Money for nothin and chicks for free

© Polar

Wer sich schon etwa länger in der kriminellen Gasse herumtreibt, dem wird vielleicht schon aufgefallen sein, dass ich das Werk des leider bereits 2012 verstorbenen Schriftstellers William Gay über alle Maße schätze – und im vorletzten Herbst entsprechend freudig auf die Nachricht des Polar-Verlags reagiert habe, als mit „Stoneburner“ die Übersetzung eines posthum veröffentlichten Romans angekündigt wurde. Dass dieser überhaupt erscheinen konnte, ist einer kleinen Gruppe von Freunden und Bewunderern des Autors zu verdanken, welche sich nicht nur die Mühe machten, dessen unzählige Manuskripte zu sichten, sondern auch die handgeschriebenen Texte abtippten und letztlich in Form brachten.

Mühe, die sich – soviel sei vorab verraten – durchaus bezahlt gemacht hat, was allerdings auch ein wenig davon abhängt, mit welchen Erwartungen man die Lektüre von „Stoneburner“ in Angriff nimmt, der als Hardboiled-Detective-Eye beworben wird, tatsächlich sogar mit einigen der klassischen Ingredienzien aufwartet, dennoch aber sich der eingeschlagenen Richtung nicht immer so ganz sicher zu scheint. Ein Grund dafür ist bereits in der Entstehungsgeschichte des Buches zu finden, in dem Gay nicht nur einen gehörigen Teil seiner eigenen Biografie verarbeitet, sondern auch seine frühe Liebe zu Autoren wie William Faulkner, Thomas Wolfe, Ross MacDonald oder Mickey Spillane (Insbesondere letzterer dürfte gerade die Charakterisierung der weiblichen Hauptfigur maßgeblich beeinflusst haben, die das Motiv der umtriebigen Femme Fatale tatsächlich auf die höchstmögliche literarische Spitze treibt). Dennoch blieb „Stoneburner“ über viele Jahre in der Schublade, wofür letztlich vor allem Cormac McCarthy verantwortlich zeichnet, mit dem Gay, erstmals nachhaltig beeindruckt durch dessen „Draußen im Dunkel“, eine lange und innige Freundschaft verbunden hat. McCarthy gelang sein großer Durchbruch schließlich mit „Kein Land für alte Männer“, was wiederum Gay veranlasste, sein eigenes Manuskript noch vor der Veröffentlichung zurückzuziehen.

Einerseits war Gay immer sehr empfindlich gegenüber Vergleichen mit seinem Freund, andererseits gibt es dermaßen viele Parallelen zwischen den beiden Werken, dass er mit dem Vorwurf, die Handlung geklaut zu haben, hätte rechnen müssen. Um auch nochmal zu verdeutlichen, wie ähnlich sich beide Plots sind, sei der von „Stoneburner“ hier kurz angerissen:

Ackerman’s Field, Tennessee, im Jahr 1974. Sandy Thibodeaux, Vietnam-Veteran und inzwischen unberechenbarer Trinker, nutzt die Gunst des Stunde, als er eines Nachts die heimliche Landung eines Drogenkuriers mitverfolgt und sich den kurzzeitig unbeobachtet gelassenen Koffer mit dem dafür vorgesehenen Geld unter den Nagel reißt. Hundertfünfundachtzigtausend Dollar. Genug um die drückende Enge der Provinz hinter sich zu lassen und vielleicht auch endlich bei Cathy Meecham zu landen, deren verführerisches Äußeres Sandy schon seit längerem um den Verstand bringt. Cathy, beeindruckt von dessen neuerworbenen Reichtum, zeigt sich tatsächlich interessiert und brennt kurzerhand mit ihm durch. Sehr zum Missfallen von „Cap“ Holder, dem ehemaligen Sheriff des Countys, der allein schon aufgrund seiner Statur immer noch von vielen vor Ort gefürchtet wird. Er erhebt Anspruch auf Cathy, hatte Thibodeaux bereits vorgewarnt und setzt nun, zusätzlich noch von Schulden geplagt, alles auf eine Karte, um sie zu finden und zurückzuholen.

Hier kommt der titelgebende Privatdetektiv (ohne Lizenz) Stoneburner ins Spiel. Von Holder beauftragt, soll er das flüchtige Pärchen aufspüren, welches, mit Geld um sich schmeißend, eine allzu deutliche Spur im Süden der USA hinterlässt, bis diese schließlich in den Baumwipfeln eines Bergpasses in den Ozarks endet. Für Stoneburner ist es jedoch mehr als ein Routineauftrag. Er hatte einst gemeinsam mit Thibodeaux in Vietnam gedient, war dort gar eng mit ihm befreudnet. Und eine Frage bleibt zudem offen: Welches Spiel spielt eigentlich „Cap“ Holder in dieser Geschichte? Als Stoneburner nach und nach die Zusammenhänge erkennt, wird der Fall für ihn im wahrsten Sinne des Wortes heiß …

Bei uns ins Ostwestfalen gibt es bei einer kritischen Betrachtung die Redewendung „Wie wenn einer will und kann nicht.“ Das lässt sich aber nicht eins zu eins auf „Stoneburner“ übertragen und muss in „Wie wenn einer kann und weiß nicht genau wie“ abgewandelt werden, denn wiewohl William Gay einmal mehr stilistisch und sprachlich auf allerhöchstem Niveau zu überzeugen weiß – es ist diesmal eine literarische Reise mit einigen (unnötigen) Hindernissen für den Leser. Der muss nach dem Prolog erst einmal für knapp zweihundert Seiten von Stoneburner Abschied nehmen und damit gleichzeitig von der (durchaus im Klappentext geschürten) Hoffnung, den Privatdetektiv bei seinem Fall durchgängig begleiten zu dürften. Stattdessen konzentriert sich William Gay gänzlich auf die Beschreibung von Thibodeaux‘ wilder Flucht, welche von den beiden Flüchtenden jedoch wie eine Perversion der üblichen Flitterwochen gelebt wird, wodurch sich „Stoneburner“ in der ersten Hälfte eher wie ein Roadmovie anfühlt als wie ein typischer Vertreter des „Noir“. Und dabei, das muss man natürlich trotzdem betonen, seine Sache auch sehr gut macht.

William Gay nutzt die lange Reise um uns insbesondere in Thibodeaux‘ Gedankenwelt einen größeren Einblick zu gewähren, dem zwar von vorneherein bewusst ist, dass Cathy ihn nur wegen des Geldes begleitet, darüber sich aber bald in paranoiden Wahnvorstellungen verliert, sie könnte ihn berauben oder – noch schlimmer – „Cap“ Holder absichtlich auf seine Fährte bringen. Was immer Thibodeaux anfasst, scheint im Unglück zu enden, was diesen vom Krieg traumatisierten Tunichtgut aber mehr und mehr zum Sympathieträger aufsteigen lässt, zumal er, trotz eindeutig krimineller Tendenzen, zwischendurch stets sein gutes Herz beweist. So riskiert er zum Beispiel im verschneiten Gebirge seine eigene Gesundheit, um einem schwer kranken Jungen Medizin zu bringen. Ein selbstloser Akt, der ihn auch die Augen bezüglich Cathy endgültig öffnet, dadurch aber wiederum eine Kette von unglücklichen Ereignissen auslöst, die Böses erahnen lassen. Überraschenderweise ertappen wir uns selbst dabei, ihm bei seinem Vorhaben Glück zu wünschen, wobei Kenner von William Gays Werken natürlich wissen, dass es kein Happy-End geben kann. Die enge Beziehung, welche wir zu Thibodeaux aufbauen, erweist dem Roman dann deshalb auch ungewollt einen Bärendienst, wenn dessen Erzählperspektive gänzlich zu Stoneburner wechselt, der nun die Jagd auf seinen alten Kriegskameraden eröffnen soll.

Zwar ergibt sich durch Stoneburners Blickwinkel noch einmal ein facettenreicheres Bild von Thibodeaux, aber der Leser sieht sich an dieser Stelle dennoch etwas störend gezwungen, nochmal gänzlich von vorne Vertrauen zu einer weiteren Figur aufzubauen. Ein Prozess, der zumindest in meinem Fall nur äußerst schleppend in Gang kam, da Stoneburner sich doch allzu willig von dem herrschsüchtigen, wenngleich ebenfalls von Tragik umgebenen „Cap“ Holder durch die Gegend kommandieren lässt und – wie es sich nun für einen Private-Eye in den Tradition von Ross MacDonald und Chandler gehört – ebenfalls den erotischen Reizen der herrlich hassenswerten Cathy zu erliegen droht. Die Reminiszenzen an Gays große Vorbilder, sie sind allgegenwärtig, laufen aber zu oft nebeneinander her, um eine richtige Symbiose eingehen zu können, wodurch einige Passagen allzu holprig daherkommen. The more, the merrier. Das gilt nun eben nicht immer. Und hier wäre ein bisschen weniger Inspiration von außen und stattdessen ein Schuss mehr Gay angebrachter gewesen. Es hätte auch dem Lesefluss selbst gut getan.

Dennoch darf und will ich diese Besprechung keinesfalls mit einem kritischen Ton abschließen – dafür ist auch der vorliegende Roman einmal mehr viel zu hochklassig. Was William Gays bildgewaltige, epochale und düster-schwarze Schreibe stets aufs Neue mit mir anrichtet, das hat schon ein Alleinstellungsmerkmal. Da stört es sogar nicht, dass sämtliche wörtliche Rede ohne Anführungsstriche auskommen muss, zwingt doch diese archaisch-brachiale Wortgewalt unseren Blick geradezu fest an die Zeilen, um ja jedes Detail auch aufnehmen zu können. Wie auch James Lee Burke oder William Faulkner, so vermag es auch Gay, aus einer simplen Wetterbeschreibung ein nachhaltig wirkendes Erlebnis zu schmieden.

So bleibt „Stoneburner“ ein zwar streckenweise etwas inkohärenter, aber auch immer stimmungsvoller Mischling aus Southern-Gothic und klassischem Noir, der vielleicht sogar auf der Leinwand ein noch besseres Bild abgeben dürfte – wenn nicht hier ein gewisser Javier Bardem mit seinem Bolzenschussgerät die qualitative Latte schon so hoch gelegt hätte.

Wertung: 83 von 100 Treffern

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  • Autor: William Gay
  • Titel: Stoneburner
  • Originaltitel: Stoneburner
  • Übersetzer: Sven Koch
  • Verlag: Polar
  • Erschienen: 08/2020
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 388 Seiten
  • ISBN: 978-3948392123

Gastrezension: Tagesordnung – Hassverbrechen und Rassismus

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Gastrezensionen hat es bis heute in der kriminellen Gasse noch nicht gegeben. Umso mehr freue ich mich über die vorliegende Besprechung meiner ehemaligen Krimi-Couch-Kollegin Eva Bergschneider, die bereits seit längerer Zeit mit ihrem wortwörtlich fantastischen Blog die Freunde der Phantastik und Science-Fiction mit den entdeckungswürdigsten Lesetipps versorgt. Sie hat sich mit Attica Lockes „Bluebird, Bluebird“ einen der meistgepriesenen Kriminalromane dieses Jahres vorgenommen und herausgearbeitet, warum die Lobeshymnen berechtigt sind und dieser Titel thematisch kaum aktueller sein könnte.

Mit einem Abschluss in Princeton und zwei Jahren Jurastudium hätte Darren Mathews leicht einen Platz in der Elite der afroamerikanischen Anwälte einnehmen können. Stattdessen folgte er dem Beispiel seines Onkels, um Texas Ranger zu werden. Auf Drängen eines Freundes im FBI fährt er nach Lark. Was zunächst wie ein doppeltes Hassverbrechen in einer winzigen Stadt in Texas aussieht, entpuppt sich als ein komplizierter Fall. Eines der Opfer ist Michael Wright, ein schwarzer Anwalt aus Chicago. Das andere Opfer Missy Dale, eine unglücklich verheiratete weiße Kellnerin, die zusammen mit Wright eine Redneck-Bar in Lark spät in der Nacht verlassen hat. Beide misshandelten Leichen werden im nahegelegenen Attoyac Bayou gefunden.

Mathews, der wegen eines ähnlich gelagerten Falls suspendiert wurde, vermutet eine Verbindung zur Aryan Brotherhood of Texas, einer gewalttätigen rassistischen Bande, die sich durch Drogenschmuggel bereichert. Er trifft auf einen ihm feindlich eingestellten Sheriff, den rassistischen Ehemann der Toten und die äußerst launische Witwe des toten Anwalts, die extra einfliegt, um herauszufinden, was ihrem Ehemann zugestoßen ist.

Darren Mathews sind drei Dinge in seinem Leben am wichtigsten: seine Identität als afroamerikanischer Texaner, seine Berufung zum Texas Ranger und seine Ehefrau Lisa. Punkt zwei und drei kann er gerade nur eingeschränkt für sich beanspruchen, denn Darren wurde vorübergehend suspendiert und lebt von seiner Ehefrau getrennt. Darren half seinem Freund Mack, dessen Tochter vor dem bekannten Rassisten Malvo zu beschützen. Kurz nach dem Vorfall wird Malvo erschossen aufgefunden und Mack als Tatverdächtiger festgenommen. Darren glaubt, dass die rassistische Organisation Aryan Brotherhood of Texas (ABT) dahintersteckt, deren kriminelle Machenschaften er als Sonderermittler untersucht. Weil er kurz vor dem Mord Zeuge des Streits zwischen Malvo und Mack war, muss er bis zur Klärung des Vorfalls den Ranger Stern ablegen. Oder ist dies eine bequeme Art, einen Farbigen von der ABT Front abzuziehen?

