Lügen in Zeiten des Krieges

© Suhrkamp

Jurek Beckers Debütroman „Jakob, der Lügner“ hat, trotz seines Prädikats als Klassiker der Weltliteratur, lange Zeit ein verstaubtes Dasein in meinem Regal gefristet. Zum einem fasst man das Thema Holocaust nicht leichtfertig an, zum anderen haben die im Geschichtsunterricht gezeigten Archivbilder über die Befreiung von Auschwitz Spuren hinterlassen.

Sich diesem dunklen Kapitel unserer deutschen Vergangenheit auf literarischer Ebene nochmals zu stellen, hatte ich mich eine Zeitlang einfach nicht mehr gewagt. Letztlich ward es dann doch irgendwann von mir gelesen, was ich im Nachhinein auch nicht bereut habe, denn Beckers Auseinandersetzung mit den Grauen der Judenvernichtung während des Zweiten Weltkriegs ist über alle Maßen gelungen. Er schafft das scheinbar Unmögliche – mit Humor über den Holocaust zu schreiben und seine eigenen persönlichen Erfahrungen (Becker selbst wuchs im Ghetto von Lodz sowie in den Konzentrationslagern von Ravensbrück und Sachsenhausen auf und lebte später in Ostberlin, wo auch „Jakob, der Lügner“ entstand) einzuarbeiten, ohne den Roman zu sehr autobiographisch zu prägen.

Geschildert wird die Geschichte aus der Perspektive des einzigen Überlebenden eines polnischen Ghettos, der nicht über die Deportation seiner eigenen Familie und seiner Freunde sprechen mag, und dem Leser stattdessen von Jakob Heym berichtet. Dieser ist zur selben Zeit wie der Erzähler Bewohner des Ghettos. Und das „Leben“ dort bedeutet Verzicht auf alles. Bäume sind in dem abgeriegelten Bezirk von den Nazis verboten worden, genauso wie der Besitz von Ringen und sonstigen Wertgegenständen, die Haltung von Tieren oder der Aufenthalt auf der Straße nach acht Uhr. Besonders diese Sperrstunde macht dem begeisterten Spaziergänger Jakob zu schaffen. Und sie ist es auch, mit der diese Geschichte ihren Anfang nimmt. Jakob wird vorgeblich nach der festgelegten Ausgangssperre von einem Wachposten erwischt, der ihn in das Hauptquartier der örtlichen Polizei schickt. Jakob zittert vor Todesangst, doch er hat Glück im Unglück. Der guten Laune eines anwesenden Offiziers ist es zu verdanken, dass er nicht nur als erster Jude das deutsche Revier lebend verlässt und sich somit der Willkür eines wahrscheinlich nur gelangweilten Wachmanns entzieht, sondern auch noch eine aktuelle Frontlage aus einem Radiobericht belauschen kann. Die Russen sind auf dem Vormarsch. Sie kämpfen kurz vor einer nur 400 bis 500 km entfernten Stadt.

Als er diese Nachricht den Bewohnern des vollkommen von der Außenwelt abgeschnittenen Ghettos präsentiert, will ihm niemand Glauben schenken. Ausgerechnet jetzt will Jakob Frontberichte gehört zu haben? In der Höhle des Löwen, dem deutschen Revier? Ein Ort, den keiner verlässt? Jakob, der ein wenig Freude schenken wollte, wird nur müde belächelt. Um einem Freund aufzumuntern und die Nachricht glaubhafter zu machen, entwirft er eine Notlüge. Er behauptet ein Radio zu besitzen. Dies wird nun schnell zum Lebensgrund der Menschen. Die täglichen Neuigkeiten, die Jakob erfindet, wecken neuen Glauben bei den Ghettobewohnern. Plötzlich werden Pläne für nach dem Krieg geschmiedet, geben sich Paare der Liebe hin, hören die Selbstmorde auf. Aus „einem Gramm Nachrichten“ erschafft Jakob „eine Tonne Hoffnung“ und sieht sich damit einen großen Verantwortung ausgesetzt. Er zerbricht sich den Kopf bei der Erfindung neuer, glaubwürdiger Neuigkeiten, improvisiert sogar ein Interview mit dem englischen Premier Winston Churchill. Bald übersteigt das Lügen seine Kräfte. Doch als er die Wahrheit gestehen will, muss er erkennen, dass ein einfacher Rückzug nicht mehr möglich ist …

Puh, was für ein Buch. Mit einer beiläufigen, klaren und oft sehr humorvollen Sprache schildert Becker den hoffnungslosen und dramatischen Alltag der Bewohner eines Ghettos unter dem menschenverachtenden Naziregime, ohne dabei den moralischen Zeigefinger zu heben. Stattdessen verpackt er seine Kritik an der damaligen Zeit in der Geschichte selbst. Aufgrund des auktorialen Erzählers, der selbst im Ghetto lebt und die Grausamkeiten und Probleme durch seine Erzählweise (das Dokumentarische wird mit dem Erfundenen vermischt und durch Rückblicke unterbrochen) auflockert, wirkt der Plot von Beginn an authentisch, wird er vor unseren Augen lebendig. Während andere thematisch ähnliche Romane den Leser durch das deprimierende Leid und die Schuldzuweisungen erdrückt, liest sich „Jakob, der Lügner“ trotz eben dieses historischen Hintergrunds seltsam erfrischend, wenngleich die liebevolle Beleuchtung der Figuren dazu führt, dass man sich des drohenden Unheils stets bewusst ist. Unmöglich, das Buch einfach an die Seite zu legen, ohne sich Gedanken zu machen. Unmöglich, trotz des immer wieder aufkeimenden Glücks nicht todtraurig und den Tränen nahe zu sein. Beckers Erstlings hinterlässt tiefe Spuren beim Leser, da man sich unwillkürlich direkt angesprochen und sich zu einer Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte gezwungen fühlt.

Die heimliche Hochzeit von Mischa und Rosa, die Mütze Herschels, welche er nie absetzt oder die kleine Lina unter dem Dachboden. Gerade die kleinen Episoden, die das Geschehen immer wieder aus einem anderen Blickwinkel zeigen, füllen dieses gerade mal 283 Seiten lange Buch mit soviel Leben. „Jakob, der Lügner“ ist nicht die Anklage der Täter. Die Tragik des Romans liegt nicht in der Aufzählung von den Verbrechen an den Juden. Ghettoaufseher und Gestapopolizisten sind bis auf wenige Ausnahmen nur namenlose Vertreter des Antisemitismus, welche nur beiläufig erwähnt werden. Nein, es sind diese anrührenden Momente der aufflackernden Hoffnung, welche Jakob entfacht, die zu Herzen gehen.

Becker entlässt den Leser am Ende, wie angesichts der Geschichte nicht anders zu erwarten, ernüchtert und nachdenklich, aber auch mit der Erkenntnis, dass menschliche Freuden selbst unter den schlimmsten Umständen möglich sind. Ein Buch der leisen und bescheidenen Töne, dem jeglicher Hass gänzlich fehlt und das trotz düsterer Dramaturgie, die verschmitzte Heiterkeit des osteuropäischen Witzes einfängt.

Ein literarisches Ereignis und ein Klassiker, der einfach in jedes gut sortierte heimische Bücherregal gehört, aber auch ein Buch, für das man reif genug und bereit sein muss. Eins ist in jeden Fall klar: Vergessen wird man Jakob, den Lügner, wohl nie. Und vielleicht war eben das Beckers Absicht.

Wertung: 89  von 100 Treffern

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  • Autor: Jurek Becker
  • Titel: Jakob, der Lügner
  • Originaltitel: –
  • Übersetzer: –
  • Verlag: Suhrkamp
  • Erschienen: 04.1982
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 288 Seiten
  • ISBN: 978-3518372746

Bob, der Henker, ist wieder da!

© Festa

Es ist so eine Sache mit dem Image. Oft hat man es doch recht schwer, einmal in eine Schublade geworfen, seine Kritiker vom Gegenteil überzeugen beziehungsweise dem beständig gehegten Vorurteil anderer entfliehen zu können. Ein Lied, von dem auch der in Leipzig heimische Festa Verlag singen kann, der lange Jahre vor allem als Anlaufstelle für Freunde des härteren, nicht immer mainstreamtauglichen Horrors und experimentierfreudiger Fantasy galt, wobei auch zugegebenermaßen nicht jeder Titel im Programm gerade höchste literarische Ansprüche verkörperte.

Wohlgemerkt: Vergangenheitsform, denn auch wenn Festa sein ursprüngliches Profil in keiner Weise verleugnet – mit der „Festa Extrem“-Reihe, die vom Buchhandel gar boykottiert wird, hat man es sogar noch geschärft – geht man inzwischen seit einiger Zeit auch andere Wege. Neben „H.P. Lovecrafts Bibliothek des Schreckens“, in welcher unter anderem so namhafte klassische Autoren wie Robert E. Howard oder Clark Ashton Smith erscheinen, ist hier vor allem die „Festa Crime“-Serie hervorzuheben, dessen Konzept der Verlag so auf den Punkt bringt:

Wir wollen Deutschland vor langweiligen Kriminalromanen retten!

