndikate hier ihr hässliches Antlitz. So mischt unter anderem die Yakuza, das japanische Pendant der Mafia, in der Aufteilung von Edinburghs Unterwelt mächtig mit, will das durch Caffertys Verhaftung entstandene Machtvakuum nutzen, um neues Terrain zu besetzen und ihre illegalen Aktivitäten auszuweiten. Im Angesicht dieser Übermacht, konfrontiert mit gleich mehreren Feinden und Gegnern, greift Rebus auf die Hilfe eines engen Freundes zurück, was letztlich fatale und dramatische Folgen hat. Nebenbei bemerkt: Für mich gehört diese Szene zu einem der bisherigen Highlights der Reihe.

Wer sich jetzt fragt, wie die Thematik Lintz dort hineinpasst, dem sei nur soviel gesagt: Querbeziehungen zwischen den einzelnen Strängen legen nach und nach die Zusammenhänge offen, wobei es sich Rankin vorbehält, die Fäden auf unterschiedliche Art und Weise enden zu lassen. Wie er das tut – nun das ist von unnachahmlicher, aber auch eindringlicher und bedrückender Qualität. Nur wenige Schriftsteller dieses Genres haben ihr eigenes „Krimi-Universum“, die Biographien ihrer Figuren und deren Schauplatz (der inzwischen schon weit mehr ist als nur das) so im Griff, schaffen es auf einem derart hohen Niveau aktuelle Geschehnisse mit der Fiktion zu verknüpfen, um daraus ein realistisches, nachvollziehbares Lese-Erlebnis zu schmieden.

Die Sünden der Väter“ ist zwar von weniger epischer Tiefe als sein Vorgänger, dafür aber unheimlich temporeich und von einer Ernsthaftigkeit durchdrungen, welche nicht nur der Figur John Rebus neue Facetten abringt – großartig, wie Rankin hier nochmal auf dessen Vergangenheit beim Militär in Belfast eingeht – sondern auch eben jene „ewige Wiederkehr des Gleichen“ fast schon melancholisch unterstreicht. Am Ende bleibt nämlich die Erkenntnis: Ein Mensch mag aus seinen Fehlern lernen, die Menschheit vermag es nicht.

Wertung: 91 von 100 Treffern

einschuss2
  • Autor: Ian Rankin
  • Titel: Die Sünden der Väter
  • Originaltitel: The Hanging Garden
  • Übersetzer: Giovanni Bandini, Ditte Bandini
  • Verlag: Goldmann
  • Erschienen: 01.2006
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 480 Seiten
  • ISBN: 978-3442454297

Einmal vor Unerbittlichem stehen …

© Pendragon

Wer, so wie ich, zu den langjährigen treuen Lesern der Bücher aus dem Hause Pendragon gehört, wird sich vielleicht etwas gewundert haben, als im Herbstprogramm des Jahres 2020 mit Kevin Majors „Caribou“ ein Titel aufgetaucht ist, den man thematisch im Bielefelder Verlagshaus eher nicht verortet hätte.

Zwar sind innerhalb der verlagsinternen Reihe „Geschichte erleben mit Spannung“ bereits einige Werke veröffentlicht worden, welche sich mit der Zeit des Dritten Reichs – und dessen lang geworfenen Schatten – beschäftigen, aber erstens handelt es sich beim hier vorliegenden Roman nicht um einen klassischen Spannungsroman und zweitens konzentriert sich dieser tatsächlich expliziter auf den militärischen Konflikt selbst. Genauer gesagt auf den U-Boot-Krieg im Nordatlantik während des Zweiten Weltkriegs. Das weckte, zumindest bei mir, Erinnerungen an die drastischen und klaustrophobischen Schilderungen von Lothar-Günther Buchheim in „Das Boot“, der vor allem in barrierefreier Nahaufnahme das Leiden des einfachen Marine-Soldaten wohl eindringlicher zur Papier gebracht hat, als jeder Autor vor und nach ihm. Wohlgemerkt ohne dabei mit den hurrapatriotischen Machwerken anderer U-Boot-Fahrer zu fraternisieren. Umso überraschender ist es nun, auf einen kanadischen Autor zu stoßen, der sich desselben Themas angenommen, allerdings – über weite Strecken des Buchs – einen Schauplatz direkt vor seiner Haustür ausgewählt hat.