FBI Agent Greg Heglund ist Darrens ältester Freund, ein Weißer, der unter Afroamerikanern aufgewachsen ist. Greg bittet ihn, sich im Fall eines Doppelmords unauffällig umzusehen. Im winzigen Nest Lark im osttexanischen Shelby County ist zuerst ein farbiger Anwalt aus Chicago misshandelt und ermordet worden und zwei Tage später eine weiße Kellnerin. Haben diese Verbrechen miteinander zu tun? Irgend so ein Rassending, wie Darren es immer formuliert? Das wüsste Greg gern, bevor er offiziell Ermittlungen einleitet.

Darren fahrt also nach Lark und kehrt sowohl in „Genevas Sweet’s Sweets“ ein, einem Café für Farbige, als auch in der vom ABT frequentierten Kneipe schräg gegenüber. Das“ Jeff Juice House“ nennen sie auch Eishaus. Dort arbeitete die ermordete Kellnerin Melissa „Missy“ Dale. Und ausgerechnet dort lernt er die Ehefrau des ersten Ermordeten Michael Wright kennen, die Fotografin Randie Winston. Willkommen sind beide nicht.

Der Sheriff behauptet, Wright sei ausgeraubt worden und im Fluss ertrunken, doch Darren findet schnell heraus, dass das nicht stimmen kann. Vielmehr verdächtigt er Keith, einen ABT Anwärter, den er im Eishaus kennenlernte. Denn schließlich müssen die Brüder bei dem Eintritt nicht nur einen Eid ablegen, sondern auch einen Farbigen killen.

Die Wurzeln des Verbrechens reichen tief in die Vergangenheit

Seit 1964 gibt es den Civil Rights Act, also das Gesetz, welches in den USA Diskriminierung aufgrund von Rasse, Hautfarbe, Religion, Geschlecht und nationaler Identität verbietet. 55 Jahre nach dessen Verabschiedung erhält eine farbige Familie im Median ein Zehntel des Gehalts einer weißen Familie. 2008 wurde mit Barack Obama der erste schwarze Präsident in den USA vereidigt, was als Symbol dafür galt, das Farbige alles erreichen können. Doch insbesondere im US-Staat Texas reißen die Fälle von staatlich ausgeübtem Rassismus nicht ab. Studien belegen, dass die Polizei Farbige brutaler behandelt als Weiße. Auch im texanischen Alltag ist Rassismus alltäglich. Seit dem Amtsantritt Donald Trumps häufen sich verbale und gewalttätige Übergriffe auf Farbige.

In diesem Spannungsfeld spielt der Kriminalroman von Attica Locke „Bluebird, Bluebird“, der sowohl mit dem Edgar Allen Poe Award, als auch mit den Ian Fleming Steel Dagger ausgezeichnet wurde. Die Schriftstellerin, die in Houston/Texas aufwuchs und heute in Los Angeles lebt, siedelte die Geschichte um den farbigen Texas Ranger im Jahr 2016 an. Im letzten Jahr von Obamas Präsidentschaft. „Bluebird, Bluebird“ erzählt eine Geschichte, die tief in die Historie und Kultur des Landes blickt.

Er sagte immer, Texas ist dies und Texas ist das. Und das es nicht so schlimm sei. Michael hatte immer Ausreden für diese Rassisten hier unten parat, hatte so eine verdrehte Sehnsucht nach der Zeit, als er hier aufgewachsen ist, was ihn für den Wahnsinn hier blind gemacht hat.“

Es geht nicht um Ausreden“, sagte Darren. „Es bedeutet zu wissen: Ich bin auch hier. Ich bin auch Texas. Sie haben über diesen Ort nicht zu urteilen“, sagte er und nickte in Richtung Wallys Villa hinter ihnen. „Das ist auch meine Heimat“. [S. 136]

Ein stolzer Texaner und Kämpfer für die Gerechtigkeit

Darren Mathews studierte Jura an einer Eliteuniversität. Doch anstatt die Anwaltslaufbahn einzuschlagen, wurde er Polizist, was seiner Ehefrau Lisa missfällt. Sie fühlt sich allein gelassen mit ihrer ständigen Angst um ihren Mann. Dafür hat sie guten Grund, da Darren gegen die Aryan Brotherhood vorgeht. Die AB Mitglieder tragen ihre Nazi-Gesinnung offen mit tätowierten Hakenkreuzen, SS-Runen und dem Reichsadler von 1933 zur Schau. Sie gelten als extrem gewalttätig, nicht nur gegen People of Colour, sondern auch gegen Abtrünnige aus den eigenen Reihen. In „Bluebird, Bluebird“ kommt eine der grausamsten Taten der AB zur Sprache: 1998 banden drei ehemalige Häftlinge den Afroamerikaner James Byrd jr. an einen am Heck ihres Pickups befestigten Haken. Und schleiften ihn über fünf Kilometer zu Tode. Da die ABT in Lark ungehindert übelsten Rassismus auslebt, liegt die Schlussfolgerung nah, dass es sich bei der Ermordung des farbigen Anwalts um ein Hassverbrechen handelt.

Doch es steckt mehr hinter den Morden. Darren stößt mit seinen Ermittlungen, erst inkognito, dann mit angestecktem Ranger-Stern, in ein Wespennest und an seine Grenzen. In Lark prägt eine Atmosphäre des verdeckten Hasses das Alltagsleben. Darren stammt selbst aus der Gegend und geht daher äußerst vorsichtig vor, zum Unwillen der Ehefrau des Ermordeten. Randie stellt eine Art Gegenentwurf zu den Menschen in Osttexas dar, als prominente Fotografin aus der Metropole Chicago mit ihrem teuren Kaschmirmantel. Eine Schießerei in Genevas Café offenbart, wie verzwickt und weitreichend sich die Historie dieser Taten gestaltet. Der Besuch des farbigen Anwalts in Lark löste einen Kaskadeneffekt aus, dessen Ursprung in die Zeit zurückreicht, in der die Bluesmusik populär war und farbige Musiker mit Soulgitarre und rauer Stimme gefeierte Stars. Zum Beispiel John Lee Hooker, von dem der titelgebende Song „Bluebird“ stammt.

Fall gelöst, Moral verfehlt?

Darren Mathews gelingt eine lückenlose und logische Auflösung beider Mordfälle, eine lässt mich dennoch etwas ratlos zurück. Der Täter kommt ein wenig wie aus dem Hut gezaubert daher. Was Darren Mathews nicht gelingt ist, als moralischer Sieger aus der Geschichte zu gehen. Schon der Alkoholkonsum und eine gewisse Eingenommenheit sorgen dafür, dass nie die Gefahr besteht, einen farbigen Vorzeigebullen zu stilisieren. Am Ende versetzt die Autorin ihrem Protagonisten einen Tiefschlag, der dem Texas Ranger in weiteren Bänden moralisch zu schaffen machen wird. Ich bin gespannt darauf.

Die stete latente Gefahr des Hasses und die schrittweise Aufdeckung von rassistisch motivierten und anderen Verbrechen fängt Attica Locke wunderbar mit einem eher ruhigen Storyaufbau ein, der an den richtigen Stellen das Erzähltempo anzieht und geschickt Spannungsmomente aufbaut. Ihr unaufdringlicher und trotzdem prägnanter Schreibstil zieht den Leser in das dramatische Geschehen und in die Gedanken- und Gefühlswelt der Protagonisten. Eine Prise mehr ‚Dreck‘ hätte die Dialoge vielleicht noch echter wirken lassen.

Die größte Stärke dieses Romans liegt darin, wie die Autorin das Lebensgefühl in Osttexas aus der Sicht der farbigen Einwohner detailgetreu zeichnet, ähnlich wie in den Büchern von Joe R. Lansdale. „Bluebird, Bluebird“ spiegelt eindringlich die Atmosphäre einer Gesellschaft, die sich multikulturell entwickelte und deren Ethnien entsprechend eng verflochten sind. In der jedoch die weiße Minderheit das Geld und die Macht in Händen hält und alles daran setzt, dass es auch so bleibt.

Gastrezension von Eva Bergschneider.

Wertung: 88 von 100 Treffern

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  • Autor: Attica Locke
  • Titel: Bluebird, Bluebird
  • Originaltitel: Bluebird, Bluebird
  • Übersetzer: Susanna Mende
  • Verlag: Polar
  • Erschienen: 02/2019
  • Einband: Hardcover
  • Seiten: 280 Seiten
  • ISBN: 978-3945133712

Die toten Seelen von Belfast

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Beinahe zwei Jahre ist es jetzt her, seit der in Hamburg ansässige Polar Verlag mithilfe eines süddeutschen Financiers ein drohendes Insolvenzverfahren abwenden – und damit vorerst gerettet werden konnte. Warum vorerst? Nun, man lehnt sich wohl nicht zu weit aus dem Fenster, wenn man vermutet, dass sich die Lage für die kleinen Verlage in letzter Zeit nicht zum Besseren gewandt hat. Erst kürzlich hat das Barsortiment Libri knapp 200.000 Titel ausgelistet. Vorwiegend zwar Bücher, welche sich in den vergangenen Jahren wenig bis gar nicht verkauft hatten, aber der Trend ist dennoch bedenklich, zumal viele Verlagshäuser ohnehin schon kaum mehr den Weg auf die Tische bzw. in die Regale der Buchhandlungen finden.

Ein Problem, welches den Vertrieb des eigenen Programms erheblich erschwert und das sicherlich auch Polar nicht unbekannt ist. Was wiederum bei den Krimi-Fans immer wieder für ungläubiges Stirnrunzeln sorgt, denn Titel wie das vorliegende „Ravenhill“ hätten doch ein so viel größeres Lesepublikum unbedingt verdient. Bereits im Mai auf Deutsch veröffentlicht, hat der Roman des Nordiren John Steele einen – für mein Empfinden – vergleichsweise kurzen Auftritt im hiesigen Feuilleton hingelegt. Zu kurz, um nachhaltig auf sich aufmerksam zu machen, was in diesem Fall gleich doppelt schade ist, punktet doch „Ravenhill“ nicht nur in der Königsdisziplin Spannung, sondern beleuchtet auch einen bis dato verhältnismäßig stiefmütterlich behandelten Aspekt des Nordirlandkonflikts. So konzentriert sich Steele bei seinem Blick zurück in die Zeit vor dem Karfreitagsabkommen in erster Linie auf die protestantischen paramilitärischen Organisationen, wodurch der kriminalliterarische Schauplatz der so genannten „Troubles“ – oftmals vor allem repräsentiert durch die IRA und das britische Militär – um eine weitere Ebene reicher wird. Worum es genau geht, sei an dieser Stelle kurz angerissen:

Belfast, im Februar des Jahres 1993. Eine kleine Videothek an der Ravenhill Road, welche wiederum am Rand des städtischen Ormeau Parks verläuft. Weil die Provisorische IRA hier einen geheimen Treffpunkt der UDA, der Ulster Defence Association, einer protestantischen paramilitärischen Untergrundorganisation vermutet, kommen bei einem Bombenanschlag neun Zivilisten, darunter zwei achtjährige Kinder, sowie zwei Mitglieder der PIRA ums Leben. Ein schockierendes Ereignis, selbst für ein Nordirland auf dem Höhepunkt des Konflikts, das ständige Schießereien und Explosionen sowie die dauerhaft am Himmel kreisenden Armee-Hubschrauber gewöhnt ist. Und Anlass für die Befehlsgeber in der UDA ihrerseits einen Gegenschlag gegen der verhassten katholischen Feind auszuführen. Unter der Führung von Billy Tyrie und dem skrupellosen Rab Simpson planen sie ein Attentat auf James Cochrane, einen hochrangigen Kommandanten der PIRA. Ein Puzzlestein ihres Plans ist dabei auch der junge Jackie Shaw, der – zur Abscheu seines Vaters und seiner Schwester – inzwischen in den inneren Kreis der UDA vorgestoßen ist.

