Sherlock Holmes‘ letzte Verbeugung

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Schon der erste Blick auf das Cover der „Insel“-Ausgabe dürfte vielleicht den ein oder anderen interessierten Leser stutzig machen und irritieren, wird doch der legendäre Detektiv Sherlock Holmes in den meisten Medien, und dadurch auch im allgemeinen Verständnis, mit dem Viktorianischen Zeitalter in Verbindung gebracht – Droschken, Gaslichtlaternen, nasses Kopfsteinpflaster, der Gentleman in Frack und mit Zylinder auf dem Kopf. Es sind diese Bilder, welche unsere Erinnerungen an Sir Arthur Conan Doyles Helden beleben, weshalb das auf dem Deckblatt abgebildete Automobil für viele einen ungewohnten Stilbruch darstellt.

Fakt ist aber: Bei Veröffentlichung der Kurzgeschichtensammlung „Seine Abschiedsvorstellung“ im Jahr 1917 war die Regentschaft Königin Victorias schon lange beendet, befand sich das englische Empire in den Wirren des Ersten Weltkriegs verstrickt, welcher weiteren imperialen Bestrebungen einen Dämpfer verpasste und bis zum Kriegsende im November 1918 noch Millionen Menschen das Leben kosten sollte. Für viele bedeutete das Grauen an der Westfront nicht nur persönliches Leid, sondern auch ein Ende der Sicherheit. Trotz zahlreicher Konflikte, Missernten, Hungersnot und einer in Arm und Reich geteilten Gesellschaft – viele Zeitgenossen sahen das Viktorianische Zeitalter rückblickend als Ära des Reichtums und der Stabilität, als „gute alte Zeit“.

Für Sir Arthur Conan Doyle, der bereits 1893 entschied, das Leben seines Protagonisten Holmes zu beenden, da das regelmäßige Verfassen neuer Geschichten zu viel seiner Zeit in Anspruch nahm und er seine schriftstellerische Arbeit auf andere Werke konzentrieren wollte, war der von vielen geliebte Schnüffler mit der Lupe mittlerweile zu einem Mühlstein am Hals geworden, der lediglich aus finanziellen Gründen weitergetragen wurde. Der Ehrgeiz, der Fleiß und diese einstmals gewohnte komplette Hingabe – sie flossen längst vermehrt in andere Projekte (u.a. schuf er 1912 mit Professor Challenger eine zweite, sehr populäre Figur), was sich, wie auch der Tod von Doyles Sohn an der Front, in der Qualität der späteren Fälle niederschlug, welche heute, im Verbund mit dem letzten Sammelband „Sherlock Holmes‘ Buch der Fälle“, zu den am wenigsten bekannten und von Sherlockians auch am wenigsten geschätzten Geschichten zählen. Ein Grund sich ihnen erst gar nicht zu widmen? Mitnichten, denn auch wenn „Seine Abschiedsvorstellung“ nicht mehr die Klasse und die Brillanz der frühen Holmes-Fälle erreicht – ein Quäntchen des Flairs, der Stimmung und der Leichtigkeit konnte Doyle, der uns die deduktive Arbeitsweise einmal mehr mit überraschenden Wendungen kredenzt, in diese neue Zeit retten.

Folgende acht Kurzgeschichten sind in „Seine Abschiedsvorstellung“ enthalten:

  • Wisteria Lodge
  • Die Pappschachtel
  • Der rote Kreis
  • Die Bruce-Partington-Pläne
  • Der Detektiv auf dem Sterbebett
  • Das Verschwinden der Lady Frances Carfax
  • Der Teufelsfuß
  • Seine Abschiedsvorstellung

Bis auf die bereits 1893 geschriebene Geschichte „Die Pappschachtel“, welche vor allem in britischen Ausgaben des Kanons der Kurzgeschichtensammlung „Die Memoiren des Sherlock Holmes“ zugerechnet wird – amerikanische Verleger befanden die Geschichte damals aufgrund des Ehebruch-Themas als zu brisant und druckten sie erst später in der „Abschiedsvorstellung“ ab (die meisten deutschen Verleger haben diese Vorgehensweise übernommen) – sind alle weiteren Fälle zwischen 1908 und 1913 in unregelmäßigen Abständen im „Strand Magazine“ und später auch im „Collier’s Weekly“ veröffentlicht worden. Das damals enthaltene kurze Vorwort Doyles fehlt leider in der „Insel“-Ausgabe, wird aber durch die Anmerkungen im Anhang durchaus wettgemacht, welcher u.a. einzelne veraltete Begrifflichkeiten und Anspielungen erläutert, weshalb man auch gern während der Lektüre einer Geschichte darauf zurückgreift.

