Der lange Weg nach Norden

© Rowohlt

Wenn etwas nicht kaputt ist, repariere es nicht. Ganz nach dieser Erfolgsformel haben sich in den vergangenen Jahren viele Autoren und Autorinnen auf die höchsten Plätze der Bestsellerlisten katapultiert, in Sicherheit gewogen von der Erkenntnis, dass ihr Lesepublikum auch noch für den drölfzigsten, nach Schema F zusammengezimmerten Band in die Tasche greifen wird. Veränderung, Innovation, Experimente – alles unnötiger Ballast, welcher die eigene Klientel nur unnötig verschrecken oder im schlimmsten Fall gar überfordern könnte. Gut, hierin liegt natürlich eine gewisse Übertreibung meinerseits, aber es ist nicht wegzudiskutieren, dass manch einer inzwischen so gar kein Risiko mehr eingeht – was sich besonders dann zum Ärgernis entwickelt, wenn schon das eigentliche Fundament einer Serie nur den Tiefgang eines Nichtschwimmerbeckens im Hochsommer aufweist.

Was hat das nun mit Bernard Cornwell zu tun? Nun, er gehört zu jener raren Zunft von Schriftstellern, welche die Variation auf kleinstem Raum auf eine Art und Weise gemeistert haben, die insbesondere im Genre des historischen Romans bis heute seinesgleichen sucht. Obwohl auch er sich bei seinen Romanen aus der Reihe um die Söldnerseele Uhtred (oder auch bei der Figur Richard Sharpe) vor allem auf das Konzept des „Villain of the Week“ stützt, besitzt er doch gleichzeitig die erstaunliche Fähigkeit, dies stets in einem frischen, neuen und vor allem mitreißenden Gewand zu präsentieren, wodurch sich der Leser schließlich mehr als willig am Nasenring durch die Manege ziehen lässt. Mehr noch: Die Bücher stellen quasi das literarische Äquivalent zur Popcorntüte im Kino dar – einmal angefangen, kann man nicht anders, als, scheinbar vollkommen willenlos, alles weitere in sich hineinzustopfen. Und so war es dann auch für mich nur folgerichtig, nach dem Ritt mit dem „weißen Reiter“ nun den Weg zu den „Herren des Nordens“ mit anzutreten.

Der dritte Band beginnt knapp einen Monat nach der Schlacht von Ethandun (Edington) im Mai 878, in welcher es Alfred von Wessex endlich gelungen war, den dänischen Invasoren eine herbe Niederlage zuzufügen. Vom sächsischen Heer in einer alten Festung umlagert, hatten sie schließlich kapituliert und ihr Anführer Guthrum einem Frieden zugestimmt. Und nicht nur das: Guthrum ließ sich gar taufen, nahm den Namen Æthelstan an und erhielt im Gegenzug von seinem Paten Alfred die Anerkennung als König von East-Anglien. Seitdem sind die restlichen Dänen aus Wessex abgezogen und haben sich weiter nördlich des mittleren Merciens ihr eigenes „Danelag“ etabliert – ein raues Land, das bis an die Nordspitze Northumbriens reicht und von gleich mehreren Königen beherrscht wird. Uhtred, der beim Sieg bei Ethandum eine entscheidende Rolle gespielt hat, ist über seine eigene Belohnung mehr als verbittert, wurde er doch mit einem kleinen Stück Land abgespeist, das kaum vier Familien ernähren kann. Er fühlt sich wieder mal von Alfred verraten, kehrt Wessex kurzerhand den Rücken und reitet ebenfalls gen Norden, um endlich sein Erbe, die Bebbanburg, zurückzuerobern.

Ein Ziel, das sich nur mit einer Armee erreichen lässt, weshalb Uhtred auf seinem Weg den Sklaven Guthred befreit, Sohn des dänischen Grafen Hardnicut, dem es bestimmt sein soll über Northumbrien zu herrschen und wie Alfred, der Große, den Dänen eine vernichtende Niederlage beibringen will. Eine Aufgabe, welcher der naive Guthred nicht gewachsen zu sein scheint – zumindest auf den ersten Blick. Als Uhtred hinter die wahren Pläne des ehrgeizigen Grafensohns kommt, der immer mehr den Einflüsterungen der Priester erliegt, ist die Falle bereits zugeschnappt. Er wird gefangen genommen und an den Sklavenhändler Sverri verkauft. Als Ruderer auf einem Schiff beginnen für ihn nun Jahre der Gefangenschaft. Doch Uhtred gewinnt nicht nur in dem Iren Finan einen neuen Freund, sondern eines Tages auch die Freiheit. Und sinnt auf Rache …

Nach der Lektüre von „Das letzte Königreich“, dem Auftakt der sogenannten „Sachsen“-Saga, war noch nicht abzusehen, dass mir Cornwells Epos tatsächlich auf lange Sicht Freude bereiten könnte. Zu sehr war man geprägt von anderen Mittelalter-Titeln aus dem Bereich des historischen Romans, welche, bei aller Authentizität und genauer Recherche, dennoch nicht selten vor allem eine gewisse Gemütlichkeit ausstrahlen, von edlen Rittern berichten, die sich wiederum ein Leben lang mit ekelerregenden Bösewichten herumplagen müssen – zumeist vor der Kulisse eines kleinen Dorffleckens, dessen Häuserdächer im Glanz der Sommersonne zu leuchten scheinen. Nein, natürlich hat es schon andere Autoren wie Noah Gordon oder auch Umberto Eco gegeben, die sich hinsichtlich der wahren Verhältnisse um weit größere Akkuratesse bemüht haben – eine solche Konsequenz wie Bernard Cornwell, sie jedoch hat keiner vorgelegt. Uhtreds Welt besteht aus schlammverseuchten Weihern, von Regen durchweichten Wiesen, Fäkalien übersäten Burghöfen und blutdurchtränkten Schlachtfeldern. Hunde haben die Räude, das Vieh verreckt an Hunger auf den Feldern – und die Menschen, nun auch sie zeigen durch die Bank weg vor allem ein hässliches Antlitz, befinden wir uns doch im frühen Mittelalter, wo selbst die Könige in düsteren Hallen hausen, die man heutzutage allenfalls noch als Geräteschuppen verwenden würde.

Kurzum: Bernard Cornwell ist sehr daran gelegen, diese Zeit nicht künstlich zu verklären, um stattdessen eine längst vergangene Welt möglichst genau zum Leben zu erwecken, was im Umkehrschluss dann aber auch bedeutet, die sie besiedelnden Figuren ebenfalls entsprechend zu zeichnen. Von den adligen Familien abgesehen, welche im Dunstkreis ihrer Könige und Grafen um Aufmerksamkeit und Einfluss buhlen, interessiert sich kaum jemand im Volk der Sachsen oder Dänen für das Wirken der Mächtigen. Jeder Tag ist in erster Linie ein Kampf ums Überleben, ein Kampf darum Essen auf den Tisch zu bekommen oder sich etwaiger Gefahren – sei es tierischer oder menschlicher – zu erwehren. Hat man dies erst einmal verstanden, überträgt sich auch die Faszination von Uhtred auf den Leser, der immer wieder seine Bündnisse bricht und die Seiten wechselt, stets auf den eigenen Vorteil bedacht und mit dem langfristigen Ziel in Sicht, sein Erbe aus den Händen des verräterischen Onkel Ælfric zurückzugewinnen. Ihn als gutmütigen, empathischen Menschen zu skizzieren würde nicht nur seinem Umfeld zuwiderlaufen – es würde auch letztlich seine ganze Motivation torpedieren.

Fundament sind dabei für Cornwell stets vor allem die in der Angelsachsenchronik überlieferten Ereignisse, deren sichere Pfade er in „Die Herren des Nordens“ diesmal aber erstmals verlässt, gibt es doch gerade über die Geschehnisse in Mercien und Northumbrien aus dieser Zeit bis heute nur wenige geschichtliche Quellen. Ein Umstand, welcher selbst dem historisch bewanderten Leser kaum auffallen dürfte, macht zwar der Autor von dem Raum für dichterische Freiheiten, den das Dunkle Zeitalter zweifellos bietet, reichlich Gebrauch, ohne dabei jedoch die durch Fakten gesetzten Grenzen zu übertreten. Mehr noch: Cornwell geht im dritten Band nun nochmal weit näher auf den steigenden Einfluss der Religionen im Konflikt zwischen Sachsen und Dänen ein. Insbesondere die christliche Kirche hat nun in König Alfred einen mächtigen Befürworter, der es, trotz übertriebener Frömmigkeit und gesundheitlichen Problemen, im Verlaufe der letzten Jahre geschafft hat, die Sachsen unter sich zu vereinen – und viele Ungläubige zu Jesus Christus zu bekehren. Dass ausgerechnet Uhtred sich beharrlich weigert, sich taufen zu lassen, macht ihm gleich mehrere Feinde, die sich im vorliegenden Band nun mehr und mehr herauskristallisieren.

Da es auch auf dänischer Seite derer genug gibt, wird Uhtred zu einem Heimatlosen, der zwischen den beiden Kulturen und Völkern gefangen ist, sich mal der einen, mal der anderen zugehörig fühlt – und damit gleichzeitig ein perfektes Werkzeug darstellt, um den jeweiligen Gegner auszuspionieren. Sachsen und Dänen haben dabei eins gemeinsam: Sie unterschätzen Uhtred, der nicht nur ein gefürchteter Krieger, sondern vor allem ein listiger Stratege ist, welcher selbst aus einer verhängnisvollen Lage wie dem Sklavendasein noch seinen Vorteil zu ziehen vermag. So schließt er bei seinen Reisen durch die Nordsee – sie führen ihn unter anderem auch in das damalige Handelszentrum Haithabu im heutigen Schleswig-Holstein – neue Freundschaften, nutzt die Gier seiner Feinde für seine eigenen Zwecke aus. Macht ihn das sympathisch? Definitiv nein. Und auch sein Verhalten gegenüber den Frauen kann allenfalls als zweckmäßig bezeichnet, wenngleich im Hinblick auf Gisela vielleicht tatsächlich so etwas wie Liebe andeutet.

Doch sind wir am Ende ehrlich. So lebendig auch Cornwell diese dunkle Zeit auf Papier bringt – deswegen allein lesen wir seine Saga natürlich nicht, denn die herausragendste, ja, beeindruckendste Fähigkeit legt der Brite einfach bei der Beschreibung seiner Schlachten an den Tag. Und auch hier weiß „Die Herren des Nordens“ einmal mehr auf allerhöchstem Niveau zu punkten. Die Belagerung Dunholms (das heutige Durham) ist derart spannend und plastisch in Szene gesetzt, dass uns selbst als Leser das Blut in den Ohren rauscht, wenn Uhtred und seine Kameraden, darunter auch der mutige Priester Beocca, beim Sturm auf die Holzbarrikaden ihr fürchterliches Kampfesgeheul anstimmen. Dass es im Verlaufe dieser Schlacht noch zu einigen überraschenden Wendungen kommt, setzt dem Ganzen dann die wohlverdiente Krone auf.

Spätestens jetzt sollte auch der letzte Leser dieses arrogante Arschloch Uhtred in sein Herz geschlossen haben, der natürlich am Ende wieder von seinem eigentlichen Weg abkommt, weil die Spinnerinnen am Fuße des Weltbaumes vorerst anderes mit ihm im Sinn haben. „Die Herren des Nordens“ ist der bis hierhin beste Teil einer in diesem Genre einzigartigen Romanreihe. Wer mehr über die Zeit von Alfred, dem Großen, über die Christianisierung Englands und über den jahrzehntelangen Konflikt zwischen Sachsen und Dänen wissen will – der kommt endgültig an Bernard Cornwell nicht mehr vorbei.

