Nach den unruhigen Tagen und dem Aufruhr rund um ihr mysteriöses Verschwinden und das endgültige Scheitern ihrer Ehe im Dezember 1926 (siehe auch meine Rezension zu „Die großen Vier“) reiste Agatha Christie zu Beginn des kommenden Jahres gemeinsam mit ihrer siebenjährigen Tochter Rosalind auf die Kanarischen Inseln. Gesundheitlich war die Schriftstellerin zu diesem Zeitpunkt in einer äußerst schlechten Verfassung und psychologisch ebenfalls schwer angeschlagen. Die Scheidung von ihrem ersten Ehemann, Archibald Christie, stand bevor und der kürzliche Tod ihrer Mutter verursachte ihr noch ebenso viel Kummer, wie der „Verrat“ vieler sogenannter Freunde, welche ihr in der Zeit der Not den Rücken zugewandt hatten. Hinzu kam die Angst vor finanziellen Engpässen, die mit einer anstehenden Trennung einhergehen würden. Alles andere, als die perfekte Ausgangslage, um ein neues Buch in Angriff zu nehmen.
Im Februar 1927 blieb Agatha Christie aber schlichtweg nichts anderes übrig – die erwähnte Geldnot und ein Vertrag zwangen sie dazu – als erneut zur Feder zu greifen. Wie schon bei „Die großen Vier“, so suchte sie auch diesmal Hilfe bei sich selbst. Da Christie enorme Probleme bei der Komposition eines passenden Plots hatte, griff sie kurzerhand die bereits 1923 erschienene Kurzgeschichte „Das Geheimnis des Plymouth-Express“ (hierzulande erst 1977 im Sammelband „Auch Pünktlichkeit kann töten“ veröffentlicht) wieder auf und schrieb diese zu einem kompletten Roman um. Das Ergebnis ist „Der blaue Express“, welcher knapp ein Jahr später, zuerst als Fortsetzungsroman in der Londoner Abendzeitung „The Star“, in achtunddreißig Folgen von Februar bis März das Licht der Welt erblickte – und im Laufe der Zeit zu einem großen finanziellen Erfolg für die Autorin wurde. Auch die Kritiker waren voll des Lobes für das Werk, das Christie selbst bis zuletzt nur mit der schlimmsten Phase ihres Lebens verband. In ihrer Autobiografie beschrieb sie gar, den ganzen Schreibprozess „immer gehasst“ und das Zählen der Wörter als „Tortur“ empfunden zu haben.
“(…) I could not see the scene in my mind’s eye, and the people would not come alive.” (…) „I found it commonplace, full of clichés and with an uninteresting plot.“ (…)
„Der blaue Express“ markiert daher für heutige Literaturwissenschaftler den Wendepunkt in Agatha Christies langer Karriere als Schriftstellerin, den finalen Schritt vom Amateur zum Profi, vom Hobby- zum Berufsschreiber, der eben auch dann ein Werk vollenden und abliefern muss, wenn alle privaten Umstände es auf den ersten Blick eigentlich unmöglich machen. Die spätere Queen of Crime – sie wuchs mit diesem Roman und zog aus ihm auch ihre Lehren. In einen ähnlichen Zugzwang beim kreativen Prozess des Schreibens wollte sie fortan nie wieder geraten, weshalb sie bis in die 1940er Jahre zwei Manuskripte zurückhielt – für den Fall, nochmal in eine ähnliche Schaffenskrise zu geraten. Zwei Joker in ihrem Blatt, die später zu den besten Vertretern ihres Lebenswerks gehören sollten: „Ruhe unsanft“ und „Vorhang“. Letzterer Titel ist auch ein weiterer Hinweis darauf, dass sich Christie spätestens zu diesem Zeitpunkt („Alibi“ deutete es ja schon an) einen Ausweg zurechtgelegt hatte, um Hercule Poirot loswerden zu können. Wie Sir Arthur Conan Doyle so viele Jahre vor ihr, so schien auch sie hier ihres Helden bereits überdrüssig, dessen Popularität in der Bevölkerung aber inzwischen ähnliche Höhen erreicht hatte, wie einst Sherlock Holmes. Neben diesen beiden Jokern auf der Hand, zog sie daher zwei Jahre nach „Der blaue Express“ noch ein Ass aus dem Ärmel. In „Mord im Pfarrhaus“ betrat mit Miss Marple erstmals eine neue Hauptfigur die Bühne und erlaubte ihr im weiteren Verlauf ihrer Karriere eine gewisse Unabhängigkeit von dem egozentrischen Belgier.