Die Zusammenstellung der Geschichten in dieser Anthologie ist – den großen Abständen in denen sie veröffentlicht worden geschuldet – bunt gemischt, wenngleich auffällig ist, dass sich Doyle vom ursprünglichen Ton entfernt, seine Figur Sherlock Holmes etwas massentauglicher gemacht hat. Zwar immer noch belehrend in seinen Ausführungen, fehlt hier doch zumeist diese gerade in frühen Geschichten und Romanen präsente emotionale Kälte und Distanz, welche den Detektiv nicht nur von allen anderen in seinem Umfeld (besonders Dr. Watson) unterscheidet, sondern ihn auch erst in die Lage versetzt, die Kunst der Deduktion bei der Lösung eines Falles anzuwenden. Das nun Holmes in „Seine Abschiedsvorstellung“ zeitweise sogar lächelt oder sich als mitfühlendes Wesen erweist, mutet dann schon fast seltsam an. Doyle hat anscheinend selbst gemerkt und versucht, dies in den Geschichten teilweise sogar zu erklären. Dennoch: Das Profil des früheren Kokain-süchtigen Holmes hat eindeutig an Ecken und Kanten verloren – und die Vermutung liegt nahe, dass man damit ein noch breiteres Publikum erreichen wollte.

Es entbehrt dann nicht einer gewissen Ironie, dass die zu lösenden Fälle selbst um einiges düsterer geraten sind. Geschichten wie „Der Teufelsfuß“ oder „Die Bruce-Partington-Pläne“ haben nur noch wenig mit dem rätselhaften Spaß eines „blauen Karfunkels“ gemeinsam – sie sind ernster, dunkler, dreckiger und, in der Beschreibung des ausgeübten Verbrechens, auch drastischer und unverblümter geraten. Der Trend, welcher mit „Der Hund der Baskervilles“ und „Das Tal der Angst“ begann, er wird hier fortgeführt, was der Stimmung und auch dem Spannungsgehalt sicherlich zuträglich ist, gleichzeitig aber auch nochmal betont, dass der gemütlich im Arbeitszimmer in der Baker Street ausdiskutierte Fall der Vergangenheit angehört. Für mich zählen die beiden obigen Kurzgeschichten dann auch zu den Höhepunkten dieser Sammlung. Insbesondere „Der Teufelsfuß“ gehört schon allein aufgrund der Wahl des atmosphärischen Schauplatzes (ein abgelegenes Hochmoor nahe der Steilküste) zu Doyles besten Werken, wiewohl die Auflösung und Perfidität des Verbrechens das Setting noch übertrifft. Genau die richtige Lektüre für den stürmisch-verregneten Herbstabend vor dem Kamin, wohingegen Holmes in „Die Bruce-Partington-Pläne“ stattdessen deduktiv nochmal zur Höchstform aufläuft.