Zwanzig Jahre später kehrt Shaw, der, nach einem Anschlag als tot galt, überraschend nach Belfast zurück, um der Beerdigung seines Vaters beizuwohnen. Das Karfreitagsabkommen hat die Situation in Nordirland inzwischen verändert, die Paramilitärs weitestgehend ihren ursprünglichen Zweck verloren. Einige, wie Jackies ehemaliger Kommandant Tyrie, finanzieren ihren Lebensstil mit dem gleichen Schutzgeld, das sie einst in ihren Gemeinden erhoben haben. Andere haben sich der Prostitution, dem Menschenhandel und den Drogen zugewandt und arbeiten sogar mit ihren ehemaligen Feinden aus PIRA zusammen. Ihre Methoden sind jedoch die gleichen geblieben. Verrätern und Spitzeln droht die Folter und ein Schuss in den Hinterkopf. Und Shaws Auftauchen wirft für seine früheren Weggefährten Fragen auf. Warum ist er immer noch am Leben? Wo hat er all die Jahre seine Zeit verbracht? Der Rückkehrer ist erst wenige Stunden in der Stadt, als die ersten ehemaligen Mitstreiter an ihn herantreten, um alte Schulden einzufordern …

Nein, als Baujahr 1983 bin ich tatsächlich etwas zu jung, um den Nordirland-Konflikt zum damaligen Zeitpunkt wirklich bewusst wahrgenommen bzw. auch seine Ausmaße verstanden zu haben. Dennoch sind da Erinnerungen an sich oft wiederholende Nachrichtenmeldungen im Fernsehen geblieben, in denen ausgebrannte Autowracks, zerstörte Hausfassaden oder Männern mit Strumpfmasken zu sehen waren. Und an Eltern, die sich angesichts dieser Gewalt vor dem Fernseher immer wieder erschüttert gezeigt haben. Ein Krieg mitten in Europa zwischen Protestanten und Katholiken – das ist auch rückblickend für einen Deutschen, der als Protestant selbst mit einer Katholikin verlobt ist, nur schwer zu verstehen. Ja, auch wenn man mit der irischen Geschichte durchaus vertraut ist.

John Steeles erster Kriminalroman „Ravenhill“ trägt in dieser Hinsicht wenig zum einem größeren Verständnis bei, kümmert er sich doch weniger um das Warum als vielmehr um das Wie. Er thematisiert nicht nur die brutalen Auseinandersetzungen der Troubles, er vermag es auf entsetzende Art und Weise diese Gräueltaten noch einmal lebendig werden zu lassen und die Abscheu vor dem menschlichen Leben – von beiden Seiten praktiziert – zu verbildlichen. In seinen Rückblicken in das Jahr 1993 tauchen wir ab in ein Belfast im dauerhaften Kriegszustand, in dem die Grenzen direkt durch Wohnungen und Familien laufen – und in dem auf die Genfer Konventionen tatsächlich gepflegt geschissen wird. Steele zwängt den Leser bereits auf den ersten wenigen Seiten in ein klaustrophobisches Korsett aus Sirenengeheul, Verfolgungswahn und dauerhafter Angst, welches durch die lokalen Wettereinflüsse (dauerhafter Regen, düster-graue Wolken) noch stetig fester geschnürt wird. Ohne viel künstlerischen Aufhebens gelingt ihm der Kniff, uns Teil dieser irgendwie sinnlos-hoffnungslosen Szenerie werden zu lassen, in dem eine ganze Generation junger Männer – und auch Frauen – verroht, ein Akt der Gewalt dem nächsten folgt.

Jackie Shaws eigene Intentionen bzw. sein Beitrag zu diesem tödlichen Spiel um Gebietsgewinn und Machteinfluss kann John Steele anfangs noch geschickt zurückhalten, so dass gerade seine Taten als Teil der UDA für den Leser erst einmal schwer greifbar bleiben, was wiederum das Profil der Figur zusätzlich schärft. Überhaupt empfinde ich diesen Protagonist als einen sehr angenehm ambivalenten Charakter, dessen Verhängnis es ist, sich in diesem kontrastfreien Konflikt in keinerlei Grauzone bewegen zu können. Einen moralischen Kompass, nach dem er sich orientieren kann – ihn gibt es schlichtweg nicht, da die Auseinandersetzungen zwischen den Paramilitärs inzwischen zu einem sich ewig wiederholenden Selbstzweck verkommen sind, der – auf allen Seiten – von skrupellosen Beteiligten vorgeschoben wird, um ihren Durst nach mehr Macht durchsetzen zu können. Nimmt man den Ursprung der Organisationen mal zur Seite, bleiben hier allein verbrecherische Banden übrig, die ihren eigenen Einfluss ohne Rücksicht ausweiten wollen, was wiederum „Ravenhill“ daher auch nicht zu einem politischen Thriller, sondern zu einem waschechten Gangster-Roman macht.

Und einem erstklassigen dazu, da Steele es trefflich versteht, zwischen Gegenwart und Vergangenheit zu jonglieren, und dabei das Kunststück vollbringt, uns bei jedem Wechsel des Handlungszeitraums kurze Enttäuschung empfinden zu lassen. Denn beide sind auf ihre Art äußerst spannend aufgebaut und atmen vor allem durchweg Belfaster Atmosphäre. Wo das ein oder andere Hardboiled-Werk nicht selten an der Austauschbarkeit des Schauplatzes leidet, funktioniert „Ravenhill“ tatsächlich als geschichtliche Milieustudie, ist fest verankert auf dem blutgetränkten irischen Boden. Ohne (gottseidank) je selbst Zeuge der dortigen Gewalt geworden zu sein, lehne ich mich mal aus dem Fenster und wage zu behaupten, dass der Realismusgrad in Steeles Roman ein durchaus hoher ist. Was wiederum zarten Seelen zusetzen dürfte, da hier die „Kamera“ auch noch weiterhin aufs Bild gerichtet ist, wenn bei einem FSK-12-Streifen längst zur Seite weggeschwenkt wird.

Dennoch – und das sei an dieser Stelle besonders betont – verherrlicht „Ravenhill“ diese Gewalt nie. Er zeigt sie, als das was sie ist – als unsere schlimmste, menschliche Seite. Als die ultimative Perversion aller guter Vorhaben. Und am Ende auch als drohendes Damokles-Schwert, welches auch nach dem Karfreitagsabkommen immer noch über dem Norden Irlands schwebt. Wer dem älteren Jackie Shaw durch das Belfast im „Frieden“ folgt, der ahnt, was diese Stadt und seine Bewohner weiterhin in sich bergen – und was ein kommender No-Deal-Brexit für Auswirkungen haben könnte. So unfassbar verrückt diese ständig scheiternden Verhandlungen zwischen Großbritannien und der EU derzeit sind – dieser Roman lässt das alles noch umso beängstigender werden.

Mit „Ravenhill“ hat der Polar Verlag schon wieder ein ganz vortreffliches literarisches Kleinod für den deutschen Markt entdeckt. Nachtschwarz, backsteinhart, eindringlich und dann letztlich auch mit ganz viel Klasse und einem ganz eigenen Stil erzählt. Auf die (hoffentlich ebenso gelungene) Übersetzung der Fortsetzung „Seven Skins“ darf ab sofort mit ganz viel Vorfreude gewartet werden.

Wertung: 91 von 100 Treffern

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  • Autor: John Steele
  • Titel: Ravenhill
  • Originaltitel: Ravenhill
  • Übersetzer: Robert Brack
  • Verlag: Polar
  • Erschienen: 05/2019
  • Einband: Hardcover
  • Seiten: 345 Seiten
  • ISBN: 978-3945133774

+++ Vorschau-Ticker „Crime“ – Winter 2019/Frühjahr 2020 – Teil 1 +++

Nachdem ich bei der letzten Verlagsvorschauen-Saison meine heiß erwarteten Buchtitel mit monatelanger Verzögerung nachliefern musste, versuche ich für das kommende Halbjahr wieder etwas der Zeit voraus zu sein. Die Chancen dafür stehen auch gut, denn ein Gros der Vorschauen wurde bereits online gestellt und so habe ich mich – bereits jetzt in dem Wissen, nur einen Bruchteil davon in den nächsten Jahren lesen zu können – in die Auslese gestürzt. Wie zu erwarten sind mir wieder einige äußerst interessante Titel ins Netz gegangen. Oder um es mal wenig zurückhaltend auszudrücken: Auch der Winter 2019/2020 wird wieder teuer werden.

(Übrigens: Das ein oder andere Buch, z.B. der neue Alan Parks oder der neue Ross Thomas, wurde von mir bereits in einem früheren Ticker erwähnt bzw. fälschlicherweise der vergangenen Vorschau-Saison zugeordnet. Nur für den Fall, dass sich jemand über fehlende Titel wundert)

Und damit zu meinen heiß erwarteten Vertretern aus dem Bereich Spannung. Was wird den Weg in euer Bücherregal finden?

  • Kevin Hardcastle – Im Käfig
    • Hardcover, Juli 2019, Polar Verlag, 978-3945133859, 300 Seiten, 20,00 €
    • Crimealley-Prognose: Hm, kommt mir irgendwie bekannt vor. Das war so der erste Gedanke, der mir bei der Lektüre des Klappentexts durch den Kopf ging. Und in der Tat: Es gibt sicher schon die ein oder andere auf der Leinwand platzierte Version dieser Geschichte, was mich aber garantiert nicht davon abhalten wird, diesen Polar-Titel zu lesen. Martial-Arts, Mohawk-Gangster, Drogen und dazu Vergleiche mit Cormac McCarthy und Donald Ray Pollock. Shut up and take my money!
  • William Boyle – Einsame Zeugin
    • Hardcover, August 2019, Polar Verlag, 978-3945133811, 350 Seiten, 20,00 €
    • Crimealley-Prognose: Nach dem äußerst positiv besprochenen Gravesend kommt mit Einsame Zeugin nun der zweite Roman aus der Feder von William Boyle. Und obwohl ich (natürlich wieder) noch nicht mal den ersten gelesen habe, wird auch das ein Muss-Kauf. Eine dem Spiritismus zugewandte Frau (sie spielte bereits in Gravesend mit), die mit einem Mörder ein Katz-und-Maus-Spiel treibt. Das ist – im Verbund mit der restlichen Figurenkonstallation – ein erfrischend anderer Ansatz.
  • Anthony J. Quinn – Gestrandet
    • Hardcover, November 2019, Polar Verlag, 978-3945133835, 350 Seiten, 20,00 €
    • Crimealley-Prognose: Wie für Schottland, so habe ich auch für die verrückten Iren sowohl musikalisch als auch literarisch schon immer eine Schwäche gehabt. Und im Spannungsbereich sind in den letzten Jahren immer mehr hochklassige Kaliber von der Grünen Insel auf dem deutschen Buchmarkt gestrandet. Quinns gleichnamiger Roman spielt direkt im Grenzbereich zwischen der Republik Irland und Nordirland und könnte angesichts der Thematik nicht aktueller sein. Franßen hat augenscheinlich weiterhin ein Näschen für das richtige Buch zum richtigen Zeitpunkt.
  • Lisa McInerney – Blutwunder
    • Hardcover, September 2019, Liebeskind Verlag, 978-3945133750, 352 Seiten, 22,00 €
    • Crimealley-Prognose: Irland ist auch der Schauplatz von Blutwunder. Nach Glorreiche Ketzereien veröffentlicht Liebeskind hiermit bereits das zweite Buch von Lisa McInerney. Und erneut dürfen wir wohl einen nachtschwarzen, rotzig-dreckigen Roman im Gangster-Milieu – in der für diesen Verlag schon typischen hochwertigen Qualität – erwarten. Wandert naturelement auch in mein Regal.
  • Stuart Turton – Die sieben Tode der Evelyn Hardcastle
    • Hardcover, August 2019, Tropen Verlag, 978-3608504217, 224 Seiten, 24,00 €
    • Crimealley-Prognose: Neben Noir oder Hardboiled schätze ich bekanntermaßen zwischendurch auch immer mal wieder einen gut komponierten Whodunit. Ein Genre, das aber heutzutage eher auf dem Abstellgleis steht. Turton greift das klassische Konzept auf, mixt es mit Täglich grüßt das Murmeltier und 8 Blickwinkel und lässt den ermittelnden Protagonisten immer wieder aufs Neue – und im Körper eines anderen Gastes –  den Mord erleben. In talentierten Händen hat das durchaus Potenzial.  Und die ausländischen Pressereaktionen lassen tatsächlich ein intelligentes Katz-und-Maus-Spiel erwarten. Ich bin sehr geneigt auch hier mein Geld zu lassen.
  • Thomas Mullen – Weißes Feuer
    • Hardcover, November 2019, DuMont Verlag, 978-3832183950, 480 Seiten, 24,00 €
    • Crimealley-Prognose: Der zweite Band der Darktown-Saga von Thomas Mullen führt uns in das Atlanta der 50er Jahre, in dem die ersten schwarzen Polizisten der Stadt nicht nur mit dem alltäglichen Rassismus, sondern auch mit gewalttätigen Schmugglerbanden zu kämpfen haben. Die Kurzbeschreibung, welche auch von persönlichen Verstrickungen „spricht“, deutet bereits an, dass es um weit mehr als nur Schwarz und Weiß geht und setzt daher genug grüne Häkchen in meiner persönlichen Checkliste, weshalb ich auch diesen Roman vom Fleck weg kaufe.
  • Anthony Horowitz – James Bond – Ewig und ein Tag
    • Broschiertes Taschenbuch, Dezember 2019, Cross Cult Verlag, 978-3865326454, 400 Seiten, 16,99 €
    • Crimealley-Prognose: Horowitz hat einen neuen Bond geschrieben. Und nicht nur das. Es handelt sich dabei sogar um die Vorgeschichte von Casino Royale. Wir erfahren also endlich, wie 007 in den Dienst des britischen Geheimdiensts kam . Ich habe an diesem Autor seit seinen Holmes-Pastichés einen Narren gefressen und bin von jeher ein bekennender Bond-Fan. Ergo: Dieses Buch wird natürlich heiß von mir erwartet.
  • Joe R. Lansdale – Coco Butternut
    • Broschiertes Taschenbuch, Oktober 2019, Golkonda Verlag, 978-3946503415, 190 Seiten, 14,00 €
    • Crimealley-Prognose: Auch wenn Lansdale das hohe Niveau innerhalb der Hap & Leonard-Reihe nicht immer halten konnte, hat er – wie Horowitz – seit langem einen Stein bei mir im Brett. Und wer weiß, vielleicht läuft er in Coco Butternut wieder zur Höchstform auf. Unabhängig davon will meine Lansdale-Sammlung aber möglichst komplett bleiben. Ergo ein weiterer sicherer Einkaufs-Kandidat.
  • Scott Adlerberg – Graveyard Love
    • Hardcover, September 2019, ars vivendi Verlag, 978-3747200933,  220 Seiten, 18,00 €
    • Crimealley-Prognose: Ars vivendi mausert sich langsam aber stetig zur Juwelenschmiede, denn die letzten Jahre bewies man ein wirklich ausgezeichnetes Gespür was Spannungsromane betrifft. Graveyard Love klingt wie ein von Hitchcock nicht verfilmtes Drehbuch aus den frühen 60er Jahren. Ein Kammerspiel im Stil von Woolrich und Highsmith, das psychologisch raffinierte Suspense erwarten lässt und auf das ich mich besonders freue.
  • Alex Beer – Unter Wölfen
    • Broschiertes Taschenbuch, November 2019, Limes Verlag, 978-3809027119, 416 Seiten, 16,00 €
    • Crimealley-Prognose: Statt August Emmerich Isaak Rubinstein. Statt Wien Nürnberg. Alex Beer, Pseudonym der österreichischen Autorin Daniela Larcher, gönnt ihrem inzwischen etablierten Serienhelden eine Pause und führt den Leser stattdessen an den Schauplatz der späteren Kriegsverbrecherprozesse. Inzwischen gibt es ja viele Krimiautoren, die sich der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts annehmen. Beer gehört jedoch meines Erachtens mit zu den Besten, so dass ich auch ihrem neuen Protagonisten eine Chance geben werde.