Wertung: 90 von 100 Trefferneinschuss2

  • Autor: Bernard Cornwell
  • Titel: Die Herren des Nordens
  • Originaltitel: The Lords of the North
  • Übersetzer: Karolina Fell
  • Verlag: Rowohlt
  • Erschienen: 01.2008
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 480
  • ISBN: 978-3499245381

Schnee, der auf Leichen fällt

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In Punkto Marketing hatte der Rowohlt Verlag in diesem Fall damals wirklich alles richtig gemacht. Pünktlich zum ersten Frost kam John Rectors Debütroman mit selbigem Namen, im Original unter dem Titel „The Cold Kiss“ in den USA veröffentlicht, auf den deutschen Büchermarkt. Und tatsächlich hält die äußere Aufmachung hier mal was sie verspricht, denn „Frost“ bietet eiskalte Unterhaltung, welche aufgrund der eindringlichen und stimmungsvollen Bilder besonders in der Winterzeit genossen werden sollte.

Wie schon Gerard Donovans „Winter in Maine“ oder Jo Nesbøs „Schneemann“, so lebt auch Rectors Erstling von der Schilderung der weißen Pracht, wenngleich er, soviel sei vorab schon verraten, die stilistische Qualität der beiden erstgenannten nicht erreicht. Dem Lesevergnügen tut das letztlich aber keinen Abbruch, da der aus Colorado stammende Schriftsteller sich stark an den Themen der klassischen Roadmovies der 70er Jahre orientiert und, wie seine Kollegen Scott Phillips oder Elmore Leonard, für seine Story kein Wort zu viel verbraucht. Und die ist auch dementsprechend schnell erzählt:

Die Vergangenheit hinter sich lassen. Ganz neu anfangen. Für Ex-Häftling Nate und dessen schwangere Freundin Sara ist die Fahrt nach Reno die Reise in eine bessere Zukunft. Doch der Weg ist beschwerlich, denn der harte Winter hat viele Straßen unpassierbar gemacht und verlangsamt ihr Vorankommen. In dem Diner einer Tankstelle gönnen sie sich die wohlverdiente Pause, die vor allem Nate, der nach einem Unfall vor vielen Jahren unter schlimmen Kopfschmerzen leidet, dringend braucht. Während des Essens fällt ihnen ein augenscheinlich schwer kranker, hustender Mann an der Theke auf, der sich kaum noch auf den Beinen halten kann. Auf Drängen Saras hin bietet Nate dem Mann seine Hilfe an, welche dieser anfangs noch schroff ablehnt. Doch als sich das junge Paar wieder auf den Weg machen will, bittet er die beiden schließlich doch noch darum, ihn ein kleines Stückchen mitzunehmen. Besonders Nate ist davon wenig begeistert. Er traut dem Fremden nicht. Andererseits können er und Sara die angebotenen 500 Dollar des Mannes aber gut gebrauchen. Widerstrebend willigt er ein.

Trotz der Warnungen der Bardame vor einem drohenden Blizzard fahren die drei auf der geplanten Strecke weiter, bis der immer schlimmer werdende Schneesturm ein Weiterkommen gänzlich unmöglich macht. Nate und Sara stecken nun in einer Zwickmühle, denn der Zustand des Mannes hat sich rapide verschlechtert. Schon bald ist er gar nicht mehr ansprechbar. Da taucht plötzlich hinter dem Vorhang aus weiß ein abgelegenes Motel auf. Schnell steuert man den Parkplatz an, nur um dort festzustellen, dass der Mann mittlerweile nicht mehr atmet. Als Nate ihn sich näher anschaut, entdeckt er eine Schusswunde unter dessen Hemd. Und damit nicht genug. Sowohl im Rucksack als auch im Koffer befindet sich eine riesige Menge Geld. Was ist nun zu tun? Entgegen Saras Wunsch, die Polizei über das Ableben des Mannes und dessen Habseligkeiten zu informieren, beschließt Nate das Geld zu behalten und die Leiche heimlich zu entsorgen. … die Probleme lassen naturgemäß nicht lange auf sich warten.

John Rector hat mit „Frost“ den Krimi ganz sicher nicht neu erfunden. Ganz im Gegenteil. Die Reminiszenzen an gute, alte Gauner- und Westerngeschichten schimmern immer wieder zwischen den Zeilen durch. Der klassische Plot besticht durch eine klare Linientreue. Und was bereits damals funktioniert hat, das entfaltet, in den richtigen Händen, auch heute noch seine kühle Eleganz. Dieses richtige Händchen beweist Rector in „Frost“ ohne Zweifel. Er hat sich die gleiche, kahle Sprache zu Eigen gemacht, und, statt einer weiteren aus vielfachen und ins Leere laufenden Strängen bestehenden Handlung, eine schnurgerade und schnörkellose Geschichte aufs Papier gebracht, die unerbittlich ihren Lauft nimmt und auf detaillierte Charakterisierungen ebenso verzichtet wie auf jeglichen moralischen Aspekt. Wo die Trennlinie zwischen Gut und Böse zu ziehen ist, wird komplett dem Leser überlassen. Genauso die Frage, wie man anstatt Nates oder Saras gehandelt hätte, die beide durch eine falsch getroffene Entscheidung eine Lawine in Gang gesetzt haben, welche am Ende nicht mehr zu kontrollieren ist. Und wie eben jene Schneelawine, so verselbständigt sich auch letztlich Rectors Geschichte. Trotz der Versuche von Ich-Erzähler Nate, die Dinge in Ordnung zu bringen und ohne Schaden aus dem Ganzen herauszukommen, verliert er nach und nach die Kontrolle über die Situation. Und ihm dabei über die Schulter zu schauen, macht die Spannung dieses Romans aus.

Man weiß, dass etwas Schreckliches passieren wird, und man kann nicht aufhören zu lesen.“

Diese sehr profane Aussage von Simon Kernick zu Rectors Debütwerk trifft inhaltlich ganz gut die Faszination, die von diesem Roman ausgeht. Wie die dunklen Wolken des Blizzards am Himmel, so hängt auch über dem „Frost“ eine von Beginn an unheilverkündende Atmosphäre, welche im weiteren Verlauf nicht zuletzt auch wegen der grandiosen Wetterbeschreibungen immer mehr zunimmt. Wenn Nate durch den düsteren Schneesturm stapft, die Scheibenwischer verzweifelt für freie Sicht kämpfen und das Knirschen von Schritten noch meterweit widerhallt, fühlt sich der Leser selbst als Teil der Szenerie. Hinzu kommt, dass Rector die Elemente der „Locked-Room“-Mystery äußerst intelligent zweckentfremdet hat. Wie in den Whodunits der 30er Jahre, so ist auch hier eine Menschengruppe eingeschneit, in deren Mitte man den schlimmen Bösewicht vermutet. Tatsächlich betätigt sich sogar eine der Motelbewohnerinnen als Möchtegern-Miss-Marple, um Licht in die Sache zu bringen, was wiederum die Äußerung hervorruft, dass man sich genauso gut in einer typischen Krimihandlung befinden könnte. Rector spielt an dieser Stelle geschickt mit den Genres und den Erwartungen des Lesers.

Diese werden, trotz des wenig komplexen Plots, stets durch unvorhersehbare Wendungen oder wechselnde Gegebenheiten in andere Bahnen gelenkt, was wiederum dafür sorgt, dass man das Buch nur äußerst ungern an die Seite legt. Man vergisst darüber dann auch, dass Rector mit Nate und Sara den holzschnittartigen Figuren von Richard Laymon oder des oben erwähnten Kernick sehr nahe kommt. Im Gegensatz zu diesen beiden Autoren gelingt dem Autor von „Frost“ allerdings der Spannungsaufbau, der, nachdem er sich unerwartet brutal und drastisch entlädt, nicht ideenlos ins Leere taumelt. Und auch in Punkto Dialoge stellt Rector seine Stärken unter Beweis. Diese werden gekonnt und perfekt getimt positioniert, halten das Tempo bis zum Ende durchgängig hoch. Eben jenes Ende stellt wiederum Zartbesaitete durchaus auf die Probe und läuft doch nie Gefahr, das Buch zum Splatter-Werk verkommen zu lassen.

John Rectors „Frost“ ist geradlinig, kurzweilig, spannend und gut. Ein zeitloser, schmutziger Roadmovie-Hardboiled-Mischling, der einfach Laune macht, allerdings aufgrund des allzu typischen Handlungsaufbaus wohl auch nicht lange im Gedächtnis haften bleibt. Rectors Werdegang sollten Freunde von Krimis im Stile von Leonard, Cain und Co. dennoch im Auge behalten.

Wertung: 81 von 100 Treffern

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  • Autor: John Rector
  • Titel: Frost
  • Originaltitel: The Cold Kiss
  • Übersetzer: Katharina Naumann
  • Verlag: Rowohlt
  • Erschienen: 12/2010
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 288 Seiten
  • ISBN: 978-3499254932

All alone dancing in the dark

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Louis-Ferdinand Célines „Reise ans Ende der Nacht“ ist eins der wenigen Bücher, das sich bis heute einer Bewertung meinerseits entzogen hat, weil dieser Klassiker der Weltliteratur, welcher wohl zweifelsohne zu den einflussreichsten Titeln des vergangenen Jahrhunderts zählt, nicht mit den üblichen Wertemaßstäben zu messen ist.

Ob Charles Bukowski oder Bret Easton Ellis – das 1932 veröffentlichte Werk hat mit seiner Sprache ganze Generationen von Schriftstellern geprägt, gilt als Mutter des schmutzigen und wütenden Romans. Viele haben seitdem versucht, Célines Stil zu kopieren, das Vulgäre und Ordinäre zu verwenden, um ein ähnliches Kunststück abzuliefern. Die wenigsten hatten hierbei Erfolg. Célines Sprachmelodie, sein Rhythmus, die schonungslose und drastische Art des Erzählens bleiben bis heute unerreicht und scheinen keinerlei Verfallsdatum unterworfen. „Reise ans Ende der Nacht“ könnte gestern oder heute geschrieben worden sein – zeitlos seine Thematik und die Verpackung, in der es dem Leser regelrecht um die Ohren gehauen wird. Warum aber findet Céline dann so selten Erwähnung, wenn es um die Wurzeln dieser literarischen Gattung geht? Warum weigern sich viele Kritiker seit Jahren beharrlich, diesem Werk die durchaus verdiente Anerkennung zuteil werden zu lassen?

Um das verstehen zu können, muss man einen Blick auf das Leben nach „Reise ans Ende der Nacht“ werfen, auf Célines Antisemitismus, den er spätestens ab 1937 auch in Pamphleten immer lautstärker und unverhohlen äußerte. Auf einen Judenhass, der dem der Nationalsozialisten in Deutschland zur selben Zeit in nichts nachstand – und von dem er sich auch viele Jahre später nie distanzierte. Ein Grund Céline zu ignorieren? Oder anders gefragt: Kann man einen Roman preisen, dessen Schöpfer in seinem Gedankengut unvereinbar mit den Werten war, die unsere heutige Generation, auch in Frankreich, hochzuhalten versucht? Fakt ist jedenfalls: In „Reise ans Ende der Nacht“ ist davon weder etwas zu spüren noch zu lesen. Lediglich sein unversöhnlicher Hass tritt bereits hier deutlich zutage – allerdings in Bahnen gelenkt, die eher linke und anarchistische Züge haben, als antisemitische Tendenzen. Und dieser Hass, diese unversöhnliche, unverhüllte Wut ist es, die Célines Roman für mich so einzigartig, so beeindruckend, ja, so tiefgreifend und bewegend macht.

Nur knapp zehn Jahre nachdem Proust das literarische Hochfranzösisch auf eine neue Ebene gehoben, die Raffinesse der Sprache in den Augen vieler perfektioniert hat, geht Céline den vollkommen gegensätzlichen Weg. Sein Französisch ist das der Pariser Vororte. Eine dreckige, knarrende, knappe Umgangssprache, welche sich im Vergleich zum ausgeklügelten Satzbau Prousts wie eine fortwährende Pöbelei ausnimmt. Sie will weder verzaubern noch verführen, sondern ist gesprochenes Wort, geäußerter Gedanke, hervorbrechendes Gefühl. Kurzum: Sie ist aus der Seele, ohne Überlegung geschrieben – und gerade darum bis heute so modern. Und in ihr verliert sich fast die eigentliche Geschichte, welche von der Lebensreise eines etwas anderen Helden erzählt, dessen Reise ans Ende der Nacht mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs beginnt und der den Leser von den französischen Kolonien in Afrika, über New York und Detroit bis zurück nach Paris führt.