Im direkten Vergleich können die anderen Fälle dann leider nicht alle überzeugen, was nicht zuletzt auch daran liegt, dass Doyle hier streckenweise ein bisschen bei sich selbst klaut. Besonders „Wisteria Lodge“ weckt in Aufbau und Verlauf gewisse Erinnerungen: Der alte Mann mit der dunklen Vergangenheit. Die Flucht in ein anderes Land. Der über viele Jahre gehegte Wunsch nach Rache. Hier ist schon die ein oder andere Parallele zu „Das Zeichen der Vier“ zu erkennen, was den Lesegenuss für Neueinsteiger zwar nicht schmälert, Kennern des Kanons aber allenfalls ein wissendes Lächeln abringt. Weit besser gelingt dann der Abschluss mit der titelgebenden Erzählung „Seine Abschiedsvorstellung“, in der Holmes, welcher sich inzwischen im Ruhestand befindlich der Bienenzucht widmet, am Tag des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs nochmal für seine Majestät aktiv wird und einem deutschen Agenten mit gewohnter Nonchalance das Handwerk legt. Ein herrlich kurzweiliges und auch ein wenig wehmütig stimmendes Finale vor dem letzten Akt, der abschließenden Anthologie „Sherlock Holmes‘ Buch der Fälle“.

Seine Abschiedsvorstellung“ ist Sherlock Holmes‘ letzte tiefe Verbeugung („Sherlock Holmes‘ Buch der Fälle“ habe ich immer als nachgereichten Fanservice verstanden) vor seinem wie immer erstaunten Publikum. Und auch wenn der Detektiv inzwischen in die Jahre gekommen ist – auch Doyles spätes Werk hat sich das Prädikat des immer noch lesenswerten Klassikers redlich verdient, was allein schon daran deutlich wird, dass sich aktuell immer wieder zahlreiche Autoren daran verheben, den lockeren Stil des Originals zu kopieren. Den echten, den richtigen Sherlock Holmes – ihn konnte nur sein Schöpfer, Sir Arthur Conan Doyle.

Wertung: 85 von 100 Treffern

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  • Autor: Sir Arthur Conan Doyle
  • Titel: Seine Abschiedsvorstellung
  • Originaltitel: His Last Bow
  • Übersetzer: Leslie Giger
  • Verlag: Insel
  • Erschienen: 11/2007
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 318 Seiten
  • ISBN: 978-3458350200

Nachtrag: Ich habe mich bei der Verlinkung des Titels bewusst für die ältere Insel-Ausgabe entschieden, da sie – leider gibt es den Haffmans Verlag ja in dieser Form nicht mehr und die Kein & Aber Ausgabe ist ebenfalls vergriffen – vor allem optisch der äußerst lieblosen Fischer-Version vorzuziehen ist. Ansonsten sollte vor allem bei antiquarischen Stücken darauf geachtet werden, dass es sich um die Übersetzungen von Gisbert Haefs, Hans Wolf etc. handelt. Von gekürzten Ausgaben oder gar solchen, wo Holmes und Watson sich duzen, ist abzuraten.

Wie oft ist die Vorstellungskraft die Mutter der Wahrheit?

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© Insel

„Das Tal der Angst“, erstmals zwischen September 1914 und Mai 1915 im Strand Magazine veröffentlicht, ist nicht nur der vierte und letzte Roman aus der Feder von Sir Arthur Conan Doyle, sondern gilt unter den „Sherlockians“ auch als schwächster Fall des Großen Detektivs. Eine Einschätzung, welche ich so gar nicht teilen kann und will, was vielleicht aber auch daran liegt, dass es, neben „Der Hund der Baskervilles“, dieses Buch gewesen ist, das meine Freude am Lesen geweckt und mein Interesse letztlich in Richtung der Kriminalliteratur gelenkt hat.

Der Tag, an dem ich dieses Werk zum ersten Mal las, ist mir bis heute äußerst detailliert im Gedächtnis geblieben: Der eiskalte, schneidende Wind. Der ans Fenster prasselnde Schneeregen. Das dunkle, alte Zimmer. Der Blick auf ein graues, marodes Fabrikgelände. Kurzum: Es war das perfekte Setting für „Das Tal der Angst“, das, so unterschiedlich die Bewertungen letztlich ausfallen, wohl düsterste Abenteuer von Sherlock Holmes, dessen nüchterner Ton nicht unerheblich von den Wirren des Ersten Weltkriegs geprägt worden ist.