 

+++ Vorschau-Ticker „Crime“ – Winter 2018/Frühjahr 2019 – Teil 4 +++

Bevor demnächst schon die Verlagsvorschauen für die Zeit ab Herbst diesen Jahres online gehen, platziere ich hier nochmal ganz schnell hechelnd und außer Atem ein (ungiftiges) Roundup gegen unkrautartige Mainstream-Literatur. Wie schon im vorherigen Ticker, so liegen auch viele Titel dieser Liste schon längst in den Buchhandlungen aus, so dass der „News“-Wert meiner Auswahl zwar gegen null tendiert, aber vielleicht doch noch jemand da draußen zum Kauf animiert werden kann. Und wer weiß, eventuell ist gar manches Buch vorher komplett unter dem Radar geflogen.

Der ein oder andere wird möglicherweise nach dem neuen McKinty oder den angekündigten Pulp-Master-Titeln von Ted Lewis und Les Edgerton suchen. Ersteren habe ich bewusst außen vorgelassen, da ich, trotzdem ich den Autor äußerst schätze, der behandelten Thematik von The Chain einfach überdrüssig bin. Frank Nowatzkis neue Highlights (Der Lewis‘ Titel ward allerdings bereits schon mal im Rahmen von Lübbes „Schwarzer Reihe“ erschienen) werden, meiner Erfahrung nach, nicht mehr dieses Jahr das Licht der Welt erblicken.

So, und damit zu den von mir favorisierten Büchern. Was spricht euch an? Was habe ich vergessen?

  • Attica Locke – Bluebird, Bluebird
    • Hardcover, Februar 2019, Polar Verlag, 978-3945133712, 280 Seiten, 20,00 €
    • Crimealley-Prognose: Krimi-Bestenliste Platz 1., Edgar Award 2018, Ian Fleming Steel Dagger 2018. Und dann diese Geschichte um einen afroamerikanischen Texas-Ranger, der im Milieu von Drogenhandel und Aryan Brotherhood ermittelt. Attica Lockes moderne Version von Virgil Tibbs kann und darf ich mir gar nicht entgehen lassen. Auf dieses Buch freue ich mich richtig!
  • David Joy – Wo alle Lichter enden
    • Hardcover, März 2019, Polar Verlag, 978-3945133798, 300 Seiten, 20,00 €
    • Crimealley-Prognose: Im Schatten von Bluebird, Bluebird kommt mir dieser Polar-Titel irgendwie ein bisschen zu kurz, thematisiert doch auch Joy den abgehängten Teil der amerikanischen Gesellschaft. Aus aktuellem Anlass fühle ich mich bei der Kurzbeschreibung um das väterliche Crystal-Meth-Geschäft in North Carolina an die Serie Justified erinnert. Ob es Jacob Neely es wie Raylan Gives schafft, nicht in die Fußstapfen seines Vaters zu treten und der kriminellen Tretmühle zu entkommen, möchte ich unbedingt nachlesen.
  • John Steele – Ravenhill
    • Hardcover, Mai 2019, Polar Verlag, 978-3945133774, 448 Seiten, 20,00 €
    • Crimealley-Prognose: Spätestens ab dem dritten Polar-Titel wird mir einmal mehr klar, was für ein Geschenk Wolfgang Franßens Verlag für die hiesige Krimi-Landschaft darstellt. Auch dank McKinty ist mein Interesse an dem Nordirland-Konflikt (der ja durch einen Brexit durchaus wieder aufflammen könnte) noch angewachsen und ich freue mich über jegliche Art von Spannungsliteratur, die sich dieses Themas annimmt. Ravenhill tönt äußerst vielversprechend und wird natürlich auch gekauft.
  • Estelle Surbranche – Nimm mich mit ins Paradies
    • Hardcover, Juni 2019, Polar Verlag, 978-3945133750, 350 Seiten, 20,00 €
    • Crimealley-Prognose: Mit Nimm micht mit ins Paradies macht der Polar Verlag schließlich das Quartett voll, denn auch der vierte Titel des Halbjahresprogramms wird mit Sicherheit in meinem Regal landen. Und das obwohl wir es hier wieder mit einer Art „Serienmörder“ zu tun haben. Aber bei Surbranche stehen die Chancen ziemlich gut, dass das alles andere als gewohnte Kost werden wird.
  • James Sallis – Willnot
    • Hardcover, Februar 2019, Liebeskind Verlag, 978-3954381029, 224 Seiten, 20,00 €
    • Crimealley-Prognose: Ich bin ein bisschen irritiert über die bisherigen Besprechungen, denn in das ganz große Lobeshorn scheint noch keiner blasen zu wollen. Kaum vorstellbar, war für mich Sallis eigentlich immer eine sichere Bank. Nur wenige beherrschen das große Spiel auf so kleinem Raum so perfekt wie er. Da ich lange auf Nachschub aus seiner Feder gewartet habe und er ja schließlich auch noch bei Liebeskind erscheint – natürlich gekauft.
  • James M. Cain – Mildred Pierce
    • Hardcover, Februar 2019, Arche Verlag, 978-3716027745, 416 Seiten, 22,00 €
    • Crimealley-Prognose: Nach Wenn der Postmann zweimal klingelt erscheint in relativer kurzer Zeit schon die nächste Wiederauflage eines Cain-Klassikers. Und ich würde (trotz größerer Bekanntheit des erstgenannten) fast behaupten, DEM Cain-Klassiker, hat doch die Figur Mildred Pierce zum damaligen Zeitpunkt das bis dato vorherrschende Frauenbild gleich um eine Vielzahl von interessanten (und dringend überfälligen!) Facetten erweitert. Eine heiß erwartete Wiederentdeckung, auch weil meine alte Goldmann-Ausgabe langsam in ihre Bestandteile zerfällt.
  • James Lee Burke – Sumpffieber
    • Broschiertes Taschenbuch, April 2019, Pendragon Verlag, 978-3865326454, 464 Seiten, 18,00 €
    • Crimealley-Prognose: Eigentlich möchte ich an dieser Stelle diese zwei folgenden Titel gar nicht mehr erwähnen müssen, bedeutet es doch, dass manch einer immer noch keinen James Lee Burke gelesen hat oder diesen, noch schlimmer, gar nicht kennt. Inwieweit Pendragons Wirken an Burkes Gesamtwerk sich finanziell rentiert, kann ich nur vermuten, aber da ich mir über Jahre im Kriminalbereich nichts mehr als die Rückkehr von Robicheaux herbeigesehnt habe, wird jede weitere Veröffentlichung entsprechend heiß erwartet und unterstützt. Zwar handelt es sich bei Sumpffieber und Nacht über dem Bayou, „nur“ um Neuauflagen. Das sollte aber keinen Liebhaber literarischer Feinkost im Spannungsgewand vom Kauf abhalten.
  • James Lee Burke – Nacht über dem Bayou
    • Broschiertes Taschenbuch, Januar 2019, Pendragon Verlag, 978-3865326454, 456 Seiten, 18,00 €
    • Crimealley-Prognose: Hier gilt dasselbe wie für Sumpffieber. Kaufen und Lesen!
  • Alan Parks – Tod im Februar
    • Broschiertes Taschenbuch, Oktober 2019, Heyne Hardcore Verlag, 978-3453271982, 400 Seiten, 16,00 €
    • Crimealley-Prognose: Glasgow in den 70ern, Übersetzung von Conny Lösch, verlegt bei Heyne Hardcore, Band zwei der Reihe um Harry McCoy. Nuff‘ said.
  • Ross Thomas – Der Fall in Singapur
    • Broschiertes Taschenbuch, Mai 2019, Alexander Verlag, 978-3895814990, 250 Seiten, 16,00 €
    • Crimealley-Prognose: Thomas‘ einziger Mafia-Roman wird, wie alle anderen Titel der schmucken Alexander-Edition, natürlich ebenfalls von mir gekauft. Trotz des nun schon jahrelangen Wirken des Verlags ist der Autor zwar immer noch für viele ein weitgehend Unbekannter, aber wie sagt man so schön: Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht. Oder in diesem Fall ERbricht, denn vielleicht hängt ja dem ein oder anderen irgendwann doch die Fast-Food-Literatur aus dem Hals raus und gibt dann diesem Meister der politischen Spannung endlich die langverdiente Chance.
  • Jürgen Heimbach – Die Rote Hand
    • Hardcover, Februar 2019, weissbooks Verlag, 978-3863371777, 330 Seiten, 22,00 €
    • Crimealley-Prognose: Frankfurt in den 50er Jahren, Jazz und dunkle Straßen. Ein Hauch Noir. Dieser Titel wäre mir fast durch die Lappen gegangen, aber gottseidank nur fast, denn Heimbach, den mancher eventuell durch seine bei Pendragon erschienene Trilogie kennt, ist ein weiterer Vertreter der Sparte „höchstbegabt, aber schmählich vernachlässigt“. Ein Buch – und auch ein Verlag – dem ich möglichst viel Leser und positives Feedback wünsche.
  • Graham Moore – Der Mann, der Sherlock Holmes tötete
    • Hardcover, Februar 2019, Eichborn Verlag, 978-3847900382, 480 Seiten, 22,00 €
    • Crimealley-Prognose: Es ist weniger die Kurzbeschreibung, die mich hier triggert, sondern naturelement der größte Detektiv aller Zeiten, Sherlock Holmes, sowie dessen Schöpfer Arthur Conan Doyle. Ich erwarte mir bei Der Mann, der Sherlock Holmes tötete keine Neuerfindung des hakennasigen Schnüfflers mit der Bruyère-Pfeife, möchte meine Sammlung aus Pastichés aber gerne weiter vervollständigen.
  • Don Winslow – Jahre des Jägers
    • Hardcover, Februar 2019, Droemer Verlag, 978-3426282199, 992 Seiten, 26,00 €
    • Crimealley-Prognose: Der voraussichtliche Abschluss der Kartell-Saga, von der ich weiterhin bisher nur Tage der Toten gelesen habe, erinnert mich daran, mich endlich mal wieder dem Herrn Winslow zu widmen. Ungeachtet seiner qualitativen Ups and Downs der letzten Jahre. An diesem Buch kommen wohl die meisten nur schwer vorbei.
  • Christof Weigold – Der blutrote Teppich
    • Broschiertes Taschenbuch, April 2019, Kiepenheuer & Witsch Verlag, 978-3462051414, 640 Seiten, 16,00 €
    • Crimealley-Prognose: Auch wenn es mir etwas auf den Senkel geht, dass man schon bei Band zwei wieder das Format ändert. Weigolds nächster Ausflug ins Hollywood der 20er – und damit ins Seeting des großen Raymond Chandler – wird ebenfalls heiß erwartet. Femme Fatale, Noir – verflucht, da kann ich dann auch einfach nicht anders.
  • Nico Walker – Cherry
    • Hardcover, April 2019, Heyne Hardcore Verlag, 978-3453271975, 384 Seiten, 22,00 €
    • Crimealley-Prognose: Ob Cherry die Kirsche auf der Sahne des Heyne Hardcore Programms für dieses Halbjahr sein wird, dies bleibt abzuwarten. Die Geschichte um den traumatisierten Irak-Heimkehrer, der aufgrund einer Drogensucht in die Welt des Verbrechens abdriftet – sie ist zwar keine neue, bietet aber viel Potenzial in den Händen des richtigen Schreibers. Ob Walker ein solcher ist, davon werde ich mich selbst überzeugen müssen.
  • Christine Lehmann – Die zweite Welt
    • Broschiertes Taschenbuch, Februar 2019, Argument/Ariadne Verlag, 978-3867542371, 256 Seiten, 13,00 €
    • Crimealley-Prognose: Ein neuer Lisa-Nerz-Roman ist immer eine gute Nachricht, war mir zu meiner Schande aber bis dato in den Tickern noch gar keine Erwähnung wert. Was sich hiermit ändert, zumal Lehmanns neuer Roman über ein angekündigtes Blutbad bei einer Demo in Stuttgart eine spannende Ausgangsposition verspricht. Und auch die Idee, die komplette Handlung an einem Tag spielen lassen, ist bei einer so versierten Autorin wie Christine Lehmann sicher in den besten Händen.
  • Michelle McNamara – Ich ging in die Dunkelheit
    • Hardcover, August 2019, Atrium Verlag, 978-3855350605, 432 Seiten, 24,00 €
    • Crimealley-Prognose: Kurz vor Veröffentlichung dieses Tickers wurde ich noch auf diesen Titel aufmerksam, dessen True-Crime-Hintergrund mich sogleich hellhörig gemacht hat. Michelle McNamaras Aufarbeitung der kalifornischen Mordserie von 1976 bis 1986 wird definitiv gelesen – auch wenn ich die Details des Falls (und damit auch die Identität des Mörders) bereits kenne. Bei denjenigen, wo dies nicht der Fall ist, könnte die Lektüre natürlich nochmal definitiv mehr lohnen.