Ferdinand Bardamu ist feige, verschlagen, egoistisch – kurzum ein Produkt der finsteren Gesellschaft in der Zwischenkriegszeit, deren Wandel wir dank dem Ich-Erzähler aus der Perspektive des Erniedrigten, des Mannes am Boden wahrnehmen. Wie in einem dauerhaften Trommelfeuer schreit Bardamu uns seine Gefühle entgegen, all die Angst, den Hass, die Verzweiflung – geboren aus der empfundenen Ungerechtigkeit, der er Zeit seines Lebens davonzulaufen versucht und die ihn, der Finsternis einer Nacht gleich, doch immer wieder einholt. Diese ewige Flucht vor den äußeren Umständen diktiert gleichzeitig auch das Tempo des Romans, das von Beginn an unheimlich hoch ist. Céline lässt Bardamu gegen alle Widerstände und Hindernisse anrennen, zertrümmert Hoffnungen bereits direkt in ihrem Keim. In „Reise ans Ende der Nacht“ ist kein Raum für Träumereien oder Illusionen, keine Errungenschaft, Entwicklung oder Idee, welche nicht vom Autor durchleuchtet, zerfetzt und verworfen wird.

Während Bukowski, der sein Vorbild Céline gar als fiktiven Charakter in seinem Roman „Pulp“ einbaute, selbst noch dem miesesten Drecksloch einen Funken Schönheit und etwas Besonderes abgewinnen kann, überwiegt hier das Schlechte – in all seinen Ausprägungen. Hinter jeder ausgesprochenen Wahrheit entdeckt Céline die Lüge, hinter jedem guten Menschen den charakterlichen Abgrund. Mit bitter-zynischer Stimme demaskiert er die so genannten Werte der westlichen Kultur, rechnet er mit Kirche und Staat genauso ab, wie mit arm und reich. Die heilige Heimat Frankreich, der Patriotismus der Grande Nation – genauso eine Zielscheibe für Célines triefenden Hohn und Spott wie Militarismus und Kolonialherrlichkeit. Wie Joseph Conrad in seinem „Herz der Finsternis“, so ist auch dieser Blick ins koloniale Afrika schonungslos und ernüchternd. Bemerkenswert dabei: Céline beschränkt sich in seinen radikalen Angriffen auf keinerlei Seite. Dekadente Kolonialherren werden genauso zerlegt wie die tumben Ureinwohner, die des Mitleids nicht Wert zu sein scheinen. Die Überheblichkeit der Großbürger in den Pariser Vororten wird genauso angeprangert, wie das scheinheilige Streben und letztendliche Scheitern der Kleinbürger, für deren Ängste der Autor nur Verachtung übrig hat.

Reise ans Ende der Nacht“ ist gedruckte, zügellose Wut – eine urgewaltige, unversöhnliche Abrechnung, die selbst vor dem „American Way of Life“ nicht halt macht und uns u.a. durch die Fabrikarbeit in der boomenden Autostadt Detroit die Entwertung des menschlichen Lebens in all seinen Facetten vor Augen führt. Für den Leser ist diese Reise genauso schwer erträglich wie fassbar. Célines Worte fahren wie eine Sense durch das Korn, stutzen alles auf den Ursprung zurecht, enthüllen die Verlogenheit selbst da, wo wir sie selbst nicht sehen wollen. Und gerade die Tatsache, dass es ganz normale Leute sind, die im Mittelpunkt der Handlung stehen, macht dabei die Wirkung des Romans aus. Es sind ihre Ängste, ihre Schwächen, die letztlich genauso viel Böses bewirken, wie die großen Diktatoren oder Verbrecher. Die Sünde, die in jedem zu lauern scheint.

Als „Reise ans Ende der Nacht“ erschien, wurde Louis-Ferdinand Céline schlagartig berühmt, aber auch berüchtigt. Die Sprache polemisierte, der revolutionäre Stil brachte ihm Bewunderung und Ablehnung gleichermaßen entgegen. Von der Bewunderung ist heute vor allem in seinem Heimatland aufgrund seiner späteren Haltung gegenüber den Juden nicht mehr so viel geblieben. Die Wirkung seiner frühen Bücher, vor allem dieses Werks, bleibt bestehen – es ändert aber nichts daran, dass der Mensch Céline – ein Antisemit durch und durch – grundsätzlich abzulehnen ist. Entsprechend habe ich seine ab Mitte der 30er verlegten Veröffentlichungen hier auch gekennzeichnet.

Zum Zeitpunkt meiner ersten Lektüre war mir Célines Biographie nicht bekannt, weshalb ich das vorliegende Werk auch davon unbeeinflusst besprochen habe. Losgelöst von dem Jahre später offen gezeigten Antisemitismus, war es für mich der beeindruckendste literarische Rundumschlag, den ich bis dato gelesen habe – auch dank der hervorragenden Übersetzung! Tragikomisch, traurig, brutal und doch auch immer wieder erschreckend feinfühlig – eine Reise ans Ende der Nacht eben, die mir aufgrund ihrer Kälte viel abverlangt und mich doch nie kalt gelassen hat.

Wertung: 100 von 100 Treffern

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  • Autor: Louis-Ferdinand Céline
  • Titel: Reise ans Ende der Nacht
  • Originaltitel: Voyage au bout de la nuit
  • Übersetzer: Hinrich Schmidt-Henkel
  • Verlag: Rowohlt
  • Erschienen: 05.2004
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 672 Seiten
  • ISBN: 978-3499236587

Ganz England ist von den Dänen besetzt …

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Ganz England? Nein, denn im zweiten Band der Saga um den von Dänen großgezogenen Sachsen Uhtred von Bebbanburg leistet das angelsächsische Königreich Wessex noch als einziges tapfer Widerstand gegen die unverminderten Angriffe der Wikinger.

Ein Widerstand, den ich selbst bei der Lektüre des vorliegenden Buches nicht mehr aufrechterhalten konnte. Hatte ich doch im Vorgänger „Das letzte Königreich“ noch so meine Probleme mit dem sehr eigenwilligen Stil des Autors Bernard Cornwell – insbesondere mit seiner Art der Figurenzeichnung – hat mich „Der weiße Reiter“ nun bis zur Grasnarbe in den Boden geritten, denn was einem hier über fünfhundert Seiten um den Helm gehauen wird, das hält der stabilste Schildwall nicht aus. Cornwell scheint nicht nur die Marschrichtung für die Reihe gefunden zu haben, er wirft auch endgültig jegliche künstliche Ausschmückung über Bord und schiebt und schubst uns in grölenden Kriegermeuten durch den saugenden Matsch des Dunklen Mittelalters, das selbst dem pazifistischen Leser die mickrige Heldenbrust schwillt. So nah am Grauen des Krieges, aber auch am Glaubenskonflikt zwischen nordischen Göttern und der christlichen Lehre, war schon lange kein historischer Roman mehr. Und es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass es ausgerechnet ein selbstgerechtes, egoistisches Arschloch ist, mit dem wir in diesem Fall nur zu gern Schulter an Schulter durch die Seiten stürmen. Doch jetzt erst einmal kurz zur Geschichte:

Der weiße Reiter“ knüpft inhaltlich unmittelbar an das Ende des vorherigen Bands an. Das Jahr 878, England, im heutigen Somerset. Nach einem überraschenden Ausfall aus ihrem Hügelfort konnten die angelsächsischen Truppen unter der Führung des Aldermanns Odda den Dänen eine vernichtende Niederlage zufügen. Auch deren Kriegsherr, der gefürchtete Ubba Lothbroksson, fand durch Uhtreds Schwert im Zweikampf den Tod. Und doch, trotz diesem großen Sieg, hängt das Schicksal der Angelsachsen weiterhin an einem äußerst seidenen Faden. Northumbrien, Mercien, Ostanglien – und damit fast ganz England – sind inzwischen unter der Kontrolle der Dänen, welche ihren Einflussbereich nun auch auf Wales und die Küstengebiete Cornwalls ausweiten. Seit ihren ersten Eroberungszügen zwölf Jahre zuvor scheint nichts ihren Vormarsch stoppen zu können. Zwar wurde kurzerhand ein Frieden mit den Wikingern geschlossen, doch dieser ist mehr als fragil und nur die wenigsten trauen den Invasoren so leichtgläubig, wie der fromme König Alfred.

Allen voran Uhtred, mittlerweile mit seinen zwanzig Jahren schon zu einem kampferfahrenen Krieger mit strategischen Verstand und eigenem Landbesitz herangereift, hat seine Zweifel. Nicht nur, dass er immer noch weit mehr Sympathien für die Dänen hegt, bei denen er aufwuchs – er erfährt für seinen Beitrag bei Cynuit keinerlei Dankbarkeit und sucht nun eine Möglichkeit, sich wieder seinen alten Freunden auf Seiten der Wikinger anzuschließen. Doch als der lang erwartete Angriff schließlich kommt und Alfred mit seiner Familie in das sumpfige Marschland bei Athelney im Südwesten Englands flieht, sieht sich Uhtred plötzlich, durch einen Schwur mit seinem König verbunden, an dessen Seite wieder. Während der König auf göttlichen Beistand setzt, versucht Uhtred eine Armee um sich zu scharen, welche den Feind endgültig vernichtend schlagen soll. Angesichts der Tatsache, dass das Sumpfgebiet von allen Seiten fast völlig abgeriegelt ist, eine schier unlösbare Aufgabe. Statt die Dänen direkt zu attackieren, müssen die Angelsachsen nun ihr Glück mit Guerilla-Taktiken versuchen …

Für den Fall, dass meine Besprechung zum vorherigen Band das noch nicht klar genug zum Ausdruck gebracht, auch hier nochmal eine kleine Warnung vorweg: Wer in der Regel im Genre des historischen Romans sonst eher unter Wanderhuren, Wanderapothekerinnen oder Wanderfriseurinnen unterwegs ist, dem wird es so vorkommen, als hätte der liebe Göttergatte auf dem Sofa soeben mit der Fernbedienung von Rosamunde Pilcher auf Braveheart umgeschaltet. Für die landschaftliche Schönheit, die es damals bestimmt noch im Übermaß gegeben haben muss, hat Cornwell in seiner Sachsen-Saga keinerlei Auge. Schauplätze werden unter rein militärischen und damit strategischen Gesichtspunkten betrachtet. So ist ein Weiher kein lauschiges Plätzchen für ein liebendes Bauernpaar, sondern eine perfekte Falle für einen schwer gerüsteten Gegner. Und die von einem Sonnenuntergang beleuchtete Anhöhe dient lediglich der besseren Übersicht über die feindlichen Truppen. Für Romantik oder sonstige geschichtliche Folklore ist im Kampf um das letzte Königreich Angelsachsens schlicht kein Platz. Das mag den ein oder anderen Leser erschrecken, ist wohl aber damit näher an der historischen Wahrheit als die buntgekleideten Wunderfrauen und Handwerkerinnen, welche sonst so auf den Buchdeckeln prangen.

Überhaupt ist das einzige Handwerk, welches in diesem einmal mehr in Ich-Form erzählten Epos näher geschildert wird, das des Tötens, denn im Angesicht der drohenden Niederlage haben sich auch die letzten Untertanen ihrer gewohnten Werkzeuge entledigt, um sich im Kampf gegen die Dänen ihrem Fyrd, den angelsächsischen Milizen, anzuschließen. Bernard Cornwell führt uns in eine der hoffnungslosesten Epochen der englischen Geschichte, in der sich das gerade erst seit ein paar Jahrhunderten auf der Insel ausbreitende Christentum seiner größten Niederlage gegenübersah und nicht wenige Heiden den Kampf gegen die Dänen unterstützten. Uhtred ist einer von ihnen. Ja, eine fiktive Figur, aber nun weit zugänglicher, schafft es doch der Autor – besser als noch in „Das letzte Königreich“ – die Motivationen seines Anti-Helden herauszuarbeiten, der dem Herz nach zwar Däne ist, durch den Verlust seines Ziehvaters aber unter ihnen inzwischen mehr Feinde als Freunde hat. Und er ist somit auch eine geschickte Wahl, da wir genaueren Einblick in beiderlei Perspektiven bekommen, wodurch „Der weiße Reiter“ nicht nur um einige Facetten, sondern vor allem moralische Grauzonen reicher wird.