Ob Festas Titel in der Lage sind, dies zu bewerkstelligen oder Deutschland einer solchen Rettung derzeit überhaupt bedarf – mit Sicherheit ein diskussionswürdiges Thema. Fakt ist jedenfalls: Mit der Wiederentdeckung von „Shooter“ (1993 als „Point of Impact“ in den USA erschienen) für die deutsche Krimilandschaft hat man in jedem Fall einen Schritt gemacht, der die Seriosität dieses Ansinnens durchaus unterstreicht. Bereits vor knapp vierzehn Jahren im List-Verlag erstmals veröffentlicht –  damals unter dem Titel „Im Fadenkreuz der Angst“ – war der Auftakt der mittlerweile neun Bände umfassenden Reihe um den Scharfschützen Bob Lee Swagger zuletzt nur noch antiquarisch und hier zu höheren Preisen zu erwerben, was ganz sicher auch als Beleg für die Qualität des Buches verstanden werden darf. Diese wiederum hat Hollywood schon vor sieben Jahren entdeckt und die literarische Vorlage mit Mark Wahlberg in der Hauptrolle als „Shooter“ verfilmt. Aber auch wenn der zweifellos gute Actionstreifen sich nahe an Stephen Hunters Roman orientiert, gilt auch diesmal der oft verwendete Ausspruch: „Ein Film ist niemals so gut wie das Buch, auf dem er basiert.“ Nur dass man im Falle von Hunters „Shooter“ noch hinzufügen muss: „Er ist auch niemals so drastisch wie das Buch.“

Für all diejenigen, die weder Film noch Buch kennen, sei hier der Inhalt kurz als Appetizer angerissen:  Im Mittelpunkt der Geschichte steht der bereits oben erwähnte Bob Lee Swagger, ein ehemaliger Scharfschütze des US Marine Corps und Veteran des Dschungelkriegs von Vietnam, in dem er ganze 87 tödliche Treffer verbuchen konnte, bis er von einem Heckenschützen dienstuntauglich geschossen wurde. Ein Einsatz, der seinem Freund und Späher Donny Fenn das Leben und Bob den Glauben an den Sinn der Sache kostete. Inzwischen lebt er, die Gesellschaft von Menschen meidend, in den verschneiten Bergen von Arkansas. Hier in der ursprünglichen Wildnis der Natur, nur begleitet von seinem Hund Mike, widmet er seine Zeit allein seiner Waffensammlung, die er hegt und pflegt und seit Vietnam nicht mehr für einen tödlichen Schuss gebraucht. Doch gerade dieses Talent ist es, welches wiederum andere auf Bob aufmerksam macht.

Eine geheime Regierungsorganisation, vorgeblich für die Sicherheit des Präsidenten bei dessen Wahlkampf-Tour verantwortlich, nimmt Kontakt zu ihm auf, bittet Bob ein letztes Mal, seinem Land zu dienen und sein Scharfschützen-Wissen mit einzubringen, um ein geplantes Attentat zu vermeiden, hinter dessen Ausführung einen Mann namens Solaratov vermutet wird. DER sowjetische Scharfschütze, welcher auch Donny Fenns Leben und Bobs Karriere vor so vielen Jahren beendet hat. Letzterer sieht nun die Gelegenheit, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Rache zu nehmen und damit auch seine gefühlte Schuld an Donnys Tod zu begleichen. Doch statt möglicher Vergeltung findet er in New Orleans nur eine Falle vor, in die er blindlings hineintappt.

Bob wird vom Jäger zum Gejagten, findet sich plötzlich selbst im Fadenkreuz des Zielfernrohrs wieder. Gejagt vom Justizsystem der gesamten Nation. Seine Verbündeten: Die Witwe seines besten Freundes und der linientreue FBI-Agent Nick Memphis, der als einziger an die Unschuld des Scharfschützen glaubt. Gemeinsam drehen sie den Spieß um … und Bob Lee Swagger zieht einmal mehr in den Krieg.

Der Begriff „Hardboiled“ wird heute ja fast inflationär benutzt – seine Verwendung in einer Besprechung zu „Shooter“ hat aber nicht nur seine Berechtigung, es ist schlichtweg eine Notwendigkeit, ist doch der Auftakt der „Bob-Lee-Swagger“-Reihe ein Vertreter eben dieser Genre-Gattung, in dem selbst die Helden kein allzu gutes Bild abgeben und der Autor konsequent darauf verzichtet, es dem Leser in irgendeine Art und Weise leicht oder gar angenehm zu machen. Stephen Hunters Amerika darf man getrost als moralisch verkommen bezeichnen (hinsichtlich dessen ist der Roman wieder erschreckend aktuell), was die Suche nach den „Guten“ genauso sinnlos macht, wie die Kategorisierung der Protagonisten im Allgemeinen. Hier ist alles eckig, kantig, knarrend, unbequem, wird an jeder Stelle der Boden bereitet für einen Kampf des vermeintlich Schwachen, dem einsamen, verletzten Wolf, gegen das übermächtige System. Gewürzt wird das Ganze mit einer komplexen Verschwörung, was wohl ein Grund ist, warum Hunters Romane auch hierzulande bisher einen so schweren Stand gehabt haben. Doch wir erinnern uns an das Schubladen-Denken und sind vorsichtig, „Shooter“ als typisch-schmalspurige Ami-Kost abzuurteilen. Denn unter dem groben, rauen Gewand verbirgt sich doch weit mehr.

Um das zu erkennen, müssen aber tatsächlich gewisse Hindernisse überwunden werden. Ein wichtiger Punkt, wenn nicht sogar der wichtigste: Waffen. Wer ihre schiere Existenz ablehnt und ihre Handhabung an sich schon als Verbrechen versteht, der sollte nicht nur, ja, ef muss von der Lektüre dieses Romans absehen, der sich in einigen Passagen wie ein Führer durch alle Waffengattungen liest, in technischen Daten schwelgt und ausführlich die Zusammenhänge von Windrichtung, Luftwiderstand, Schwerkraft und Corioliskraft erläutert. (In diesem Zusammenhang sei übrigens Freunden des hier besprochenen Buchs auch George T. Basiers „Der Killer und die Hure“ empfohlen, der ähnlich detailgetreu auf die Tätigkeit des „Snipens“ eingeht) Man könnte soweit gehen zu behaupten, dass Hunter den Schießsport und damit letztlich auch das zielgenaue Treffen zu einer Kunst erhebt – ohne dabei jedoch den Pfad der sachlichen Schilderung zu verlassen. Denn so hymnisch die Fähigkeiten der Scharfschützen hervorgehoben werden – der Akt des Tötens an sich wird vom Autor weder glorifiziert noch mit dem sonst so typischen amerikanischen Pathos gewürzt. Auch vermeidet „Shooter“ (noch) ein klares Bekenntnis zum Wirken der umstrittenen NRA („National Rifle Asscotiation“), wenngleich Bob Lee Swagger auf den ersten Blick ein perfektes Mitglied dieser Vereinigung verkörpert.

Südstaatler, zurückgezogen lebend, geringe Schulbildung, ein Hütte voller Waffen und ein riesiges Jagdgebiet direkt vor der Haustür. Die abgelegenen Regionen von Arkansas sind zudem augenscheinlich der ideale Spielplatz für den rassistischen Redneck, der alles mit Blei vollpumpt, was nicht bei drei auf den Bäumen ist – vorlaute Yankees inklusive. Hunter kokettiert mit diesem Hinterwäldlertum, zeigt aber dann auch wieder deutlich, dass der Schein täuschen kann, denn Bob Lee Swagger ist alles andere als dumm und trotz seiner Wortkargheit durchaus in der Lage, seinen gebildeteren Gegenspielern Paroli zu verbieten. Was ihn aber natürlich nicht daran hindert, mit der typischen Südstaaten-Sturheit seinen Partner Nick Memphis zum Wahnsinn zu treiben, wenn er sich beharrlich weigert, alles der Justiz zu überlassen. Die verkörpert er schließlich doch selbst, was wiederum einer der Punkte ist, die man am Ende mit etwas Argwohn betrachten muss.

Bob Lee Swaggers Rachefeldzug ist unerbittlich, gnadenlos und vor allem oft blutig und brutal. Er richtet mit der Waffe, ohne Gesetz und Zweifel, ohne Gewissensbisse. Hunter lässt dieses Töten unkommentiert, lässt ihn durch den einzigen moralischen Charakter Nick Memphis gewähren, der von Ehrfurcht ergriffen, dem Scharfschützen an keiner Stelle Einhalt gebietet. Selbst als dieser sich beim Kampf um einen Berghügel in einen regelrechten Rausch schießt. Das Statement solcher Szenen ist klar: Bob Lee Swagger ist kein Held und auch kein Bösewicht, sondern ein Mensch, der lange mit der Gewalt gelebt hat und ohne ihre Ausübung nicht wirklich zu Leben in der Lage ist. Er sieht keinerlei Ehre darin, jemanden aus großer Entfernung niederzustrecken, fühlt jedoch gleichzeitig keine Schuld. Es ist eine dreckige, unbequeme, aber letztlich auch leider doch realistische Botschaft in dieser Figur, welche naturgemäß in den USA mehr Zustimmung findet, als in den europäischen Gefilden.

Trotz dieser moralischen Untiefen ist „Shooter“ gerade eins nicht – moralisierend. Stephen Hunters Roman legt vor allem Wert auf Unterhaltung. Und das bietet der Auftakt der Reihe in einem hochspannenden, actionreichen und vor allem gegen Ende hin äußerst rasantem Gewand. Ein knallharter Thriller, ungekürzt und stilsicher übersetzt, der so oder so dem Leser lange im Gedächtnis bleiben wird.

Wertung: 89  von 100 Treffern

einschuss2
  • Autor: Stephen Hunter
  • Titel: Shooter
  • Originaltitel: Point of Impact
  • Übersetzer: Patrick Baumann
  • Verlag: Festa
  • Erschienen: 05.2014
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 640 Seiten
  • ISBN: 978-3865523167

Vom Jäger zum Gejagten

© Goldmann

Kaum ein Sub-Genre des Kriminalromans hat sich in den vergangenen zehn bis fünfzehn Jahren in meinen Augen so nachteilig entwickelt wie der so genannte Psychothriller, welcher inzwischen auch fast die letzten Verbindungen zu den ursprünglichen Wurzeln bei Daphne du Maurier oder Patricia Highsmith gekappt hat und die zentrale Frage des Warums bei einer Tat nun stets mit dem immer gleichen blutrünstigen Soziopathen beantwortet.

Ob Cody McFadyen, Sebastian Fitzek oder Karin Slaughter – sie alle haben einen eklatanten Mangel an Finesse in ihrer Erzeugung von Suspense gemeinsam und stattdessen die brutale Holzhammermethode als stilbildendes Mittel etabliert, dem willig neue literarische Fleischer folgen, was jedoch – dies muss man leider konstatieren – auch auf große Nachfrage beim Leser stößt. Doch was ist mit dem Hitchcockschen Schauer? Und wo findet man heute noch die kühle Eleganz eines „Psycho“ von Robert Bloch?

