Auf der Suche nach sich selbst

© Heyne

Nach der Lektüre des zweiten Bands des lose zusammenhängenden „Revelation-Space“-Zyklus muss ich ganz klar konstatieren: Alastair Reynolds hat mich infiziert. Und das war angesichts des doch sehr zähen Auftakts durch „Unendlichkeit“ so wirklich nicht zu erwarten. Was jedoch letztlich überzeugt, ist Reynolds Konzept.

Im Gegensatz zu einem Großteil der Konkurrenz, welche im Sci-Fi-Genre die Grenzen des derzeit Machbaren weit hinter sich gelassen hat, beinhalten die Bücher des Waliser Autors eine stets glaubwürdige und realistische Physik, die seine „Space Opera“ dem Leser auf gewisse Art und Weise bekannt erscheinen lässt. Seine Raumschiffe, nicht fähig Überlichtgeschwindigkeit zu erreichen, sind nicht mehr und nicht weniger als eine konsequente Weiterentwicklung der heutigen Raketen. Und mit diesen kennt sich der Physiker Reynolds, der neben seinem Schriftstellertum auch im wissenschaftlichen Bereich der Raumfahrt arbeitet, scheinbar bestens aus. Diese Atmosphäre des dreckigen, düsteren und doch so vertrauten Universums hat mich schließlich zu „Chasm City“ greifen lassen, mit dem Reynolds die klassische Science-Fiction aus „Unendlichkeit“ hinter sich lässt und stattdessen nun in den Gefilden von „Cyberpunk“ und „Noir“ wildert.

Obwohl im gleichen Universum wie der Vorgänger angesiedelt, präsentiert sich „Chasm City“ als eigenständiges Werk, das chronologisch vor den Ereignissen von „Unendlichkeit“ spielt und lediglich auf den Schauplatz sowie einige Figuren zurückgreift, um den bekannten Look beizubehalten. Dies vorweg als Information für all diejenigen, die mit der Aussicht auf eine Fortsetzung von der Resurgam-Expedition herangegangen sind. Sie werden dennoch mehr als entschädigt, bietet Reynolds doch nicht nur eine äußerst gelungene Mischung aus Chandler, Dick und Miéville, sondern gleichzeitig auch einen größeren Einblick in das komplexe Gefüge des „Revelation“-Universums.

Im Mittelpunkt der Geschichte steht der ehemalige Elitesoldat Tanner Mirabel, der nach einen 15jährigen Kryo-Schlaf im Orbit des Planeten Yellowstone erwacht und nur langsam seine Erinnerung zurückgewinnt. Das einzige was er sicher weiß: Er ist von Sky’s Edge hierhin gereist, um den Tod seines ehemaligen Arbeitgebers Cahuella, eines begeisterten Jägers und Waffenschmugglers, zu rächen. Sein Ziel: Argent Reivich, ein unsterblicher Aristokrat, der in Chasm City untergetaucht ist. Doch in den vielen Jahren der bewusstlosen Kälte hat sich hier viel verändert. Aus dem einstmals strahlenden Juwel des Epsilon Eridani Systems, dem Utopia der Menschheit, ist ein verrottender, baufälliger Moloch geworden, der sich fest in den Fängen der Schmelzseuche (Leser von „Unendlichkeit“ werden sich erinnern) befindet. Jede Form von Technologie, welche über die simple Mechanik hinausgeht, schmilzt wortwörtlich dahin. Millionen mit Nanotechnologie behandelter Menschen sind ihr bereits zum Opfer gefallen. Während der reiche Teil der Bevölkerung sich ihrer Implantate entledigen konnte oder als Hermetiker in der noch einigermaßen prächtigen Oberwelt, dem „Baldachin“, residiert, bleibt für alle anderen nur ein hoffnungsloses Dasein in der von Smog und Abgasen durchsetzten Unterwelt, dem „Mulch“.

Neben der immer noch nicht gebannten Gefahr durch die Schmelzseuche wird Tanners ohnehin schon gefährliche Ausgabe durch ein weiteres Hindernis erschwert. Offensichtlich ist er mit dem Haussmann-Virus infiziert worden, der von der gleichnamigen sektenähnlichen Religion entwickelt wurde, um alle Befallenen mittels Stigmata und regelmäßigen Visionen zu ihren Anhängern zu machen. Während Mirabel sich einen Weg durch die düsteren Abgründe von Chasm City sucht, erhält er immer wieder neue Einblicke in das Leben von Sky Haussmann, der einst Sky’s Edge seinen Namen gab und als Anführer einer von der Erde gestarteten Flottille zu den großen Pionieren der Menschheit zählt.

Doch bald regen sich bei Tanner Zweifel. Ist es wirklich nur das harmlose Haussmann-Virus oder steckt gar mehr dahinter? Warum sieht er nun Dinge aus Skys Leben, welche in keiner offiziellen Chronik verzeichnet sind? Die Suche nach Antworten auf seine Frage führt ihn nicht nur tief in den Kern von Yellowstone, sondern auch weit zurück in seine eigene Vergangenheit – wenn es denn überhaupt die seine ist…

Wie schon im Auftakt „Unendlichkeit“, so bedient sich Reynolds auch diesmal mehrerer Schauplätze und chronologisch verlagerter Handlungsstränge, um seine komplexe Geschichte zu erzählen. Im Gegensatz zum Erstling ist dieser Balanceakt diesmal jedoch auch vollends gelungen, stimmt die Gewichtung der einzelnen Rädchen, welche, immer mehr ineinander verzahnt, den Plot vorantreiben und ihn letztlich in einem mehr als stimmigen Finale abrunden. Auf dem Weg dorthin geizt Reynolds nicht mit Twists und Turns, die stets aufs Neue am Status Quo zweifeln und uns das soeben gelesene aus einem anderen Blickwinkel betrachten lassen. Auffällig dabei: Egal, welche Erzählebene man so eben betritt, der Rhythmus kommt an keiner Stelle aus dem Takt. Im Gegenteil: Ob im Dschungel von Sky’s Edge, dem vor Dreck triefenden „Schlund“ oder in der Düsternis der Siedlerschiffe – jeder Handlungsstrang fasziniert auf seine Art, trägt eine weitere Facette zum Renyoldschen‘ Universum bei. „Chasm City“ ist, trotz mehr als 800 Seiten, durchgängig spannend, seine Figuren, wenngleich in ihren Fähigkeiten hier und da überzeichnet, unheimlich lebensecht.

Als Freund klassischer „Hardboiled“-Geschichten fielen mir persönlich da vor allem die „Privat-Eye“-Anleihen bei Tanner Mirabel ins Auge, welche sich allerdings mit dem Sci-Fi-Umfeld in keinster Weise beißen, sondern vielmehr zur Dynamik beitragen und „Chasm City“ mit dieser gewissen Portion Coolness versehen. Überhaupt lässt sich die Atmosphäre im Buch mit dem Messer schneiden. Hinter jeder dunklen Ecke lauert das Unbekannte, jeder neue Bekannte Tanners wird scharf und misstrauisch beäugt. Wo er kann, sät Reynolds die Saat des Zweifels aus, was die vielen Kehren in der Geschichte umso eindrucksvoller macht und zur Vielschichtigkeit des Ganzen genauso beiträgt, wie die undurchschaubaren und moralisch schwer einzuordnenden Charaktere. Übertroffen wird all dies nur noch von der Kulisse, die fast schon selbst eine eigenständige Figur darstellt und, trotz Anleihen aus anderen bekannten Werken (z.B. Dicks „Blade Runner“, „Shadowrun“ oder auch „Star Wars“), durchgehend fasziniert. Da verzeiht man es dem Autor sogar, dass die große Überraschung am Schluss wohl viele Leser nicht überraschen wird bzw. in Punkto Aha-Effekt nur mäßig zündet.

Chasm City“ ist eine hervorragende Mischung aus knallharten „Noir“, visionärer „Space Opera“ und dystopischen „Cyberpunk“, die mich über mehrere Tage mit Erfolg in meinen Schlaf- und Essensgewohnheiten gestört und über die volle Distanz bestens unterhalten hat. Ein ganz starker, eindrucksvoller Roman, der viele Fragen beantwortet, aber noch genug offen lässt, um nach den weiteren Bänden des „Revelation-Space“-Zyklus gieren zu lassen.

Wertung: 90 von 100 Treffern

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  • Autor: Alastair Reynolds
  • Titel: Chasm City
  • OriginaltitelChasm City
  • Übersetzer: Irene Holicki
  • Verlag: Heyne
  • Erschienen: 12/2006
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 832 Seiten
  • ISBN: 978-3453522213

Into the Great Wide Open

© Heyne

„Unendlichkeit“ ist nicht nur der Auftakt zum „Revelation-Space“-Zyklus, sondern gleichzeitig auch das Erstlingswerk des Walisers Alastair Reynolds, welcher lange Zeit als Physiker für die ESA (European Space Agency) gearbeitet hat und damit in Punkto Technik bereits durchaus das qualifizierte Rüstzeug für einen erfolgreichen Sci-Fi-Schriftsteller mitbringt. Leider kann er davon im ersten Band seines im weiteren Verlauf sich stetig steigernden Epos noch nicht viel Gebrauch machen, zumal der beinahe 800 Seiten umfassende Roman trotz beeindruckender Kulisse, vielfältigster Ideen und interessanter Figuren jeglichen Funken von Lebendigkeit bzw. Atmosphäre vermissen lässt.

Gerade den „reichlichen Charakter“, welchen Rezensent Frank A. Dudley von der Phantastik-Couch so begeistert lobt, habe ich hier schmerzlich vermisst, ist doch das Gesamtkonstrukt von Reynolds Universum eigentlich äußerst stimmig konzipiert. Allein die Beschränkung der Menschheit auf Reisen unterhalb der Lichtgeschwindigkeit ist ein gelungener Kniff, der aus der in vielen Elementen futuristischen Sci-Fi-Opera eine gleichzeitig auch konsequente Weiterentwicklung des derzeitigen Stands der Wissenschaft macht. Die Handlung von „Unendlichkeit“ kann, im Gegensatz zu den folgenden Bänden des Zyklus, von solchen Einfällen leider (noch) nicht profitieren.

Aufgeteilt ist sie zu Beginn in drei, später zwei parallel laufende Handlungsstränge, welche jedoch in verschiedenen zeitlichen Ebenen spielen. Ihren Anfang nimmt die Geschichte auf dem Planeten Resurgam, welcher im äußersten Winkel der von Menschen kartographierten Galaxis liegt und vor etwa einer Million Jahren Heimat des Volkes der Amarantin war. Von ihnen und ihrer Kultur sind nur noch tief im Boden verschüttete Ruinen übrig geblieben. Eine mysteriöse planetare Katastrophe hat sie vollständig ausgerottet – und Dan Sylveste, egozentrischer Wissenschaftler und Archäologe, arbeitet versessen daran, die näheren Hintergründe der Vernichtung in Erfahrung zu bringen, zumal er befürchtet, dass der Menschheit, welche trotz ihrer weiten Ausbreitung bisher nicht auf nennenswerte Alienvölker gestoßen ist, in nicht allzu ferner Zukunft dasselbe Schicksal drohen könnte.