Bernard Cornwell vermeidet irgendeine Gewichtung oder Parteinahme, beleuchtet diesen Konflikten von allen Seiten, so dass man das eine Feindbild vergeblich sucht. Die schlechten Menschen, es gibt sie sowohl unter den Angelsachsen, als auch unter den Dänen. Und auch die heilige römische Kirche handelt nicht immer nach christlichen Gesichtspunkten, sondern versucht vor allem ihren Machtbereich auszuweiten und die dänischen Heiden zu missionieren. Ein Unterfangen, dass, wie die Geschichte beweist, bei dem ein oder anderen Kriegsherr der Wikinger am Ende sogar erfolgreich war und dennoch trotzdem nicht unbedingt den Wohlwollen des Lesers findet. Es ist beinahe ein Widerspruch, dass in diesem oftmals lauten Aufeinandertreffen von Schilden und Schwertern der Autor doch stets den Raum und die Ruhe findet, diese religiösen, aber auch gesellschaftlichen Konflikte zu vertiefen und damit ein genaues Bild der damaligen Zeit zu vermitteln. Und das er dabei stets auch die Kurzweil nicht aus dem Auge verliert.

Der weiße Reiter“ bietet erneut Humor der schwärzesten und derbsten Sorte, was sich insbesondere in den Passagen, wo Uhtred und Leofric unter angelsächsischer Flagge im Bristolkanal auf Kaperfahrt gehen, äußerst stimmig liest und beim Leser für ausgeprägtes Kopfkino sorgt. Ja, natürlich – Uhtred ist in vielen Situationen dann doch „larger than life“, dieses mittelalterliche Gegenstück zu Cornwells anderem bekannten Helden aus den napoleonischen Kriegen, Richard Sharpe. Auch ihn verfehlte über zig Bücher hinweg jede Kugel und jedes Bajonett. Und ähnlich verhält es sich auch mit dem Erben von Bebbanburg. Unrealistisch, mag manch einer unken und damit nicht unrecht haben. Aber mir letztlich tausendmal lieber als viele Protagonisten mancher deutscher Autoren und Autorinnen, die zwar bis in Detail stimmig beschrieben werden, nur eben auch zum Gähnen langweilig und farblos sind. Geschichte – sie wird da am besten vermittelt, wo sie lebendig erzählt wird. Und noch lebendiger als vor allem im letzten Drittel, kann zumindest diese Stück der Historie Englands wohl nicht mehr aufs Papier gebracht werden.

Hätte er es nicht schon zuvor mehrmals in der oben erwähnten Sharpe-Reihe unter Beweis gestellt – Bernard Cornwell hätte mit der Wiedergabe der historischen Schlacht von Ethandum (das heutige Edington) sein Meisterstück abgeliefert. In einem epischen Umfang wird dieses brutale Aufeinandertreffen von König Alfred und Guthrum vor uns ausgebreitet – und das Schicksal mancher Figuren für kommende Ereignisse besiegelt. Und ohne sich wirklich dagegen wehren zu können, tauchen wir als Leser in diesen Rausch aus Blut, ächzenden Leibern und schiebenden Schilden mit ein, unfähig sich der wirkungsvollen Schreibe zu entziehen, die zwar auch niederste und primitivste Instinkte weckt, aber uns auch auf erschreckende Weise befriedigt zurücklässt, wenn das Schwert schließlich siegreich gen Himmel gereckt wird. Cornwell gibt damit Edington eben genau jene Bühne, die es braucht, gilt doch der Ausgang als Grundsteinlegung für die weitere englische Geschichte. Bis heute erinnert nicht weit entfernt das berühmte Scharrbild Westbury White Horse an diese Schlacht. Womit der Autor auch geschickt den Bogen zum Titel seines Buches schlägt, der sich aber in erster Linie auf das Wort der Apokalypse bezieht:

Da sah ich ein fahles Pferd; und der Reiter der auf ihm saß, heißt der Tod.

Mit dem Tod wird Uhtred von Bebbanburg garantiert auch in den kommenden Bänden wieder seine Klingen kreuzen. Worauf sich wiederum Freunde fundierter historischer Romane freuen dürfen, denn „Der weiße Reiter“ ist, bei allem Kampfesgetümmel, ein hervorragend recherchierter Vertreter seines Genres (wie geschichtlich akkurat, lässt sich im ausführlichen Nachwort nachlesen), der mit großer Authentizität eine Epoche beleuchtet, welche zuvor eher stiefmütterlich behandelt worden ist. Und so heißt es für mich daher nun: Aufsatteln und Schilde festzurren. Wir reiten gen Norden.

Wertung: 88 von 100 Trefferneinschuss2

  • Autor: Bernard Cornwell
  • Titel: Der weiße Reiter
  • Originaltitel: The Pale Horseman
  • Übersetzer: Michael Windgassen
  • Verlag: Rowohlt
  • Erschienen: 10.2013
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 509
  • ISBN: 978-3499242830

Wyrd bið ful aræd – Das Schicksal ist unausweichlich

© Rowohlt

Wenn ich heute so auf meine Besprechungen zu den ersten Bänden von Bernard Cornwells Sachsen-Saga zurückblicke, dann fällt mir auf, dass diese damals (vor zehn Jahren) nicht nur handwerklich arg hölzern daherkamen, sondern ihnen vor allem ein doch eher negativer Tenor gemein war. Und in der Tat hätte nicht viel gefehlt und der Auftakt des Epos um den Sachsen-Krieger Uthred wäre sogleich mein letztes Werk dieses Autors gewesen, konnte ich doch die Begeisterung und das viele Lob, welche „Das letzte Königreich“ (mittlerweile auch als TV-Serie verfilmt) im deutschsprachigen Raum bei seiner Veröffentlichung zuteil wurden, zu dieser Zeit nur bedingt teilen.

Zu dieser Zeit deshalb, weil sich diese äußerst skeptische Zurückhaltung im Verlauf der Reihe und der Jahre inzwischen in das totale Gegenteil verkehrt hat. Mehr noch: Bernard Cornwell ist in meinem Leserleben inzwischen eine Konstante, ein Fixpunkt im Genre des historischen Romans, den ich weder ignorieren kann noch will und der mich in hübscher Regelmäßigkeit auf eine äußerst plastische und emotional intensive Zeitreise schickt. Eine mehr als erstaunliche Wandlung in der Wahrnehmung, welche ich rückblickend in den folgenden, überarbeiteten Rezensionen nochmal Revue passieren und näher analysieren will – auch um etwaige andere Leser vor dem möglichen Fehler zu warnen, nach dem ersten Band schon das Schwert ins Meer zu werfen.

Und genau dieses Schwert ist es auch, welches sinnbildlich für den Stil Cornwells steht, der sich in seinen Büchern gegen jegliche romantische Verklärung des frühen Mittelalters wehrt und es stattdessen noch am ehesten so schildert, wie man es wohl vorgefunden hätte. Ein kurzes, raues und gnadenloses Leben ohne jegliche Sicherheiten und ein einziger Kampf ums Überleben, in dem es dementsprechend die üblichen strahlenden Helden eher schwer gehabt hätten. Im Gegensatz zu den Wanderhuren, Wanderapothekerinnen und Wanderfriseurinnen der so genannten „Konkurrenz“ fühlt er sich der geschichtlichen Akkuratesse verpflichtet, was ein Grund ist, warum er als einer der wenigen Schriftsteller in diesem Genre auch von Historikern hoch geschätzt und immer wieder bei wissenschaftlichen Vorträgen (von denen es einige auf Youtube gibt und die ich nur empfehlen kann, zu schauen) geladen wird. Im Jahr meiner ersten Lektüre waren dies mir noch unbekannte Fakten, so wie ich auch die Sharpe-Romane bis dato nicht kannte. Daher stellte „Das letzte Königreich“ nach Follett, Gordon, Druon und Co. einen dementsprechenden Kulturschock dar, denn schon Uhtreds erster Auftritt bricht so ziemlich mit allen bekannten Grundsätzen.

Northumbria, Nordengland, im Jahre des Herrn 866. Immer wieder leidet die Bevölkerung unter den stets wiederkehrenden Raubzügen der Dänen. „Wikinger“ genannt, weil sie brandschatztend durch das Land ziehen und weder vor Frau und Kind noch vor den Heiligtümern der Kirche halt machen. Um ihren Besitz und ihre Familie zu sichern, haben die Angelsachsen mehrere Burgen an der Küste zur Nordsee errichtet. Unter ihnen auch die nördlich an der Grenze zu Bernicia liegende Festung Bebbanburg (Bamburgh Castle) unter dem Kommando von Aldermann Uhtred. Obwohl der letzte Raubzug der barbarischen Nordmänner schon einige Jahre her ist, lässt er in seiner Wachsamkeit nicht nach und trainiert beide Söhne für den bevorstehenden Kampf, auch wenn er sie hinter den Mauern der als uneinnehmbar geltenden Bebbanburg als sicher wähnt. Doch als die ersten Masten der Wikingerschiffe am Horizont auftauchen, befindet sich sein ältester Sohn gleichen Namens auf Patrouille und bereits kurze Zeit später bewahrheiten sich seine schlimmsten Befürchtungen. Die Dänen präsentieren stolz dessen Kopf und der Aldermann zieht gemeinsam mit ein paar weiteren lokalen Herrschern nach Eoferwic (York), um die Dänen endgültig von der Insel zu werfen.

Stattdessen werden sie in der Schlacht in einen Hinterhalt gelockt und viele Angelsachsen, darunter auch Uhtred, fallen im Kampf. Der Name geht nun an dessen jüngsten Sohn über, der, gerade mal zehn Jahre alt, aufgrund seines gezeigten Mutes von dem Wikingerfürsten Ragnar aufgenommen und großgezogen wird. Aus seiner Ich-Perspektive wird fortan über die Ereignisse des großen Krieges der Engländer gegen die dänischen Invasoren im neunten Jahrhundert berichtet, denn diesmal bleibt es nicht bei vereinzelten Raubzügen. Die Dänen sind gekommen, um zu bleiben und beginnen damit die einzelnen Königreiche (Northumbria, Mercia und East-Anglia) der Angelsachsen zu erobern. Uhtred wächst derweil als Däne heran, unantastbar durch die Fürsprache seines Ziehvaters Ragnar, der gegen die verstreuten englischen Heere stets siegreich bleibt. Bis mit Alfred, dem Bruder des Königs von Wessex, dem letzten verbliebenen Königreich, ein würdiger Gegner erscheint und Uhtred sich einmal mehr gezwungen sieht, eine Wahl zu treffen, um eines Tages sein Erbe, die Bebbanburg, zurückzugewinnen …

Wie schon zuvor in seiner Artus-Trilogie, so wählt Bernard Cornwell auch für seine Sachsen-Saga einen rückblickenden Ich-Erzähler. Und dies ist nicht die einzige Parallele zwischen Derfel Cadarn und Uhtred von Bebbanburg. Beide wurden sie früh ihren Familien entrissen, um an der Seite eines größeres Kriegers zum Mann heranzureifen und letztendlich die Feuertaufe in einem Schildwall zu bestehen. Im Gegensatz zu Derfel, dessen tumbe Grobschlächtigkeit beim Leser gewisse Sympathien hervorrufen kann, so ist es zwischen Uhtred und dem Leser aber alles andere als Liebe auf den ersten Blick. Den jungen Angelsachen kann man hier beinahe aufs Vögeln und Töten reduzieren, weil außer dem nicht allzu viel hinsichtlich der Charakterentwicklung passiert. An dieser Stelle wird ein Problem ersichtlich, mit welchem sich Cornwell sonst nicht konfrontiert sieht. Nämlich der größere zeitliche Rahmen, in dem die Handlung spielt. Zwischen der Landung der Wikinger in Northumbria und der finalen Schlacht bei Cynuit (Cannington) vergehen ganze elf Jahre. Eine für den Autor unübliche Zeitspanne, der sich in der Regel eher auf einen temporär begrenzten Konflikt konzentriert und diesen stattdessen en detail ausarbeitet und mit Leben füllt. In „Das letzte Königreich“ sieht er sich allerdings zwangsläufig zu mehreren Sprüngen gezwungen. Und diese zu füllen, damit hat er eindeutig Probleme.