 

Noir endlich

© Polar

Es gibt doch nichts Schöneres, als wenn sich unausgesprochene Wünsche erfüllen. So geschehen im Januar 2015, als der zum damaligen Zeitpunkt noch relative junge Polar Verlag Ray Banks‚ Standalone „Dead Money“ auf den deutschen Buchmarkt warf – wo dieses, wie leider so viele andere Titel aus Wolfgang Franßens erlesenen Ensemble, trotz vielfacher, guter Feuilletonkritiken keinen größeren Eindruck hinterlassen konnte.

Mir war es letztlich gleich, hatten doch Schriftsteller-Kollegen wie z.B. Ian Rankin ihn in Interviews zu oft und zu sehr gelobt, um ihn links lassen zu können. Mehr noch: Banks, wie Rankin ein echter Fifer und damit auf dem Edinburgh gegenüberliegenden Ufer des Firth of Forth aufgewachsen, gilt in Schottland bereits seit längerer Zeit als absoluter Kult-Autor. Eine Übersetzung war also mehr als überfällig, wiewohl es wenig verwundert, dass auch dieses literarische Produkt aus dem Land des Whisky erst mit einiger Verzögerung den Weg zu uns gefunden hat. Ein Schicksal, das sich Banks ebenfalls mit Rankin teilt. Wenngleich wir schnell dabei sind, noch den x-ten Bretagne-Krimi zeitnah zu veröffentlichen und in Massen auf den Buchhandlungstischen zu platzieren – den Norden des Vereinigten Königreichs rückt man hierzulande im Bereich der Spannungsliteratur seit jeher weit weniger intensiv in den Fokus. Beste Gelegenheit also, diesen losen Faden hier aufzugreifen und Ray Banks die dringend benötigte und vor allem verdiente Aufmerksamkeit zu schenken. Ja, verdient, denn „Dead Money“, bereits schon mal im Jahr 2000 als Manuskript unter dem Namen „The Big Blind“ verlegt, gehört genau in die Kategorie Erstlingswerk, der man ihren Debütcharakter mal so rein gar nicht anmerkt. Stattdessen erwartet den Leser ein Parforce-Ritt in bester Noir-Tradition, welcher zwar sichtlich von Banks großen Vorbildern beeinflusst ist und doch in seinem ganz eigenen Stil daherkommt. Worum geht es:

Gute Miene zum bösen Spiel – das ist Alan Slaters Lebenseinstellung. Während er am Tage mit steinhartem Grinsen Doppelglasfenster an widerwillige Kunden vertickt, flüchtet er des Nachts vor der ungeliebten Frau in die dreckigsten und dunkelsten Spielhöllen von Manchester. Stets an seiner Seite: Sein bester, weil auch irgendwie einziger Freund Les Beale. Ein Choleriker der schlimmsten Sorte, welcher bereits in den meisten Pubs und Casinos der Stadt Hausverbot hat, nichtsdestotrotz aber weiter seinen Traum vom großen Jackpot lebt und dafür auch bereit ist, sein Glück zu erzwingen. Zum Leidwesen von Alan, der wegen Les‘ losem Mundwerk immer wieder in Schwierigkeiten gerät und seinem trostlosen Dasein mittels einer Affäre mit der jungen Studentin Judy zu entfliehen versucht. Es bleibt jedoch beim Versuch, denn die gute Judy ist zwar leicht zu haben, aber finanziell anspruchsvoll und die Liaison somit kostspielig. Als Les ihm von einem geheimen Poker-Turnier mit garantiertem Gewinn erzählt, nimmt Alan dennoch Abstand. Die Sache ist ihm zu heiß. Und er soll mit seinem Argwohn Recht behalten.

Die sichere Sache ist in Wirklichkeit ein abgekartetes Spiel. Statt auf einem Pott von Geld sitzt Les am Ende auf einer Leiche. Nur Alan kann noch helfen, der sich tatsächlich dazu überreden lässt, den Körper im Kanal bei Salford zu versenken. Eine folgenschwere Entscheidung, denn die Entsorgung verläuft nicht ohne Probleme – und Les Geldschulden bringen sie ins Blickfeld eines hiesigen Gangsters, zu dessen Stärken Geduld nicht gehört …

Dead Money“ – Das ist in erster Linie ein Roman über Kontrollverlust. Ein Kontrollverlust, den Alan Slater zwar bis zum bitteren Ende leugnet, der ihn aber letztlich unaufhaltsam Richtung Abgrund zieht, beschleunigt doch jede getroffene Entscheidung nur den freien Fall, in dem er sich befindet. Eine Tatsache, die Slater ebenso beharrlich ignoriert, wie jegliche Parallelen zu Les Beale, für den er sich in Kollegenkreisen oder bei seiner Frau immer wieder entschuldigt.

(…) „Ich war erledigt. Zeit für was Neues: Ich sollte aufhören, so viele verdammt bescheuerte Risiken einzugehen. Ich hatte mich zu lange von Beale runterziehen lassen und dem ganzen Rest. Ich musste Abstand gewinnen und mir meine Prioritäten klarmachen. Wieder Kontrolle über mein Leben kriegen.“ (…)

Doch sein Versuch Abstand zu gewinnen, er ist bestenfalls halbherzig, denn in Wirklichkeit braucht er das Risiko und die Aufregung, sind sie schließlich das Einzige, was Abwechslung in sein eintöniges Leben bringt, das wiederum vollkommen von Materialismus geprägt ist. Gewinn, Umsatz, Zahlen – Alles dreht sich um Geld. Ein Hauen und Stechen, das alle Beteiligten zu dumpfen Automaten abstumpfen lässt. Menschlichkeit ist nur noch eine Fassade, ein Mittel zum Zweck – ein falsches, schales und liebloses Lächeln, hinter dem sich nichts als Leere verbirgt und das Slater selbst zuhause nicht mehr ablegen kann. Ein Ort, den er ohnehin nur so lange wie notwendig aufsucht, um sich möglichst schnell wieder ins dunkle Nachtleben zu stürzen und damit unbewusst seine eigene Demontage voranzutreiben. Banks schildert dies im weiteren Verlauf zunehmend drastischer und drückt das Gaspedal für das Erzähltempo bis aufs Bodenblech, wobei er seinen Protagonisten auf der Strecke in jede noch so kleine Leitplanke knallen lässt.

Es ist dabei mehr als nur offensichtlich, dass in Alan Slater ein gehörige Portion Ray Banks steckt, der selbst eine Zeitlang Doppelglasfenster an den Mann gebracht und sogar als Croupier in einem Casino in Manchester gearbeitet hat – zumindest bis zu dem Moment, als eine Gruppe Männer mit einem Auto durch den Eingang rauschte, um dieses auszurauben. Und auch der exzessive Alkoholgenuss ist mitunter zu plastisch geschildert, als das Banks da nicht selbst seine Erfahrungen mit gehabt hätte. Möglicherweise geprägt durch seine literarischen Vorbilder wie James M. Cain, Jim Thompson, Hubert Selby, Ken Bruen oder Charles Willeford (Banks Carl-Innes-Reihe ist durchaus als Hommage an Willefords Hoke-Moseley-Quartett zu verstehen), welche er in jungen Jahren verschlang und die ihn letztlich auch dazu inspirierten sein Studium von Kunst und Theaterwissenschaft hinzuschmeißen – und von Coventry in die Industrie-Stadt Manchester zu ziehen. Das passende Pflaster für einen Roman wie „Dead Money“, der in der Tat von seinem Schauplatz und von Banks stilsicheren Gespür für Sprache lebt.

Die ist mitunter äußerst dreckig und hart, aber vor allem bar jeglicher künstlicher Ausschmückungen. Banks verzichtet auf größeres Personal oder komplexere Handlungsebenen und treibt stattdessen den Plot geradlinig dem Ende entgegen, dessen Ich-Erzähler als dramaturgische Abrissbirne alles auf seinem Weg zum Einsturz und den Leser damit an seine Grenzen bringt. Banks steht hier in nichts seinen Idolen nach, weiß die Elemente des Noirs zielgenau und vor allem literarisch ansprechend und leidenschaftlich in Szene zu setzen. Die ganze Ausweglosigkeit von Alan Slaters Situation – sie ist nichts geringeres als mitreißend und lässt uns, trotz fehlender Sympathiepunkte des Erzählers, dann am Ende auch ironischerweise mitfühlen. Wenn dieser zum x-ten Mal seine Rennie-Tabletten mit Alk tränkt, kommt man nicht umhin, selbst ein Magengrummeln zu empfinden. Nein, dieser ganze Scheiß, er kann schlicht nicht gut ausgehen. Da helfen auch keine Säureblocker mehr. Doch selbst das sichere Wissen, dass dem so ist, hält nicht davon ab, die Seiten fester zu packen und diese in zunehmender Geschwindigkeit zu verschlingen.

Dead Money“ ist ein lautstarker, nihilistischer Abstieg in den Sündenpfuhl Manchester. Eine Reise ohne Wiederkehr und ein Noir reinsten Wassers, hochklassig in seiner Präsentation und mit genau dem richtigen Maß an anarchistischem Wahnsinn zu Ende gebracht. Ein Ende, welches keinerlei Illusionen mehr übrig lässt und für Alan Slater vor allem eins nochmal eindringlich verdeutlicht:

Rien ne va plus. Nichts geht mehr.

Wertung: 88 von 100 Treffern

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  • Autor: Ray Banks
  • Titel: Dead Money
  • Originaltitel: Dead Money
  • Übersetzer: Antje Maria Greisiger
  • Verlag: Polar
  • Erschienen: 01/2015
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 220 Seiten
  • ISBN: 978-3945133255

+++ Der Vorschau-Ticker – Frühjahr/Herbst 2018 – Teil 6 +++

Nachdem ich in den vergangenen Wochen wieder mal zu einem lethargischen lese- und schreibunlustigen Wesen mutiert bin (lieber Martin Compart, falls du das liest, ich habe Dich nicht vergessen) – Akku alle und Muße gen Null tendierend – wird es nun Zeit, wieder Schwung bzw. in der kriminellen Gasse wieder den Faden aufzunehmen.

Am besten vielleicht mit der nächsten Ausgabe des Vorschau-Tickers, die gleich auch Versäumtes nachzuholen gedenkt. So habe ich zwar in der vorherigen Auswahl auf zwei Titel des Polar Verlags aufmerksam gemacht, zwei weitere mangels vorschnellem Übereifer aber außen vor gelassen, was hiermit wieder gutgemacht werden soll. Im Fall des gerade geretteten Polar Verlags ist mir das ein besonders wichtiges Anliegen. Desweiteren wird die Liste komplettiert von Titeln aus dem Hause Kindler, Rowohlt und vom Unionsverlag – wobei mir übrigens eins immer mehr auffällt: Inhaltsbeschreibungen und Klappentexte werden länger und länger. Damit wir uns also selbst nicht die Hälfte des Plots spoilern, habe ich hier und da mal den Rotstift angesetzt und gekürzt. Ob die komplette Widergabe ganzer Handlungsstränge das Mittel der Zukunft ist, um Leser zu gewinnen – ich denke nicht. Doch nun zum Thema.