Zehn Jahre zuvor begleiten wir das Lichtschiff „Sehnsucht nach Unendlichkeit“, das sich, gestartet im Epsilon Eridani System, der Heimat Silvestes, auf der langen Reise nach Resurgam befindet. Mit an Bord ist auch die professionelle Killerin Ana Khouri, welche im Auftrag der geheimnisvollen Mademoiselle, einen Weg finden sollen, den bekannten Archäologen zu eliminieren. Keine leichte Aufgabe, ist doch das Schiff mittlerweile fest im Griff der Schmelzseuche und wird von einem rätselhaften Virus namens „Sonnendieb“ immer wieder sabotiert …

Wenn ich ehrlich bin, ist dieser kurze Anriss des Inhalts doch sehr geschönt, braucht es doch viele hundert Seiten bis überhaupt absehbar wird, dass die einzelnen Handlungsstränge ineinanderlaufen bzw. näher miteinander zu tun haben. Alastair Reynolds springt schneller zwischen Perspektiven, Zeiten und Schauplätzen als Hamilton Rennen fährt, weshalb es besonders im ersten Drittel des Romans höchste Aufmerksamkeit bedarf, um zumindest ein wenig den Überblick zu behalten. Mehr als einmal stand ich kurz davor, diesen dicken Schinken in die Ecke zu knallen, wurde dann aber stets wieder schwach, da es dem Autor, trotz des komplexen Handlungskonstrukts, schließlich doch gelingt für gewisse Spannungsmomente zu sorgen und durch rätselhafte Ereignisse den Detektiv im Leser zu wecken. Mit fast schon unverschämter Dreistigkeit hält er uns immer wieder den leckeren Knochen hin, um ihn kurz vor Erreichen unter der Nase wegzuziehen. Bestes Beispiel sind die eindrucksvollen Beschreibungen der „Schleierweber“, deren im Dunkeln lauernde Gefahr man sich (wie auch die „Schmelzseuche“) viel detaillierter ausgearbeitet wünscht. Reynolds belässt es aber bei einer kurzen Geschmacksprobe und konzentriert sich stattdessen auf das konfliktreiche Katz-und-Maus-Spiel der Figuren.

So wird der Leser durchgehend an der langen Leine gehalten, was von der Besetzung des Romans noch verstärkt wird, die – und daran krankt „Unendlichkeit“ besonders – ziemlich blass daher kommt. Ob Ana Khouri, Volyova oder Sylveste selbst – inmitten der durchaus beeindruckenden Kulissen (hier ist vor allem das düstere, schaurige Ultra-Raumschiff „Sehnsucht nach Unendlichkeit“ hervorzuheben) wirken sie allesamt wie ungewollte Staffage, derart lieblos sind sie gezeichnet. Eine größere Verbindung zwischen Leser und Figuren will so nicht aufkommen. Der Mangel an sympathischen Charaktere ist Reynolds dabei weniger vorzuwerfen, als die emotionale Gleichgültigkeit mit der sie handeln.

Kalt, rücksichtslos, verschlagen – alles schön und gut. Aber was geht in den Köpfen eigentlich vor? Was sind die Motive? Und warum fühlen wir nicht mit ihnen? Womit Reynolds in „Chasm City“ (mehr dazu bald hier) zu begeistern weiß, das gelingt hier noch nicht oder zumindest nicht lang genug, um an irgendeinem der Schicksale Anteil zu nehmen. Torpediert wird das Ganze noch durch ein vorangestelltes Personenregister, das unnötigerweise bereits vor dem ersten Satz der Geschichte Auskunft darüber gibt, was mit wem wo und wann passiert bzw. wer was und wie im Schilde führt. Daher vorweg an alle künftigen Leser: Unbedingt ignorieren, um sich nicht vorab die ohnehin rar gesäten Aha-Momente zu nehmen.

So kritisch die Rezension nun klingen mag, ein Flop ist „Unendlichkeit“ beileibe nicht. Allein die detaillierten physikalischen Beschreibungen Reynolds sowie der umfangreiche Aufbau beeindrucken, machen einfach Appetit auf dieses Universum, das augenscheinlich noch so viele Überraschungen bereithält, welche in den kommenden Bänden dann tatsächlich auch auf den Leser warten. Um diese in vollen Zügen genießen zu können, sollte man „Unendlichkeit“ allerdings unbedingt gelesen haben, da hier der Boden für zukünftige Ereignisse bereitet wird. Dieser „Erst die Arbeit, dann das Vergnügen“-Charakter des Buches wird natürlich nicht bei allen Sci-Fi-Freunden auf Begeisterung stoßen.

Letztlich bleibt nur zu sagen: Der Kampf durch dieses manchmal arg staubige und zähe Machwerk lohnt. „Unendlichkeit“ präsentiert sich als verheißungsvolle Spitze eines weit größeren Eisbergs, an dem Freunde der dystopisch-dreckigen Science-Fiction sicherlich ihren Spaß haben werden. Wer hier jedoch nicht bis zum Ende durchhält, hat trotzdem mein vollstes Verständnis.

Wertung: 74 von 100 Treffern

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  • Autor: Alastair Reynolds
  • Titel: Unendlichkeit
  • OriginaltitelRevelation Space
  • Übersetzer: Irene Holicki
  • Verlag: Heyne
  • Erschienen: 05/2006
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 768 Seiten
  • ISBN: 978-3453521865

Die Spottdrossel singt ihr Lied …

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© Moewig

Es gibt wohl nur wenige Science-Fiction-Autoren, welche das Genre im Nachhinein derart geprägt haben, wie Philip K. Dick, wobei hier auch tatsächlich das Wort „nachhinein“ betont werden muss, wurde ihm doch die Ehre und die Anerkennung für sein Werk erst relativ spät in seiner fast 30-jährigen Karriere zuteil. Mehr noch: Von Anfang der 50er bis in die späten 60er Jahre schrieb Dick zwar ebenso besessen Bücher, wie er sie selbst las (vorwiegend über Philosophie und Gnostizismus, aber auch über Religion), konnte aber in dieser Zeit keinen seiner Romane bei einem Verlag unterbringen.

Mit „Eine Bande von Verrückten“ (orig. „Confessions of a Crap Artist“), den er 1959 zu Papier brachte, wurde nur eins dieser Frühwerke zu seinen Lebzeiten, nämlich im Jahr 1975, veröffentlicht. Von den wenigen Kurzgeschichten, die er verkaufen konnte, blieb nicht viel Geld zum Leben übrig, weswegen Dick in verhältnismäßig ärmlichen Verhältnissen leben musste. Durch die linken Aktivitäten seiner ersten Frau Kleo kam er zudem erstmals in Kontakt mit dem Inlandsgeheimdienst FBI, gegenüber dem er über die Jahre eine regelrechte Paranoia entwickeln sollte. Gut möglich, dass sein Gefühl beobachtet zu werden auch in die vorliegende Lektüre eingeflossen ist, in welcher Überwachung ein zentrales Thema der Handlung ist. Diese sei kurz angerissen:

Nach einem verheerenden Atomkrieg mit dem japanischen Kaiserreich im Jahr 1972 hat sich das Antlitz unserer Welt verändert. Während die Inseln Japans weitestgehend radioaktiv verseucht sind, ist auf dem amerikanischen Festland zwar wieder Leben möglich, doch der Konflikt hat auch hier tiefgreifende Spuren hinterlassen. Die Vereinigten Staaten existieren nicht mehr, stattdessen kam es 1987 zu der sogenannten Moralischen Restauration, in dessen Zuge, angeführt durch Major Jules Streiter, alle Volksgenossen unter der „MoRes“ gleichgeschaltet wurden. Kontrolliert wird die Gesellschaft durch den militärischen Arm des Staatsapparats, den „Kohorten“, deren „Pimpfe“, mechanische Spionagerobotor, die Einhaltung der allgemein gültigen Regeln von Frieden und Wohlstand überwachen. Die Indoktrinierung der Bevölkerung übernimmt derweil Telemedia (T-M), das Propagandainstrument des Ministeriums, welches allgegenwärtig seine Botschaften an Mann und Frau bringt. Eine Rechnung, welche im Jahr 2114 aufgegangen zu sein scheint.

Zumindest für Allen Purcell, Agenturchef und einer der wichtigsten Kunden von Telemedia, dessen Konzepte für Sendungen allenthalben Beachtung gefunden haben und ihn nun ins Blickfeld als Nachfolger des bestehenden Chefs der T-M, Myron Mavis, rücken. Auch wenn seine neueste Idee den ideologischen Grundsätzen der MoRes zuwiderläuft – sein Aufstieg scheint, dank vielfacher Unterstützung, nur eine Frage der Zeit. Bis eines Tages die Statue von Jules Streiter im Park von Newer York geschändet wird. Als Purcell mit roter Farbe und Gras an seinen Schuhen nach Hause zurückkehrt, ahnt er, dass er dafür verantwortlich ist. Doch warum kann er sich nicht daran erinnern? Wenn er unterbewusst gehandelt hat, was war der Grund dafür? Und droht ihm dasselbe Schicksal wie den anderen Systemfeinden – eine psychiatrische Behandlung weit entfernt auf dem Planeten, der nur „Die Zuflucht“ genannt wird? Purcell versucht den Status Quo weitestgehend aufrecht zu erhalten, doch mit Gretchen Malparto tritt bald eine Frau in sein Leben, die in ihm eine waghalsige Idee reifen lässt …

Das Wesen der Realität oder besser gesagt die Loslösung der eigenen individuellen Existenz vom Realen – sie stehen insbesondere in der frühen Schaffensphase Philip K. Dicks immer wieder im Zentrum seiner Geschichten und stellen dabei sein Publikum nicht selten vor eine gewisse Hürde, seinen transzendenten Gedankengängen folgen zu können (Bekanntestes Beispiel ist vielleicht die Verfilmung „Total Recall“). Wo die Wirklichkeit endet und die Einbildung beginnt, diese Grenze ist fließend, auch in „Der heimliche Rebell“. Und das ist, und das sei vorangestellt, mit Sicherheit keins seiner besten Werke, kommt es doch besonders zu Anfang nur äußerst zäh in Fahrt.

Dick nimmt sich viele Seiten Zeit für die Exposition seiner Welt und Allen Purcells Platz darin. Ein Mann von zu Beginn nur wenig Charisma, der zwar einen gewissen Scharfsinn mitbringt, aber letztlich trotzdem williger Teil in der Propagandamaschinerie ist und sich zusammen mit seiner Frau der Privilegien dieser Position erfreut. Zwar deutet der Autor die Brüchigkeit des Systems zwischendrin an, aber es bleibt allenfalls bei der vagen Ahnung, dass sich daraus vielleicht irgendwann auch größere Risse bilden könnten, bleibt doch Purcell selbst sehr passiv. Bis sich daran im Verlauf der Geschichte nach und nach etwas ändert, fehlt es an Highlights. Einzige Ausnahme sind die Schauprozesse für die Wohnblockbewohner, in denen in schöner Regelmäßigkeit, weitestgehend anonym und in der Hoffnung auf eigenen Vorteil, der Nachbar angeschwärzt und verunglimpft wird. Ihre entlarvende Scheinheiligkeit verströmt bei der Lektüre tatsächlich eine gewisse gruselige Faszination, bis ab der Mitte des Buches, mit dem Auftritt Gretchens, das Ganze dann auch etwas mehr an Fahrt gewinnt.