Ich muss gestehen, lange Zeit hielt sich meine Motivation, nach einer Antwort auf diese Frage zu suchen, in Grenzen, hatte sich mein Interessensgebiet doch bereits längst in Richtung Hardboiled bzw. Noir verlagert, des schablonenhaften Schema Fs hiesiger „Bestseller“ schlichtweg überdrüssig. Die Entdeckung Michael Robothams war daher auch eher Zufall als gezielte Auswahl, denn allein aufgrund der äußerlichen Gestaltung seiner Bücher ließ auch er nur mehr vom ewig gleichen vermuten. Wie schon in meiner Besprechung zum Auftakt der Reihe, „Adrenalin“, herausgestellt, trügt hier aber der erste Eindruck enorm, schafft es der australische Autor doch ursprüngliche Elemente des Psychothrillers in einem modernen Gewand zu präsentieren und sich dabei auch gleichzeitig mehr auf die neuralen Kapazitäten des Lesers als auf dessen Mageninhalt zu konzentrieren. Herausgekommen ist mit „Amnesie“ erneut ein erfrischend anspruchsvoller, weil durchdachter und subtiler Kriminalroman, dessen größte Stärke wieder im kontinuierlichen Aufbau des Spannungsbogens liegt. Und damit kurz zur Story:

Detective Inspector Vincent Ruiz, Leiter des Dezernates für schwere Gewaltverbrechen, erwacht nach einem achttägigen Koma in einem Krankenhaus in London, nachdem man ihn zuvor schwer verletzt aus dem brackigen Wasser der Themse geborgen hatte. Doch seine Rückkehr in die Welt der Lebenden steht unter keinem guten Stern. Nicht nur, dass er seinen Finger samt Ehering und sein Gedächtnis verloren hat – auch sein Ruf scheint schwer beschädigt. Zeitgleich mit seiner Rettung hatte es bei einer Schießerei auf einem Boot ein Blutbad gegeben. Und der bei ihm behandelte Beinschuss deutet darauf hin, dass auch er in irgendeiner Art und Weise daran beteiligt gewesen ist. Sein Vorgesetzter, Superintendent Campbell Smith, zweifelt am Wahrheitsgehalt von Ruiz‘ Aussagen. Leidet er wirklich unter einer Amnesie?

Der einzige richtige Anhaltspunkt für Ruiz ist das Foto eines Mädchens, welches er bei sich trägt. Drei Jahre ist es her, seit die damals siebenjährige Mickey Carlyle entführt wurde und seitdem spurlos verschwunden blieb. Er hatte selbst in dem Fall ermittelt und das Kind monatelang vergeblich gesucht. Mickeys Nachbar wurde zwar aufgrund mehrerer belastender Indizien wegen Mordes verurteilt – doch Ruiz glaubt fest daran, dass sie noch lebt. Eine Annahme, die er mit dem Vater des Mädchens, dem skrupellosen russischen Mafiaboss Aleksej Kuznet teilt, der eines Nachts plötzlich an seinem Krankenbett steht und ihn vor eine unmissverständliche Wahl stellt: Entweder findet er Mickey oder er übergibt ihm die Diamanten im Wert von zwei Millionen Pfund. Ruiz hat keine Ahnung wovon Kuznet spricht, doch als er nach seiner Entlassung die Juwelen tatsächlich in seiner Wohnung entdeckt, begreift er, wie tief er mittlerweile in Schwierigkeiten steckt.

Sollte auf dem Boot eine Lösegeldübergabe stattfinden? Oder hat er vorher gar heimlich für die russische Mafia gearbeitet? Während die Dienstaufsichtsbehörde schon mit den Hufen scharrt und ihm zunehmend auf die Pelle rückt, bittet Ruiz einen alten Bekannten um Hilfe. Der Psychologe Joe O’Loughlin, den Ruiz einst noch als einen möglichen Tatverdächtigen gejagt hatte (nachzulesen in „Adrenalin“), soll ihm nun helfen, seine Erinnerung zurückzuerlangen …

Wem diese kurze Zusammenfassung irgendwie bekannt vorkommt, der gehört wohl zu den Zuschauern der ZDF-Serie „Neben der Spur“, in welcher ein Teil von Michael Robothams Reihe um O’Loughlin und Ruiz mit deutschen Schauspielern und an deutschen Schauplätzen (u.a. Hamburg) bereits verfilmt worden ist. Wie man hört für unsere TV-Verhältnisse sogar recht passabel, was ich aus eigener Erfahrung aber nicht bestätigen kann, da ich sie bisher noch nicht gesehen habe. Und so kann ich leider ebenfalls schlecht beurteilen, ob eine Lektüre nach dem Genuss der Serie noch lohnt. Gemäß dem üblichen Gesetz, dass eine filmische Umsetzung nie so gut ist wie die literarische Vorlage, würde ich diese Vermutung jedoch äußern, zumal es dem Autor hervorragend gelingt, den Schauplatz London wieder äußerst atmosphärisch in Szene zu setzen. Insbesondere das Kanalsystem unterhalb der Stadt, welches eine durchaus wichtige Rolle innerhalb der Handlung spielt und für klaustrophobische Gefühle beim Leser sorgen dürfte.

Überhaupt überrascht Robotham mit einer unheimlichen Empathie und seinem Stil der leisen Töne. Während andere Thriller sich heutzutage mit Action-Einlagen und drastischen Gefühlsausbrüchen überschlagen, kommt „Amnesie“ verhältnismäßig ereignisarm daher und weiß doch peu a peu in den Bann zu ziehen. Hier geht die größte Sogkraft natürlich von Vincent Ruiz aus, der, anders als noch im Auftakt „Adrenalin“, nun die Hauptrolle verkörpert, wodurch der vorherige Ich-Erzähler O’Loughlin diesmal ins zweite Glied rückt. Ein intelligenter Schachzug, der nicht nur die offensichtliche Geradlinigkeit sonstiger Krimi-Reihen umschifft, sondern gleichzeitig auch dem ganzen Plot zusätzlich mehr Tiefe und Struktur verleiht. Zumal wir uns in der interessanten Position befinden, auf demselben Wissenstand wie der Erzähler zu sein und somit quasi im Rückwärtsgang an dessen Seite die vorherigen Geschehnisse aufdecken. Da Ruiz mithilfe penibler Recherchen und Befragungen sich nach und nach seine Erinnerungen zusammensetzt, entwickelt sich eine immer drängendere Spannung von gleich zwei Seiten: Einerseits ist man neugierig endlich zu erfahren, inwieweit Ruiz in die Ereignisse auf dem Boot verwickelt war. Andererseits drohen ihm im Hier und Jetzt, vor allem durch die russische Mafia, ebenfalls konkrete Gefahren.

Es ist Robotham hoch anzurechnen, dass er bei dieser Gedächtnisfindung auf irgendwelche künstlichen Aha-Momente verzichtet, wodurch sich die Handlung stattdessen sehr organisch entwickelt und auch der Nervenkitzel mit jeder Seite an Kraft gewinnt. Verrat und Gefahr, man wittert sie irgendwann hinter jeder Ecke, wie Ruiz verhältnismäßig „blind“ für den eigentlichen Feind. Robotham ist mit dem eisenharten, aber auch immer wieder an Selbstzweifeln leidenden Vincent Ruiz dabei ein weiterer unheimlich vielschichtiger Charakter gelungen, der zusammen mit dem an Parkinson erkrankten O’Loughlin trotz der düsteren Rahmenbedingungen ein mitunter äußerst kurzweiliges, aber auch sich hervorragend ergänzendes Duo bildet. Anders als bei Sherlock Holmes und Dr. Watson kann hier niemand die Superiorität für sich beanspruchen, was, gepaart mit der Unterschiedlichkeit der Figuren, auch immer wieder für Reibung sorgt.

Die Klasse des Vorgängers „Adrenalin“ erreicht „Amnesie“ am Ende dennoch nicht ganz – und das obwohl Robotham in Punkto Erzähltempo hier nochmal eine Schüppe draufgelegt hat. Dafür kann die finale Auflösung aber nicht auf ganzer Länge überzeugen, was man diesem durchweg gekonnt erzählten Psychothriller jedoch gerne durchgehen lässt. Die Lust auf mehr von Vincent Ruiz, Joe O’Loughlin und Co. – sie ward definitiv aufrechterhalten.

Wertung: 89 von 100 Treffern

einschuss2
  • Autor: Michael Robotham
  • Titel: Amnesie
  • Originaltitel: Lost
  • Übersetzer: Kristian Lutze
  • Verlag: Goldmann
  • Erschienen: 03/2011
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 448 Seiten
  • ISBN: 978-3442476435

Der Rattenfänger von Haiti

© Goldmann

Nostalgie ist eine schöne Sache, aber sie verklärt bekannterweise oft den Blick auf die Wirklichkeit und zeichnet ein Bild, dass es so nur in unserer eigenen Erinnerung gegeben hat. Insofern war ich nun einigermaßen neugierig, als ich Nick Stones Debütwerk „Voodoo“ ein zweites Mal zur Hand nahm, mehr als zehn Jahre nach der ersten Lektüre. In einer Zeit, in der das Forum der Internetseite Krimi-Couch noch ein äußerst belebter Ort und Treffpunkt vieler gleichgesinnter Krimi-Freunde war, welche sich nicht nur über ihr aktuellstes Buch austauschen konnten, sondern auch gegenseitig den eigenen Literaturhorizont erweiterten.

Es war hier, wo einem der Facettenreichtum dieses Genres gewahr wurde und man über das Lesen hinaus tiefer in eine Materie eintauchte, die inzwischen zumindest aus meinem täglichen Leben nicht mehr wegzudenken ist. Und es war auch hier, wo zwischen Ende 2007 und Anfang 2008 eben jener Roman in aller Munde war und allseits – und damit auch von mir – gepriesen wurde. So viele Jahre danach stellt sich jetzt Frage: Waren diese hymnischen Rezensionen tatsächlich gerechtfertigt oder hatte ich mich damals in meinem jugendlichen Eifer auch ein bisschen beeinflussen lassen?