Den Anfang macht mit Friedemann Hahn ein Autor aus der „Bitte-wer-nie-gehört“-Kategorie, der er aber wohl nicht allzu lange angehören wird, spricht doch alles stark dafür, dass „Foresta Negra“ seinen Weg in mein Bücherregal finden wird. Die im Schwarzwald angesiedelte Geschichte (schön, wie hier bereits der Titel verdeutlicht, dass das mit nem Provinz-Krimi aber so gar nichts zu tun hat) um eine kriminelle Gruppierung aus ehemaligen Wehrmachtssoldaten, Fremdenlegionären und Polizeiveteranen mit düsteren Geheimnissen lässt die Lauscher aufstellen und birgt Potenzial für ein nachtschwarzes Gemengelage nach meinem Geschmack. Und auch mein Interesse für die Wirren der Nachkriegszeit, dürfte hier sicher bedient werden.

Undercover“ von Brennen Gerard, ebenfalls bis dato ein Unbekannter für mich, klingt ebenfalls mehr als verheißungsvoll. Eine Flucht quer durch Belfast, ein verdeckter Ermittler, der auch vor Selbstjustiz nicht zurückschreckt, gnadenlose Verfolger. Richtig (und hoffentlich klischeearm) zu Papier gebracht, sicher ein Roman der in den Bann schlagen dürfte. Und ein Setting, das spätestens seit Adrian McKinty immer wieder äußerst gern von mir besucht wird. Muss-Kauf für mich.

Ryan Gattis‘ „Safe“ (sein „In den Straßen die Wut“ wartet auch immer noch auf meine Aufmerksamkeit) klingt wie das Drehbuch für einen Michael-Bay-Film. Zwei Totgeweihte mit dem Rücken zur Wand. Tönt nach „a few bodies a long the way“ und patronengeschwängerter Umgebung. Da ich sowas, wenn es nicht zu arg platt daherkommt, zwischendurch immer mal gerne genieße – auf Leinwand und zwischen den Buchdeckeln – werde ich auf „Safe“ sicher einen näheren Blick werfen. Abhängig von Stil und Präsentation des Ganzen könnte ich dann auch hier meine Geldbörse zücken. Sicher ist das aber noch nicht.

Verrat“ von Nicholas Searle ist das beste Beispiel für die bereits oben erwähnte Tendenz, gefühlt das halbe Buch in den Klappentext zu quetschen. Ich erfahre – zumindest dem Gefühl nach – hier viel zu viel über das was passiert, was, wenn Searle die beschriebenen Ereignisse nicht in wenigen Seiten zu Beginn abhandelt, der Lektüre sicher nicht gut tun wird. Was schade wäre, denn der IRA-Killer, der sich plötzlich in einem Irland im Waffenstillstand (Frieden ist meines Erachtens immer noch ein zu gewagtes Wort, insbesondere angesichts des drohenden Brexits) wiederfindet, lockt mich sehr. Ein interessantes Kapitel Geschichte, welches der Autor von „Das alte Böse“ vor allem hinsichtlich der Charakterentwicklung zu einem spannenden Plot geschmiedet haben könnte. Die Tendenz geht dahin, mich davon selbst zu überzeugen.

Last but not least – „Leiser Tod“ von Garry Disher. Hier feiern wir das Wiedersehen mit Inspector Challis, den ich persönlich bis dato immer irgendwie weniger mochte als den Drecksack Wyatt. (Manch einer würde behaupten, wundert mich bei Dir nicht. ;-) ) Nachdem „Bitter Wash Road“ aber doch ziemlich gefeiert wurde, bekomme ich wieder etwas mehr Lust auf Disher und einen Ausflug auf die Peninsula. Ob ich den aber im Hardcover-Format unternehme oder aufs Taschenbuch warte, steht noch nicht fest.

Neues Jahr, neues Glück – wer frönt 2018 weiter seiner Sucht? Und mit welchem Buch aus dieser Auswahl?

  • Friedemann Hahn – Foresta Nera (Broschiertes Taschenbuch, März 2018 – Polar Verlag – 978-3945133613)
  • Inhalt: In einem abgelegenen Wirtshaus im Schwarzwald zelebrieren Polizei- und Wehrmachtveteranen ein blutiges Schlachtfest. Regie führt der selbstherrliche Bundesgrenzschutz-Offizier Felix Krüger. Der Polizeioffizier Hans Cremer, der wie viele „Alte Kameraden“ nach der Kapitulation `45 für Frankreichs Fahne in der Fremdenlegion weiterkämpfte, wechselt zum Bundesgrenzschutz und wird von Krüger, nicht ganz legal, als Sonderermittler eingesetzt. Eine Blutspur zieht durch den Schwarzwald und das angrenzende Rheintal. Ein Kunstmaler erschießt sich angeblich selbst. Ein Mitarbeiter der Organisation Gehlen wird hingerichtet. Mädchen verschwinden und tauchen als Leichen wieder auf. Auf Polizeioffiziere wird geschossen, sie werden gejagt, sie werden ermordet. Hans Cremer sieht einen Zusammenhang zwischen den Anschlägen und Morden im Dreiländereck Baden, Schweiz und dem Elsaß und Verbrechen im 2. Weltkrieg. Wer steckt hinter der Organisation Boxsport-Süd? Welche Rolle spielt der Gendarmerie-Commandant Proust? Die Vergangenheit holt die Täter ein. Auch Hans Cremer ist tiefer in die Mordtaten verstrickt, als er anfangs ahnt.
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© Polar

  • Brennen Gerard Undercover (Broschiertes Taschenbuch, Juni 2018 – Polar Verlag – 978-3945133637)
  • Inhalt: Nachdem der verdeckte Ermittler Cormac Kelly eine skrupellose Entführer- und Erpresserbande infiltriert hat, ist er gezwungen, aus der Deckung zu gehen und sich den Weg aus einem eskalierten Geiseldrama freizuschießen. Mit einem zwölfjährigen Jungen und dessen schwer verletztem Vater im Schlepptau zieht Kelly durch die gefährlichen Straßen von Belfast, verzweifelt darum bemüht, der Bande zu entkommen und die Familie mit der Mutter des Jungen zu vereinen, einer Fußballagentin namens Lydia Gallagher. Diese ist jedoch in London, weiß nichts von der Befreiungsaktion und wird zudem von der Bande genötigt, ihren prominentesten Klienten zu verraten. Als Kelly sich über sämtliche Regeln hinwegsetzt und in einem Alleingang die Grenze zwischen Polizeiarbeit und Selbstjustiz überschreitet, liegt die Macht über Leben und Tod zunehmend in der Hand von Stephen Black, einem tödlich charmanten Ex-Spion.

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    © Polar

  • Ryan Gattis – Safe (Hardcover, März 2018 – Rowohlt Verlag – 978-3498025373)
  • Inhalt: Ricky Mendoza, genannt Ghost, ist Panzerknacker, der beste von L.A. Früher war er Gangster, jetzt knackt er für die Polizei die Safes der Banden. Doch Ghost plant einen Coup. Er will Geld abzweigen, sehr viel Geld. Nicht aus Eigennutz – das hätte er vielleicht getan, bevor er in der Krebsklinik Rose kennenlernte. Rose ist lange tot, Ghost wurde geheilt. Doch nun ist der Tumor zurück. Ghost wird sterben. Bis dahin will er den Bösen nehmen und den Armen geben. Ein Dead Man Walking. – Rudy Reyes, genannt Glasses, ist die rechte Hand des Drogenkönigs. Er hat eine solide Verbrecherkarriere hinter sich, aber er hat auch Familie in Mexiko, wo die Kartelle ganze Dörfer abschlachten. Glasses fühlt sich mitschuldig, er will ein neues Leben beginnen. Mit der Polizei arbeitet er seit längerem zusammen; gerade hat er eine Liste mit den Gelddepots der Gangs geliefert. Vielleicht ist auch er ein Dead Man Walking …
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© Rowohlt

  • Nicholas Searle – Verrat (Hardcover, März 2018 – Kindler Verlag – 978-3463406923)
  • Inhalt: Weihnachten 1989. Bridget O’Neill blickt mit Grauen den Feiertagen entgegen: Wird ihre Gebäck Gnade finden vor der Schwiegermutter? Ihr Mann ist derweil in Calais, um einen britischen Soldaten vor den Augen seiner Familie zu töten. Francis ist ein Fußsoldat der IRA, der Kampf ist ihm Beruf und Lebenszweck. Doch seine Frau leidet sehr am Bürgerkrieg: Die bösen Geheimnisse, der Heimatort, der einer Geisterstadt gleicht, Jahre wie Blei. Bridget lässt sich vom britischen Geheimdienst rekrutieren und wird doch die Schuldgefühle – beiden Seiten gegenüber – nicht los. Auch Francis‘ Bruder Liam will Informant werden. Ein Hinweis von Francis beschert ihm den Tod. Und „Gentleman Joe“, Francis‘ Boss, schätzt solche Treue. Er hat gleich den nächsten Job für Francis: ein Bombenattentat. Dass die IRA insgeheim längst mit den Briten verhandelt, weiß Francis nicht …

© Rowohlt

  • Garry Disher – Leiser Tod (Hardcover, Februar 2018 – Unionsverlag – 978-3293005280)
  • Inhalt: Dicke Luft auf der Peninsula: Ein Vergewaltiger in Polizeiuniform treibt sein Unwesen. Eine Reihe von bewaffneten Raubüberfällen hält die Polizei in Atem. Eine gerissene Meisterdiebin spielt Katz und Maus mit den Sergeants. Einsparungen an allen Ecken und Enden drücken die Arbeitsmoral auf dem Revier. Als Hal Challis das alles auch noch einem Zeitungsreporter erzählt, sieht er sich an allen Fronten belagert.
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+++ Der Vorschau-Ticker – Frühjahr/Herbst 2018 – Teil 5 +++

Es mag sich mittlerweile schon unter allen Krimi-Freunden herumgesprochen haben – dennoch möchte ich auch an dieser Stelle nochmal darauf hinweisen: Der vom Aus bedrohte Polar Verlag hat einen Financier gefunden und konnte dadurch ein drohendes Insolvenzverfahren abwenden. Und nicht nur das – der Betrieb soll in Bälde – mit weiterhin gleicher Ausrichtung und Verlagsgründer Wolfgang Franßen als Herausgeber und Programmleiter – wieder aufgenommen werden. Acht Titel pro Jahr sind angedacht: Vier von deutschsprachigen und vier von internationalen Autoren – alle angesiedelt im Genre Polar bzw. dem Subgenre Néo Polar. Hervorragende Nachrichten, war der Verlag doch die letzten vier Jahre für mich eine sichere Bank. Mal ganz abgesehen davon, dass es mich für Wolfgang vor allem persönlich sehr freut. Es bedeutet natürlich auch: Die für die zweite Hälfte von 2017 angekündigten Titel werden nicht erscheinen – zumindest nicht mehr in diesem Jahr.

Mit William Boyles „Gravesend“ und Roland Sprangers „Tiefenscharf“ konnten zwei Bücher in das neue Jahr „herübergerettet“ werden. Einzig hinsichtlich der Cover-Gestaltung hat es hier Änderungen gegeben. Meiner Ansicht nach in die richtige Richtung, was aber keinen überraschen dürfte, der sich unseren Blog mal ein bisschen näher angeschaut hat.

Inhaltlich fügen sich beide gut in das bisher bestehende Programm ein, wenngleich ich – wie ich gerade wieder feststelle – meine Skepsis gegenüber dem deutschsprachigem Polar noch immer nicht so richtig ablegen kann. Hier muss ich wohl noch wiederholt eines Besseren belehrt werden. Es klingt aber ganz danach, als wäre Spranger dafür der richtige Mann, denn „Tiefenscharf“ liegt mit seinen Themen voll am Puls der Zeit. Wenn er nun auch noch sein Handwerk beherrscht, kann das für mich eine durchaus positive Überraschung werden.

Nach Dave Zeltsermans „Small Crimes“ werden wir uns auch in Boyles „Gravesend“ wieder mit einem entlassenen Häftling konfrontiert sehen, den vor den Toren des Gefängnisses die eigene Vergangenheit wieder einholt. Eine ordentlich Portion Rachegelüste, ein vom Leben desillusionierter Ex-Knacki, ein Problemviertel – perfekte Gemengelage für bordsteinharte Literatur nach meinem Geschmack. Kauf ich.

Peter Haffners „So schön wie tot“ könnte laut der Kurzbeschreibung kaum mehr nach klassischem Noir klingen bzw. mit geänderten Schauplatz und einem anderen Protagonisten auch der Feder eines Robert B. Parker entsprungen sein. Womit man natürlich offene Türen bei mir einrennt, konsumiere ich zwischendurch doch immer mal gerne einen traditionellen Private-Eye. Bleibt lediglich die Fragen: Funktioniert das in Berlin? Un kann Haffner das? Für mich ist er noch ein unbeschriebenes Blatt – aber eins, dass ich mir wohl zulegen und durchschmökern werde.

Graeme Macrae Burnet hat für seine letzten beiden Titel äußerst wohlwollende bis begeisternde Kritiken erhalten, wenngleich sich einige darüber streiten, ob man es bei seinen Werken wirklich immer mit reinen Kriminalromanen zu tun hat. Auf dem Buchmarkt erfolgreich scheinen sie zu sein, denn der Europa Verlag legt nun mit „Der Unfall auf der A35“ das bereits dritte Buch nach, welches den Leser diesmal ins Elsass entführt. Auch wenn der Titel (tatsächlich sogar wortwörtlich aus dem Original übersetzt) lahmer kaum sein könnte – Burnet hat seine Klasse schon bewiesen. Und auch die Inhaltsbeschreibung ist alles andere als 0815. Ich bin gespannt und werde mich selbst überzeugen.