Purcell, der psychologische Betreuung in Anspruch nimmt, wechselt plötzlich in eine Traumwelt über (oder doch nicht?), die ein Spiegelbild von Dicks Amerika der 50er Jahre darstellt und wird dadurch nun zum Handeln gezwungen. Wohl wissend, dass seine Taten bald ans Licht kommen werden, nutzt er die verbliebene Zeit als Chef von T-M, um die Propaganda für seine Zwecke wirken zu lassen. Während sein Mietvertrag gekündigt wird – der größtmögliche Fall in der Gesellschaft von MoRes – nutzt er ausgerechnet die Legende um Major Streiter, um zum großen Gegenschlag auszuholen. Wie er das inszeniert und ausführt, das hat in der Tat einen gewissen Charme und Witz, kann aber diesen Titel am Ende genauso wenig aus der Bedeutungslosigkeit hervorholen, wie die erotisch angehauchten Passagen mit Gretchen Malparto. Diese sind für Dick-Kenner nur insofern bedeutsam, als das wir hier zum ersten Mal Bekanntschaft mit einem dunkelhaarigen Mädchen machen, das sich als verführerische Femme Fatale wie ein roter Faden durch sein Lebenswerk zieht.

Dennoch: „Der heimliche Rebell“ ist kein Roman Dicks, dessen Wiederentdeckung wirklich groß lohnt, sieht man mal davon ab, dass die Darstellung eines Totalitarismus der Moral inzwischen in der aktuellen Gesellschaft wieder eine erschreckende Aktualität gewonnen hat. Und so sehr mich gerade die letzten Seiten dann doch unterhalten konnten – die Zeit für diese knapp 200 Seiten hätte man anderer Stelle sicher besser investieren können.

Wertung: 73 von 100 Treffern

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  • Autor: Philip K. Dick
  • Titel: Der heimliche Rebell
  • Originaltitel: The Man Who Japed
  • Übersetzer: Karl-Ulrich Burgdorf
  • Verlag: Moewig
  • Erschienen: 1981
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 191 Seiten
  • ISBN: 978-3811835297

Hey, hier kommt Alex!

© Heyne

„In einer Welt, in der man nur noch lebt,
Damit man täglich roboten geht,
Ist die größte Aufregung, die es noch gibt,
Das allabendliche Fernsehbild.

Jeder Mensch lebt wie ein Uhrwerk,
Wie ein Computer programmiert.
Es gibt keinen, der sich dagegen wehrt,
Nur ein paar Jugendliche sind frustriert.

Wenn am Himmel die Sonne untergeht,
Beginnt für die Droogs der Tag.
In kleinen Banden sammeln sie sich,
Gehn gemeinsam auf die Jagd.

Hey, hier kommt Alex!
Vorhang auf für seine Horrorschau.
Hey, hier kommt Alex!
Vorhang auf für ein kleines bisschen Horrorschau.“

Wer hat sie nicht schon lauthals mitgebrüllt, diese Strophen aus dem ersten großen Song der Toten Hosen von 1988? „Hier kommt Alex“ war, nicht zuletzt aufgrund des damals scharf diskutierten Texts, der Durchbruch für die Düsseldorfer Band. Bis dato nur in Insiderkreisen bekannt, wurden sie nun auch außerhalb der Punkszene als anspruchsvolle Rockmusiker wahrgenommen. Doch viele (mir ist selbst erst vor knapp 10 Jahren der Zusammenhang aufgegangen) wissen nicht um die Ursprünge dieses Lieds, dessen Titel sich direkt auf einen bestimmten Alex bezieht.

Gemeint ist Alex Delarge, der Protagonist des düsteren Zukunftsroman-Klassikers „Clockwork Orange“, den Autor Anthony Burgess 1962 veröffentlichte und welcher bis heute, nicht nur unter Punks, absoluten Kultstatus genießt. Wer also wissen will, warum der Song mit Beethovens 9. Sinfonie beginnt, was mit „roboten“ und „Horrorschau“ gemeint ist und wer diese „Droogs“ sind, von denen Campino singt, sollte mal einen näheren Blick auf dieses Werk werfen. – Und auch diejenigen, die mit den Hosen so gar nichts anfangen können, sei zur Lektüre geraten, ist doch die Problematik der grundlos randalierenden, Gewalt ausübenden Jugend heute leider genauso aktuell wie vor fünfzig Jahren.

Im Mittelpunkt der Geschichte steht wie erwähnt der 15-jährige Alex Delarge, der mit seiner Bande, den „Droogs“, des Nachts ziellos durch die Gassen London zieht. Eine Stadt, welche in dem totalitär regierten Land längst nicht mehr sicher ist und vor allem bei Dunkelheit zum Spielplatz der Jugendlichen wird. So stehlen, foltern, vergewaltigen und töten die „Droogs“, immer auf der Suche nach dem noch größeren Kick, noch mehr Spaß. Alex sieht sich dabei als Anführer. Er gibt den Ton an, erstickt jede mögliche Rebellion seiner „Freunde“ im Keim. Als sie eines Tages bei einer alten Dame einbrechen, wendet sich jedoch das Blatt. Alex wird von den „Droogs“ an die Polizei verraten. Und weil die Frau ihren schweren Verletzungen erliegt, wandert er, den die Justiz schon lange im Auge hatte, für 14 Jahre ins Gefängnis.

An seinem Verhalten ändert dies jedoch nichts. Im Gegenteil: Der Gewalt im Knast begegnet er mit noch größerer Brutalität und gerät damit ins Visier des Direktors. Dieser bietet ihm vorzeitige Haftentlassung an, wenn er als Testobjekt am neuen Resozialisierungsprogramm, der Ludovico-Technik, teilnimmt. Alex willigt ein. In den folgenden zwei Wochen wird ihm tagtäglich ein Serum verabreicht, unter dessen Einfluss er stundenlang schlimmste Gewaltdarstellungen auf einer Kinoleinwand betrachten muss. Mit jedem weiteren Film, jeder weiteren Minute, wird Alex‘ Persönlichkeit umprogrammiert, bis er schließlich wie ein Uhrwerk funktioniert und schon beim geringsten Gedanken an Gewalt von grausamen Schmerzen und Übelkeit übermannt wird. Wieder auf freiem Fuß, ist er nun ein friedliebender Bürger – doch zu welchem Preis?

Alex ist unfähig sich zu wehren. Und seine Opfer, wie auch die „alten Freunde“, warten bereits auf ihn…

Vorneweg: Um Burgess‘ „Clockwork Orange“ erfassen (von „genießen“ will ich in diesem Fall lieber nicht sprechen) zu können, braucht es zu Beginn vor allem eins: Geduld. Der im Stil eines Berichts und in „Nadsat“, ein auf Basis der russischen Sprache konstruierter Jugendslang, vorgetragene Roman, macht den Einstieg alles andere als leicht. Stil und Wortwahl sind vom Fleck weg scharf, kantig, unverdaulich. Nur dank des Glossars am Ende des Buches, in dem man die Bedeutung der einzelnen Begriffe nachschlagen kann, kommt man überhaupt über die ersten Seiten. Hat man die jedoch schließlich im wahrsten Sinne des Wortes überstanden, stellt sich recht bald ein Leserhythmus ein. Und mehr noch: Burgess‘ Gebrauch des Nadsat verfremdet nicht nur nur die beschriebenen Gewaltdarstellungen – er verleiht dem Erzählten zugleich dieses Quäntchen mehr Authentizität, welches es uns ermöglicht, die Welt von „Clockwork Orange“ besser zu begreifen. In gewissem Sinne ist hier also eher die Sprache als letztlich der Inhalt Informationsträger, weshalb sich wohl der Autor auch eine längere Einleitung gespart hat.

Neben der anfänglichen Geduld verlangt Burgess dem Leser zudem ein gewisses dickes Fell ab, da Alex und seine „Droogs“ Gewalt nicht einfach nur ausüben, sondern diese mit voller Freude und Euphorie zelebrieren. Brutal und grausam werden Frauen vergewaltigt, Wehrlose bis zur Bewusstlosigkeit und darüber hinaus geprügelt. Je mehr Angst das Opfer hat, je mehr Schmerzen es leidet, um so mehr ergötzen sich die Täter an ihrem Spiel. Zartbesaitete werden hier bereits recht früh ausgesiebt und das Buch wohl an die Seite legen. Doch Burgess‘ detaillierte Schilderungen des Zerstörungsrausches sind mehr als nur ein zweckfreies Stilmittel. Besonders im Hinblick auf die zweite Hälfte des Romans gewinnen die von Alex‘ verübten Gewalttaten eine tiefere Bedeutung.

Zentrale Frage ist nämlich schließlich, was schlechter ist: Den Menschen zum Gutsein zu konditionieren oder ihm die Freiheit lassen, selbst zu entscheiden, ob er gut oder böse sein will. Wie weit sollte und darf ein Staat überhaupt gehen, um die asozialen, nicht zu integrierenden Elemente in der Gesellschaft so weit medizinisch zu behandeln, damit sie keine Bedrohung mehr darstellen? Und wenn die Würde des Menschen unantastbar ist – gilt dies nicht auch für den Täter? Im Anschluss an Alex‘ „Heilung“ muss sich der Leser diesen Fragen unausweichlich stellen. Und es ist der Genialität des Autors zu verdanken, dass es ihm gelingt, trotz Alex‘ vorangegangener Taten, Mitleid für diesen zu erwecken. Plötzlich begreift man, nicht zuletzt auch durch die Handlungen der Eltern, dass er auch schon vor dem medizinischen Eingriff ebenfalls in gewisser Art und Weise ein Opfer war. Ihm nun seine Entscheidungsfähigkeit zu nehmen, sogar die Freude an der Musik, stellt somit letztlich genauso ein Verbrechen dar. Nur halt diesmal verübt vom Staat.

Burgess geizt in seinem Roman aber sowieso mit moralischen Leitlinien. Alle Figuren (vielleicht mit Ausnahme des frommen Geistlichen im Gefängnis) bilden hassenswerte Charakterzüge aus. Niemand handelt wirklich selbstlos. Ein jeder hat Hintergedanken oder Ängste, die ihn schließlich gegen seine eigenen moralischen Grundsätze handeln lassen. Keiner dabei, der wirklich die Sympathien des Lesers genießt. Das wiederum macht eine Verurteilung einzelner Figuren schwer. Auch weil die von Burgess geschilderte Welt der heutigen erschreckend ähnlich ist. Ein Blick in die Fußballstadien oder gewisse Bezirke deutscher Großstädte ermöglicht den Blick auf viele Menschen wie Alex. Und sowohl der Lösung, als auch noch viel wichtiger der Ursache des Problems, ist man auch nach einem halben Jahrhundert nicht wirklich näher gekommen.

Bei all der drastischen Gewalt, den brutalen Schilderungen, der erbarmungslosen Härte – „Clockwork Orange“ ist, besonders gegen Ende hin, ein Roman, welcher zur Reflexion anregt, nachdenklich stimmt. Ein in seinen Mitteln vielleicht ungewöhnlicher und sperriger, aber in der Wirkung äußerst treffsicherer Klassiker, dessen Vision in großen Teilen bereits ernüchternde Wirklichkeit ist.

Nachtrag: „Clockwork Orange“ wird inzwischen von Klett Cotta in neuer Übersetzung verlegt.

Wertung: 85 von 100 Treffern

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  • Autor: Anthony Burgess
  • Titel: Clockwork Orange
  • Originaltitel: A Clockwork Orange
  • Übersetzer: Wolfgang Krege
  • Verlag: Heyne
  • Erschienen: 11/1997
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 224 Seiten
  • ISBN: 978-3453130791

Die Zukunft ist ein offenes Buch

© Goldmann

Es ist dann doch mehr der Gewohnheit als einem wirklichen Nutzen geschuldet, dass ich mir auch im Fall von „Die seltsame Welt des Mr. Jones“ die Mühe gemacht habe, eine Rezension zu schreiben. Wenig Nutzen nicht unbedingt, weil ich die allgemeine Kritik am Frühwerk von Philip K. Dick in Gänze teile, sondern eher aufgrund der Tatsache, dass die letzte deutsche Ausgabe bereits aus den 70er Jahren stammt und mit einer Neuauflage wahrscheinlich nicht allzu bald zu rechnen ist (Oder etwa doch, lieber Fischer Verlag?).