Ob es der deutschen Übersetzung anzulasten ist oder schlicht dem Fakt, dass Bernard Cornwell noch seinen Rhythmus gesucht hat – der vorliegende Roman kommt trotz mehrerer dramatischer Ereignisse und Schicksalsschläge nur schwer in Fahrt. Und auch Uhtred hat als Fixpunkt und Träger der Handlung so seine Probleme, gewinnt man doch stellenweise das Gefühl, das seine ständigen Gesinnungswandel weniger dem eigenen Willen, als vielmehr dem geschichtlichen Kontext zuzuschreiben sind. Ist seine Loyalität zu den marodierenden Dänen aufgrund der äußeren Umstände, in denen er aufwächst, verständlich, so kann man seinen darauffolgenden Wechsel auf die Seite der Angelsachsen nur schwer folgen. Zwar ist dafür ein einschneidendes Ereignis verantwortlich, dennoch wirkt es meines Erachtens nicht so, als wäre er damit gleich aller Bände zu seiner Ziehfamilie entledigt (Rebecca Gablés „Das zweite Königreich“ hat dieses Gefangenensein zwischen den Fronten weit besser und vor allem glaubwürdiger behandelt). Für den weiteren Verlauf der Reihe ist diese Entscheidung aber natürlich essenziell und – womit ich endlich mal das Positive herausstreichen möchte – von ihr wird der Leser in den zukünftigen Bänden dann auch ausgiebig profitieren.

Wer bis hierhin gelesen hat, dem wird aufgefallen sein, dass es vor allem um kämpferische Auseinandersetzungen geht. Cornwell-Kenner wird das wenig überraschen, aber es sei dennoch erwähnt, falls sich jemand zum Beispiel mehr Informationen über das Brot backen, Häuser bauen oder Bier brauen im frühen Mittelalter erhofft hatte. Es gibt sogar einige die gehen so weit und behaupten, es sei allein eine Lektüre für Männer. Auch wenn ich das für etwas vermessen halte, so ist es doch nicht ganz falsch, das sich die maskuline Leserschaft weit eher für die Beschreibungen des Kriegshandwerks erwärmen dürfte. Womit wir zur herausragenden Stärke von Bernard Cornwell kommen – der detaillierten und mitreißenden Darstellung des Schlachtengetümmels. Es mag verwundern, aber in „Das letzte Königreich“ gibt er davon gerade mal einen kleinen Vorgeschmack auf Kommendes, der jedoch dennoch reicht, da bereits hier der Funke des Geschehens auf uns überspringt. Wie mit einer wackeligen Handkamera gefilmt führt er uns inmitten der aufeinanderprallenden Leiber und Schilde, wodurch man bald glaubt das schwere Atmen der Kämpfenden hören und den Schweiß der um jeden Zentimeter ringenden Männer riechen zu können. Wenn es darum geht, die dreckigsten Abgründe des neunten Jahrhunderts zum Leben zu erwecken und an unsere niedersten Instinkte zu appellieren, vollbringt Cornwell wahrhaft Einzigartiges.

Auch einen anderen „Kampf“ weiß er geschickt ins Szene zu setzen: Den Konflikt zwischen dem Christentum der Angelsachen und dem heidnischen Glauben der Dänen, welche beide auf den Beistand ihres Gottes bzw. ihrer Götter hoffen und manchmal davon gar das Schlachtenglück abhängig machen. Jeder Sieg wird als ein Beweis der Macht ihres jeweiligen göttlichen Beistands angesehen, wodurch wiederum Uhtreds Loyalität sehr lange den Dänen gilt, welche in den späten 860er Jahren beinahe jeden angelsächsischen Widerstand zerschlagen. Untereinander sind sie aber dennoch nur durch lose Bande verbunden bzw. lassen sich durch alte Bräuche wie die Blutrache vom gemeinsamen Ziel abbringen. Es ist Alfred, den man später als einzigen englischen König den Beinamen „der Große“ geben wird, welcher diese Schwäche seines Gegners erkennt und seinerseits darauf dringt, alle Königreiche der Angelsachen als ein Engaland (England) zu vereinigen. Ein für die damalige Zeit noch utopisches Ansinnen, wie auch Cornwell in seinem Nachwort herausstreicht, zumal Wessex kurz vor dem Fall stand. Alfred dient dabei gleichzeitig als Gegenpol zum egoistischen und kriegerischen Uhtred. Wo Letzterer seinen Instinkten folgt und versucht Bebbanburg zurückzuerobern, hat Ersterer stets das größere Ganze im Kopf und plant schon mehrere Schritte voraus. Wenngleich in diesem ersten Band noch vergleichsweise wenig Interaktion zwischen den beiden stattfindet – ihre miteinander verbundenen Schicksale werden für die nachfolgenden Bände richtungsweisend sein.

Und genau diese – und das soll schließlich das ausschlaggebende Resümee dieses Romans sein – sollte, nein, darf man sich nicht entgehen lassen, denn mit jedem weiteren Buch wächst die Sachsen-Saga zu einem mitreißenden, archaischen Epos, wie es in diesem Genre kein zweites mehr gibt. Cornwell findet nach diesem noch etwas sperrigen Einstand zu einer traumwandlerischen Souveränität und übertrumpft das bereits hier fulminant-spannende Finale nochmal um ein Vielfaches. Beinahe, ja, beinahe, hätte ich es mit „Das letzte Königreich“ bewenden lassen, letztlich aber doch zum Nachfolger „Der weiße Reiter“ gegriffen. Glück? Vielleicht. Oder es war, wie schon Uhtred sagte:

Wyrd bið ful aræd.

Das Schicksal ist unausweichlich.

Wertung: 80 von 100 Trefferneinschuss2

  • Autor: Bernard Cornwell
  • Titel: Das letzte Königreich
  • Originaltitel: The Last Kingdom
  • Übersetzer: Michael Windgassen
  • Verlag: Rowohlt
  • Erschienen: 01.2007
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 480
  • ISBN: 978-3499242229

One day, a King will come, and the Sword will rise… again

© Rowohlt

Nein, diesmal erspare ich mir den Sermon über Cornwells Meriten und eine knappe Kurzbeschreibung des Inhalts, da jeder, der die ersten beiden Bände der Artus-Trilogie gelesen hat, ohnehin weiß worum es geht und woran er bei dem britischen Autoren ist. Daher sollen wenige(r) Worte genügen, um es auf den Punkt zu bringen:

Arthurs letzter Schwur“ bildet den Abschluss einer Reihe, die mit den traditionellen Versionen der Grals-Legende vollkommen bricht und eine der ältesten Sagen Britanniens in einer Art und Weise präsentiert, wie man sie so noch nicht gekannt hat. Wo sich doch die meisten Erzählungen um die Ritter der Tafelrunde zumindest in einigen Punkten gleichen, ist es Cornwell gelungen, etwas gänzlich Neues auf Papier zu bringen, das sich jeglicher mythischer Einflüsse enthält, mittels der realistischen Erzählungen aber dafür umso nachhaltiger wirkt. Der Spagat zwischen Magie und Geschichte, er funktioniert bis ins letzte Detail. Die Figuren, heruntergeholt vom lichtdurchfluteten Sockel, sind derart menschlich gezeichnet, dass man gar nicht anders kann, als mitzuleiden, mitzufiebern, mitzulieben und letztlich auch zu hassen. Fernab vom Glanz üblicher Grals-Geschichten hat Cornwell ein Epos zu Papier gebracht, das in erster Linie das frühe Mittelalter in England zum Leben erwecken will und sich dabei nur zufällig der bekannten Figuren bedient. Und auch diese erkennt man hier nicht wieder.

Merlin ist ein verrückter, verdreckter Druide mit Wahnvorstellungen. Artus ein genialer Stratege ohne Ambitionen auf eine Krone. Lancelot ein feiger, ehrloser Geck ohne Rückgrat. Und erzählt wird die Geschichte rückblickend aus der Sicht eines einfachen Soldaten. Womit natürlich auch der Boden für Cornwell bereitet ist, dem hinsichtlich der minutiösen Beschreibung einer Schlacht wohl kein anderer Autor dieser Welt das Wasser reichen kann. Im Gegensatz zu der „Sharpe“-Reihe oder Büchern wie „Das Zeichen des Sieges“ lebt die Artus-Trilogie aber noch weit mehr von ihren Figuren. Und auch nirgendwo sonst sind sie dem englischen Autor derart gut gelungen. Inmitten des Konflikts zwischen aufkommenden Christentum und alter Götterkulte erzählt er eine Geschichte, die man weniger mitliest, als vielmehr miterlebt. Es geht um Verrat, Ehre, Treue, Liebe, Freundschaft. Um Eide, die nicht gebrochen werden dürfen. Und um Pakte, die geschlossen werden müssen, um das Überleben zu sichern. Kurz: Cornwell beschreibt das düstere frühe Mittelalter, wie es hätte sein können.

Und düster, ja streckenweise schon hoffnungslos finster, ist besonders der letzte Band der Reihe geworden. Nach und nach scheint sich alles zum schlimmsten zu wenden, die Lage für Artus und seine Getreuen immer aussichtsloser zu werden. Und dem Leser ist, nicht nur aufgrund des Titels, klar, dass das Ganze nicht gut ausgehen kann und wird. Doch gerade diese Tatsache, scheint das Buch noch umso spannender zu machen. Man weiß, dass der Traum vom friedlichen Britannien nicht in Erfüllung gehen kann, dass Mordred verloren ist, dass es zu viele Sachsen sind, um siegen zu können, dass das Druidentum zum Untergang verdammt ist. Aber man will das Drama, die Tragik, hautnah erleben. Und was Bernard Cornwell hier dann auf den letzten einhundertfünfzig Seiten abfackelt, ist großes Kino, ist einfach schlicht und ergreifend meisterhaft.

Die letzten Schritte an der Seite Arthurs und seiner Gefährten sind unheimlich schwer, der Abschied von den ans Herz gewachsenen Figuren rührt. Und die ganze Leidenschaft, die Cornwell in die Geschichte hineingesteckt hat, sie zahlt sich mehr als aus. Ein Buch wird an dieser Stelle für kurze Zeit zu mehr. Wenige Worte, die lediglich etwas beschreiben, werden zu einem beeindruckenden, ergreifenden Moment. Würdiger und besser hätte sich der Kreis der Handlung nicht schließen können. Und kurz, ganz kurz, war ich mir tatsächlich sicher: Irgendjemand schneidet gerade Zwiebeln.

Arthurs letzter Schwur“ ist, wie schon seine beiden Vorgänger, ein Meisterwerk im Genre des historischen Romans. Hervorragend erzählt, atmosphärisch einzigartig, unheimlich bewegend. Es ist eins dieser Bücher, die im Gedächtnis, die unvergesslich bleiben. Und es ist die beste, weil glaubhafteste Geschichte vom „König“ Artus, die ich bisher lesen durfte.

Wertung: 97 von 100 Trefferneinschuss2

  • Autor: Bernard Cornwell
  • Titel: Arthurs letzter Schwur
  • Originaltitel: Excalibur
  • Übersetzer: Gisela Stege
  • Verlag: Rowohlt
  • Erschienen: 12.2009
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 688
  • ISBN: 978-3499246265

Der Kessel von Clyddno Eiddyn

© Rowohlt

Der Schwachpunkt einer jeden Trilogie ist bekanntlich fast immer der zweite Teil, da ein Großteil der vorhergehenden Ereignisse aufgegriffen werden und das Buch zwangsläufig mit einem offenen Ende schließen muss. Bernard Cornwell schafft es jedoch, trotz dieser offensichtlichen erzählerischen Einschränkungen, nochmals eine Schüppe oben drauf zulegen und den ohnehin schon überragenden ersten Part der Artus-Saga, „Der Winterkönig“, zu überflügeln.