Um japanische Literatur mache ich in der Regel – von Murakami mal abgesehen – meist einen großen Bogen. Was höchstwahrscheinlich besonders hinsichtlich der Krimi-Autoren aus dem Land der aufgehenden Sonne ein großes Versäumnis darstellt. Fakt ist aber auch: Bisher konnten mich die wenigen hier gelesenen Bücher nicht überzeugen bzw. war der Inhalt nicht mit den Lobpreisungen des Feuilletons oder auch anderer Blogger in Einklang zu bringen. Bei Higashinos „Unter der Mitternachtssonne“ werde ich den Sprung ins kalte Wasser jedoch noch mal wagen. Und das obwohl die Geschichte um einen hartnäckigen Ermittler und einen lange verjährten Mord eigentlich nichts Neues verspricht. Warum also? Die Stimme im Hinterkopf (könnte auch nur der süchtige Buchsammler im Ohr sein) sagt, probiere Dein Glück nochmal.

Wofür werdet ihr euer Weihnachtsgeld an die Seite legen?

  • William Boyle – Gravesend (Broschiertes Taschenbuch, Januar 2018 – Polar Verlag – 978-3945133552)
  • Inhalt: Ray Boy Calabrese wird aus dem Gefängnis entlassen. Während seiner Schulzeit hat er einen Jungen wegen seines Schwulseins gequält, ihn zusammen mit Freunden geschlagen, getreten, sodass Duncan nur die Flucht blieb und er überfahren wurde. Vor Gericht nannten sie es Hate Crime, ein sexistisch motiviertes Verbrechen. Nun kommt Ray Boy Calabrese aus der Haft frei und will nur noch sterben. Duncans Bruder Conway hat Rache geschworen, lernt schie­ßen und trifft nicht. Er ist neunundzwanzig, arbeitet in einem Rite Aid und wohnt bei seinem Vater Pope. Mit Ray Boys Heimkehr in sein altes Viertel reißen die nur leicht übertünchten Risse in der Familie auf, in der er aufgewachsen ist. Während sein Neffe Eugene in ihm ein Idol sieht und bitter enttäuscht ist, dass sein Held zu einem gebrochenen Mann geworden ist.
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  • Roland Spranger Tiefenscharf (Broschiertes Taschenbuch, Januar 2018 – Polar Verlag – 978-3945133590)
  • Inhalt: Das Leben ist nicht immer fair zu einem. Vor allem, wenn die falschen Entscheidungen getroffen werden. Drogendealer Max mit Nazihintergrund wirft vor einer Polizeikontrolle die Lieferung aus dem Fenster und irrt danach auf der Suche nach dem Crystal Meth durch den Schnee. Als er einem Flaschensammler begegnet, glaubt er, dass der das Päckchen an sich genommen hat, und lässt seine Wut an ihm aus, wird sogar zum Mörder, um einen Zeugen zu beseitigen. Das Leben des Video­Journalisten Sascha verläuft in ruhigeren Bahnen. Für ihn stellt sich eher die Frage, was der Journalismus im Zeitalter sozialer Medien noch wert ist, wenn ein Attentat mit einer Wasserpistole voller Urin die Schlagzeilen beherrscht. Als er einem Drogendeal auf die Spur kommt, glaubt er an seine große Chance. –  Alles dreht sich um den Rausch, mit dem die innere Leere überdeckt wird. Sie trinken zu viel. Sie nehmen zu viel Crystal Meth. Sie halten schwierige Beziehungen durch, kennen sich bestens in Serien und Musik aus, und werden von der Sehnsucht nach Romantik, Lust und Leidenschaft angetrieben, während Autos und Flüchtlingsheime in Brand gesetzt werden.
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  • Peter Haffner – So schön wie tot (Hardcover, Februar 2018 – Nagel & Kimche Verlag – 978-3312010592)
  • Inhalt: Privatermittler Larry Hardy ahnt nichts Gutes, als eine junge Frau in sein Büro stürmt und verlangt, dass er ihren verschollenen Vater findet. Sie ist die Tochter des berühmten Autors Michael McCullen, der wie Larry selbst aus Amerika stammt und nun in Berlin lebt. Zunächst aber findet Larry nur die Ehefrau des Vermissten, und zwar tot in der Badewanne. Dummerweise gerät der Detektiv selbst in Verdacht. Larrys Probleme vermehren sich ebenso wie die Verdächtigen, und zu allem Überfluss setzen ihn auch noch russische Verbrecher unter Druck.
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  • Graeme Macrae Burnet – Der Unfall auf der A35 (Broschiertes Taschenbuch, Februar 2018 – Europa Verlag – 978-3958901544)
  • Inhalt: Eigentlich gibt es nichts Außergewöhnliches an dem tödlichen Autounfall auf der A35 unweit des elsässischen Städtchens Saint Louis. Doch eine Frage treibt Kommissar Georges Gorski um: Wo war das Unfallopfer Bertrand Barthelme in der Nacht, in der er mit seinem Wagen frontal gegen einen Baum krachte? Als Barthelmes Spuren zu einer jungen Prostituierten in Straßburg führen, die just in jener Nacht erdrosselt wurde, ist der kauzige Provinzkommissar alarmiert. Schnell verstrickt sich Gorski in einem mysteriösen Rätsel um den Toten, das tief hinter die harmlose Fassade der verschlafen wirkenden Kleinstadt Saint Louis blicken lässt. Und auch Barthelmes Sohn Raymond beginnt dem Geheimnis seines verstorbenen Vaters nachzuspüren, das die wohlgeordnete Welt des 17-Jährigen schon bald gehörig ins Wanken bringt …
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  • Keigo Higashino – Unter der Mitternachtssonne (Hardcover, März 2018 – Tropen Verlag – 978-3608503487)
  • Inhalt: Ein zwanzig Jahre alter Mord. Eine Verkettung unlösbarer Rätsel. Ein Detektiv, der entschlossen ist, das dunkle Geheimnis zu entschlüsseln. – Osaka, 1973: Der Pfandleiher Kirihara wird ermordet in einem verlassenen Gebäude aufgefunden. Der unerschütterliche Detektiv Sasagaki nimmt sich des Falls an, der von nun an sein Leben bestimmt. Schnell findet er heraus: Ryo, der wortkarge Sohn des Opfers, und Yukiho, die hübsche Tochter der Hauptverdächtigen, sind in das Rätsel um den Toten verwickelt. Beinahe zwanzig Jahre lang versucht Sasagaki mit zunehmender Verzweiflung, den Mord aufzuklären, in dessen Netz sich Täter, Opfer und Polizei verfangen haben. Bis über alle Grenzen hinaus, bis hin zur Obsession.
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Dark Times in the City

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Bis heute wehrt er sich gegen Verpacktes, kriecht durch den Staub, in dem die Sieger von den Verlierern kaum zu unterscheiden sind. Gegen das Übel der Gesellschaft an. Der Polar ist die Literatur der Krise.

Wolfgang Franßen, Geschäftsführer des Polar-Verlags, erfasst in seiner Kurzbeschreibung in wenigen Worten die Quintessenz dieser ab den 70er Jahren entstandenen Variante des ursprünglichen „Roman Noir“, welche – weit mehr als die den Grundstein legenden Werke von Hammett, Chandler und Co. – historische Ungerechtigkeiten und politische Überzeugungen zum Motiv von Verbrechen werden lässt und zeitgeschichtliche Ereignisse noch stärker einbaut, wobei der Polar den üblichen Verdrängungsmechanismen der Gesellschaft aus den Weg geht und stattdessen den Finger genau in die Wunde legt, ja diesen nicht selten brutal und brachial hineinstößt. Triebfeder des Ganzen war in den Anfängen vor allem die politische Enttäuschung von Intellektuellen und Aktivisten, die in dieser neuen Art der Literatur die Möglichkeit sahen, ihrem Unmut Ausdruck und gescheiterter emanzipatorischer Bewegungen neuen Auftrieb zu verleihen.

Es ist daher wenig überraschend, dass sich auch der irische Autor Gene Kerrigan dieser Form des „protest writing“ bedient, gilt der gelernte Journalist, welcher bereits seit Jahrzehnten für den Sunday Independent (zweimal „Journalist of the Year“ – 1985 und 1990) tätig ist, doch als kritische und mahnende Stimme der Stadt Dublin. Und die Metropole ist auch – wie schon in dem bereits auf deutsch vorliegenden Titel „Die Wut“ – Schauplatz für Kerrigans „schwarze“ Kriminalromane. Mehr noch: Das Dublin nach der Finanzkrise von 2008, nach der geplatzten Immobilienblase und dem kollabierenden Bankensystem – es ist der Nährboden, aus dem die Handlung letztlich ihre Kraft und ihre Legitimation zieht. Die leeren Wohnsiedlungen, die halb fertigen Bürokomplexe, die aufgegebenen Baustellen – sie stehen nahezu symbolisch für ein Irland „In der Sackgasse“, für einen „keltischen Tiger“, der seine Zähne verloren hat. Kurze Zeit nach eben diesem Finanzbeben („Die Wut“ spielte im Jahr 2011, wo Irland bereits unter den Euro-Rettungsschirm geschlüpft war) setzt nun der vorliegende Roman an.

An der Bar des Pubs „Blue Parrot“ begegnen wir Danny Callaghan. Der ist vor kurzem erst aus der Haft entlassen worden, nachdem er wegen Totschlags acht lange Jahre eingesessen hatte. Doch die Freiheit ist trügerisch, denn der Bruder des Mannes, den er ermordet hat, ist der Gangster Frank Tucker. Und der schwor ihm einst im Gerichtsaal Rache. So glaubt Callaghan auch erst, er wäre das Ziel, als plötzlich zwei maskierte Bewaffnete den Pub stürmen und in seine Richtung marschieren. Das Ziel entpuppt sich dann aber doch als Walter Bennett, ein Kleinkrimineller und Spitzel, dessen Informantendienste für die Dubliner Garda ihm nun augenscheinlich zum Verhängnis werden. Als die Waffe schon auf Bennett gerichtet ist, reagiert Callaghan instinktiv. Er schlägt den Angreifer zu Boden und schließlich beide Maskierten mithilfe des Pub-Besitzers Novak in die Flucht. Schon kurz nach seiner Rettungsaktion ahnt er, dass er einen Fehler begangen hat. Eine Ahnung, die schon bald Gewissheit werden soll, denn Unterweltboss Lar Mackendrick, Auftraggeber des Attentats auf Bennett, erklärt Callaghan zum nächsten Ziel. Und als sich dann auch die Banden von Tucker und Mackendrick an die Gurgel gehen, gerät Callaghan mit zwischen die Fronten. Um seine Freunde zu schützen, muss er das dreckige Spiel mitspielen … bis zum bitteren Ende.

Geld regiert die Welt. Und wo viel Geld abfällt, wollen viele regieren. So auch in Dublin, wo nicht nur Großindustrielle ihr Bestens versuchen, um aus den Nachbeben des Finanzcrashs ihren Vorteil zu ziehen, sondern auch die Unterwelt die Gunst der Stunde nutzen will, mehr Marktanteile zu sichern und verhasste Gegner endgültig aus dem Geschäft zu räumen. Die Gelegenheit, welche sonst allerhöchstens Diebe machte, verführt nun zu weit mehr und aus der irischen Metropole wird in knapp 300 Seiten ein Schlachtfeld, auf dem die Revierkämpfe mit unerbittlicher Härte geführt werden. Gier, Größenwahn, Egomanie, Skrupellosigkeit. All das tropft diesem kleinen harten und bitterschwarzen Noir aus jeder Pore, vom Autor wie in einer Katharsis auf die Seiten geschleudert, jede Zeile eine Anklage gegen die „Show must go on“-Attitüde des Establishments. „Die Wut“, hier ist sie wieder, in ihrer reinsten Form, alles erfassend, was Danny Callaghans Leben bestimmt und beherrscht.

Ob in den Glaspalästen oder im Milieu, ob in Nadelstreifenanzügen oder in Bomberjacken – die Finanzkrise hat endgültig die moralischen Grenzen gesprengt und den Blick auf das korrupte innere des Kapitalismus freigelegt, der mit dem Laptop genauso viel Schaden anrichtet, wie mit der Waffe in der Hand. Unrechtbewusstsein – ein Fremdwort und eine Schwäche, die man sich nicht mal leisten würde, wenn man es könnte. Kerrigan kreiert ein düsteres Szenario, wobei „kreieren“ vielleicht nicht mal der richtige Begriff ist, um es zu beschreiben, so nah bewegt sich „In der Sackgasse“ an der Realität, so überzeugend agieren die Protagonisten in ihrem jeweiligen Umfeld. Und ja, ich schreibe ausdrücklich Protagonisten, denn wo Bob Tidey (der im Buch übrigens einen kurzen Gastauftritt als desillusionierter Sergeant hat) noch in „Die Wut“ weitestgehend das Geschehen bestimmte, richtet sich hier das Blickfeld doch recht bald auf mehr Personen als nur Callaghan. Wie in der TV-Serie „The Wire“ ändern sich die Perspektiven, springen wir in kurzen, knappen Szenenwechseln durch rasante und knackige Dialoge, der unvermeidlichen Konfrontation auf der obersten Eskalationsstufe entgegen.