Selbst wenn also jemand da draußen sich von dieser Besprechung zum Kauf versucht fühlen sollte, muss er sein Augenmerk auf Antiquariate und Flohmärkte richten. Eine Mühe, welche sich heute wohl nur die wenigsten machen dürften. Dennoch hat dieser Monksche‘ Zwang meinerseits dann auch vielleicht seine guten Seiten, erlaubt dieser 1956 veröffentlichte Roman Dicks doch einen Blick auf die Anfänge eines der wichtigsten und einflussreichsten Literaten des 20. Jahrhunderts und gibt gleichzeitig Einblick in die Welt und das Denken dieser Zeitepoche. Dass es dem Autor zudem gelingt, in vielerlei Elementen äußerst visionär und beinahe hellseherisch (z.B. Fernsehschirme in der Rücklehne von Autositzen) in die Zukunft zu blicken, verleiht dem kurzen Büchlein zusätzlich Charme. Und der Unfähigkeit der Menschen, aus der Geschichte zu lernen, ist es dann letztlich auch zu verdanken, dass – betrachtet man die Diskussion um den geschiedenen Präsidenten Donald Trump sowie das Verhalten einiger Mitbürger (nicht erst seit der Flüchtlingskrise) – auch der Personenkult um Mr. Jones nicht wirklich an Aktualität verloren hat.

Doch First things first und daher mal ein kurzer Einblick in den Inhalt:

Wir schreiben das Jahr 2002. Die Erde ist nach einem langjährigen Atom-Krieg schwer gezeichnet und die Menschheit erhebt sich nur langsam aus den post-apokalyptischen Trümmern. Viele amerikanische Städte sind komplett vernichtet, Staaten wie die Republik China und die Sowjetunion sind als Folge des gewaltreichen Konflikts der Ideologien gänzlich kollabiert. An ihrer Statt wurde deshalb die Bundesweltenregierung (Bureg) installiert, deren politische Leitlinie, der Relativismus, als moralische und ethische Philosophie festlegt, dass es jedem Bürger frei steht, an das zu glauben, was er möchte, so lange er niemand anderen dazu bringt, diesem Glauben oder Prinzip zu folgen. Unbewiesene absolute Behauptungen sind strikt verboten. Widerständler und Dissidenten des sankrosanten Relativismus werden von der Geheimpolizei festgenommen und in Arbeitslager verfrachtet. Einer ihrer Agenten ist Doug Cussick, den man soeben zu der Bewachung einer speziellen Schutzkuppel abgestellt hat, in der mutierte Menschen für ein geheimes Projekt gezüchtet werden. Die Bewachung ist notwendig, da Jones‘ Anhänger inzwischen immer mehr Zulauf bekommen und der Rückhalt der derzeitigen Regierung zunehmend bröckelt. Während ihm Dr. Rafferty die Einzelheiten seiner medizinischen Forschung darlegt, erinnert sich Cussick an das erste Mal zurück, als er Jones begegnet ist:

April 1995. Cussick ist erst seit kurzer Zeit Mitglied bei der Geheimpolizei und nutzt einen freien Tag, um sich die Attraktionen auf dem örtlichen Jahrmarkt näher anzuschauen. Dabei fällt sein Blick auf einen unscheinbaren Mann, dessen vereinsamter Stand mit dem Schild „Keine persönliche Wahrsagung“ wenig erfolgreich Werbung macht. Cussicks Interesse ist dennoch geweckt und er beginnt ein Gespräch mit dem Mann namens Jones. Der erklärt ihm, dass er in der Lage ist, genau ein Jahr in die Zukunft zu sehen und unterrichtet ihn von der baldigen Ankunft einer außerplanetarischen Spezies, den so genannten „Driftern“. Anfangs noch skeptisch, macht Cussick dennoch Bericht bei seinen Vorgesetzten, welche Jones in Folge dessen im Auge behalten. In den nächsten Jahren treten alle von ihm angekündigten Ereignisse ein. Doch als die Bureg schließlich die Gefahr erkennt, welche von Jones ausgeht, ist es schon zu spät. Alle Zeichen der Zeit deuten erneut auf Krieg. Und alle fragen sich … was weiß Jones?

Prophezeiungen, Blicke in die Zukunft, Vorhersagen. Es scheint dieses Thema zu sein, welches Dick recht früh gepackt und vielleicht auch nie so recht losgelassen hat (siehe z.B. „Der Minderheiten-Bericht“). Bereits „Hauptgewinn: Die Erde“ führte mit den Te-Pe’s eine neue Menschengattung mit präkognitiven Fähigkeiten ein, deren telepathische Begabung die Herrschaft des Quizmeisters sicherten. Nun also Jones. Hierbei ist auffällig, dass Dick die Geschichte des titelgebenden Wahrsagers/Predigers von hinten aufrollt und der Erzählstrang um die eingesperrten Mutanten in ihrer Kuppel quasi den Beginn des Endes markiert, welches man schließlich in der Rückblende abschließend erreicht. Ein merkwürdiger, aber auch sehr wirksamer Schachzug vom Autor, der die Identität der Mutanten sowie ihren Zweck damit verschleiert und gleichzeitig die totalitären Züge des Bureg-Systems durch die Geschichte um den Aufstieg von Jones‘ näher ergründet, der ironischerweise noch anfänglich von der gesetzlichen Toleranzvorschrift gegenüber allen Lebensformen (u.a. bizarre Mutanten wie Hermaphroditen) profitiert. Er ist der Dreh- und Angelpunkt in der Geschichte und bleibt doch in seinen Wirken und Intentionen für den Leser über einen langen Zeitraum eine mysteriöse Figur.

Ganz anders Doug Cussick, der stellvertretend für die Bureg steht, deren Berechtigung er erst in Frage stellt, als seine Frau diesem System dem Rücken kehrt und sich den Anhängern von Jones anschließt. Er gewährt dem Leser auf persönlicher Ebene einen Einblick in den Aufbau der Gesellschaft, welche, wie ihre Umwelt, vor allem dystopische Züge aufweist und in seinen Beschreibungen mitunter nur schwer erträglich ist. Besonders Cussicks Besuch eines Nachtclubs, in dem sich zwei Hermaphroditen auf der Bühne vor einer weitestgehend unbewegten Menge mehrmals verwandeln und dabei lieben, ist mir nachträglich und eindringlich in Erinnerung geblieben. Als Folge des Relativismus kann zwar jeder tun und lassen was er will – der Preis den er aber dafür zahlt, ist die Gleichgültigkeit. Die Menschen sind abgestumpft, taub, ohne Glauben und Ziel. Sie leben eine Existenz ohne tieferen Sinn. Setzen Kinder in die Welt, ohne ihnen Werte vorgeben oder gar ungeteilte Aufmerksamkeit schenken zu können. Toleranz wird zunehmend mehr als Desinteresse und Aufgabe, und in diesem Zusammenhang Jones als Heilsbringer empfunden. Er ist der dauerhafte Ausnahmezustand, das richtungsweisende Element, das alleinige Wissen, dem man folgen kann.

Philip K. Dicks Roman ist ein verstörender Blick in eine (leider auch heutzutage) nicht gänzlich unmögliche und vor allem düstere Zukunft, der die Risiken von einer gleichgültigen Toleranzgesellschaft ebenso beleuchtet, wie die Auswirkungen eines Personenkults, dessen absolutes Wissen wertlos wird, wenn es nicht für die richtigen Zwecke eingesetzt wird. Selbstbestimmung und Schicksal – zwei Dinge, welche nicht nur im Buch selbst, sondern wohl auch im Geiste des Lesers gegeneinander abgewogen werden müssen. Und ein jeder kommt hier vielleicht zu unterschiedlichen Ergebnissen.

Warum kommt der Roman dann also bei den Kritikern („hasty and disappointing“, Anthony Boucher) derart schlecht weg? Ein Grund dafür könnte in der Tat der hastige Stil sein, der sich und uns keinerlei Atempausen gönnt, aber auch keine gönnen kann, da Dick gleich soviel Themen in diesem doch äußerst kurzen Novelle unterbringen will. Mutierte und gezüchtete Menschen, außerirdische Eindringlinge und Leben auf anderen Planeten, um nur ein paar davon zu nennen. Insbesondere der geschichtliche Wurmfortsatz am Ende, der zudem äußerst kunterbunt und fröhlich – und damit konträr zum Rest des Romans – daherkommt, wirkt unnötig und deplatziert. Hier hat der Autor für mich den richtigen Zeitpunkt zum Schluss machen verpasst.

Dennoch: „Die seltsame Welt des Mr. Jones“ hat mich gut und vor allem anregend unterhalten, bisweilen aber mein Gemüt durch diese doch wirklich hoffnungslose, triste Zukunftsvision auch arg getrübt. Ein Roman, mit vielen intelligenten Ansätzen, dem man den Frühwerk-Charakter zwar anmerkt, der aber im selben Zug auch immer wieder die Klasse des späteren Philip K. Dick andeutet. Wem das schmale Büchlein also wider Erwarten doch in die Hände fällt, sollte eine Lektüre unbedingt in Erwägung ziehen. Aller Kritiken zum Trotz – es lohnt.

Wertung: 87 von 100 Treffern

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  • Autor: Philip K. Dick
  • Titel: Die seltsame Welt des Mr. Jones
  • Originaltitel: The World Jones Made
  • Übersetzer: Tony Westermayr
  • Verlag: Goldmann
  • Erschienen: 1971
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 190 Seiten
  • ISBN: 978-3442231263

Das ganze Leben ist ein Quiz

© Fischer

„Hauptgewinn: Die Erde“ war nicht nur Philip K. Dicks Erstlingswerk, sondern auch gleichzeitig sein Durchbruch im Genre der Science-Fiction-Literatur, welches er in den folgenden fast 30 Jahren wie kaum ein anderer mitgeprägt hat. Von „Blade Runner“ über „Total Recall“ bis hin zu „Minority Report“. Dick ist, insbesondere durch die nach seinem Tod erfolgten Verfilmungen seiner Bücher und Kurzgeschichten, zum Kultautoren avanciert, dessen literarische Qualitäten auch genreübergreifend mittlerweile ein größte Anerkennung genießen. Was liegt da also näher, als sich seines Lebenswerks chronologisch anzunehmen, zumal die vorliegende Geschichte einen Handlungsrahmen enthält, der – wie wir an den Ereignissen rund um die US-Wahlen im Jahr 2020 mit Erschrecken feststellen durften – rein gar nichts von seiner Aktualität verloren hat und dessen Bezug zur Realität somit enger ist denn je.

Anfang Mai 2203. Unser blauer Planet ist in einer neuen gesellschaftlichen Ordnung angekommen. Ein jeder Mensch hat seinen festen Rang und eine bestimmte Position in der Sozialstruktur. Frei nach dem Kommunismus sind alle (der Theorie nach) gleich, ausgenommen der Herrscher des neun Planeten umfassenden Sonnensystems, welcher durch eine alle Jahre wiederkehrende Lotterie bestimmt wird, um jedermann die Möglichkeit zu geben, über die Erde und deren Kolonien zu herrschen. Durch die ständigen Wechsel wird gleichzeitig verhindert, dass eine Person zu viel Macht ansammelt, um die Entwicklung der Menschheit durch Stagnation zu gefährden.