Letzteres lässt sich nicht ganz von der Hand weisen, hätte doch sonst allein schon die optische Aufmachung genügt, um Stones Roman zu meiden. Sowohl das Cover als auch der reißerische Titel ließen bzw. lassen hier auf ein Werk im Stil eines Jean-Christophe Grangé schließen, das eher in der blutrünstigen Ecke des Kriminalromans beheimatet ist und zudem noch Mystery- und Okkult-Elemente in den Mittelpunkt stellt. Eine Annahme, die nicht weiter von der Wahrheit entfernt sein könnte, erheblich in die Irre führt und einmal mehr die Unfähigkeit gewisser Verlage deutlich macht, ein Buch auch passend zum Inhalt zwischen dem Einband zu vermarkten. Und spätestens ein Jahrzehnt später lässt sich tatsächlich konstatieren: Nick Stone und sein Roman „Voodoo“ hätten nicht nur eine weitaus bessere Werbung verdient gehabt, sondern sicher auch gebrauchen können, ist doch vielen Freunden des hochklassigen Hardboiled hier ein äußerst empfehlenswerter und vor allem durchaus realistischer Vertreter des Subgenres durch die Lappen gegangen.

Eine Neubetrachtung lohnt also, umso mehr, da Autor Nick Stone, dessen Mutter selbst aus Haiti, dem Schauplatz des Buches stammt, nicht nur erstklassig recherchiert, sondern auch gleichzeitig eine Milieustudie eines der ärmsten Länder der Welt vorgelegt hat und damit der westlichen Welt, und ihrer Kultur des Wegschauens, den Spiegel vorhält. Stone hat tatsächlich eine Geschichte zu erzählen, will weit mehr als nur unterhalten und schafft doch auch dies von Seite eins an.

Diese nimmt ihren Anfang im Jahr 1996. Max Mingus, Ex-Cop und ehemaliger Privatdetektiv aus Miami, steht kurz vor seiner Entlassung aus dem Gefängnis. Sieben lange Jahre hat er seine Haft abgesessen, als Strafe dafür, einst im kalten Zorn drei Männer erschossen zu haben, die einer brutalen und mörderischen Kidnapper-Bande angehörten. Eine Tat, die zwar die Unschuldigen gerächt, Mingus selbst aber nichts als Unglück gebracht hat. Seine Frau kam bei einem Autounfall ums Leben, seine eigene Detektei musste dicht machen und seine ehemaligen Kollegen – bis auf seinen langjährigen Partner und Freund Joe Liston – wollen von ihm nichts mehr wissen. Die Welt, wie er sie kannte, sie liegt in Trümmern. Als die Gefängnistore sich hinter ihm schließen, liegt lediglich das Nichts vor ihm. Doch ein Mann scheint eine Aufgabe für ihn zu haben: der Milliardär Allain Carver.

Bereits während seiner Zeit im Gefängnis wurde Mingus immer wieder von ihm kontaktiert und darum gebeten, einen heiklen Auftrag anzunehmen. Mingus lehnte stets ab. Bis jetzt, bis er hört, welche Summe ihm für die Erledigung des Jobs angeboten wird. Zehn Millionen Dollar winken ihm als Belohnung, wenn ihm gelingt, woran bereits mehrere Detektive vor ihm – äußerst schmerzvoll – gescheitert sind: Charlie Carver zurück seiner Familie zu bringen. Allain Carvers Sohn wurde vor zwei Jahren auf Haiti entführt. Es gab nie ein Lebenszeichen und auch keinerlei Lösegeldforderung. Mingus‘ Vorgänger kehrten brutal misshandelt oder erst gar nicht zurück – es scheint, als würde irgendjemand nicht wollen, dass Carver gefunden wird. Doch was bedeutet wirklich Gefahr für jemanden, der ohnehin alles verloren hat. Und der in dem vielen Geld seine Chance sieht, nochmal neu zu beginnen.

Schon bei seiner Ankunft in der Ofenhitze von Haiti muss er erkennen, dass er von echtem Verlust zuvor keine Ahnung hatte. Das Land liegt wirtschaftlich am Boden, die Menschen sind bitterarm und von einer politischen Stabilität kann keinerlei Rede sein. Vielmehr befindet sich die Karibikinsel im Ausnahmezustand. Ein Zustand, an dem auch Präsident Jean-Bertrand Aristide seinen Anteil hat, der aufgrund seiner amerikafreundlichen Haltung kurzerhand von den USA ins Amt gehievt wurde, welche seitdem Haiti mit Truppen besetzt halten, um dessen Macht zu sichern. Hinzu kommen diverse UN-Verbände verschiedenster Nationen, die ihrer eigentlichen Aufgabe, der Friedenssicherung, schon lange nicht mehr nachkommen. Entsprechend herzlich fällt auch der Empfang für Max Mingus aus, dem zwar die Mittel der mächtigen Carver-Familie zur Verfügung stehen, welche aber außerhalb von Port-au-Prince nur von geringer Hilfe sind. Stattdessen haben Warlords das Kommando, allen voran der gefürchtete Vincent Paul, der beschuldigt wird, hinter Charlie Carvers Entführung zu stecken. Doch handelt es sich bei ihm tatsächlich um „Tonton Clarinette“, den Schwarzen Mann, welcher der Legende nach des Nachts die Kinderseelen raubt?

Max Mingus Ermittlungen lassen ihn bald an den Intentionen aller Beteiligten zweifeln. Und als er von seinem Partner die Nachricht erhält, dass sein Todfeind Solomon Boukman – ein skrupelloser Mann und selbsternannter Voodoo-Priester, der ihm einst Rache schwor – begnadigt und zurück in seine Heimat abgeschoben wurde, ahnt er, dass selbst zehn Millionen für diesen Auftrag noch zu wenig sein könnten …

Man könnte es sich einfach machen und „Voodoo“ einfach als einen Private-Eye vor exotischer Kulisse abstempeln, in dem einmal mehr ein gebrochener, vom Leben gezeichneter Anti-Held das Leid dieser Welt schultert und – umgeben von karibischen Schönheiten – der Gerechtigkeit zum Sieg verhilft. Ja, und genau all das ist Nick Stones Erstlingswerk eben nicht, denn wenngleich er sich tatsächlich bekannter Elemente des klassischen Noirs bedient, so liegt doch der eigentliche Kriminalfall nur an der Oberfläche. Und wir als Leser brechen diese nach und nach auf, um zu sehen was darunter liegt, denn Stone weiß nicht nur wovon er schreibt, er hat auch eine fühlbar emotionale Bindung zu diesem Land, was besonders deutlich wird, wenn er die gnadenlosen Auswüchse des Kapitalismus skizziert und die Amerikaner mit ihrem kolonialistischen Treiben konfrontiert. Wohlgemerkt ohne dabei an irgendeiner Stelle zu moralisieren. Stattdessen lässt er den Ami sich selbst offenbaren, was angesichts des aktuellen Treibens eines Donald Trump rückblickend umso glaubwürdiger erscheint.

Überhaupt versteht es Stone vorzüglich mit unseren Erwartungen und Annahmen zu spielen, in falsche Richtungen zu leiten und Brotkrumen zu verteilen, welche uns letztlich in eine Sackgasse führen. Und obwohl dies mehr als einmal geschieht, stellt sich keinerlei Langeweile ein, was wiederum daran liegt, dass sich der Autor als äußerst geschickt erweist, wenn es darum geht, aus dem Weg das Ziel zu machen. Neben Max Mingus ist hier allen voran Haiti der zentrale Protagonist – und diese Insel wird mit allen ihren Sonnen- und Schattenseiten zum Leben erweckt. Fernab der touristischen Hochglanzbroschüren öffnet sich uns ein Land, welches zwischen dem modernen Aufschwung und traditionellen Bräuchen gefangen ist, seinen eigenen Weg ins das 21. Jahrhundert sucht und doch dabei immer wieder von außerhalb an der Hand genommen, besser gesagt gepackt wird. Wie Nick Stone diese Ausbeutung verdeutlicht ist mir besonders anhand einer Szene bis heute in Erinnerung geblieben. In dieser wird eine Gruppe indischer UN-Soldaten von Vincent Paul mit den von ihnen begangenen Übergriffen auf haitianische Frauen konfrontiert. Mangels irgendeiner Gerichtsbarkeit, spricht Paul auch gleich direkt das Urteil, das noch an Ort und Stelle vollstreckt wird. Hut ab vor all den Lesern, welche sich an dieser „Stelle“ nicht im Lesesessel ihres Vertrauens winden.

Übrigens ist dies einer der wenigen Ausbrüche von Brutalität, welche sich dieser Roman erlaubt, der ansonsten auf ganz andere Art und Weise für Entsetzen sorgt. Wenn sich nach und nach die wahren Hintergründe von Charlie Carvers Verschwinden offenbaren, das ganze Ausmaß klar wird, erweitert sich nicht nur unsere Perspektive – wir beginnen auch diesen tiefen, verzweifelten und doch auch machtlosen Zorn der Haitianer zu verstehen, die, um ihr Überleben kämpfend, der Willkür ihrer Herrscher – sei es von innen oder von außen – nichts mehr entgegenzusetzen haben. Im Angesicht dieses Elends und dieser Ungerechtigkeit gelingt Stone das Kunststück Bodenhaftung zu bewahren, denn anstatt sich als den Tag rettender Held zu entpuppen, muss der zynische Max Mingus weitestgehend die Kontrolle über das Geschehen abgeben und zur Seite treten. Er muss einsehen, dass diese haitianische Angelegenheit letzten Endes auch nur von Haitianern geregelt werden kann. Und inmitten dieser emotionalen Offenbarung kredenzt uns der Autor dann auch noch eine Wendung, die wohl selbst gut beobachtende Leser nur in den wenigsten Fällen voraussehen konnten. Chapeau für diesen Schlag aus dem Nichts, Mr. Stone.

Was bleibt nun nach der Lektüre – und mehr als zehn Jahre nach dem Erstkontakt? Das Denkmal „Voodoo“ hat zwar in der Tat über die Zeit ein wenig gebröckelt und Macken bekommen – die Überzeugung, hier einen einzigartigen und lohnenswerten Kriminalroman gelesen zu haben, konnte aber auch im zweiten Durchgang nicht erschüttert werden. Ein immersives, eindringliches und düsteres Noir-Werk, das sich schwer abschütteln und seine Spuren hinterlässt. So darf, so muss heutzutage ein Krimi sein.