Caribou“ erzählt die Geschichte der letzten Fahrt des gleichnamigen Dampfschiffs, das, Mitte der 20er Jahre in den Niederlanden gebaut, während des Zweiten Weltkriegs als Fähre in der Cabot-Straße eingesetzt wurde, um sowohl zivile Personen als auch Militärangehörige von North Sydney in Nova Scotia nach Port aux Basques auf Neufundland und zurück zu transportieren. Vor allem nach dem Eintritt der Vereinigten Staaten in den Krieg wurde aus dieser vergleichsweise kurzen Überfahrt mehr und mehr ein riskantes Wagnis, weitete doch die deutsche Kriegsmarine – und hier insbesondere die U-Boote – ihr Einsatzgebiet immer weit bis zur Ostküste Nordamerikas aus, um allein fahrende Schiffe zu versenken oder sich im sogenannten „Wolfsrudel“ auf die großen Konvois zu stürzen, die beständig Nachschub an Material und Soldaten nach Großbritannien überführten. Ein tödliches Katz-und-Maus-Spiel, für U-Boote wie Schiffe gleichermaßen, zwischen denen sich das Kräfteverhältnis unter anderem durch technische Weiterentwicklungen oder Entschlüsselungen von deutschen Geheimcodes (Stichwort „Enigma“) immer wieder ändern sollte, um in den letzten Jahren des Krieges endgültig auf Seiten der Alliierten Streitkräfte zu kippen.

1942 hatte die deutsche Kriegsmarine nicht nur einen Höchststand an einsatzfähigen deutschen U-Booten erreicht, sondern auch fast so viele Millionen BRT Schiffsraum versenkt, wie zusammengerechnet in den zwei Jahren zuvor. Die US-amerikanische und die kanadische Küstenverteidigung sah sich lange Zeit diesen Angriffen weitestgehend wehrlos ausgesetzt, so dass auch an diesem speziellen Abend des 13. Oktobers nur ein umgebauter Minenräumer der Royal Canadian Navy, die „HMCS Grandmére“, als Begleitschutz für die „Caribou“ zur Verfügung stand. Nur weniger als sechs Stunden nach der Abfahrt wurden die beiden Schiffe von dem deutschen U-Boot U 69 unter dem Kommando von Kapitänleutnant Ulrich Gräf entdeckt, der sich zu diesem Zeitpunkt auf seiner bereits neunten Feindfahrt befand. Aufmerksam wurde die Besatzung aufgrund des großen Rauchausstoßes der „Caribou“. Dennoch hätte Gräf vielleicht sogar von einem Angriff abgesehen, wäre die Fähre in dieser Nacht nicht ohne Beleuchtung gefahren, was sie verdächtig und damit zu einem augenscheinlich legitimen Ziel machte. Der Kaleun, der sie damit als Frachter und Zerstörer identifizierte, schoss um etwa 3:30 Uhr einen Torpedo ab, welcher auf der Steuerbordseite im Maschinenraum einschlug, alle anwesenden Maschinisten sofort tötete und durch die Wucht der Detonation das Schiff fast komplett in zwei Hälften riss. Die zuvor meist schlafenden Passagiere mussten sich im Dunkeln zu den Rettungsbooten auf der Backbordseite kämpfen, die aber voll Wasser liefen und kenterten. Die „Caribou“ begann schnell zu sinken. Wenige Minuten später war die Fähre in den eisigen Tiefen der Cabot-Straße verschwunden.

Die „Grandmére“, welche versuchte, das U-Boot zu rammen und aufzuspüren, musste sich im Anschluss erst davon überzeugen, dass keine Gefahr mehr bestand, um dann die Suche nach Überlenden zu starten. 100 Überlebende, darunter mit einem 15 Monate alten Jungen das einzige Kind, konnten gerettet werden. 137 weitere Menschen kamen bei der Versenkung ums Leben. Es ist das bisher schwerste Schiffsunglück in dieser Region und eine der größten Katastrophen Neufundlands im Zweiten Weltkrieg.

Wer nun die Befürchtung hegt, sich mit dieser Zusammenfassung eine Lektüre sparen zu können, der kann an dieser Stelle beruhigt werden, ist doch das Schicksal der „Caribou“ nur der Aufhänger für Kevin Majors Roman, welcher sich im weiteren Verlauf in erster Linie mit den Folgen dieses Unglücks beschäftigt und dafür augenscheinlich intensiv (und für uns lohnend) Recherche betrieben hat. Neben der Sichtung von Archivmaterialien verarbeitete er auch Zeitzeugenberichte von Überlebenden der „Caribou“ sowie – und dies bildet eigentlich das Rückgrat und Fundament der Erzählung – das offizielle Kriegstagebuch des U-Boot-Kommandanten Ulrich Gräf. Dieser historische Person ist einer der beiden Protagonisten. Bei dem anderen handelt es sich um das fiktive Besatzungsmitglied John Gilbert, der als Steward auf der „Caribou“ dient, bei der Versenkung verletzt wird und im Anschluss in die Navy eintritt, um das Geschehene irgendwie für sich verarbeiten zu können. Wie in einem Spielfilm wechselt Major zwischen ihren beiden Perspektiven und bedient sich dabei eines äußerst nüchternen und fast reportagehaften Stils, der bereits von dem ein oder anderen Leser kritisiert wurde, für mich persönlich aber gerade zu den Stärken dieses Romans zählt.