Nun ist der Zeitpunkt des Regierungswechsels erneut gekommen. Verrick, der bisherige Herrscher, sieht sich mit seiner Abdankung konfrontiert. Die Wahl der „Flasche“, dem Zufallsgenerator des Quizsystems, ist auf Leon Cartwright gefallen. Doch Verrick, welcher in den vergangenen zehn Jahren die geballte Macht der größten Konzerne und Trusts unter sich vereint hat, will seine Niederlage keinesfalls hinnehmen. Gemäß der Regeln wird ein von der Öffentlichkeit gebilligter Meuchler bestimmt, um Cartwrights Leben zu nehmen und die Flasche erneut wählen zu lassen. Für den neuen Herrscher bleibt nur wenig Zeit, um sein Lebenswerk, die Besiedelung der mysteriösen und von Preston entdeckten „Flammenscheibe“ zu vollenden …

Hauptgewinn: Die Erde“ ist nicht nur die erzählerische Verarbeitung der Neumannschen Spieltheorie, sondern gleichzeitig ein visionärer Fingerzeig auf eine aktuelle Entwicklung, in der sich Machtverhältnisse in den Ländern immer mehr zugunsten global operierender Firmen verschieben und sich das Interesse der Menschheit in weit größerem Maße am Profit als an der Verbreitung der Demokratie orientiert. Es ist ein düsteres Bild einer künftigen Gesellschaft, das Dick Mitte der 50er gemalt hat, in dem der Schein recht bald vor einer bitteren Realität kapitulieren muss. Die solare Lotterie, welche durch den Faktor Zufall für absolute Fairness sorgen soll, ist letztlich nicht mehr als die bröckelnde Fassade einer Gerechtigkeit. So ist der durch den Gewinn erworbene Titel des Herrschers im Verlauf der vielen Jahre zunehmend wertloser geworden. Die wahre Macht liegt in den Händen der Wirtschaft und den verschiedenen „Hügeln“, Firmen und Trusts, deren finanzielle Größe, eine mögliche Einflussnahme des Quizmeisters limitieren.

Bereits in seinem Debüt weist Dick eine schriftstellerische Klasse und Genialität auf, die beeindruckt. Mit lockerer, aber doch sehr prägnanter Feder entwirft er das Bild einer Welt, deren Gesetze auf der einen Seite vollkommen absurd wirken – auf der anderen Seite aber auch immer wieder Parallelen zur Jetztzeit aufweisen. Mag ein vom Obersten Richter und im Fernsehen präsentierter Meuchelmörder in den 50er Jahren noch an den Haaren herbeigezogen gewesen sein. Beim Blick in das heutige TV-Programm und seine immer weiter ausufernden Reality-Shows scheint das alles plötzlich gar nicht mehr so sehr weit hergeholt. Dick mischt seine Zukunftsvisionen außerdem mit Elementen aus der Geschichte. So sieht sich die Menschheit, die in der Vergangenheit für Freiheit und Gleichheit gekämpft hat, nun mit einer modernen Form des Leibeigentums konfrontiert. Die in „Hauptgewinn: Die Erde“ geschilderten Lehensverträge binden Mitarbeiter von Firmen bis zu ihrem Tod. Und der Kampf um die Machterhaltung wird weit härter geführt, als der um Machtgewinn. Ein jeder versucht den Status Quo mit allen Mitteln zu halten. Dicks Beschreibung dieser verrohten, entarteten Demokratie bildet das Spannungselement in diesem kurzweiligen Roman, der gleichzeitig mit den Te-Pe’s eine neue Menschengattung einführt.

Diese telepathisch begabten Menschen sind nicht nur das hauseigene Korps des Quizmeisters, sondern zeigen bereits einige der Fähigkeiten, welche man in späteren Werken Dicks, wenn auch in leicht veränderter Form, stets aufs Neue wiederfinden wird. So u.a. in den aus dem Film „Minority Report“ (basierend auf einer Kurzgeschichte Dicks) bekannten Präkognitoren.

Neben diesem politischen Katz-und-Maus-Spiel, das mitunter mit brutalster Gewalt geführt wird, fällt der zweite Handlungsstrang, in dem sich eine Gruppe von Menschen mit einem alten Frachter auf die Reise zur „Flammenscheibe“ macht, ziemlich ab. Auch wenn Dick sich hier alle Mühe gibt – die Zusammenführung dieser beiden roten Fäden gerät doch recht verwirrend und stört den ansonsten reibungslosen Lesefluss. Diese weitere Ebene hätte es für die Erzählung nicht wirklich gebraucht, zumal die Ausarbeitung recht unfertig erscheint und der Füllmaterial-Charakter dieses Handlungsstrangs einfach zu deutlich zutage tritt.

Letztendlich kann das den immer noch vorhandenen Unterhaltungswert dieses allerersten Romans von Philip K. Dick aber nicht schmälern. „Hauptgewinn: Die Erde“ bietet für einige Stunden Lesespaß und deutet gleich in mehreren Passagen die Genialität dieses einzigartigen Schriftstellers an, die in späteren Werken noch weiter eindrucksvoller zutage treten wird. Ein guter, kurzweiliger Einstieg in die Dicksche Welt der Science-Fiction, dem im Juli 2021 beim Fischer Verlag endlich wieder eine wohlverdiente Neuauflage spendiert wird.

Wertung: 83 von 100 Treffern

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  • Autor: Philip K. Dick
  • Titel: Hauptgewinn: Die Erde
  • Originaltitel: Solar Lottery
  • Übersetzer: Leo P. Kreysfeld
  • Verlag: Fischer
  • Erschienen: 07/2021
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 224 Seiten
  • ISBN: 978-3596906949

„Das Fleisch eines Mannes ist sein Eigentum; sein Wasser gehört dem Stamm.“

© Heyne

Vorfreude scheint tatsächlich die größte Freude zu sein. Anders lässt es sich jedenfalls nicht erklären, warum sich „Die Kinder des Wüstenplaneten“, der dritte Band von Frank Herberts „Dune“-Zyklus – auf den die Leser nach dem Vorgänger sieben lange Jahre warten mussten – dann 1976 derart erfolgreich (über 1,5 Millionen Exemplare allein als Hardcover) verkaufte.

Von jetzt auf gleich war ein einstmals müde belächeltes Genre wie Science-Fiction Bestseller-fähig, Geschichten von fremden Welten in ferner Zukunft massentauglich und Herbert endgültig Gefangener seines eigenen Erfolgs geworden. Die Fans forderten „Dune“ und er musste liefern. Inwiefern das wiederum die Qualität der folgenden Romane beeinflusst hat, kann nur vermutet werden. Fakt ist jedenfalls: „Die Kinder des Wüstenplaneten“ ist für mich der bis hierhin schwächste Vertreter der Reihe, da er leider genau die Fehler wiederholt, welche noch in „Der Herr des Wüstenplaneten“ ausgemerzt schienen und zudem zu sehr von der Erfolgsformel abweicht, die vor allem den mit Sogwirkung versehenden Auftakt ausgemacht hat. Die Spannung – auf die Herbert zugegebenermaßen noch nie allzu großes Augenmerk gelegt hat – sie wird doch schmerzlich vermisst und eher schlecht als recht durch ellenlange Introspektiven und Was-wäre-wenn-Erwägungen ersetzt. Im Verbund mit der ohnehin im Kern wenig zugkräftigen Handlung ergibt sich ein Roman, dessen Stärken man zwischen den Zeilen suchen und mit einer Wanderung durch die Wüste von Arrakis, der fernen Oase entgegen, vergleichen muss. Zäh, hart, schleppend – aber am Ende halt auch wieder irgendwie doch ein bisschen lohnend.

Kurz zur Geschichte: „Die Kinder des Wüstenplaneten“ spielt neun Jahre nach „Der Herr des Wüstenplaneten“, genauer gesagt im Jahr 10218 (Er schließt also nicht unmittelbar an den Vorgänger an, wie vielerorts fälschlicherweise behauptet). Der Heilige Krieg, der Djihad, welcher die Menschen des Imperiums zum rechten Glauben Muad’dibs bekehren sollte, ist inzwischen beendet und er selbst, getreu einer alten Frementradition, in die Wüste von Arrakis ausgezogen. Niemand kennt sein Schicksal, niemand weiß etwas über seinen Verbleib. An seiner Statt regiert nun seine Schwester Alia mit eiserner Hand über das Imperium, zumindest so lange bis Paul Muad’dibs Kinder, die Zwillinge Leto und Ghanima, alt genug sind, um selbst die Regentschaft zu übernehmen. Doch Zweifel mehren sich, ob es dazu überhaupt kommt und die Härte, mit der Alia zu Werke geht, sorgt für immer größere Unruhen im Herrschaftsgebiet. Hinter ihrem Rücken flüstert man über die „Besessene“. Und in der Tat hat der Geist des alten Feindes des Hauses Atreides, Baron Wladimir Harkonnen, nach und nach Besitz von Alias Bewusstsein ergriffen. Gefangenen in dessen Willen, wird sie zum Werkzeug seiner Rache an „Dune“ und den Atreides.

Das ahnen auch Leto und Ghanima, die entgegen ihrer äußeren kindlichen Erscheinung die Erbanlagen ihres Vaters in sich tragen und damit Zugang auf das Wissen und die Lebenserfahrungen von Generationen von Vorfahren haben. Untergebracht im Sietch des alten Fremen Stilgar, der auch die Vormundschaft über sie ausübt und Alias Wandlung nicht sehen kann oder will, sind sie schon lange nicht mehr sicher. Die Situation spitzt sich noch weiter zu, als Lady Jessica, ihre Großmutter, ihren Besuch ankündigt und gleichzeitig ein blinder Prediger aus der Wüste lautstark seine Stimme gegen die Missstände von Alias Herrschaft erhebt.

Während Leto und Ghanima ihre Flucht planen, richten sich auch andernorts die Blicke auf den Wüstenplaneten, der durch den Verlust seiner Führungsfigur Muad’dib plötzlich wieder angreifbar geworden ist. Farad’n, Sohn des ehemaligen Padischah Imperators Shaddam IV., erkennt in der Schwäche des Hauses Atreides seine Chance, den Thron für sein Haus, die Corrino, zurückzuerobern. Zwischen ihm und diesem Ziel stehen nur zwei Menschen … Leto und Ghanima.

Natürlich ist mit dieser kurzen Zusammenfassung der äußerst komplexe Plot nur ungenügend angerissen, denn wie schon in den beiden vorherigen Bänden der Reihe, so besteht auch „Die Kinder des Wüstenplaneten“ eher aus einem Bündel, als aus einem einzigen roten Pfaden. Mit dem Unterschied, dass sich diesmal das Bündel ziemlich verknäuelt bzw. sich alle Beteiligten Charaktere darin gefallen, über viele Seiten hinweg Dialoge mit sich selbst zu führen, die, unterbrochen von Zukunftsvisionen, einen Großteil des Buches einnehmen und vor allem aufgrund der inhaltlichen Wiederholung beharrlich am Geduldsstrang des Lesers fräsen. Es steht zwar außer Frage, dass dem Ganzen auch hier ein höherer Gedanke innewohnt und Herbert dabei ein Ziel vor Augen hatte, als er dies niederschrieb – man muss jedoch auch festhalten: Dieses Ziel ist mitunter nur als verschwommene Fata Morgana am Horizont sichtbar. Und wir gehen an der Seite des Autors nie die direkte Strecke, sondern über viele Umwege und durch äußerst tiefen Sand. Unbestritten ist dies dem intellektuellen Anspruch der Lektüre geschuldet – nicht umsonst war dieser Zyklus in den 70ern vor allem im Kreise von Studenten sehr beliebt. Doch muss man den Aspekt der Unterhaltung denn gleichzeitig so sehr in den Hintergrund rücken?