Wertung: 89 von 100 Treffern

einschuss2
  • Autor: Nick Stone
  • Titel: Voodoo
  • Originaltitel: Mr. Clarinet
  • Übersetzer: Heike Steffen
  • Verlag: Goldmann Verlag
  • Erschienen: 11/2007
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 608 Seiten
  • ISBN: 978-3442463367

Eine zerrissene Zeit

© Kiepenheuer & Witsch

Wenn von den wichtigsten zeitgenössischen Schriftstellern der USA die Rede ist, fällt sein Name unweigerlich: Edgar Lawrence Doctorow. Der Sohn russisch-jüdischer Einwanderer, welcher seine Jugend in der Bronx verbrachte, unterrichtete seit 1982 auf einem eigens für ihn geschaffenen Lehrstuhl für englische und amerikanische Literatur an der New Yorker University. Und auch für viele moderne Autorenkollegen gilt der Faulkner-Award-Preisträger bis heute als stilistisches Vorbild. Im Vergleich zu Philip Roth, John Updike oder Jonathan Franzen ist Doctorows Bekanntheitsgrad hierzulande jedoch eher gering, obgleich er in Besprechungen und Rezensionen des Feuilletons fast durchgehend gepriesen wird.

Alles gute Gründe für mich, meinerseits einen Blick auf den im Jahr 2015 verstorbenen Amerikaner und seinen ersten größeren Erfolg „Ragtime“ zu werfen, der im Big Apple des anbrechenden 20. Jahrhunderts spielt und gleich mehrere Handlungsebenen miteinander verwebt. Und soviel sei vorab schon verraten: Das war sicher nicht mein letzter Doctorow.

Die übliche „Im-Mittelpunkt-der-Geschichte-steht“-Zusammenfassung entfällt an dieser Stelle, da es eigentlich eine kaleidoskopisch angeordnete Handvoll Geschichten sind, zwischen denen sich wiederum mehrere Verbindungen entwickeln. Wenn es überhaupt so etwas wie eine Hauptfigur gibt, dann ist es der afro-amerikanische Ragtime-Pianist Coalhouse Walker, dessen nagelneues Ford Model T von rassistischen Feuerwehrleuten zerstört wird. (Die Ähnlichkeit zu der Erzählung „Michael Kohlhaas“ von Heinrich von Kleist, in welcher der Protagonist im Streben um soziale Gerechtigkeit ebenfalls scheitert, ist augenscheinlich gewollt) In seinem Versuch den ursprünglichen Status Quo wiederherzustellen und sein Recht, die Reparatur des Wagens, durchzusetzen, ruiniert sich Walker schließlich nach und nach selbst. Aus dem Protest wird ein hoffnungsloser Amoklauf, dem sich bald weitere schwarze Mitbürger anschließen.

Desweiteren erzählt Doctorow von einer weißen Familie der Mittelschicht, von zwei jüdischen Einwanderern, vom Entfesselungskünstler Houdini, vom Wirken der Anarchistin Emma Goldman, von den Ideen des Automobilherstellers Henry Ford, von der Schauspielerin und Amerikas erster Sexgöttin Evelyn Nesbit und der Dienstreise der Psychoanalytiker Sigmund Freud, Carl Gustav Jung und Sándor Ferenczi. Und das alles auf knapp 340 Seiten …

Als ob dem Autor diese Fülle an Personen nicht schon genügen würde, um seine Leser zu überrollen, erstreckt sich gleich der erste Absatz des Romans über mehr als zwei Seiten – und die Sätze kommen wie ein Sturzbach daher. Fast scheint es, als hätte hier Doctorow vergessen Luft zu holen, derart schnell und komprimiert folgen die knappen Aussagen, welche uns, einem Schlaggewitter gleich, um die Ohren gehauen werden. Ein atemlos schwingendes Stakkato von Eindrücken, im farbigen Verschnitt zusammengefügt, so dass nicht nur ein Bild vom Leben in den USA zu Beginn des 20. Jahrhunderts Gestalt annimmt, sondern dieses, wie auch oft von dieser Epoche der Geschichte behauptet, laufen lernt. Tempo ist das Schlagwort. Und selbst wenn die Handlung noch ein paar Jahre von den „Roaring Twenties“ trennt, deutet doch vieles in dieser Vor-Gatsby-Welt an, dass sich gesellschaftliche Veränderungen von nun an radikal und vor allem viel schneller vollziehen.

Es ist gerade dieser „Wochenschau“-Charakter, dieser quirlige Jazz in Doctorows Prosa, welcher sofort und über das Ende hinaus beeindruckt, da er mit auf den ersten Blick einfachsten Mitteln ein großes Panorama zeichnet – und gleichzeitig einen Abgesang auf den „American Way of Life“ darstellt, den Sigmund Freud im Buch gar als „gigantischen Irrtum“ bezeichnet. Der Autor schlendert dabei stilsicher vom lakonischen über das ironische bis hin zum melancholischen, ohne sich künstlicher Effekte bedienen zu müssen. Stattdessen sprechen die Taten oder halt ihr Unterbleiben für die verschiedenen Protagonisten seines Romans. Dennoch muss dieser Berg von Episoden erst einmal vom Leser bestiegen werden, der sicherlich seine Zeit brauchen wird, um das Konstrukt von „Ragtime“ zu durchschauen und in Folge dessen die Suche nach einem roten Faden in der Handlung aufzugeben. Inwieweit auch die deutsche Übersetzung diese Ragtime-Rhythmen gestutzt hat, kann mangels Kenntnis des Originals nicht beurteilt werden. Es wäre jedenfalls eine Erklärung, warum sich die amerikanische Begeisterung für dieses Buch in Deutschland nie so in diesem Maße wiederholt hat.

Nach Beendigung der Lektüre steckte ich jedenfalls in einem Dilemma. Wirklich gemocht habe ich „Ragtime“ nicht, von lieben ganz zu schweigen. Und doch ist da diese unterschwellige Begeisterung, dieses nachhaltige Wirken des Romans, der mich wohl in Bälde zu weiteren Doctorow-Werken greifen lässt. Denn egal wie amerikanisch das Werk letztlich auch ist: Für raffiniert ausbalancierte Nostalgie und derb-grinsende Gesellschaftskritik bin ich immer zu haben. Vor allem wenn es gegen Schluss hin derart spannend kredenzt wird wie hier.

Wertung: 89 von 100 Treffern

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  • Autor: Edgar Lawrence Doctorow
  • Titel: Ragtime
  • Originaltitel: Ragtime
  • Übersetzer: Angela Praesent
  • Verlag: Kiepenheuer & Witsch
  • Erschienen: 2/2011
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 336 Seiten
  • ISBN: 978-3462043198

Eine Zeit in der Hölle

© Goldmann

„Eine Zeit in der Hölle“. Das ist womöglich etwas übers Ziel hinaus und dennoch doch auch irgendwie ganz passend für die letzten Monate in meinem Leben. Insofern vielleicht die beste Art den Faden dieses Blogs aufzugreifen, der hier vor mehr als zwei Monaten – man muss sagen erneut – verloren ging. Freizeit ist ein kostbares Gut, Seelenfrieden umso mehr. Wenn beides gen Null tendiert schlägt sich das halt dann auch in dem eigenen Hobby wieder. Doch wie sang Freddie Mercury einst inbrünstig: „Show must go on“. Und so geht es auch diesmal weiter, wobei ich mich einmal mehr in den Norden Europas flüchte. Genauer gesagt nach Schottland in die Oxford Bar zum guten, alten John Rebus, dessen zweitem Fall ich mich hiermit ein wenig näher widme.

Ian Rankins zweiter Kriminalroman mit John Rebus entstand in den Jahren 1988/89, während des Höhepunkts des Thatcherismus. In dieser Zeit, wo unter anderem rote Hosenträger wahnsinnig angesagt waren, schien es in manchen Bars kein anderes Gesprächsthema als die steigenden Grundstückspreise zu geben. Ian Rankin, mittlerweile mit seiner Frau in London lebend und nebenbei als Journalist tätig, war von Leuten umgeben, die alle mehr Erfolg hatten als er, Angestellte mit fetten Gehältern oder Schriftsteller mit fünfstelligen Garantierhonoraren.

Aus heutiger Sicht erklärt diese damalige Situation den ziemlich bitteren Ton von „Das zweite Zeichen“ (engl. „Hide & Seek„) und spiegelt sich besonders in den Erinnerungen von Brian Holmes, Detective Sergeant und fortan treuer Gehilfe und Partner an Rebus‘ Seite, wider. Für ihn war die Zeit als Student in London „Eine Zeit in der Hölle“. Im Gegensatz zum Vorgänger ist der der zweite Teil der Reihe also viel düsterer geworden, wenngleich handlungstechnisch nur wenige Monate seit „Verborgene Muster“ vergangen sind.

John Rebus ist mittlerweile zum Detective Inspector befördert worden und soll in dieser Position die Antidrogen-Kampagne seines publicitygierigen Chefs unterstützen. Etwas wonach ihm wenig der Sinn steht, zumal ihm seine Freundin Gill Templer gerade den Laufpass gegeben hat. Da passt es ihm ganz gut, dass ein neuer Fall seine volle Aufmerksamkeit erfordert. In der heruntergekommenen Siedlung Pilmuir, wo die meisten leeren Gebäude, welche den Stadtvätern seit langem ein Dorn im Auge sind, von Hausbesetzern bewohnt werden, wurde die Leiche eines jungen Mannes gefunden. Offenbar an einer Überdosis Heroin gestorben, scheint das auf den ersten Blick kein ungewöhnliches Ende in Pilmuir zu sein. Bis Rebus auffällt, dass der Körper des Toten von Blutergüssen übersäht ist und man im Nachhinein entdeckt, dass der „Stoff“ von Ronnie McGrath mit reichlich Rattengift gestreckt wurde. Auch das an die Wand gemalte Pentagramm im Nebenraum irritiert den Inspektor, der sich nun mit aller Kraft in die Ermittlungen stürzt…

War das Debütwerk in seinem Aufbau noch stellenweise etwas unausgegoren, deutet Rankin hier nun seine Qualitäten mehr als an und setzt den Startpunkt für den Siegeszug dieser Serie, welche sich mittlerweile auch in Deutschland fortgesetzt hat. Obwohl Rebus seine, auf die harte SAS-Ausbildung zurückgehenden Psychosen, offenkundig abgelegt hat, sind ihm sein kauziger Charme und die schroffe Art erhalten geblieben. Und die Welt um ihn herum, die düstere Heimatstadt Edinburgh, ist auch wenig dazu geeignet, zur Frohnatur zu mutieren. So wäre es nur zu einfach Vergleiche mit Mankells Kurt Wallander zu ziehen, hätte Rankin seine Hauptfigur nicht mit einer Portion nachtschwarzen schottischen Humors ausgestattet, die im notorisch depressiven Umfeld immer wieder für lichte Momente sorgt. Bestes Beispiel ist Rebus‘ kühler Umgang mit dem strebsamen Brian Holmes. Die Frotzeleien zwischen den beiden sowie die jeweils geschilderten Gedankengänge lassen zwischenzeitlich kein Auge trocken und erlauben gleichzeitig einen Blick auf Rankins eigenen Charakter.