Erneut entzaubert er die bis dato bekannte Legende um die Tafelrunde und Camelot, um stattdessen dem Leser eine Alternative zu kredenzen, welche dank sorgfältiger Recherchen nicht nur historisch glaubwürdiger daherkommt, sondern zugleich den sonst sehr stereotyp gezeichneten Heldenfiguren und Bösewichten ein gehöriges Maß an Facettenreichtum und Tiefgang verleiht. Herausgekommen ist ein historischer Roman, der als schulmeisterliches Beispiel für die Verknüpfung von Fakten und Fiktion gelten darf.

Britannien Ende des 5. Jahrhunderts. Nach der Schlacht von Lugg Vale ist Arthurs lang ersehnter Traum in Erfüllung gegangen: Die bisher zerstrittenen britannischen Stämme sind endlich im Kampf gegen die sächsischen Eindringlinge vom Festland geeint und Gerechtigkeit und Ordnung scheinen greifbar nahe. Nach mehreren Kämpfen an der sächsischen Grenze wird ein zerbrechlicher Frieden ausgehandelt, der dem Land einige Jahre der Ruhe beschert. Doch während der bösartige Mordred auf seine Rolle als König vorbereitet wird, ziehen am Horizont bereits dunkle Wolken auf, denn mit dem Sieg bei Lugg Vale ist auch das Christentum in Britannien erstarkt. Einzig und allein Merlin, der Druide, und seine Gehilfin Nimue glauben noch an die Wiederkehr der alten Götter. Um die deren Mächte neu zu entfesseln, brauchen sie den Kessel von Clyddno Eiddyn, eines der dreizehn Kleinodien der Briten, das sich auf der Insel Ynys Mon und damit tief im Territorium des gefürchteten irischen Königs Diwrnach befindet. Durch einen Eid an Merlin gebunden, schließt sich der Krieger Derfel Cadarn dem Druiden an und reist gemeinsam mit diesem tief ins Feindesland … wo Diwrnach bereits auf sie wartet.

Währenddessen droht von anderer Seite ebenfalls Gefahr. Guinevere, Arthurs Frau, hat genug von ihrer Rolle als stilles Eheweib und sucht den Kontakt zum machtgierigen und selbstverliebten Lancelot. Und der hat, da ihm Derfel einst die Frau vor dem Altar stahl, mit Arthurs bestem Mann schon seit langem eine Rechnung offen …

Erneut wird uns die Geschichte rückblickend aus der Sicht von Derfel Cadarn erzählt, dem bei den Briten aufgewachsenen Sachsen, welcher nun im hohen Alter im Kloster lebend, der Königin Igraine die Legenden um Arthur niederschreiben soll. Dabei wird einiges wieder ganz anders dargestellt, als man es gemeinhin aus den Sagen kennt. Ein Umstand, den die heldenliebende Igraine stets aufs Neue bemängelt, dem Leser jedoch nur zugute kommt, denn Bernard Cornwells Darstellung von Arthur, Merlin, Lancelot und Co. hebt sich erfrischend vom klischeehaften Einerlei bisheriger Literaturfassungen ab. So hat Arthur nichts mit dem strahlenden Recken zu Pferde gemein, sondern wird als idealistischer, kühner Mann voll Schwächen gezeichnet, welcher in Merlin einen Verbündeten hat, den einzig und allein die Götterwelt und weniger die Geschicke der Menschen interessiert. Guinevere hat auch hier nichts von ihrer Schönheit verloren, ist jedoch zudem mit einer überragenden Intelligenz gesegnet, die große Ambitionen in ihr nährt, wohingegen Lancelot als narzisstischer und opportunistischer Feigling wohl den größten Gegensatz zur altbekannten Vorlage darstellt.

Cornwell hat mit der Zeichnung seiner Charaktere beeindruckendes, ja streckenweise atemberaubendes geleistet, denn trotz all dieser neuen Facetten, nimmt einen das hier geschilderte Frühmittelalter von der ersten Seite gefangen. Man leidet, hofft und bangt mit den Helden, welche allesamt mit unglaublicher Tiefe ausgestattet sehr menschlich skizziert wurden und im Verlauf der Trilogie eine jederzeit nachvollziehbare Entwicklung durchmachen. Auf der anderen Seite wird die Bühne dieser Erzählung von einer ganzen Schar äußerst hassenswerter Bösewichte besiedelt, welche uns stets um Arthurs Hoffnungen und Träume bangen und ein Happy-End nicht selten in weite Ferne rücken lassen. Ohnehin ist auch Band zwei der Artus-Chroniken wieder mal nichts für zartere Gemüter, was schon in der Erzählperspektive des Buches begründet liegt. Derfel, als Kind einer druidischen Todesgrube entkommen, ist als Krieger aufgewachsen und schreibt deshalb auch aus deren Sicht. Seine Geschichte Arthurs ist eine Geschichte voller Kriege zwischen Angeln und Sachsen, vom Konflikt des Druidentums mit dem aufkommenden Christentum. Sprachlich wird nichts beschönigt, die Taten auf und neben dem Schlachtfeld detailliert geschildert. Das frühe Mittelalter war eine rauhe, eine rohe Zeit. Und genau das will Cornwell auch zeigen. Wem das nicht liegt, der sollte lieber zu Iny Lorentz und Konsorten greifen.

Dass sich Cornwell damit zwangsläufig vom ätherischen, magischen Mythos im Stile Marion Zimmer Bradleys entfernt, liegt auf der Hand. Und dennoch verliert die Erzählung nichts von ihrem Zauber und ihrer Unterhaltung. Da wird die „Tafelrunde“ kurzerhand zum bierbefleckten Holztisch voll schnarchender, besoffener Speerträger umfunktioniert, was neben den Auftritten Merlins eine der humorigsten Passagen des Buches darstellt. Cornwell gelingt das, was nur wenigen gelingen will. Einen Mythos neu zu interpretieren, in dem er ihm zwar den Glanz nimmt, aber gleichzeitig glaubwürdiger, nachvollziehbarer und damit bewegender macht. Die bildhafte, direkte Sprache lässt selbst die verworrensten politischen Intrigen und Verwandschaftsverhältnisse verständlich werden, ohne das an irgendeiner Stelle deutlich wird, wo die Fakten aufhören und die Fiktion beginnt. „Der Schattenfürst“ funktioniert somit als fantastischer und historischer Roman gleichermaßen. Nicht zuletzt deshalb, da Cornwell Kenner der Mythologie das Erwartete auf völlig andere Art und Weise präsentiert und neben seiner üblichen Liebe zu Schlachten diesmal auch besonders im Hinblick auf die Charakterzeichnung zu punkten weiß.

Für mich gehört „Der Schattenfürst“schon jetzt zu meinen persönlichen Favoriten in diesem Genre. Über knapp 700 Seiten hat Cornwell mich mit herrlichen Bildern und ungeahntem Tiefgang auf allerhöchstem Niveau unterhalten, bewegt und bis zum Ende nicht losgelassen. Wenn man in manchen Passagen (hier möchte ich besonders Cornwells Erzählung von Tristan und Iseult/Isolde hervorheben) einen Kloß im Hals hat, an anderer Stelle vor Wut und Empörung kocht, um dann wieder im Wüten der Schlacht das Adrenalin steigen zu spüren, dann, ja dann, hat ein Buch bemerkenswertes geleistet.

Bernard Cornwell hebt sich mit „Der Schattenfürst“ endgültig weit von der trivialen Konkurrenz ab und schafft eine Neuerzählung des Mythos, welche den Geist jener Zeit lebendig macht und den ohnehin schon brillanten Vorgänger (den man vorher gelesen haben sollte) zu übertrumpfen weiß. Ein episches Meisterstück, das mit zwei Karten, Namensliste und äußerst informativen Nachwort abgerundet wird.

Wertung: 96 von 100 Trefferneinschuss2

  • Autor: Bernard Cornwell
  • Titel: Der Schattenfürst
  • Originaltitel: Enemy of God
  • Übersetzer: Gisela Stege
  • Verlag: Rowohlt
  • Erschienen: 05.2009
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 688
  • ISBN: 978-3499246258

+++ Vorschau-Ticker „Crime“ – Winter 2019/Frühjahr 2020 – Teil 3 +++

Aller guten Dinge sind bekanntlich drei. Und auch wenn der vorliegende Ticker keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt (eventuell entdecke ich den ein oder anderen Titel erst etwas später), so sollte ich doch nun einen Großteil der – in meinen Augen – verheißungsvollsten Krimis eingefangen haben. Die Chance, dass dabei möglichst viele der aufgeführten Bücher in meinem Regal landen werden, sind zudem recht hoch, denn bei Verlagen wie Pendragon, Ariadne oder Unionsverlag ist man eigentlich grundsätzlich immer auf der sicheren Seite.

Damit ohne weiteres Blabla zu meiner Auswahl. Wie immer freue ich mich auf eure Einschätzung der Liste. Wo schlägt euer Krimi-Herz höher? Und welche Titel habe ich bis jetzt vergessen (Immer gerne her mit den Tipps!)?