Obwohl Herbert gleich mehrere potenzielle Elemente mit einbaut, die für größeren Reiz und auch ein bisschen Dramatik sorgen könnten, versteht er es tatsächlich so gut wie keine davon zu nutzen. Warum bleibt Alia so lange untätig? Warum setzt sich niemand näher mit dem mysteriösen Prediger auseinander? Was für eine Motivation hat eigentlich Stilgar in dem Ganzen? Und überhaupt – was ist eigentlich aus dem Volk der Fremen geworden? Herberts Idee mit der andauernden ökologischen Veränderung von Arrakis auch die Lebensweise und Kultur des Wüstenvolks einem Wandel zu unterziehen, hat durchaus Hand und Fuß. Alte Sitten und Gebräuche gehen verloren. Wasser ist nicht mehr derart kostbar wie früher. Destillanzüge werden in städtischen Gebieten nur noch aus modischen Gründen getragen. All dies sind logische und nachvollziehbare Folgen, können aber nicht erklären, warum sich die Fremen derart kampflos ergeben und zumindest nicht in Teilen Gegenwehr leisten. In „Die Kinder des Wüstenplaneten“ ist das stolze Volk von Kriegern endgültig zu Handlangern degradiert worden, die, wie ihre Gegenüber, die Sardaukar, stoisch auf Befehle warten. Selbst wenn uns die Geschichte ähnliches lehrt (siehe z.B. das Schicksal der Indianer in Nordamerika), so hätte ein kleiner Aufstand (aus den eigenen Reihen!) nicht nur Sinn gemacht, sondern auch der Handlung ein dringend benötigtes Spannungselement hinzugefügt. Mal ganz abgesehen davon, dass mir persönlich mit den Fremen auch die letzten Sympathieträger von Bord gegangen sind.

Die Kinder des Wüstenplaneten“ ist, mehr noch als sein Vorgänger, endgültig eine klassische Dystopie. Wohlmeinende Hoffnungen, dass Pauls Sohn Leto die Fehler seines Vaters vermeidet und der Galaxis zum Frieden verhilft, sind wohl meiner romantisch verklärten Ader zuzuschreiben und finden leider keinerlei Widerhall im Fortlauf der Geschichte. Im Gegenteil: Getreu dem Motto „Es muss alles erst einmal noch schlechter werden, bevor es besser werden kann“ hagelt es auch diesmal allerorten Schicksalsschläge. Das Gute ist inzwischen quasi nicht mehr existent, der Held (besonders nach Letos Wandlung) ungefähr genauso im Aussterben begriffen, wie der durch das Wasser gefährdete Sandwurm. Mitunter fällt es langsam schwer, einen Unterschied zwischen Baron Harkonnens Treiben und dem der Atreides zu erkennen, womit es dem Leser ähnlich geht, wie den Untertanen des Imperiums, für die sich, vom Glauben mal abgesehen, nicht wirklich etwas geändert hat.

Soviel Düsternis und Hoffnungslosigkeit gepaart mit einer Story, die auch zweihundert Seiten weniger gut verkraftet hätte, führen dazu, dass die Lektüre des vorliegenden Romans vor allem eins ist – ein Kraftakt des Willens. „Die Kinder des Wüstenplaneten“ ist ein detaillierter Anschauungsunterricht über die sich wiederholende Geschichte der Menschheit und den großen, altbekannten Fehler einzelner, sich darüber erheben zu wollen. Die Idee dahinter: Facettenreich, verstrickt, mit philosophischem Anspruch und mitunter genial. Die Umsetzung: Nun, sagen wir mal so: Jeder, der an diesem Punkt aus dem Zyklus aussteigt, hat mein vollstes Verständnis. Der sture Ostwestfale in mir flüstert aber grimmig: „Wir sind jetzt so weit gekommen. Wir machen weiter.“

Wertung: 79 von 100 Treffern

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  • Autor: Frank Herbert
  • Titel: Der Herr des Wüstenplaneten
  • Originaltitel: Children of Dune
  • Übersetzer: Frank Lewecke
  • Verlag: Heyne
  • Erschienen: 5/2001
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 656 Seiten
  • ISBN: 978-3453186859

Ein Held, der fällt

© Heyne

1969 war für viele Fans des epischen „Dune“-Romans ein entscheidendes Jahr. Endlich erschien die sehnsüchtig erwartete Fortsetzung „Dune Messiah“ (auf dessen Übersetzung man in Deutschland übrigens sogar noch ganze neun Jahre länger warten musste). Die Reaktionen fielen jedoch in den meisten Ländern gleich aus. Der zweite Band aus der Saga um den Wüstenplaneten wurde von Kritik und Lesern gleichermaßen abgelehnt, vielfach sogar regelrecht zerrissen. Nicht der eher dürftige Umfang von gerade mal knapp 300 Seiten, sondern eine andere Besonderheit war für das schlechte Abschneiden des Romans verantwortlich.

Frank Herbert hat das spannende, fantastisch anmutende Space-Abenteuer auf eine bittere, düstere, ja beinahe destruktive Erzählung zurechtgestutzt und dabei seinen Hauptprotagonisten, Paul „Muad’dib“ Atreides, nach allen Regeln der Schreibkunst rücksichtslos demontiert. Und mit ihm seinen Mythos vom Retter des Universums. Was man am Ende von „Der Wüstenplanet“ allenfalls ahnen konnte, wird hier nun traurige Gewissheit:

Aus dem einstigen Helden, dessen spannungsreichen Aufstieg zum heroischen und ambitionierten Anführer der Fremen man zuvor verfolgte, ist ein Anti-Held geworden.

Die Geschichte spielt zwölf Jahre nach dem Sieg Muad’dibs über den Padischah-Imperator. Nach einem blutigen „heiligen“ Krieg, dem Djihad, welcher das gesamte bekannte Universum überzogen und alle früheren Ordnungen zu Fall gebracht hat, ist Paul Atreides nun alleiniger Herrscher über das Universum. Und er regiert mit grausamer Hand und absoluter Macht. Jeglicher Widerstand wurde von den Fremenlegionen hinweggefegt. Die aus dem Krieg hervorgebrachte Religion verehrt den Muad’dib nun als Gottheit und Heilsbringer. Priester des Qizarat verbreiten seine Botschaft, richten über die Völker in seinen Namen. Ketzer werden verfolgt, gejagt und exekutiert. Die Macht Muad’dibs scheint allumfassend und grenzenlos – doch was nur wenige wissen: Der Herrscher ist selbst ein Opfer seiner Macht, ein Gefangener seiner Visionen geworden. Diese Visionen, welche ihm einst den später von ihm eingeschlagenen Weg aufgezeigt hatten, wandeln sich zusehends in vorbestimmte Pfade, denen er willenlos folgen muss. Aus Chancen und Möglichkeiten sind feste Gewissheiten, der Djihad zum unaufhaltsamen Selbstläufer und der Muad’dib zu einem zum Leben verdammten Märtyrer geworden. Trotz all der Siege und der neu begrünten Umwelt in der Hauptstadt Arakeen – Verfall liegt plötzlich in der Luft.

Ihn riechen auch seine Feinde, welche sich zusehends mehren und im Verborgenen zusammen kommen. Zu den Verschwörern gehört neben den Bene Gesserit, den Navigatoren der Gilde und den amoralischen Tleilax auch Muad’dibs eigene Frau, Prinzessin Irulan. Die Tochter des einstmaligen Imperators Shaddam leidet unter den Umständen ihrer Zwangsheirat, will unbedingt ein Kind, welches ihr ihr Mann, der in Liebe mit der Fremenfrau Chani liebt, verweigert. Ein teuflischer Plan wird geschmiedet, um der Herrschaft Muad’dibs und seines Lebens ein Ende zu setzen …

Ich habe nach all der harschen Kritik und den schlechten Rezensionen ein zähes, langatmiges und trockenes Stück Science-Fiction-Literatur erwartet, welches meiner Freude am „Wüstenplanet“-Zyklus jeglichen Wind und den Spaß an weiteren Bänden nehmen würde – bekommen habe ich einen unbeschreiblich eindringlichen, poetischen, berührenden und spannenden Roman, dessen ruhige, beinahe tonlose Erzählweise als perfekte Leinwand für eine Handlung dient, die zwar manche Hoffnungen (notwendigerweise) enttäuscht, dafür aber eine philosophische Tragweite bietet, dessen Lehrreichtum in diesem Genre konkurrenzlos ist. Pauls Kampf mit sich selbst ist packender als jeder Ritt auf einem Wüstenwurm, seine Auseinandersetzung mit den Visionen derart intensiv inszeniert, dass man unwillkürlich die Seiten fester greifen muss. Es bedarf einer gehörigen Portion Aufmerksamkeit und Konzentration, um die Qualitäten des Romans zu erkennen und zu schätzen – und hier bietet Herbert tatsächlich Einzigartiges.

Es ist dieser gnadenlose, unerbittliche Realismus, welcher „Der Herr der Wüstenplaneten“ zum, meiner Ansicht nach, verkannten Juwel der Reihe macht. Die Art und Weise wie uns Frank Herbert den Niedergang Pauls vor Augen führt. Wie aus einem zaudernden, nachdenklichen Retter und einem Schöpfer des Lebens ein gnadenloser Diktator wird. Und wie dieser Diktator (der sich in der Tradition von Dschingis Khan und Hitler sieht) schließlich, am Höhenpunkt seiner Macht, fast zwangsweise versagt und verliert. Es ist ein hoffnungsloses Bild das der Autor gezeichnet hat und uns mit Dingen konfrontiert, welche man sich im Vorgänger noch nicht vorstellen konnte. Aus dem ehrenvollen Volk der Fremen, furchtlosen Kämpfern der Wüste, sind blinde Gläubiger geworden. Verstümmelte und Krüppel künden von den Schrecken des Krieges, Krankheiten breiten sich aus. Unzufriedenheit bietet besten Nährboden für Verbrechen, Misstrauen und Verrat, den besonders die Tleilax zu nutzen scheinen, deren Wissenschaftler keinerlei Ethik und Moral kennen, und jedermann mit ihren Produkten bedienen.

Mit gnadenloser Schärfe und gleichzeitig mitreißender Stimme zeigt uns Frank Herbert die Schattenseiten der Macht, das aus gutem Willen Böses geschehen kann. Und das nach zwölf Jahren Vernichtungskrieg und tagtäglicher Politik voller Kompromisse aus dem eigentlichen Traum ein Alptraum werden kann, dem man, trotz Beeinflussung der Zukunft, aufgrund unvermeidlicher Abgründe letztlich nicht entrinnen kann.

Um an „Der Herr des Wüstenplaneten“ Gefallen zu finden, muss der Leser einen Aufwand betreiben, der vielen schlichtweg zu viel sein wird. Mir hat die Fortsetzung nicht nur aufgrund der Abwesenheit der üblichen Helden-Hymne, sondern vor allem wegen den demaskierenden Wahrheiten, die immer wieder an die Gegenwart erinnern, noch besser als der Erstling gefallen. Eine tiefsinnige, unheimlich geistreiche und trotzdem (für mich) stets packende Dystopie, die mir wohl sehr lange im Gedächtnis haften bleiben wird. Ganz großes Kino!