Der eigentliche Fall kommt im zweiten Band zwar anfangs etwas zäher in den Gang, zeigt jedoch wieder die Raffinesse des Autors, der eine Vorliebe für das abgedrehte zu haben scheint (auch hier sind die Reminiszenzen an Stevensons „Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ offensichtlich) und dessen Plot dieses Mal sehr „Gothic“-like anmutet. Spannend und gegen Ende wieder sehr rasant liest sich aber auch diese Geschichte, da die Ermittlungen, die Rebus wieder auf eigene Faust führt, uns in die wohlbekannten Gewässer der Globalisierungsauswirkungen führt. Die Gewinner und Verlierer macht er allzu klar deutlich und hat damit bereits schon damals den Finger in eine Wunde gelegt, die auch heute noch weiter schwelt. Das Ende fügt dann nicht nur alles bestens zusammen, sondern weckt auch Erinnerungen an einen gewissen Film mit Brad Pitt und Edward Norton.

Das zweite Zeichen“ ist ein äußerst gelungener und sehr schottischer zweiter Kriminalroman, der feinsinnig und tiefgründig spannend unterhält, aufgrund seines eher langsamen Beginns die Qualität des ersten Bands aber nicht erreicht.

Wertung: 89 von 100 Treffern

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  • Autor: Ian Rankin
  • Titel: Das zweite Zeichen
  • Originaltitel: Hide & Seek
  • Übersetzer: Ellen Schlootz
  • Verlag: Goldmann
  • Erschienen: 01.2001
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 320 Seiten
  • ISBN: 978-3442446087

Könige der Nacht

© Pendragon

Man kann auf mehrere Arten etwas entbehren. Das eine vermisst man vielleicht erst, wenn es nicht mehr da ist, sich eine Lücke dort auftut, wo sie nie vorhergesehen war. Und dann gibt es aber auch noch den Fall, wo man erst mit Erhalt von etwas merkt, dass es eigentlich immer schon gefehlt, man es sich immer schon herbeigesehnt hat. Die Reihe um die Berufsverbrecherin Crissa Stone von Wallace Stroby fällt für mich persönlich genau in eben jene letztere Kategorie, weshalb das Engagement des Pendragon Verlags, diesen erstklassigen Autor für den deutschsprachigen Krimi-Markt zu entdecken, gar nicht entscheidend genug gewürdigt werden kann.

Eine Würdigung, die meinerseits äußerst subtil vonstatten gehen muss, da man doch als kritischer Rezensent oftmals Gefahr läuft, in Kategorien zu bewerten, Vergleiche anzustellen und Muster herauszuarbeiten, was einerseits den Viellesern des Genres möglicherweise entgegen kommt, sich für den durchschnittlichen Leser jedoch als Hindernis darstellen kann, da dieser wiederum mit all diesen Bezügen wenig bis gar nichts anfangen kann. So ist Lob, gerade hinsichtlich solcher Literatur wie der hier vorliegenden, manchmal ein Ritt auf der Rasierklinge, will ich doch allen etwaigen Interessenten auf möglichst nachdrückliche Weise vor allem eine Botschaft zu verstehen geben: Kauft und liest dieses Buch!

Damit ist, was die Bewertung angeht, ein Teil der Katze zwar bereits aus dem Sack und doch natürlich lange nicht das warum erklärt, dem ich mich jetzt, möglichst überzeugend widmen möchte, wobei ein kurzer Anriss des Inhalts den Anfang macht:

South Carolina, vier Monate nach Crissa Stones Zusammenprall mit dem Mann (siehe „Kalter Schuss ins Herz“), den alle nur unter dem Namen „Eddie der Heilige“ kannten und der dem Leben, so wie sie es bisher führte, ein Ende gesetzt hatte. Zu viel Polizei, zu viele juristische Ermittlungen, zu viel Aufsehen und aufgewirbelter Staub für diese Frau, die ihren dreckigen Job stets sauber über die Bühne bringen und dabei größtmöglichen Profit abkassieren will. Hier im Süden scheint dies seit einiger Zeit relativ ertragreich möglich – einem Schaufellader und vieler exponiert stehender Geldautomaten sei Dank. Wohlgemerkt scheint, denn ihre beiden Partner halten nicht viel von Teamwork und vor allem voneinander, so dass Crissas Mitteilung, nun wieder eigene Wege gehen zu wollen, dazu führt, dass sich beide schließlich über den Haufen schießen. Zwei relativ verlässliche Helfer tot, über 100.000 Dollar kassiert. Unterm Strich kein schlechter Schnitt, mit dem sich Crissa wieder gen Norden aufmacht, um das Geld weiter in die Bestrebungen zu investieren, ihren langjährigen Lebensgefährten und Mentor Wayne frühzeitig aus dem Gefängnis zu holen. Und damit ihrem Traum, vereint mit der gemeinsamen, derzeit bei ihrer Cousine lebenden Tochter ein neues Leben zu beginnen, ein Stück näher zu kommen. Doch vorher will das Geld gewaschen werden. Ein Vorgang für den es schmutziger Hände bedarf, in die sich Crissa nur äußerst ungern begibt.

Zur selben Zeit hat an anderer Stelle ebenfalls jemand Probleme mit dem lieben Geld. Benny Roth, ein ehemaliger Gangster und Mitglied der Mafia in den 70er Jahren, wird von der Vergangenheit eingeholt, als ihn ein paar seiner früheren Weggefährten eines Abends in dem Imbiss aufspüren, in welchem er sich seit seinem Ausstieg aus dem damaligen Zeugenschutzprogramm seinen Unterhalt als Koch verdient. Ein paar der alten Mobster hatten zuletzt bereits alters- und krankheitsbedingt das Zeitliche gesegnet, doch Gerüchte sind im Umlauf, dass mehrere Million Dollar aus einem vor fünfunddreißig Jahren begangenen Geldraub auf das Lufthansa-Cargo-Terminal am Flughafen JFK immer noch irgendwo versteckt sind. Und dass Benny als einziger weiß, wo sich dieses Versteck befindet. Der erkennt recht schnell, dass es wenig Sinn macht, den kaltblütigen Mobster Taliferro vom Gegenteil überzeugen zu wollen. Mit viel Glück kann er diesen und seine Laufburschen überrumpeln und gemeinsam mit seiner viele Jahre jüngeren Lebensgefährtin Marta fliehen.

Über den alten, mittlerweile im Pflegeheim lebenden Mafiaboss Jimmy Falcone kreuzen sich schließlich Crissas und Bennys Wege, die, nach kurzer Überlegung ihrerseits, beschließen, dass eine Zusammenarbeit bei der Suche nach dem Lufthansa-Geld durchaus Sinn macht. Doch sie haben die Rechnung ohne Taliferro gemacht. Der hat sich längst an Bennys Fersen geheftet und stellt recht bald Crissas Credo, keinerlei Leben mehr nehmen zu wollen, schwer auf die Probe …

Dass Wallace Strobys Anti-Heldin Crissa Stone denselben Nachnamen hat wie Robert B. Parkers Schöpfung, der Polizeichef Jesse, ist mit großer Wahrscheinlichkeit nur ein Zufall. Dass beide inzwischen beim Bielefelder Pendragon Verlag veröffentlicht werden, allerdings ganz sicher nicht, sondern einfach nur die Folge des feinen Näschens für noch feinere Kriminal-Literatur, welches Günther Butkus, Eike Birck und ihr Team seit, man darf es wohl sagen, Jahrzehnten immer wieder unter Beweis stellen. Und es ist auch angesichts der vorliegenden Klasse von „Geld ist nicht genug“ einmal mehr unglaublich, dass über vier Jahre lang tatsächlich niemand sonst vorher den Namen Stroby auf dem Zettel hatte. Vielleicht muss Gut Ding aber auch Weile haben, wobei dieses Werk den perfekten Zeitpunkt zur Veröffentlichung sicher nicht bedarf, derart zeitlos die traumwandlerisch sichere Schreibe dieses bis hin zur letzten Zeile so stilsicheren Autors. Auch Crissa Stones zweiter Auftritt könnte in dieser Form genauso in den 60er oder 70ern auf Papier gebracht worden sein, sind doch Mobiltelefone das einzige Zugeständnis an die Entwicklungen der Moderne, derer sich Stroby bedient. Der Rest fußt auf genau dem Prinzip, dass auch Richard Starks „Parker“ oder Garry Dishers „Wyatt“ bis heute so erfolgreich macht.

Womit die Namen genannt wurden, die ich einfach nennen muss, um es greifbar zu machen und die dennoch nicht reichen, Stroby an sich zu klassifizieren. Denn so sehr ich mich hier in manchen Passagen an obige Autoren erinnert fühlte, so anders ist doch auch die Figur Crissa Stone. Eben nicht nur eiskalt, nicht immer Herrin der Lage, nicht mit schon zwei, drei Ausweichplänen in der Hinterhand. Ein Profi im Verbrechen, die sich jedoch der Welt, in die sie für die Begehung eben jenes Verbrechens eintauchen muss, nicht wirklich zugehörig fühlt. Der eben Geld nicht genug ist, sondern nur als Mittel zum Zweck dient, der in diesem Fall heißt, ihre Liebe aus dem Knast und ihre Tochter zurück in ein gemeinsames Leben als Familie zu holen. Stroby gesteht Crissa mehrere Schalen an Persönlichkeit zu, lässt den Leser unter der harten oberen Schicht auch Blicke auf den Kern werfen. Auf eine Seele, die noch nicht nachtfinster ist und welche die Finger noch selbst da vom Abzug nimmt, wo ihre Gegenüber schon längst ein ganzes Magazin entleert haben.