  • Giancarlo de Cataldo – Der Agent des Chaos
    • Hardcover, September 2019, Folio Verlag, 978-3852567686, 256 Seiten, 22,00 €
    • Crimealley-Prognose: Nach seiner (auch verfilmten) Mafia-Tetralogie und weiteren im Umfeld des organisierten Verbrechens (u.a. Suburra) angesiedelten Romanen, lässt Der Agent des Chaos mal wieder erfrischende Abwechslung erwarten. 60er Jahre, Woodstock, Auflehnung und Rebellion der Jugend. Und ein Agent Provocateur einer mysteriösen Organisation, welcher die Bewegung im Keim ersticken will. Dazu Sex, Rock ‚N Roll und Drogen. Könnte was werden und macht mich definitiv neugierig.
  • Chris Brookmyre – Dunkle Freunde
    • Taschenbuch, November 2019, Rowohlt Verlag, 978-3499274923, 480 Seiten, 13,00 €
    • Crimealley-Prognose: So regelmäßig wie die Bücher von Chris Brookmyre in Deutschland auf den Markt geworfen werden, so regelmäßig ignoriere ich sie seit Jahren auch. Und langsam stellt sich die Frage: Wieso eigentlich? Immerhin spielt auch Dunkle Freunde wieder mal im von mir geliebten Schottland und auch Protagonist Parlabane ist in Großbritannien längst eine feste Größe. Die Story um eine IT-Rebellin und eine Gruppe Hacker tönt zudem nicht unspannend. Vielleicht sollte ich mir daher endlich einen Ruck geben.
  • Jane Harper – Zu Staub
    • Broschiertes Taschenbuch, Juli 2019, Rowohlt Verlag, 978-3499000980, 384 Seiten, 16,00 €
    • Crimealley-Prognose: Nachdem der zweite Band der Aaron-Falk-Reihe ja doch mitunter zwiespältig aufgenommen wurde (ich habe ihn natürlich noch nicht gelesen), könnte Zu Staub jetzt die Tendenz festlegen, wo die Reise (qualitativ) in Zukunft hingeht. Mir gefällt Harpers trockene, harte und vor allem schnörkellose Sprache, welche die Einsamkeit des kochheißen Outbacks immer plastisch zum Leben erweckt. Ergo: Der dritte Falk wird sicher auch bei mir einziehen.
  • James Lee Burke – Mein Name ist Robicheaux
    • Broschiertes Taschenbuch, Oktober 2019, Pendragon Verlag, 978-3865326584, 464 Seiten, 20,00 €
    • Crimealley-Prognose: Auf der Liste der am heißesten erwarteten Krimi-Titel rangiert dieser ganz weit oben! Mit Mein Name ist Robicheaux bringt der Pendragon Verlag endlich wieder einen bis dato noch unübersetzten Band aus der Reihe um den gleichnamigen Ermittler. Für den absolut unfassbaren Fall, dass also jemand immer noch kein Buch von Großmeister Burke gelesen hat, hier nochmal der dringende Hinweis, dies jetzt unbedingt nachzuholen. Als Bonus gibt es zudem noch die Kurzgeschichte The Wild Side of Life oben drauf. Absoluter Muss-Kauf!
  • Kerstin Ehmer – Die schwarze Fee
    • Broschiertes Taschenbuch, August 2019, Pendragon Verlag, 978-3865326560, 376 Seiten, 18,00 €
    • Crimealley-Prognose: Sie war für mich eine DER Pendragon-Neuentdeckungen der letzten Jahre und hat dennoch meines Erachtens viel zu wenig Aufmerksamkeit bekommen. Der kleine Verlag aus Bielefeld bräuchte mal wieder einen Verkaufsschlager wie Borrmann. Ehmer hat dafür jegliches Format. Ich kann nur hoffen, dass ihrem zweiten Roman um Kommissar Spiro – an den ich ähnlich hohe Erwartungen habe – mehr Beachtung zuteil wird. Sowohl vom Feuilleton als auch von den Lesern.  An mir soll es jedenfalls nicht scheitern.
  • Chris Hammer – Outback – Fünf tödliche Schüsse
    • Broschiertes Taschenbuch, Juli 2019, Scherz Verlag, 978-3651025721, 496 Seiten, 14,99 €
    • Crimealley-Prognose: Nun ja, die britische und amerikanische Presse überschlägt sich auch bei diesem Thriller mit Superlativen. Und der Scherz Verlag tut das Seinige dazu, um ihn möglichst werbewirksam in Szene zu setzen. Das muss nichts heißen, stößt mir aber immer etwas bitter auf, wenngleich es am Ende wohl Erfolg zeitigen und das Buch Teil meines Regals werden wird. Auch weil die Story irgendwie nach einem Hackberry Holland im Outback klingt und einem nicht oft ein mehrfach mordender Pfarrer begegnet.
  • Gary Disher – Kaltes Licht
    • Hardcover, Juli 2019, Unionsverlag, 978-3293005501, 320 Seiten, 22,00 €
    • Crimealley-Prognose: Weniger Gedanken muss ich mir bei einem weiteren australischen Vertreter machen (Down Under nimmt in diesem Ticker irgendwie viel Platz ein). Gary Disher ist schon lange eine feste, verlässliche Größe. In Kaltes Licht wartet auf den Cold-Cases-Ermittler Alan Auhl eine im Garten vergrabene Leiche, an die sich so gar keiner der mürrischen Bewohner erinnern kann (oder will). Hört sich ein bisschen an wie Rebus in Australien. Und ähnlich wie Rankin, so hat mich auch Disher nie enttäuscht. Umso schöner, dass auch Pulp Master zwe weitere Titel des Autors in der Pipeline hat. Aber dazu mehr an anderer Stelle.
  • Denise Mina – Klare Sache
    • Hardcover, August 2019, Argument/Ariadne Verlag, 978-3867542425, 372 Seiten, 21,00 €
    • Crimealley-Prognose: Denise Mina und Ariadne. Da kommt endlich zusammen, was zusammengehört, denn auch wenn Heyne ja durchaus aktiv für die schottische Autorin geworben hat, irgendwie wollte sie für mich nicht recht in das Programm hineinpassen. Zumal der Klappentext oftmals eine Art Lektüre versprach, welche mit dem Inhalt wenig zu tun hatte, denn Mina steht eben nicht für den gehetzten Vollgas-Thriller, sondern – und das gibt die diesmalige (äußerst verlockende) Beschreibung von Klare Sache treffend wieder – für komplexe, tiefgründige Kriminalliteratur. Muss-Kauf.
  • Tawni O’Dell – Wenn Engel brennen
    • Hardcover, Juli 2019, Argument/Ariadne Verlag, 978-3867542395, 320 Seiten, 21,00 €
    • Crimealley-Prognose: Geisterstädte im ländlichen Pennsylvania. Verwüstete Landstriche. Rednecks. Milieu-Noir. Genug Schlagworte im Klappentext, um die mir bis dato unbekannte Autorin O’Dell nicht nur auf den Merkzettel zu packen, sondern da auch nach ganz weit oben zu schieben. Das könnte – das gute Näschen für außergewöhnliche Literatur von Ariadne im Hinterkopf – ein echter Kracher werden.
  • Dan Kavanagh – Duffy
    • Broschiertes Taschenbuch, August 2019, Kampa Verlag, 978-3311125013,  240 Seiten, 16,90 €
    • Crimealley-Prognose: Die Duffy-Reihe um den gleichnamigen Londoner Private-Eye (in der Tradition von Spade und Marlowe) hatte ich in der Vergangenheit immer mal auf dem Schirm und dann doch wieder Abstand von ihr genommen, da es sich bei Dan Kavanagh um das Pseudonym von Julian Barnes handelt. Und dessen belletristische Werke und ich – nun wir werden wohl in diesem Leben keine Freunde mehr. Aber vielleicht liegen mir seine Krimis ja mehr. Die Wiederentdeckung durch Kampa werde ich daher als Anlass nehmen, Barnes eine weitere, letzte Chance zu geben.
  • Georges Simenon – Die Fantome des Hutmachers
    • Hardcover, August 2019, Kampa Verlag, 978-3311134206, 272 Seiten, 22,90 €
    • Crimealley-Prognose: Auch bei Kampa erscheint diese Neuauflage des früher bei Diogenes veröffentlichten Simenon-Titels. Ein Autor, dessen Maigret-Romane ich sehr schätze und der dennoch zu Lebzeiten zu fleißig war, um überhaupt nur einen geringen Teil seines Werks überhaupt lesen zu können. Der Plot um einen mordenden Hutmacher, der wiederholt in den verregneten Nächten von La Rochelle auf Jagd geht  – was allein sein Nachbar ahnt – lässt aber ein intensives Katz-und-Maus-Spiel erwarten. Hach, und dieses Cover. Ist so gut wie gekauft.
  • Ngaio Marsh – Das Todesspiel
    • Taschenbuch, Oktober 2019, Bastei Lübbe Verlag, 978-3404178919, 240 Seiten, 10,00 €
    • Crimealley-Prognose: Nach mehr als dreißig Jahren feiert auch Ngaio Marshs Inspector Roderick Alleyn sein Comeback auf dem deutschen Buchmarkt. Und die Tatsache, dass Lübbe die Wiederentdeckung mit dem ersten Band der Reihe beginnt, lässt hoffen, dass ich meine alten, in Ehren gehaltenen Goldmann-Ausgaben in Zukunft nach und nach austauschen kann. Für alle die Marsh noch nicht kennen: Die Neuseeländerin gehörte neben Autorinnen wie Agatha Christie, Dorothy L. Sayers und Margery Allingham zu den ganz Großen des Golden Age des Kriminalromans. Und zu denjenigen, die sich, zumindest zu Beginn ihrer Schriftsteller-Karriere, strikt an die Regeln der klassischen Detektivgeschichte hielten. Jedem Freund des Whodunits kann ich daher den Kauf des Buchs nur ans Herz legen.
  • JB Lawless – Tod in der Bibliothek
    • Taschenbuch, Oktober 2019, Kiepenheuer & Witsch Verlag, 978-3462052480, 208 Seiten, 10,00 €
    • Crimealley-Prognose: JB Lawless ist das Pseudonym eines bekannten Autors, über dessen (vermeintlich deutsche?) Identität man Stand jetzt aber nur spekulieren kann. Tod in der Bibliothek dürfte jedenfalls die gleiche Klientel wie Marsh ansprechen, denn klassischer könnte dieser Rätselkrimi kaum daherkommen. Ein eingeschneites Herrenhaus in Irland. Eine illustre Gesellschaft. Ein toter Pfarrer in der Bibliothek. Ergo: Locked-Room-Mystery für eine gemütliche Ohrensessel-Lektüre in der kalten Jahreszeit. Und da ich so etwas zwischendurch immer wieder gerne lese, wird das Buch wohl auch in meine Bibliothek wandern.
  • Matthew Horace mit Ron Harris – Schwarz Blau Blut
    • Broschiertes Taschenbuch, Oktober 2019, Suhrkamp Verlag, 978-3518470152, 270 Seiten, 15,95 €
    • Crimealley-Prognose: Am Ende nochmal ein Titel aus der Ecke True-Crime. Dieser Bericht eines Cops über Rassismus und Polizeigewalt in den USA setzt sich mit einem hochaktuellen Thema auseinander und versucht die Ursache für den all den Hass innerhalb der amerikanischen Gesellschaft zu ergründen. Ein Buch direkt von der Front, von dem ich mir wenig Verklärung, dafür aber mehr Erklärung erwarte, wieso es in den Vereinigten Staaten unter Trump immer öfter zu Toten bei Festnahmen kommt. Oder besser gesagt zu schlichtem, von der Justiz legitimiertem Mord.

 

Das Erbe des Uther Pendragon

© Rowohlt

Nachdem zuletzt die Warterei auf Band 11 von Bernard Cornwells Sachsen-Saga zu lang zu werden drohte, habe ich mir „Der Winterkönig“ aus dem Bücherregal hervorgeholt, um damit zumindest etwas die Zeit überbrücken zu können. Ich konnte ja nicht ahnen, dass der Auftakt der Arthur-Trilogie, welche Cornwell Mitte der 90er und damit chronologisch vor der so erfolgreichen Serie mit dem Sachsen Uthred geschrieben hat, die anderen Werke nochmal derart in den Schatten stellen sollte. Und dabei standen die Zeichen vor der Lektüre doch eigentlich nicht so günstig, gibt es schließlich bereits genug Bücher über die Artus-Saga, von denen ein Großteil (von wenigen Ausnahmen abgesehen) letztendlich am versuchten Spagat zwischen Fiktion und Fakten gescheitert ist.

Besonders auf Letztere legt nun ja auch Cornwell bekanntlich großen Wert, weswegen das von ihm hier Geleistete umso höher zu bewerten ist. Ihm ist es gelungen, aus Mythen und Legenden, und trotz fehlender geschichtlich belegbarer Aufzeichnungen, einen historischen Roman zu schmieden, der die märchenhafte Erzählung zwar zu großen Teilen entzaubert, dafür aber gleichzeitig eine viel realistischere aus der Taufe gehoben hat. Diese sei schnell angerissen:

Britannien Ende des 5. Jahrhunderts. Es ist eine dunkle, eine düstere Zeit. Die Königreiche der Insel werden von Sachsen und Iren gleichermaßen bedroht, innere Streitigkeiten sorgen für Krieg zwischen den einzelnen Stämmen. Uther Pendragon, der alternde Großkönig, wartet verzweifelt auf die Geburt seines Kindes, in der Hoffnung es möge ein Junge sein, der seine Nachfolge sichert. Sein Wunsch wird ihm erfüllt, doch nur wenige Zeit später stirbt Uther aufgrund seines hohen Alters. Da der Säugling mit dem Namen Mordred das Land nicht regieren kann, beginnt nun die Suche nach einem Vertreter unter den Rittern, der anstatt des jungen Königs die Führung übernimmt und die begonnenen Friedensgespräche zwischen den britannischen Stämmen weiter vorantreibt. Ist Mordred alt genug, muss dieser Regent von seinem Amt zurücktreten und dem von Geburt an bestimmten Herrscher die Macht übergeben. Doch wer soll dieser Ritter sein?

Ein Rat wird gegründet, der aus den verschiedensten Stämmen den geeignetsten Kandidaten auswählen soll. Nach langen, zähen Verhandlungen einigt man sich schließlich auf Arthur, den Bastardsohn Uthers ohne legitimen Kronanspruch, der derzeit in Armorica, an der nordwestlichen Küste Galliens weilt, um dort das gefährdete britannische Reich gegen die vorrückenden Franken zu verteidigen. Bevor er sein Amt als Protektor Mordreds antreten kann, kommt es zu Verrat zwischen den Stämmen auf der Insel, den der junge rechtmäßige König nur knapp überlebt. Arthur eilt in Riesenschritten zur Hilfe und macht sich fortan an daran, das zerteilte Britannien zu einen, um die Sachsen endgültig vernichtend schlagen zu können. Alles sieht danach aus, als hätte er Erfolg. Die Heirat der Tochter eines ehemaligen Feindes scheint endlich den ersehnten Frieden und damit auch den Sieg zu bringen … bis Arthurs Blick auf die junge Guinevere fällt und durch seine Liebe zu ihr das gesamte Königreich in den Abgrund zu stürzen droht.