Anmerkung: Inzwischen gibt es vom Dune-Zyklus auch eine neue Auflage mit neuer Übersetzung, welche sich näher am Original orientieren soll. Mangels Kenntnis kann ich hierüber keinerlei Aussage geben.

Wertung: 94 von 100 Treffern

einschuss2
  • Autor: Frank Herbert
  • Titel: Der Herr des Wüstenplaneten
  • OriginaltitelDune Messiah
  • Übersetzer: Frank Lewecke
  • Verlag: Heyne
  • Erschienen: 5/2001
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 304 Seiten
  • ISBN: 978-3453186842

Clockwork Bohane

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© Tropen

Es gibt Bücher, da huschen bei einer Rezension die Finger nur so über die Tastatur, kommen die Worte und Sätze wie von selbst, können Gefühle und Gedanken in Sekundenschnelle in die Form eines Textes gebracht werden. Und dann gibt es Bücher, wo man minutenlang nur auf das weiße Word-Dokument starrt, eine enge Hassliebe zu den Tasten „Entfernen“ und „Rückschritt“ entwickelt, wo sich mühsam verkniffen die Augenbrauenbüschel sekündlich näher kommen, weil man schlichtweg nicht in der Lage ist, das Erlesene überhaupt irgendwie verständlich zu verschriftlichen – geschweige denn so, dass es irgendeinen Mehrwert für andere hat, welcher über die reine inhaltliche Zusammenfassung hinausgeht.

Dunkle Stadt Bohane“, das Werk des irischen Schriftstellers Kevin Barry, fällt in eben jene zweite Kategorie, mischt sich unter die elitäre Klientel nicht fassbarer Literatur, die man schwerlich jemandem näher bringen kann, da man ihr selbst einfach nicht nahe genug kommt, sie sich windet, uns Rätsel aufgibt und schwindlig erzählt. Jegliche Herangehensweise bedarf hier scheinbar eines gesunden Maßes an Skepsis und muss behutsam vonstatten gehen – zu groß die Gefahr, von Barrys Sprach- und Fabulierkunst mitgerissen zu werden, welche, wie der fiktive Fluss Bohane im Roman, nachtschwarz dahin rauscht und unsere Sinneseindrücke verfremdet. Western, Dystopie, Gangster-Epos, Noir, Märchen, Tragödie. Dieser in allen Belangen außergewöhnliche Debütroman lässt sich nicht ohne Weiteres in irgendeinem Genre verorten, sperrt sich gegen jeglichen Versuch einer Verankerung, weder in Raum noch in der Zeit. Und wenn letztere dann irgendwann im Verlauf des Buches doch genannt wird, gibt uns „Dunkle Stadt Bohane“ nur mehr Fragen auf. Das ist, was wir wissen:

Irland, im Jahr 2053. Die Stadt Bohane – wie Barry zugibt, eine Reminiszenz und Karikatur seiner Heimatstadt Limerick (geographische Parallelen wie der die Stadt teilende Fluss oder die torfig-moorigen Weiten im Hinterland wären auch nicht von der Hand zu weisen gewesen) – ist auf dem absteigenden Ast. Einst wichtigstes Zentrum an der irischen Westküste, ist sie jetzt nur noch ein abschreckendes Beispiel für die Verwaltung des Verfalls. Die Kontrolle ist von den Höhen der von Stadträten gemachten Politik längst in die Tiefen der verwinkelten Gassen und Straßen übergegangen, durch den der beißend kalte Hartwind der Nichtsöde bläst und rivalisierende Banden mit Messern („Schächder“) patrouillieren – ständig miteinander im Clinch um die untereinander aufgeteilten Stadtviertel, von dem das größte, Smoketown, immer noch von Logan Hartnett und seinen Fancy-Boys beansprucht wird. Doch seine Stellung ist in Gefahr, denn nach 25 Jahren des selbstauferlegten Exils kehrt sein alter Rivale, der Gant Broderick, zurück nach Bohane – um den Kampf um die Macht und das Herz einer Frau, Logans Frau, fortzusetzen. Dieser muss handeln, denn auch seine Untergebenen sehen nun die Zeit gekommen, selbst nach der Macht zu greifen …

Weltschmerz, Wehmut, Abschied, Sehnsucht. „Dunkle Stadt Bohane“ ertrinkt geradezu in einer düsteren Melancholie, die sich – wie der Nebel des Atlantiks im Buch – durch die verwinkelten Schluchten der Metropole ergießt, Türen und Fenster durchdringt, und Gefühle wie Liebe und Freude noch im Ansatz erstickt. Jede Bewegung ist zähflüssig, jeder Fortschritt erlahmt. Die Bewohner ergehen sich in nostalgischen Diskussionen über das Früher und das Damals, hegen und pflegen ihre alten Espresso-Maschinen, lauschen dem Klang des klassischen Jazz oder ergötzen sich – wie Girly, die greise und doch immer noch mächtige Mutter von Logan Hartnett – an den alten Hollywoodschinken der 30er bis 50er Jahre. Obwohl in der Zukunft spielend, ist Barrys Werk der Gegenentwurf zu einem „Blade Runner“ von Philip K. Dick, eine Hymne an das rückwärtsgewandte Denken und den zivilisatorischen Stillstand. Annehmlichkeiten werden hier nicht erarbeitet, sondern konserviert und dann mit Zähnen und Klauen verteidigt – wohlgemerkt ohne Schießeisen, welche ebenso durch Abwesenheit glänzen wie Autos, Mobiltelefone und das Internet. Warum dem so ist, was dazu geführt hat, dass Bohane vom digitalen in das analoge Zeitalter zurückgefallen ist – das lässt Barry offen. Vergangenes ist nur insofern relevant, wie es die handelnden Figuren betrifft.

Irgendwie ist dies aber auch für uns als Leser nicht weiter von Belang, wie man überhaupt darüber hinwegsieht, dass die Handlung an sich relativ wenig Substanz hat bzw. keine größeren Risiken angeht, was den grundsätzlichen Aufbau der Geschichte angeht. Doch warum sollte man sich auch das Innere, den Kern näher anschauen, wenn das Äußere derart kunstvoll, ungewöhnlich, ja, und manchmal auch überbordend grotesk daherkommt. Ein Äußeres, für das zwar Kevin Barry verantwortlich zeichnet, die deutschen Leser aber in erster Linie den Hut vor Übersetzer Bernhard Robben ziehen müssen, der weit über seine eigentlichen Aufgaben hinaus, einen eigenen Stil finden musste, um den stark vom örtlichen Dialekt und dem Gälischen durchsetzten englischsprachigen Text ins Deutsche zu übertragen. Mangels einer hiesigen Entsprechung und in Anbetracht der Tatsache, dass sich Barry hier mehr als nur ein wenig von Burgess‚ „Clockwork Orange“ hat inspirieren lassen, wurde Altes mit Neuem vermischt und die Alliteration gesucht, wo immer man ihrer habhaft werden konnte – herausgekommen ist ein anglisierter Jugendslang („Checkste“) mit deutlich altertümlicher Patina. Eine Sprache, die man so noch nicht kannte und welche die aus allen Poren tropfende Andersartigkeit dieses Werks, diese ganz spezielle Atmosphäre noch zusätzlich betont.

Über mehr als 200 Seiten ist es auch diese Atmosphäre, welcher der noiresken und doch auch irgendwie shakespearhaften Tragödie Berechtigung verleiht, sie über die Trivialität erhebt und dieses dreckige Durcheinander aus Fäusten und Messern, aus Wünschen und Gelüsten – kredenzt in cineastischen Schnitten – erträglich und letztendlich auch lesenswert macht. Die überzeichneten Figuren, die übergroße Inszenierung – das alles wirkt durch den Vielklang von Barrys Sprache, wirkt im Zwielicht der Stadt Bohane. Und nur dort, weshalb ich wohlweislich darauf verzichte, Passagen zu zitieren, die, herausgerissen aus ihrem künstlichen Rahmen ihren Halt und damit ihre Glaubwürdigkeit verlieren würden. Doch bei all dieser stilistischen Kunst und Experimentierfreudigkeit Barrys – über die volle Distanz kann sein Debütroman mich dann letztlich nicht überzeugen.

Solange seine Fabulierkunst das stimmungsvolle Geschehen vor sich her treibt – so lange ist man gewillt und in gewissen Sinne auch ehrfurchtsvoll genötigt, zu folgen. Kevin Barry gelingt es aber meines Erachtens nicht, den Faden bis zu seinem Ende durchzuweben, weshalb der Roman kurz vor der Ziellinie und dem erwarteten Crescendo in ein Loch fällt, aus dem er sich dann auch nicht mehr befreien kann. Hier versandet der nachtschwarze Fluss Bohane – nicht jedoch, ohne vorher noch einmal nachhaltig unsere Gefühle zu umspülen.

So kalt diese irische Metropole ist – kalt lassen, tut uns die Dunkle Stadt, dieses Clockwork Bohane dann doch nicht. Was bleibt ist eine einprägsame und vor allem einzigartige Lektüre, die sicherlich nicht jedermann liegen wird, aber gerade dadurch, dass sie sich einen Dreck um Konventionen schert, den literarischen Horizont des Kriminalromans um eine weitere Facette erweitert. Man darf gespannt sein, was Kevin Barry in der Zukunft (oder sollte ich doch sagen in der Vergangenheit?) noch für uns bereithält.

Wertung: 84 von 100 Treffern

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  • Autor: Kevin Barry
  • Titel: Dunkle Stadt Bohane
  • Originaltitel: City of Bohane
  • Übersetzer: Bernhard Robben
  • Verlag: Tropen
  • Erschienen: 02.2015
  • Einband: Hardcover
  • Seiten: 304 Seiten
  • ISBN: 978-3328101543

It’s the End of the World as We Know It …

© Heyne

Stephen Kings „The Stand – Das letzte Gefecht“ gehört nicht nur zu den bekanntesten und beliebtesten Büchern aus dem riesigen Gesamtwerk des „King of Horror“ – es ist gleichzeitig auch sein Titel mit der höchsten Anzahl an Seiten, was insofern erwähnenswert ist, da der amerikanische Autor seit jeher nicht mit Worten geizt und aufgrund dessen in vielen heimischen Bücherregalen das Platzangebot oftmals erheblich beschränkt. Dazu sei allerdings gesagt: Nur die wenigsten Besitzer seiner Romane werden den Erwerb und letztlich auch die Lektüre bereut haben, was schlichtweg an der Tatsache liegt, dass es King stets aufs Neue schafft, den roten Faden seiner Geschichten trotz ausschweifender Ausschmückungen zielgerichtet mit dem Spannungsbogen zu verbinden. Ein Markenzeichen dieses Schriftstellers, das jedoch Ende der 70er Jahre noch auf den Prüfstand durfte.

King, damals noch ein talentierter Autor unter vielen, musste sein geniales Epos über einen von Menschen selbst verursachten Weltuntergang auf Wunsch des Lektorats zurechtstutzen. Ein Manuskript mit über 1.200 Seiten von jemanden, der sich noch keinen großen Namen gemacht hatte, war schlichtweg nicht an den Mann, und schon gar nicht auf den Markt zu bringen. Erst ganze zwölf Jahre später sah King sich in der Lage, den Roman in seiner ursprünglich erdachten, ungekürzten Art und Weise veröffentlichen zu können. Das Ergebnis war die inzwischen vergriffene zweibändige Ausgabe des Bastei Lübbe Verlags. Inzwischen liegen auch die Rechte für die ungekürzte Version von „The Stand“ ebenfalls beim Heyne Verlag (Die atmosphärischen Illustrationen von Bernie Wrightson fehlen leider in dieser Neuauflage, dafür ist das Schriftbild wesentlich lesefreundlicher).