Kevin Major blickt vollkommen wertneutral auf diesen kriegerischen Konflikt, hält sich eng an belegte historische Fakten aus dem Atlantikkrieg des Winters 1942/1943 und vermeidet zudem jegliche Gewichtung zwischen den beiden Protagonisten. Kurzum: Er schaut auf das Grauen des Krieges an sich, dem zumeist die übliche, oft auch von eigenen Erfahrungen beeinflusste Darstellung von Freund und Feind genauso wenig gerecht werden kann, wie ein mit Theatralik und Dramatik künstlich aufgeladenes Literatur-Machwerk. Majors Sachlichkeit ist ein Segen und gleichzeitig der Ruhepol dieser Erzählung, die uns als Leser gerade deswegen umso stärker berührt, als es jegliche Überzeichnung könnte. Auch weil sich der Autor gerade zu Beginn viel Zeit nimmt, um die einzelnen Charaktere in alle Ruhe einzuführen (ohne dabei die üblichen Klischees zu bedienen!) – selbst auf die Gefahr hin, hier diejenigen zu verlieren, welche bereits dem schicksalshaften Torpedo-Einschlag entgegenfiebern. Doch er legt mehr Wert darauf, die menschlichen Tragödien zu zeichnen, die wichtigen Fragen hinter diesem ganzen Wahnsinn zu stellen. Was hat die Versenkung dieses Schiffes jetzt bezweckt? Welche Einfluss kann ein Mann auf den Kriegsverlauf haben? Was bedeutet schon Mut im Angesicht eines Grauen, das sich nicht abwenden lässt?

Die Art und Weise wie er sich dieser Fragen annimmt, ohne dabei zu relativieren oder Gefahr zu laufen, insbesondere das Schicksal der deutschen U-Boot-Fahrer mit der falschen Gewichtung zu betonen – das zeugt von großer Klasse. Auch weil Major es schafft zu berühren, ohne sich in großen blumigen Ausschweifungen zu ergehen oder emotional mit der Tür ins Haus zu fallen. Nein, ganz nebenbei, Seite für Seite, schleicht sich eine stille Melancholie zwischen die Zeilen, eine unterschwellige Angst – übertragen von den Protagonisten, die sich vor allem fürchten, ihr eigenes Leben zu verlieren und doch im Mühlwerk des Krieges gefangen sind. Selbst wenn Gräf der Front für kurze Zeit den Rücken kehrt und mit seiner großen Liebe Elise wertvolle Zeit verbringt oder seine Eltern in Dresden besucht – dieses Gefühl der Ausweglosigkeit liegt schwer wie Blei über allem. Großartig mit wie wenig Aufwand Major nur durch ein Gespräch am Tisch zwischen Gräf, seinem Vater und seiner Mutter die gesamte Situation an der Heimatfront zusammenfasst – die ständige Furcht, etwas falsches zu sagen, zu tun oder in die falsche Richtung zu schauen. Es ist sein distanzierter und doch einfühlsamer Blick, der unerwartet viel von der Seele aller Beteiligten entblößt. Ihre Wünsche und ihre Hoffnungen, aber zugleich auch das unerträgliche Leid, das alle in mehr oder weniger großen Ausmaß erleiden müssen.

Fernab von jeglichem aufgesetzten Heroismus hat Kevin Major mit „Caribou“ einen Roman vorgelegt, der dem U-Boot-Krieg und vor allem dessen Folgen neue Facetten abgewinnt, dabei aber stets in seinen Blickwinkeln die Balance behält. Dass wir am Ende an Gräfs Schicksal genauso Anteil nehmen, wie an den Opfern des Angriffs auf die „Caribou“ legt Zeugnis über die Fähigkeiten des Autors ab und steht zudem sinnbildlich für den Irrsinn des Kriegsführens.

Komplettiert wird die deutsche Ausgabe des Pendragon-Verlags noch um ein informatives und politisch erstaunlich offensives Nachwort von Christian Adam sowie einige Fotos von u.a. der „Caribou“ und von U69. Auch aufgrund dieser liebevollen Ausstattung bleibt daher zu hoffen, dass dieses tolle Buch möglichst viele Leser findet.

Wertung: 87 von 100 Treffern

einschuss2
  • Autor: Kevin Major
  • Titel: Caribou
  • Originaltitel: Land Beyond the Sea
  • Übersetzer: Bernd Gockel
  • Verlag: Pendragon
  • Erschienen: 08/2020
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 344 Seiten
  • ISBN: 978-3865326836