(…) „Du lernst es früh oder erst spät“, sagte er. „Die Karten sind gezinkt. Niemand gibt Dir irgendetwas. Du musst es Dir nehmen.“ (…)

Benny Roths an sie gerichtete Worte sind überflüssig, hat sie Crissa doch seit langer Zeit verinnerlicht. Doch für sie besitzt diese Aussage auch eine Ausstiegsklausel, ein Hintertürchen, von ihrem Herzen offen gehalten, das besagt: Nicht um jeden Preis. Nicht um jedes Leben. Und genau das ist es, was die Faszination dieser Reihe ausmacht. Crissa bewegt sich in einer Grauzone, immer dicht am Schwarz. Ein Ritt auf der Rasierklinge, der uns Leser nie genau wissen lässt, für welche Handlungsweise sie sich entscheidet, wie weit sie zu gehen bereit ist. Oder ob ihre Auseinandersetzung mit „Eddie dem Heiligen“ letztlich doch eine Barriere hat fallen lassen, die sie verändert hat. Von diesen verschiedenen Facetten der Figur lebt der Roman, aus ihnen bezieht er sein Spannungsmoment. Und Stroby gelingt es auch die Gegenüber mit dieser Tiefe zu versehen, so dass gerade die Auftritte von Danny Taliferro zu den Highlights in diesen an Highlights nicht armen „Hardboiled“-Titels gehören. Seine Präsenz ist ein drohender Schatten über unseren Protagonisten, ein beständiger Gefahrenherd, der die Atmosphäre erst auf eiskalte Temperaturen herabkühlt, um sie schließlich in einem heißen Konflikt zu entladen.

Wie Stroby dieses Katz-und-Maus-Spiel um das Geld in Szene setzt und am Rad der Fortuna für alle Beteiligten dreht – das ist einerseits ein großer Spaß, andererseits von gnadenloser Entschlusskraft und zielgerichteter Härte (der Film „Drive“ kam mir oft in den Sinn), weil er sich zwar der Zutaten des Gangster-Romans und dessen Milieus bedient, dabei jedoch nie Gefahr läuft deren Einsatz für künstliche Effekte zu missbrauchen. Dank Alf Mayers Nachwort – dessen Übersetzung übrigens erneut ohne Fehl und Tadel ist – wird der authentische Ton von „Geld ist nicht genug“ nochmal unterfüttert, hat es doch diesen Lufthansa-Raub tatsächlich gegeben und Stroby die Leerstellen „lediglich“ mit einer Geschichte gefüllt. Eine Geschichte, welche zwar nicht die Wahrheit sein muss, aber durchaus sein könnte.

Schon Chandler sagte einst: „Alles was du hast und brauchst ist Stil.“ – Wallace Stroby hat ihn. Und er durchdringt alle 328 Seiten dieses erstklassigen, perfekt getimten und in den Abgründen der finsteren Nacht lebenden Werks. Was weit mehr ist als das, was ein Großteil heutiger „Bestseller“-Autoren vorweisen kann. Man kann nur hoffen, dass er sich diesen in weiteren Bänden in gleichem Maße bewahrt. Das wären in jedem Fall rosige Aussichten für alle Freunde des klassischen „Hardboiled“.

Wertung: 89 von 100 Treffern

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  • Autor: Wallace Stroby
  • Titel: Geld ist nicht genug
  • Originaltitel: Kings of Midnight
  • Übersetzer: Alf Mayer
  • Verlag: Pendragon
  • Erschienen: 02.2017
  • Einband: Klappenbroschur
  • Seiten: 352 Seiten
  • ISBN: 978-3865325778

Sex sails

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© Pendragon

So schön Krimi-Reihen eigentlich sind, erweisen sie sich für Menschen wie mich, die notorischer Weise jeden Titel unbedingt besprechen wollen, dann doch manchmal als eine gewisse Bürde. Insbesondere im Falle von Autoren wie dem inzwischen verstorbenen Robert B. Parker, welcher sowohl mit seinen Spenser-Romanen als auch bei der Jesse-Stone-Reihe jegliche Experimente strikt abgelehnt und stets nach bewährten Rezept bzw. Konzept geschrieben hat, was es wiederum etwas schwierig macht, das „Besondere“ hervorzuheben. Denn – so negativ das jetzt geklungen haben muss– Parkers Werke sind, fernab krimineller Superlative der Mainstream-Konkurrenz, (fast) uneingeschränkt empfehlenswert und können größere Aufmerksamkeit seitens der deutschen Leser zweifelsfrei gebrauchen.

Insofern kommt da der fünfte Band um Polizeichef Jesse Stone (bekannt auch durch die CBS-Verfilmungen mit Tom Selleck in der Hauptrolle) gerade recht, stellt „Tod im Hafen“ doch den bisherigen Höhepunkt der Serie dar, was nicht zuletzt daran liegt, dass Parker ein wenig die Komfortzone verlässt und thematisch heißeres und auch emotional aufwühlenderes Eisen anfasst.

Sieben Jahre sind inzwischen vergangen, seit der Cop Jesse Stone Los Angeles den Rücken gekehrt und seinen Posten als Polizeichef im fiktiven Provinznest Paradise im Bundesstaat Massachusetts bezogen hat. Die Zeiten als Ermittler in der Mordkommission liegen genauso hinter ihm, wie seit kurzem auch der Alkohol. Seit zehn Monaten und genau dreizehn Tagen hat er keinen Schluck mehr getrunken. Und auch seine Beziehung zu Ex-Frau Jenn steht wieder unter einem besseren Stern. Nach vielen Affären auf beiden Seiten wagen sie nun einen Neuanfang. Wortwörtlich paradiesische Zustände also, wäre da nicht die im Hafenbecken angeschwemmte Leiche einer jungen Frau, welche Rätsel aufgibt, zumal Florence Horvath, so ihr Name, eigentlich in Fort Lauderdale, Florida, wohnhaft ist.

Ist es wirklich nur ein Zufall, dass gerade zu dieser Zeit die Rennwoche stattfindet? Ein riesiges Event in Paradise, das zahlreiche Besitzer großer, teurer Yachten in den Hafen lockt und doch weit weniger mit Segelsport zu tun hat, als der Name auf den ersten Blick vermuten lässt. Stattdessen werden feuchtfröhliche Parties an Bord und an Land gefeiert. Und Florence, Tochter reicher Eltern, attraktiv, durch und durch verwöhnt und mit einer Vorliebe für außergewöhnliche Sexspiele, scheint, wie Jesse Stone und seine Kollegen recht bald herausfinden, fester Bestandsteil der ausartenden Exzesse gewesen zu sein. Warum aber leugnen dann Besitzer, Crew und Gäste der „Lady Jane“ Florence gekannt zu haben? Und weshalb haben sich ihre Schwestern, Musterbeispiele der Kategorie „Blond und Blöd“, jetzt ebenfalls nach Paradise begeben, um selbst Nachforschungen anzustellen?

Mit der ihm eigenen Sturheit und Beharrlichkeit ermittelt Stone in den Kreisen der „Upper Class“ und muss nach und nach erkennen, dass es sich bei Florence‘ Tod nur um die Spitze eines Eisbergs aus Sex, Gewalt, Lügen und Verdrängung handelt …

Dass die High Society nicht selten einem Sündenpfuhl mit tiefsten Abgründen gleichkommt, ist ganz sicher keine neue Erkenntnis und wird in „Tod im Hafen“ auch nicht zum ersten Mal in der Form eines Kriminalromans präsentiert. Interessant ist aber die Herangehensweise von Robert B. Parker, der sich nur allmählich und – vor allem im ersten Drittel – behutsam der Thematik nähert, wobei er mittels einfachster Tricks und Kniffe, dem Leser die hedonistischen Ausschweifungen der Reichen vor Augen führt. Drogen, zügelloser Sex, Alkohol – im Rausch fällt die Fassade des Wohlstands zusammen, bricht sich ein Deck tiefer, unter dem blank gebohnerten Teakholz der Yachten, das Primitive und Dreckige des Menschen Bahn. Probleme und Widrigkeiten – unter den Oberen Zehntausend werden sie in Cocktails ertränkt, menschliche Schicksale mit starren, facegelifteten Masken weggelächelt, wodurch Jesse Stone wiederum auf eine Mauer des Schweigens stößt, die, vor allem was die sexuellen Ausschweifungen angeht, zunehmend seinen inneren Friedens stört, da etwas in ihm davon nicht unbehelligt bleibt. Er selbst hegt zunehmend unkeusche Gedanken gegenüber Jenn, kann die Eifersucht nicht abschütteln – macht ihn das den Teilnehmern dieser orgiastischen Veranstaltungen ähnlich? Antworten auf diese Fragen sucht er, wie fast in jedem Band, bei seinem Psychotherapeuten Dix.

Auch aus diesem Grund schleppen sich vor allem anfangs seine Ermittlungen hin, was die ungeduldigen unter den Lesern hoffentlich nicht mit einem Abbruch der Lektüre quittieren werden, da „Tod im Hafen“ einem guten Wein gleichkommt, dem man die Zeit zum Atmen geben muss, um anschließend das „Aroma“ kosten zu können. Wobei Aroma in diesem Zusammenhang eher einen faden Beigeschmack bezeichnet, der sich unabwendbar die Kehle hinaufarbeitet, wenn uns Robert B. Parker mit jeder weiteren Seite mehr haarsträubenden Details aussetzt und sich aus dem reinen Mordfall schließlich eine dramaturgische Tragödie entwickelt, welche zunehmend auch familiäre Züge aufweist. In der Auseinandersetzung mit den haarsträubenden, ans Licht kommenden Details zeigt sich dann auch die Stärke dieses Romans, der, gleichsam dem Ablauf einer rauschenden Party, einen Bogen von ungehemmter Ausgelassenheit hin zum morgendlichen Kater schlägt – in diesem Fall verkörpert durch menschliche und moralische Abgründe, die selbst hartgesottene Leser wohl nicht kalt lassen dürften.