In der Sackgasse“ – das erwies sich in meinem Fall als ein „Page Turner“ im besten Sinne des Wortes, denn Kerrigan hält sich nicht lange mit Gewissheiten auf und lässt den Leser immer wieder am Ausgang der Geschichte zweifeln, von der man allenfalls vermuten darf, das sie sicher nicht gut ausgehen wird. Oder wie Brad Pitt als IRA-Mann Frankie McGuire zum Schluss des Films „Vertraute Feinde“ zum Thema Happy End konstatiert:

Das ist keine amerikanische Geschichte, sondern eine irische.“

Und damit eine in der Form des Kriminalromans noch verhältnismäßig neue und unberührte Geschichte, erfahren wir doch im äußerst erhellenden Nachwort von Marcus Müntefering, dass sich in Irland erst in den letzten Jahrzehnten eine eigenständige, lebendige Krimiszene entwickelt hat, welche auch endlich den rasanten Entwicklungen in beiden Ländern der grünen Insel Rechnung trägt. Fackelträger sind neben Kerrigan Namen wie Declan Burke, Adrian McKinty, Ken Bruen, Sam Millar, Brian McGilloway und Colin Bateman, wobei aber ersterer über seinen Kollegen behauptet:

Gene ist einer der wenigen irischen Krimiautoren, die echtes Mitgefühl für ihre kriminellen Protagonisten haben. Es geht ihm darum zu zeigen, warum sie tun, was sie tun, um ihre Herkunft und Bildung (oder den Mangel daran), um den sozioökonomischen Kontext.

Genau das ist es, was „In der Sackgasse“ aus der Masse hervorhebt, den Spannungsbogen weiter verdichtet, das Schicksal der Figuren so relevant macht. Kerrigan weiß zu plotten, profitiert von seiner Erfahrung als Journalist, wenn er versucht, seine Leser über den schlichten Thrill hinaus zu unterhalten. Was bleibt ist ein „Dublin Noir“, der – wie schon „Die Wut“ – lange nachhallt. In diesem Sinne: Lieber Wolfgang, den nächsten Kerrigan, bitte!

Wertung: 91 von 100 Trefferneinschuss2

  • Autor: Gene Kerrigan
  • Titel: In der Sackgasse
  • Originaltitel: Dark Times in the City
  • Übersetzer: Andrea Stumpf
  • Verlag: Polar
  • Erschienen: 11/2015
  • Einband: Broschiertes Taschenbuch
  • Seiten: 320
  • ISBN: 978-3945133279    

+++ Der Vorschau-Ticker – Frühjahr/Herbst 2017 – Teil 3 +++

Ganz in weiß kommen die nächsten fünf Titel meines dritten Vorschau-Tickers daher, was tatsächlich mehr Zufall denn gewollte Absicht ist und zudem wohl im starken Kontrast zum Inhalt der Bücher stehen dürfte, welche sich eher dem Reich der dunklen, seelischen Abgründe, dem „Noir“, zugehörig fühlen. Hier hat sich in den letzten Jahren insbesondere der Polar Verlag mit bärenstarken Autoren wie Benjamin Whitmer, Newton Thornburg, Gene Kerrigan oder Ben Atkins hervorgetan und seine ganz eigene Nische erarbeitet, was nicht nur mit der eingängigen Cover-Gestaltung, sondern vor allem am feinen Gespür des Teams rund um Verlagsleiter Wolfgang Franßen zusammenhängt. Und diesem traue ich auch diesmal blind, weshalb es gleich alle vier Titel aus der aktuellen Vorschau in meine persönliche Auswahl geschafft haben. Komplettiert wird das Ganze durch einen eher zufällig entdeckten und neugierig machenden Roman vom Verbrecher Verlag. Ein Verlag, der- obwohl es ihn bereits seit 1995 gibt – bis dato eher unter meinem Radar geflogen ist. Nun aber schnell zu den fünf Auserwählten:

Den Anfang – zumindest in meiner Auflistung – macht „Libreville“ von Janis Otsiemi, mit dem die Krimi-Szene in Deutschland um einen weiteren schwarzafrikanischen Krimi-Autor bereichert wird. Der gebürtige Gabuner wird aller Voraussicht nach 2017 Gast auf der Leipziger Buchmesse sein, wodurch sich vielleicht dem ein oder anderen die Gelegenheit bietet, mehr über die Hintergründe der Entstehung seines Polizeiromas zur erfahren, der sich augenscheinlich an den großen, klassischen Vorbildern orientiert. So heißt u.a. einer seiner Titel im Original „African Tabloid„. Afrikanisches Flair, eingebettet im „Noir“ sowie zwei Polizisten im Kampf gegen Machtmissbrauch und Korruption. Und das auf gerade mal 170 Seiten. Shut up and take my money!

Das gilt natürlich genauso für den dritten Band mit Detective Sergeant Brant, der passenderweise dann auch wie sein Protagonist heißt und unter dem Titel „Blitz“ mit Jason Statham in der Hauptrolle bereits verfilmt worden ist. Zu Ken Bruen muss ich hoffentlich nichts mehr sagen, wenngleich ich gerne Jochen Königs kürzlich an mich gerichtete Worte wiederhole: „Die Bruens im Polar Verlag sind meines Erachten die Besten.“ Im April können wir uns, jetzt schon zum dritten Mal, selber davon überzeugen.

Paris, Stadt der Liebe. „Von wegen“, scheint sich Wolfgang Franßen zu denken und schickt uns mit „So kam die Nacht“ erneut in das düstere Gewirr der Metropole, wo Nathalie, Kriegsflüchtling und verroht durch die Geschehnisse in Tschetschenien, mit blindem Gehorsam Jagd auf zwei ehemalige Studenten macht, die dem leicht verdienten Geld verfallen sind und dieses nun als Dealer verdienen. Klingt explosiv, klingt anders, klingt wirklich gut.

Benjamin Whitmer zweiter bei Polar erscheinender Titel „Im Westen nichts“ fällt augenscheinlich erneut in die Kategorie „Country Noir“ und dadurch bei Erscheinen mir wohl auch direkt in die Hände. Appalachen, Winter, skrupellose Gesetzeshüter, Wildnis – Sie haben die richtigen Knöpfe gedrückt, Herr Franßen. Interesse ist da, Buch wird gekauft.

Ob das am Tag der Veröffentlichung auch für „Über uns der Schaum“ gilt, weiß ich noch nicht. Fakt ist aber: Die Beschreibung klingt sehr verheißungsvoll, die Mischung aus „Noir“ und surrealer Welt könnte, mit dem richtigen Autor an der Feder, durchaus für Furore sorgen. Otremba ist allerdings für mich noch ein unbeschriebens Blatt, weswegen ich da etwas hadere.

Was könnte euch hier zum Griff in den Geldbeutel bewegen?

  • Janis Otsiemi – Libreville (Broschiertes Taschenbuch, März 2017 – Polar Verlag – 978-3945133439)
  • Inhalt: Ein Jahr vor den Wahlen wird Roger Missang, Journalist der Èchos du sud, am Strand von Libreville nahe dem Palast des Präsidenten der Republik mit durchgeschnittener Kehle aufgefunden. Er hat kritisch über die Ermordung von Pacel Kurka, dem Sicherheitschef der gabunischen Verteidigung, berichtet. Wegen seiner kritischen Untersuchungen über die heimlichen wirtschaftlichen Beziehun­gen in Ghana war er den Mächtigen des Landes ein Dorn im Auge. Er prangerte hemmungslos die Korruption an. Für die Presse ist sein Tod offensichtlich ein politischer Mord. Mit den Ermittlungen im Mordfall werden Pierre Koumba Owoula und Hervé Louis Boukinda Envame beauftragt, zwei Polizisten, die ohne die bei uns übliche DNA-Analyse und Forensik auskommen müssen. Sie sind auf Zeugenaussagen und Informanten angewiesen. Die technische Ausrüstung ihrer Einheit beschränkt sich auf eine Schreibmaschine aus der de-Gaulle-Zeit.
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  • Ken Bruen – Brant (Broschiertes Taschenbuch, April 2017 – Polar Verlag – 978-3945133453)
  • Inhalt: Nachdem Detective Sergeant Brant sich erst vor kurzem über alle Regeln hinweggesetzt und in einer Billardkneipe einen Randalierer bewusstlos geschlagen hat, wird eine junge Polizistin auf der Straße von einem Unbekannten erschossen. Der Sensationsreporter Harold Dunlop, der sich in seinen Artikeln besonders um den Rufmord von Brant hervorgetan hat, erhält von dem Polizistenmörder einen Anruf, bei dem der Mörder ankündigt, er wolle insgesamt acht weitere Polizisten töten. Kurz danach erschießt er einen Polizisten in seinem Dienstfahrzeug. Zusammen mit Detective Inspector Porter Nash wird ein Ermittlerteam gebildet, das den Cop-Killer so schnell wie möglich fassen soll. Was, wenn jedoch der Täter gefasst und wieder freigelassen wird? Sollte man den Mörder davonkommen lassen? Weil man sich ans Gesetz hält? Detective Sergeant Brant hat da seine eigenen Methoden.
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  • Estelle Surbranche – So kam die Nacht (Broschiertes Taschenbuch, Mai 2017 – Polar Verlag – 978-3945133477)
  • Inhalt: Zwei befreundete Jurastudenten aus Paris finden beim Surfen in Biarritz eine große Menge reinen Kokains. Zurück in Paris werden die bis dahin unauffälligen Studenten zu Dealern und zu gern gesehenen Gästen auf Partys der Pariser Jeunesse dorée. Während Matthieu versucht, dem Drogenkonsum und exzessiven Partyleben zu entfliehen und sein Studium wieder aufzunehmen, macht Romain unter dem Einfluss des Kokses eine Persönlichkeitswandlung durch, die den immer im Schatten seines gutaussehenden Freundes stehenden, blassen Typen zum skrupellosen und brutalen Dealer werden lässt. Längst hat sich die Auftragskillerin Nathalie an ihre Fersen geheftet. Sie hat als Teenager im Krieg nicht nur ihre Eltern, sondern nach Erfahrungen extremer Gewalt jeglichen Glauben an so etwas wie Humanität verloren. Ihr einziger Halt ist der bedingungslose Gehorsam, mit dem sie ihrem Auftraggeber, einem Drogenboss dient.
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  • Benjamin Whitmer – Im Westen nichts (Broschiertes Taschenbuch, Juni 2017 – Polar Verlag – 978-3945133491)
  • Inhalt: Gerade noch war Douglas Pike, ehemals gewalttätiger Berufsverbrecher, auf dem Weg der Resozialisierung im eisigen Abstellgleis der gottverlassenen Appalachen, da holt ihn die Nachricht ein, dass seine ihm entfremdete Tochter an einer Überdosis gestorben sein soll. Ihr einziges Vermächtnis ein 12 Jahre altes Mädchen, das ausgerechnet in Pikes Obhut landet. Dabei hat er alle Hände voll damit zu tun, sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser und mit hartem Suff die Dämonen vom Leib zu halten. Als die beiden langsam zueinanderfinden, kommt ihnen Derrick Kreiger, ein krummer Bulle aus Cincinnati, in die Quere, sodass Pike kein anderer Ausweg bleibt, als selbst herauszufinden, wer seine Tochter wirklich auf dem Gewissen hat. Dass er sich dabei mit Gott, der Welt, mit skrupellosen Gesetzeshütern und dem erbarmungslosen Winter Ohios anlegt, führt zu einer blutigen Suche in einer Vergangenheit, die ihn unausweichlich einholt.
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  • Hendrik Otremba – Über uns der Schaum (Hardcover, März 2017 – Verbrecher Verlag – 978-3957322340)
  • Inhalt: Der drogenabhängige Detektiv Joseph Weynberg trauert um seine Liebe – Hedy. Sie ist tot. Er bekommt den Auftrag, eine Frau, Maude Anandin, zu beschatten. Diese Femme Fatale ähnelt Hedy wie ein Klon. Weynberg entwickelt eine Obsession für Maude, die in Schwierigkeiten steckt und in ihrem exzessiven Leben dem Tod immer näher kommt. Menschen sterben. Weynberg ist unbeabsichtigt in diese Tode verstrickt. Maude und Weynberg müssen aus ihrer namenlosen Heimatstadt fliehen, die sie noch nie zuvor verlassen haben. Sie wollen nach Neu-Qingdao, ein Ort, von dem sie sich Zuflucht und Perspektive versprechen. In einer von Menschen verlassenen Welt finden sie Schönheit, stolpern in surreale Szenarien, die Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit verschwimmt. Doch die Flucht fordert ihren Tribut. Sie werden schwächer, ihre Lage hoffnungsloser, schließlich aber erreichen sie mit letzter Kraft die verheißungsvolle Stadt.
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