Uther Pendragon, Arthur, Guinevere, Merlin, Gawain, Lancelot. All die aus der legendären Sage bekannten Namen tauchen auch in diesem Buch auf, soviel sei verraten. Doch mit den Namen endet dann auch jegliche Ähnlichkeit zu anderen Artus-Büchern. Von Rittern in glänzenden Metallrüstungen oder elfengleichen Prinzessinnen vor turmhohen Steinburgen fehlt hier nämlich jede Spur. Und auch die Figuren sind so ganz anders, als man sie aus Film und vergleichbaren Büchern kennt. Cornwell zeigt sich einmal mehr als innovativer Autor und lässt die Geschichte, wie auch in der Sachsen-Saga, rückblickend erzählen. In diesem Fall von einem alten Mönch mit Namen Derfel, der als Kind nur knapp einer Todesgrube entkam und als Mündel des Druiden Merlins aufwuchs. In späteren Jahren wurde er zum findigen Krieger, Heerführer und Freund an Arthurs Seite, mit dem er gemeinsam so manche Schlacht schlug, um letztendlich in einem christlichen Kloster zu landen. Nun, im hohen Alter, schreibt er auf Wunsch von Lady Igraine seine Erlebnisse nieder, wobei diese stets den Ausgang der Geschichte sowie die Darstellung der Figuren zu beeinflussen versucht, da die von Derfel berichteten Vorgänge nicht zu dem von ihr lieber gesehenen Heldenbild der Beteiligten passen wollen. An dieser Stelle spielt Cornwell augenzwinkernd auf die verschiedenen, zumeist eher traditionellen Artus-Sagen an, die in seiner realitätsnahen Geschichte letztendlich keinen Platz finden.

Arthur ist hier kein strahlender Held und schon gar nicht König, sondern lediglich ein willensstarker, fähiger Krieger mit politischem Weitblick, dem es jedoch nicht an charakterlichen Schwächen und Feinden mangelt. Sein Mentor Merlin kann keine Zauberkräfte aufbieten und ist vielmehr der führende Kopf des vom Aussterben bedrohten Druidenkults. Und selbst Lancelot, der strahlende, blondgelockte Vorzeigeritter aus der Sage, hat keinerlei Ähnlichkeit mit der von z.B. Richard Gere verkörperten Figur. In diesem Buch ist er ein Feigling und Blender, und ein besonders hassenswertes Geschöpf dazu, an dem Cornwell seinen Spaß gehabt zu haben scheint. Selbiges gilt natürlich auch für Merlin, der mit seiner zynischen Art und dem staubtrockenen Humor nicht nur für ordentlich Spaß in der Geschichte sorgt, sondern der auch trotz seiner anfangs undurchsichtigen Handlungen die zusammenhängenden und -führenden Faden der Ereignisse in den Händen zu halten scheint.

Wo sonst besonders die Ausarbeitung der Nebencharaktere zu den größeren Schwächen des Autors zählt (u.a. bei „Das Zeichen des Sieges“ oder den ersten Bänden der Uthred-Reihe), so ist sie gerade hier das Bemerkenswerte des Romans. Alle, wirklich alle Personen innerhalb der Handlung überzeugen mit einer beeindruckenden Tiefe und einem Facettenreichtum, den man sonst innerhalb dieses Genres vergeblich sucht. Gute und Böse gibt es hier nicht. Vielmehr verkörpert fast jede Figur vor allem das Menschliche, das Zerrissene. Geleitet von den verschiedensten Motivationen und Wünschen sind sie weit entfernt von den strahlenden Rittergestalten der Sage, wodurch der Plot nicht nur an Authentizität gewinnt, sondern auch der Leser einen viel engeren Zugang zu den Charakteren bekommt. Und obwohl sich Cornwell liebevoll um diese, SEINE Figuren kümmert, verliert er doch nie den größeren Kontext aus den Augen. Dies hat zur Folge, dass „Der Winterkönig“ weit mehr ist, als nur eine weitere Version einer Legende. Der Autor erweckt eine ganze Epochen mit ihren Kriegen, Religionsstreitigkeiten und politischen Auseinandersetzungen zum Leben, und tut dies derart bildreich und berührend, das man nicht anders kann, als mitgerissen zu werden. So blutig und brutal auch hier die Schlachten wieder sind, sind es doch diesmal die ruhigen Szenen, die im Gedächtnis haften bleiben und das Leseerlebnis damit zu einem äußerst nachhaltigen machen.

Der Winterkönig“ ist weit mehr als ein guter Auftakt einer Trilogie. Cornwell stellt hier vielleicht erstmals sein sprachliches Können und seine Befähigung als Romancier auf ganzer Länge unter Beweis. Ein historischer Roman mit Anleihen des Fantasy-Genres, der einen Mythos auf die allerbeste Weise neu erzählt und gleichzeitig in Punkto Spannungsaufbau neue Grenzen auslotet. Für mich das (bisher) beste Werk dieses Autors, der sich langsam aber sicher zum Olymp des Genres schreibt.

Wertung: 95 von 100 Trefferneinschuss2

  • Autor: Bernard Cornwell
  • Titel: Der Winterkönig
  • Originaltitel: The Winter King
  • Übersetzer: Gisela Stege
  • Verlag: Rowohlt
  • Erschienen: 09.2008
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 688
  • ISBN: 978-3499246241

That’s the story of the Hurricane…

© Rowohlt

„Ich kenne keinen Schriftsteller, der nicht glaubt, dass er ein Boxer ist.“

Bei dieser auf den eitlen Norman Mailer gemünzten Aussage Nelson Algrens mag er auch ein bisschen an sich selbst gedacht haben, war doch der in Chicago aufgewachsene Autor Zeit seines Lebens ein fanatischer Fan dieser rauen Sportart. Die Innenseite seines rechten Oberarms zierten als Tätowierung ein paar Boxhandschuhe. Sein Lieblingsschauspieler war Charles Bronson, nicht zuletzt weil er kein Antlitz hatte, sondern ein Gesicht. Und zwar das eines Boxers. Selbst im Arbeitszimmer seiner Wohnung in Hackensack, New Jersey, hing neben dem Porträt Dostojewskis ein Foto von Rubin „Hurricane“ Carter. Man kann daher schon von einer gewissen Zwangsläufigkeit sprechen, sieht man sich die Entstehungsgeschichte seines biographischen Romans „Calhoun“ etwas näher an.

1983, zwei Jahre nach seinem Tod, veröffentlicht, erzählt Nelson Algren in „Calhoun“ die Geschichte des berühmten Boxers Rubin Carter, genannt „Hurricane“, der 1966 wegen Mordes inhaftiert und erst 1985 nach mehrfacher Wiederaufnahme des Verfahrens freigelassen wurde. Ein Fall, der nicht nur aufgrund von Bob Dylans Song und der Verfilmung mit Denzel Washington als Carter bis heute noch in den Köpfen der Boxfreunde präsent ist, sondern auch für viele Jahre die Debatte um den Rassismus in der US-amerikanischen Justiz stark befeuert hat. Algren greift diese Thematik in seinem Roman auf, verflechtet das Boxmilieu mit der etwas anderen Arena Gerichtssaal und zeichnet ein düsteres Bild vom Land der unbegrenzten Möglichkeiten, das bis heute wohl nicht allzu viel an Aktualität verloren hat. Umso interessanter, dass Algren ursprünglich gar keinen Roman im Sinn hatte. Als Carter und sein Freund John Artis, beide Afroamerikaner, in New Jersey des Mordes an drei Weißen für schuldig befunden und für dreimal lebenslänglich ins Gefängnis geschickt wurden, war der Autor als Reporter des „Esquire Magazine“ lediglich damit beauftragt, einen Artikel mit Interview zu machen. Doch es sollte anders kommen.

Algren, der den Schuldspruch aufgrund fragwürdiger Zeugenaussagen zweier Kriminelle vor einer durchweg weißen Jury von Beginn an für einen Skandal hielt, rechnete zumindest zu Beginn im Falle eines Wiederaufnahmeverfahrens mit einem Freispruch. Erst als dieser ausblieb bzw. das erste Urteil bestätigt wurde, sah sich Algren in der Pflicht, auf diesen Justizirrtum und vor allem die Logik dieses Irrtums aufmerksam zu machen. Da man dies den Lesern des „Esquire Magazine“, welche kaum den Bürgerrechtlern angehörten, nicht zumuten konnte, schrieb er die ursprüngliche Story um. Aus einem einfachen Artikel wurde ein dokumentarischer Prozessbericht und schließlich, mangels Interesse anderer Zeitungen, ein Roman, den der Autor, der vorerst weiter am Tatort (eine kleine Stadt namens Paterson) blieb und sogar nach New Jersey zog, stetig mit Informationen aus weiteren Recherchen anreicherte. Für Algren war „Calhoun“ dabei die ganze Zeit mehr als nur die Geschichte eines Boxers – es war seine letzte Abrechnung mit einem Amerika, eine Anklage gegen die andauernde rassistische Gewalttätigkeit weißer Geschworenengerichte und deren stille Billigung durch eine große Bandbreite der Bevölkerung.

Wie schon in seinem bekanntesten Roman „Der Mann mit dem goldenen Arm“, so singt auch hier „die Blechpfeife der amerikanischen Literatur“ (Algren über sich selbst) noch ein letztes Mal das Hohelied auf den Scheiternden, den Einzelgänger in den Höllen der so genannten „Freiheit.“ Aus heutiger Sicht liest sich dies immer noch kraftvoll, allerdings auch mit viel Bitternis und Pathos durchsetzt, denn Algren, der stets den Verlierer der Gesellschaft überzeugend spielte, aber nie wirklich verkörperte, bezieht in einigen Passagen zu eindeutig Position, was der Dramatik der Geschichte zwar entgegen kommt, dem ein oder anderen Justizbeamten im Nachhinein jedoch vielleicht nicht ganz gerecht wird. Dem eindringlichen Charakter von „Calhoun“ tut dies jedoch keinerlei Abbruch. Lange vor einem Scott Turow oder John Grisham wird hier die Widersprüchlichkeit des amerikanischen Justizsystems genauso in seine Einzelteile zerlegt, wie die verhängnisvolle Einflussnahme der wohlmeinenden Prominenz (u.a. Bob Dylan) auf Carters Wiederaufnahmeverfahren.

Um es in der Boxsprache zusammenzufassen: „Calhoun“ geht über die volle Distanz von 12 Runden und leistet uns, den Lesern, einen harten Kampf, da Algren immer wieder zwischen den Zeiten springt und auch die vielen Spitznamen der kriminellen Unterwelt New Jerseys oftmals zur Verwirrung beitragen.

Calhoun“ ist eine eindringliche, rasiermesserscharfe Wiedergabe über die Umstände des Falls Rubin „Hurricane“ Carter, an der man sich immer wieder schneiden und reiben kann. Eine eckige, kantige, nicht immer leichte Lektüre, wie sie typisch für Algren war. Ob man das mag oder nicht – Geschmackssache. In seine Fußstapfen ist bis heute jedenfalls nicht wirklich nochmal jemand getreten. Das dürfte dem „Verlierer“ Algren aber gefallen haben, der einer angehenden Schriftstellerin, welche auf der Schwelle zu einer literarischen Karriere stand, per Brief einmal folgenden Rat mitgab:

„Geh zwei Schritte zurück, Baby. Lauf davon, lauf, so schnell du kannst. Das ist keine Schwelle – das ist ein Abgrund.“

Wertung: 80 von 100 Treffern

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  • Autor: Nelson Algren
  • Titel: Calhoun – Roman eines Verbrechens
  • OriginaltitelThe Devil’s Stocking
  • Übersetzer: Carl Weissner
  • Verlag: Rowohlt
  • Erschienen: 1/1999
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 305 Seiten
  • ISBN: 978-3499136825