Selten, wirklich sehr selten, hat Robert B. Parker seinen emotionalen Schutzschild derart tief gesenkt, wie hier in „Tod im Hafen“. Obwohl auch der fünfte Band der Reihe von seinem kurz-knappen, schnoddrigen und vor allem schnörkellos-geschliffenen Stil dominiert wird, umgibt ihn doch eine gewisse, traurige Schwere, die an keiner Stelle künstliche Züge annimmt, sondern der abschließenden Auflösung des Falls auf gebührende, und vor allem ernsthafte Art und Weise, Rechnung trägt. Insbesondere das letzte Drittel beeindruckt und bedrückt gleichermaßen, erinnerte mich streckenweise gar an die Umtriebe in Bret Easton Ellis Kult-Roman „Unter Null“, der in einem ähnlich parasitären Umfeld spielt und dessen Protagonisten sich auf der „Lady Jane“ wohl auch gut aufgehoben fühlen würden.

Natürlich wäre ein Jesse Stone kein Jesse Stone, wenn uns Parker nicht auch hier ein paar flotte Sprüche und noch flottere Damen kredenzen würde. Die Anwältin Rita Fiore (bekannt aus der „Spenser“-Reihe – der in „Tod im Hafen“ nur als „Detektiv“ bezeichnet wird) und die Polizeibeamtin Kelly Cruz aus Fort Lauderdale, die vor Ort im Auftrag des Polizeichefs aus Paradise weiteren Spuren nachgeht, komplettieren die übliche Besetzung aus heißen Bräuten, die nun mal immer irgendwie Stones Nähe suchen – wie sich das für den smarten Cop alter Schule halt gehört. Dass diese Schilderungen sich nicht abnutzen, liegt dann nicht zuletzt auch an der unheimlich gelungenen Übersetzung von Bernd Gockel, der die auf Tempo frisierten, lässigen Dialoge samt Ironie, Zynismus und Sarkasmus über die gesamte Distanz äußerst stilsicher ins Deutsche überträgt. Gerade bei diesem Band, der sich an der Balance zwischen Coolness und Ernsthaftigkeit unbedingt messen lassen muss, sollte Gockels Wirken als entscheidend gewürdigt werden.

Tod im Hafen“ – das ist eben doch nicht einfach nur der x-te Band irgendeiner Krimi-Reihe, sondern ein erschreckend aktueller, unheimlich eindringlicher Augenöffner im Gewand des Spannungsromans, dessen stufenweise zu Tage tretende Enthüllungen ihn entdeckungs- und vor allem lesenswert machen. Gefangen im Mahlstrom von Dekadenz und Pomp liefern sowohl Parker als auch Jesse Stone ihre bis hierhin beste Leistung innerhalb der Serie ab.

Wertung: 89 von 100 Treffern

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  • Autor: Robert B. Parker
  • Titel: Tod im Hafen
  • Originaltitel: Sea Change
  • Übersetzer: Bernd Gockel
  • Verlag: Pendragon
  • Erschienen: 07.2014
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 328 Seiten
  • ISBN: 978-3865324160

Gangster-Roadmovie alter Schule

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(c) Knaur

Ich bin ganz ehrlich: Mit so genannten Caper Novels kann ich eigentlich nicht allzu viel anfangen. Spannung und Humor in einem – funktioniert als Popkornkino auf der Leinwand ganz gut, weiß als Buch aber eher selten zu überzeugen, zumal der Spagat ein schwieriger ist. Nur wenige Autoren meistern ihn und wenn dies mal der Fall ist, wird ihnen hierzulande nur wenig Aufmerksamkeit zuteil. Bestes Beispiel: „Unschuldslämmer“ von Giles Blunt.

Auch wenn der Kanadier mit seiner John-Cardinal-Reihe durchaus einige treue Leser in Deutschland gewinnen konnte – den ganz großen Durchbruch hat er hier bisher nicht geschafft. Und wenn man dann auch noch Kost außerhalb der von treuen Lesern geforderten Serie liefert, ist das Risiko des Misserfolgs natürlich umso höher. Im Fall von „Unschuldslämmer“ lohnt sich dieser Abzweigung von üblichen Pfaden jedoch:

„Ian Rankin hat es bereits getan, Mark Billingham ebenso. Und jetzt tut es ihnen auch der kanadische Krimiautor Giles Blunt gleich. Nach 4 Romanen aus der Reihe um Detective John Cardinal sucht er die Abwechslung und legt mit „Unschuldslämmer“ einen neuen Stand-Alone-Titel vor. Und dieser könnte sich wohl kaum mehr von den sonst so düsteren Thrillern im eisigen Norden unterscheiden. „Eine Gangster-Komödie“ prangt in roten Lettern auf dem Cover, das sonst mit einem kahlen Highway samt Pickup-Wohnmobil gewohnt kühl gehalten ist und nicht allzu viel verrät. Vielleicht hat es mich gerade deshalb neugierig auf diesen Roman gemacht, der in Deutschland bisher konsequent von den einschlägigen Krimi-Kritikern ignoriert wurde. Man kann nur sagen, zu Unrecht, denn hier deckt sich Werbung durchaus mit Inhalt. „Unschuldslämmer“ ist ein äußerst kurzweiliges Katz-und-Maus-Spiel im Stile von „Schnappt Shorty“ und Co., das an keiner Stelle in den Klamauk abzudriften droht und gleichzeitig nie an Spannung verliert.

Erzählt wird die Geschichte des überzeugten Meisterdiebs Max Maxwell, der gemeinsam mit seinem Neffen Owen, für den er nach dem Tod dessen Eltern sorgt, im Wohnmobil durch die USA zieht und die Superreichen ausnimmt wie die Weihnachtsgänse. Entgegen dem wohlbekannten Robin Hood wird die Beute jedoch in die eigene Tasche gesteckt und dafür benutzt, den nomadischen Lebensstil noch bequemer zu gestalten. Die wichtigste Regel dabei: Niemand darf bei ihren Raubzügen verletzt werden. Max, der immer noch seiner Karriere als Schauspieler nachtrauert, will das gebannte Publikum wie ein Gentleman behandeln. Das hat bisher auch immer gut funktioniert, doch nun scheint sich das Alter immer mehr bemerkbar zu machen. Plötzlich schleichen sich mitten im Ablenkungsmanöver Aussetzer ein. Anstatt einen Ballsaal von Politikern in Schach zu halten, legt der alte Gauner lieber eine flotte Sohle mit der Gastgeberin aufs Parkett. Nur Owen kann eine Katastrophe verhindern und mit Max, der in solchen Momenten völlig vergisst wer und wo er ist, vom Tatort fliehen. Doch wie lange bleibt ihnen das Glück noch hold?

Da es keine Rente für Diebe gibt und es nur noch eine Frage der Zeit ist, bis Max einen Coup vermasselt, setzt Owen alles daran, ihre Raubzugtour zu beenden. Davon will sein Onkel natürlich nichts wissen. Im Gegenteil: Mit zwei alten Partnern plant er einen neuen Streich, nicht wissend, dass auch die „Substrahierer“ Wind von seinem Vorhaben bekommen haben. Diese Bande raubt ihrerseits Räuber aus und bricht den Codex der Diebe mit erschreckender Brutalität. So werden ihre Opfer nicht nur um ihre Beute erleichtert, sondern gleich auch um das ein oder andere Gliedmaß. Plötzlich sind die beiden Meisterdiebe auf der Flucht. Und als ob das noch nicht genug wäre, verfällt der junge Owen auch noch einer hinreißenden Frau …

Was auf den ersten Zeilen wie typischer Hollywood-Ami-Kitsch klingt, entwickelt zwischen den Deckeln einen herrlichen Drive und überzeugt mit spritzigem Humor und wortwitzigen Dialogen. Max und Owen wachsen dem Leser sogleich ans Herz, wenngleich die Theatralik des Älteren auf Dauer auch ein wenig an den Nerven sägt. Gleichzeitig ist die Idee des dementen Diebes aber so erfrischend, dass man über gewisse Überzeichnungen hinwegsieht, zumal sich unter dem oberflächlichen Roadmovie eine zuvor ungeahnte Tiefe verbirgt, welche mit jeder Seite mehr zum Tragen kommt und im weiteren Verlauf für das ein oder andere Überraschungsmoment sorgt. Das diese allesamt gezündet und mich, ja, überrascht haben, liegt daran, dass Blunt die Handlung immer wieder mit geschickten Manövern in andere Bahnen lenkt. Darüber vergisst der Leser dann auch, dass er eigentlich zwei Kriminellen die Daumen drückt. Was jedoch bei Starks Parker bereits schon funktioniert hat, zündet hier auch. Nur eben auf witzige Art und Weise. Der abgehalfterte Shakespeare-Mime und sein junger Sidekick, aber auch die anderen Figuren, sorgen für ein stetiges Dauergrinsen und ringen selbst todernsten Szenen noch ein Fünkchen Witz ab. Wohlgemerkt ohne diesen zum Selbstzweck verkommen zu lassen. Stattdessen schwingt zwischen Blunts Worten immer wieder eine gewisse Botschaft mit, welche letztlich dafür sorgt, dass „Unschuldslämmer“ nicht direkt nach Beendigung der Lektüre in Vergessenheit gerät.

Ob diese Geschichte allerdings die Fans der Cardinal-Serie auch ausreichend zu unterhalten weiß, steht auf einem andern Blatt. Wer mit den üblichen Vorstellungen und Erwartungen auch an dieses Buch herangeht, wird sich, trotz der düsteren Passagen, unweigerlich enttäuscht sehen. Freunde von Elmore Leonard sollten aber auf ihre Kosten kommen. Nicht zuletzt deshalb, weil Blunt die Coolness von Leonards Figuren, insbesondere die Femme Fatale, herrlich parodiert. Stellenweise schreit es auch hier geradezu nach einer Verfilmung.

Insgesamt ist „Unschuldslämmer“ ein Gangster-Roadmovie alter Schule, das dank perfekt getimter Situationskomik einfach Spaß macht (sofern man nicht zum Lachen in den Keller geht) und doch dabei immer noch genügend Spannung bietet. Blunt ist hier ein schwieriger Spagat gelungen, an dem bereits viele gescheitert sind. Gerade deswegen und aufgrund des stimmigen Finales ist dieses Buch für mich eine der Entdeckungen des Jahres 2011.“

Wertung: 89 von 100 Trefferneinschuss2Autor: Giles Blunt

  • Titel: Unschuldslämmer
  • Originaltitel: No such creature
  • Übersetzer: Eberhard Kreutzer
  • Verlag: Knaur
  • Erschienen: 05.2010
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 378
  • ISBN: 978-3426505625