Nun stellt sich für viele interessierte Käufer natürlich die Frage: Muss es denn unbedingt diese ungekürzte Fassung sein oder hat King die Handlung hier lediglich künstlich aufgebläht, um Geld zu scheffeln? Eine Antwort kann ich mangels Kenntnis der 78er Ausgabe leider nicht geben, aber zumindest soviel sagen: Als Einstieg in das Werk des Autor bzw. in das in vielen Dingen zusammenhängende Universum seiner Romane, taugt die vorliegende Ausgabe nur bedingt, da die immer wieder kritisierten Längen in Kings Büchern hier besonders zutage treten und auch sonst viele Elemente im wahrsten Sinne des Wortes epische Ausmaße annehmen. (Übrigens wieder mal ein Vergnügen Kings Vorwort zu lesen, in dem er diese „Kritik“ annimmt und seine Gründe für die Veröffentlichung des Romans schildert) Viele hunderte Charaktere, dutzende Nebenhandlungen und Nebenschauplätze, kleinere Geschichten inmitten des eigentlichen Plots. „The Stand“ setzt in Punkto Detailreichtum und Weitläufigkeit gleich in vielerlei Hinsicht Maßstäbe, welche bis heute gelten. Der Klappentext gibt darüber nur wenig Aufschluss, sei aber hier kurz angerissen, um einen kleinen Überblick über den Inhalt zu geben:

Mitte des Jahres 1990 kommt es in einer Forschungsstation der US-Army zu einem folgenschweren Zwischenfall. Ein mit einem mutierten Grippevirus infizierter Mitarbeiter des Labors flüchtet aus dem Hochsicherheitstrakt, steckt in Windeseile seine Familie an und überträgt das bald als „Captain Trips“ bekannte Virus nach einem Unfall an einer Tankstelle nochmals an mehrere weitere Personen. Das Militär versucht noch die Epidemie einzudämmen, scheitert aber an dessen schneller Verbreitung. Schon nach wenigen Tagen bricht die staatliche Ordnung komplett zusammen, fallen die Menschen zu Tausenden und bald Millionen „Captain Trips“ zum Opfer. Für kurze Zeit herrschen Chaos und Anarchie, bis sich schließlich eine erdrückende Stille über die USA (und wohl auch den Rest der Welt) legt. 99,4 der Bevölkerung sind am Virus gestorben. Ganze Metropolen sind verweist, unzählige Staus mit Autos voller toter Insassen blockieren die Highways. Auch Pferde und Hunde haben die Epidemie in den meisten Fällen nicht überlebt.

Die wenigen tausend Menschen, die sich als immun erwiesen haben, irren nun in kleinen Gruppen durch die entvölkerten Staaten, stets auf der Suche nach Nahrung, medizinischer Hilfe oder sonstigen Überresten der Zivilisation. Alle haben Partner, Familie und Freunde verloren, viele die Hoffnung darauf, dass es je wieder besser wird. In dieser düsteren Zeit träumen einige von einer alten, schwarzen Frau, die vor ihrem Haus in einem Maisfeld Gitarre spielt. Mutter Abagail Freemantle ruft sie zu sich nach Nebraska – und die Überlebenden, anfangs noch etwas verwirrt, folgen dem Ruf. Doch unter ihnen sind auch einige, die in den Einflussbereich einer anderen Person geraten. Inmitten der Wüste, in Las Vegas, sitzt Randall Flagg, der dunkle Mann, der wandelnde Geck – wie eine Spinne in seinem Netz. Die Verkörperung des Bösen ist Abagails Gegenspieler.

Und während ihre Jünger in Colorado die Freie Zone Boulder gründen, beginnt Flagg weiter westlich mit der Wiederaufrüstung. Als Bringer der Apokalypse will er die Menschheit in das letzte Gefecht führen. Das letzte Gefecht zwischen Gut und Böse …

Voran: Wer Gefecht jetzt wörtlich nimmt und befürchtet, dass hier zwei primitive Armeen aus Zivilisten gegeneinander in eine gewaltige Schlacht ziehen, dem kann diese Angst gleich genommen werden, da Stephen King sich selten für den einfachen und noch seltener für den offensichtlichen Weg in seinen Erzählungen entscheidet. So wird auch in „The Stand“ der Konflikt auf menschlicher Ebene geschildert und ausgetragen, das Ringen von Gut und Böse zu einem Wettbewerb von Idealen. Der Glaube an Gott auf der einen und die Versuchung des teuflischen Randall Flagg (ihm begegnen wir auch in der Saga vom „dunklen Turm“ und in „Das Auge des Drachen“) auf der anderen. Einem theologischen (und manchmal auf philosophischen) Schachspiel gleich, bringt Stephen King die Figuren nach und nach in Stellung, werden Bauern vorgeschoben und geopfert, um den Weg für andere frei zu machen, und dem Gegner den finalen Stoß zu versetzen. Doch bis es dazu, bis es überhaupt zu einem Treffen der beiden Lager kommt, vergehen viele Seiten, in den sich der Autor auf das konzentriert, was er am besten kann – die Figuren auf dem Papier vor den Augen des Lesers zu lebendigen Menschen werden zu lassen.

Sieht man sich die Zahl der Charaktere an, die „The Stand“ bevölkern, wird klar, dass es schon des Kalibers eines Stephen King bedarf, um die sonst an dieser Stelle resultierende Oberflächlichkeit zu überwinden und dem Plot die dringend benötigte Tiefe zu verleihen. Geschickt und mit feiner Feder verwebt er die Schicksale der einzelnen Figuren, erzählt er ihre Geschichten, hebt King ihre Eigenheiten, ihre Stärken und Schwächen hervor. Dafür braucht es Zeit und natürlich auch Seiten, wenngleich diesem Aufwand ein Lohn folgt, der vielen anderen vergleichbaren Romanen gänzlich abgeht – Menschlichkeit. So abgedreht, unwirklich und unfassbar die Szenarien bei King oft sind (und im Falle von „The Stand“ ist dies gar nicht mal der Fall – schnäuzende Mitmenschen waren mir über Tage plötzlich ein Gräuel), ihre Wirkung können sie nur deshalb entfalten, weil sie allesamt zu einem gewissen Grad und manchmal noch darüber hinaus glaubhaft, nachvollziehbar, auf gefühlsmäßiger Ebene verständlich sind. Die Angst eines Larry Underwood erneut jemanden zurücklassen zu müssen. Die Trauer einer Frannie Goldsmith um ihren geliebten Vater. Die Unsicherheit des taubstummen Nick Andros plötzlich andere führen zu müssen. All das versteht der Leser nicht nur mittels der Vernunft, sondern weil King – und das mag kitschig klingen, trifft nichtsdestotrotz den Punkt – unser Herz berührt. Die Barriere zwischen dem Leser und der fiktiven Figur – sie wird durch die Art, wie King uns seine Geschichte erzählt, schnell niedergerissen.

Ein weiterer Grund dafür ist auch die Tatsache, dass der Autor Schwarz-Weiß-Malerei und das dadurch unvermeidbare Heldentum umgeht – etwas das angesichts dieses doch sehr offensichtlichen Gut-Böse-Gott-Teufel-Konflikts gar nicht so einfach ist. Doch King wäre nicht King, wenn er auch nicht diese Hürde mit Leichtigkeit überspringen und in den Entwicklungen der Charaktere die ein oder andere Überraschung mit einbauen würde. Dies ist wiederum nicht nur der Spannung zuträglich, sondern verdeutlicht auch noch einmal, dass man es mit normalen Menschen in einer Ausnahmesituation zu tun hat, welche in ihrer Furcht, und manchmal auch in gutem Glauben, zur falschen Zeit die falsche Wahl treffen. Diese Fehlentscheidungen, diese schicksalhaften Begegnungen und Entscheidungen, die Frage „Was-wäre-gewesen-wenn“, sind der Motor dieser weit verästelten Geschichte, in der Freud und Leid eng zusammenhängen, in der aus Gutem Böses entsteht und böse Absichten Gutes zur Folge haben können. Sie sind letztendlich auch für die Dynamik verantwortlich, welche die Handlung auch durch Passagen trägt, in denen der eigentliche Plot nicht vorangetrieben wird und King sich Zeit für die Fransen an seinem roten Faden nimmt.

Bestes Beispiel ist Glen Bateman, dessen soziologische Ausführungen sicherlich dem Tempo wenig zuträglich, dafür aber erschreckend visionär sind und den Glauben an die Menschheit in den Grundfesten erschüttern. Die Szenarien, welche er für die nahe Zukunft vorherzusehen glaubt, ernüchtern gerade durch ihre Nachvollziehbarkeit und lassen letztendlich auch den Schluss des Romans nochmal in einem anderen Licht erscheinen. Es ist schon beinahe unangenehm, wie gut King – und selten hat man den Autor in einer Figur genauer wiedererkannt – unsere Schwächen, Ängste und unsere Fehler erkennt. Und mit welch trauriger Resignation uns hier der Spiegel vor Augen gehalten wird.

Es ist daher einfach zu behaupten, dass „The Stand“ nur ein weiteres Weltuntergangsszenario, eine Dystopie unter vielen ist. Schaut man sich die Interpretationen der Neuzeit an (man betrachte allein die Welle an Zombie-Filmen, allen voran die Serie „The Walking Dead“), erkennt man nicht nur Kings Verdienst. Man muss auch eingestehen, dass der Meister des Horror selbst in dieser Hinsicht über jeden Zweifel und vor allem jeden Vergleich erhaben ist.

The Stand“ ist in Form, Umfang, Detailreichtum und auch Liebe zu eben jenen Details ganz sicher ein epochales Meisterwerk, das aber – und das unterscheidet das Buch meiner Ansicht nach von Werken wie „Es“ – ein ums andere Mal etwas vom Weg abkommt. Man könnte auch sagen – mit King sind hier stellenweise sprichwörtlich die Gäule durchgegangen. Kein unbegründeter Vorwurf, gesteht doch der Autor selbst ein, dass viele seiner Charaktere (und es müssen verdammt viele ihr Leben lassen) nur deshalb gestorben sind, weil er nicht wusste, was er mit ihnen noch anfangen sollte. Gerade für King-Neueinsteiger ist das eine bittere Erfahrung, da das Ableben oft sehr plötzlich kommt und (zumindest in meinem Fall) vor allem die tragenden, besonders interessanten Figuren die Zeche zahlen müssen.

Subtrahiert man diese Schwächen bleibt ein Wälzer von Roman, der trotz seines Alters so aktuell ist wie schon lange nicht mehr und die erst kürzlich eingedämmte Verbreitung des Ebola-Virus aus einem noch ganz anderen Blickwinkel einschätzen lässt. Ängste und Unsicherheit gibt es bei der Lektüre von „The Stand“ inklusive, was ein im Sessel sitzender Stephen King in seinem Haus in Bangor, Maine sicher mit zufriedener Miene und reibenden Händen zur Kenntnis nehmen dürfte:

„Ich habe es wieder einmal geschafft. Ich habe euch Angst gemacht.“

Wertung: 91 von 100 Treffern

einschuss2
  • Autor: Stephen King
  • Titel: The Stand – Das letzte Gefecht
  • Originaltitel: The Stand
  • Übersetzer: Harro Christensen, Joachim Körber, Wolfgang Neuhaus
  • Verlag: Heyne
  • Erschienen: 03.2016
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 1712 Seiten
  • ISBN: 978-3453438187