All diese oben beschriebenen (auch im Nachwort der alten Fischer-Ausgabe nachzulesenden) Umstände und Informationen sollte der Leser meines Erachtens im Hinterkopf haben, wenn er zur Lektüre dieses Buches und auch zu einer späteren Bewertung ansetzt. Sie sind mit Sicherheit ein Grund dafür, warum „Der blaue Express“ Christies übliche Leichtigkeit und Leichtfüßigkeit im Umgang mit ihren sonst so lebendigen Figuren vermissen lässt und sich stattdessen ein äußerst verkrampfter und sperriger Stil durch das ganze Buch zieht. Nichtsdestotrotz, so viel sei vorangestellt, stellt der Roman eine erhebliche Steigerung zum so viel schwächeren Vorgänger „Die großen Vier“ dar. Eben weil es Christie wieder einmal gelingt, auf kleinstem Raum einen relativ verwinkelten Kriminalfall zu inszenieren, dessen Rahmenhandlung an dieser Stelle kurz angerissen sei:
Der amerikanische Multi-Millionär Rufus van Aldin hat endgültig genug von seinem verschwenderischen und notorisch untreuen Schwiegersohn Derek Kettering und überredet seine Tochter Ruth zur Scheidung. Als brave Tochter beugt sich diese (scheinbar) dem Willen ihres Vaters und besteigt kurz darauf den Train Bleu, den blauen Express, einen Luxuszug zwischen Calais und Ventimiglia, um an die Französische Riviera zu reisen – und um sich dort mit ihrem heimlichen Geliebten zu treffen. Lebend soll sie dort niemals ankommen. Ihre Leiche findet man erdrosselt und mit bis zur Unkenntlichkeit entstelltem Gesicht in ihrem Abteil. Die Geschenke ihres Vaters, eine Sammlung wertvoller Rubine, unter denen sich auch das sagenumwobene „Feuerherz“ befindet, sind verschwunden. Angeblich hatte sie zuvor Besuch von einem fremden Mann, weswegen die lokale Polizei sogleich von einem Raubmord ausgeht. War es vielleicht sogar Derek Kettering, der sich auch unter den Passagieren des Zugs befindet? Ein kleiner, belgischer Fahrgast mit grünen Augen und Eierkopf ist davon nicht ganz überzeugt und stürzt sich, obwohl eigentlich im Ruhestand, sogleich in die Ermittlungen. Und findet in Katherine Grey, die ihren ersten Winter außerhalb Englands verbringen will, eine unerwartete Verbündete bei seinen Nachforschungen …
Mord in einem Zug? Da war doch was? Lässt man die bereits erwähnte Vorlage „Das Geheimnis des Plymouth-Express“ mal außer Acht, stoßt der Leser hier erstmals auf dieses Motiv, dessen sich Agatha Christie einige Jahre später in ihrem wohl erfolgreichsten und bekanntesten Roman, „Der Mord im Orient-Express“, erneut bedienen wird. Und dort, das muss man an dieser Stelle konstatieren, auch um einiges ausgereifter und komplexer ausarbeitet, denn „Der blaue Express“ krankt vor allem an einer, für einen Whodunit sehr wesentlichen Schwäche: Er wartet schlichtweg mit viel zu wenigen wirklichen Verdächtigen auf, wodurch ein möglicher Täter trotz Christies üblichem Kartenspiel und den unter-welchem-Hütchen-ist-die-Kugel-Tricks zumindest relativ schnell einzukreisen ist. Obwohl ich mich selbst in diesem Genre gerne am Nasenring durch die Manege ziehen lasse, kam auch ich nicht umhin, während der Lektüre gewisse Indizien früh deuten zu können, wenngleich es dann am Ende nicht ganz für alle Zusammenhänge gereicht hat. Hier bleibt uns Lesern Hercule Poirot also dennoch ein paar kleine Trippel-Schritte – und die ein oder andere Überraschung – voraus.
Dessen etatmäßiger Begleiter Captain Hastings (in „Das Geheimnis des Plymouth-Express“ an seiner Seite) fehlt jedoch auffallend und kann durch die eher blasse Miss Katherine Grey nicht ansatzweise gleichwertig vertreten werden. Interessant ist jedoch, zumindest für den eingefleischten Krimi-Kenner und Christie-Gourmet, dass die gute Miss Grey ihre Heimat in einem beschaulichen kleinen Dörfchen namens St. Mary Mead hat. Genau das Fleckchen Erde in dem niemand geringeres als Miss Marple, an deren Entstehung Agatha Christie wie bereits erwähnt direkt nach der Veröffentlichung dieses Romans arbeitete, ihre berühmten Fälle lösen wird.
Während in vielen Poirot-Fällen dem Hauptprotagonist oft gar nicht so viel Raum in der Handlung zuteil wird, ist „Der blaue Express“ doch deutlich – und man muss vielleicht sogar sagen zwangsweise – auf den kleinen belgischen Meisterdetektiv ausgerichtet. Das ist Fluch und Segen zugleich, da einerseits der Mord nicht genug Futter hergibt, um für dessen graue Zellen eine wirkliche Herausforderung darzustellen, wir andererseits ihm aber viel näher als sonst über die Schulter schauen dürfen und seine, trotz fehlender Bescheidenheit, charmante und zutiefst sympathische Art für enorm viel Kurzweil sorgt. Poirot, in „Alibi“ eigentlich schon zwischen Cottages und Kürbissen aufs Altenteil und Abstellgleis geschoben, wirkt hier deutlich revitalisiert und verjüngt – und deutet an, dass er vielleicht doch noch nicht zum alten Eisen gehört. Wer konnte zu diesem Zeitpunkt auch ahnen, dass er seine größten Momente und Fälle sogar noch vor sich haben sollte?
Trotz der Widrigkeiten bei der Entstehung, ein paar Ungereimtheiten im Plot und dem übersichtlichen Kreis der Verdächtigen – mit „Der blaue Express“ gelingt Agatha Christie eine merkliche Steigerung zu „Die großen Vier“ und ein heute noch lesenswertes, weil unterhaltsames und atmosphärisches Krimi-Kammerspiel auf der Schiene, an dem Fans und Freunde der Autorin sowie grundsätzlich Liebhaber des klassischen Kriminalromans des Golden Age gleichermaßen ihre Freude finden werden. Also Ticket ziehen, Abteil besteigen, zurücklehnen, miträtseln und sich (ein bisschen) verblüffen lassen.
Wertung: 84 von 100 Treffern
- Autor: Agatha Christie
- Titel: Der blaue Express
- Originaltitel: The Mystery of the Blue Train
- Übersetzer: Gisbert Haefs
- Verlag: Atlantik
- Erschienen: 03/2018
- Einband: Taschenbuch
- Seiten: 320 Seiten
- ISBN: 978-3455002249