Drei Jahrhunderte waren an diesem alten Herrenhaus nicht spurlos vorübergegangen, Jahrhunderte mit Geburt und Tod, mit ländlichen Tanzfesten, morgendlichem Aufbruch zur Fuchsjagd und Heimkehr. Ein bedrückender Gedanke, dass nun im hohen Alter ein so düsteres Geschehen seinen Schatten auf die ehrwürdigen Mauern werfen sollte! Und doch waren die eigenartig spitzen Dächer und die überhängenden Giebel ein nicht unpassender Hintergrund für ein grausiges Intrigenspiel. Als ich die tief eingesetzten Fenster und die lange, vom Wasser umspülte Vorderfront betrachtete, dachte ich bei mir, dass man sich keinen besseren Schauplatz für solch eine Tragödie vorstellen konnte.

Das schreibt Holmes‘ treuer Weggefährte Dr. Watson beim Anblick von Birlstone Manor, wo sich die örtliche Polizei mit einem mysteriösen Todesfall konfrontiert sieht. Der Herr des Hauses, Mr. Douglas, ist durch einen Schuss mit einer abgesägten Schrotflinte getötet worden, welcher sein Gesicht bis zur Unkenntlichkeit entstellt hat. Da in dem Herrenhaus des Nachts die Zugbrücke hochgezogen wird, blieb dem Mörder nur die Flucht durchs Fenster und den Burggraben. Doch warum sollte jemand eine so laute Waffe wie eine Schrotflinte wählen? Und wovor hatte Mr. Douglas vor seinem Tod solche Angst?

Während sich die Polizei mit den blutbefleckten Spuren auf dem Fenstersims befasst, beschäftigt Sherlock Holmes nur eine Frage: Wohin ist die zweite Hantel verschwunden? Die Antwort darauf fördert ein Geheimnis zutage und eine Geschichte, welche zurück bis in das Jahr 1875 reicht. Nach Vermissa, in Pennsylvania … ins Tal der Angst.

Wie schon im ersten Auftritt von Sherlock Holmes, so ist auch hier die Struktur des Romans in zwei Ebenen geteilt worden: Zuallererst das Verbrechen, gefolgt von einer weit umfangreicheren Rückblende, welche die Hintergründe des Mordfalls beleuchtet und den Kreis letztlich wieder schließt. Bereits dieser Aufbau, den Doyle bewusst an „Eine Studie in Scharlachrot“ angelehnt hat, sieht sich immer wieder der Kritik ausgesetzt. Viele bemängeln den Bruch in der Erzählung, die unnötigen, ausufernden Schilderungen, den zu kleinen Auftritt von Holmes. Genau diese Kritikpunkte sind es, die „Das Tal der Angst“ in meinen Augen zu einem so lesenswerten Roman machen. Stilistisch hat sich Arthur Conan Doyle weit von seinen ersten Kurzgeschichten entfernt. Vom heimeligen, kuscheligen Ohrensessel in der Baker Street, der Jagd nach Dieben, Fälschern, Erpressern oder geklauten Gänsen ist nicht viel geblieben. Stattdessen konfrontiert er den Leser mit einem mörderischen Geheimbund, der mit seinen mafiösen Methoden einen ganzen Landstrich in Angst und Schrecken versetzt. Es ist eine dreckige, von rauchenden Schloten verdunkelte Welt, in die man eintaucht. Schwarz von der geförderten Kohle, mit Verbrechern, deren Seele dieselbe Farbe haben und, die, entgegen dem zwar ebenso diabolischen, aber doch immer gesitteten Moriarty, ihre Hände mit Blut waschen.

Über mehrere Seiten sieht man sich mit grausamen Morden konfrontiert, schaut man dem Treiben einer Bande zu, welche die Polizei in der Tasche und niemanden zu fürchten hat. Das Gesetz scheint fern, der Arm der Justiz zu kurz, um die „Scowrers“ (als historisches Vorbild dienten die „Molly Maguires“, ein Ende des 19. Jahrhunderts tatsächlich existierender irischer Geheimbund), so der Name der entarteten Freimaurerloge, erreichen zu können. „Das Tal der Angst“ muss auch für die damalige Leserschaft ein ziemlicher Schock gewesen sein.

Wo sonst Holmes mit genialen Einfällen den Verbrechern immer wieder einen Schritt näher kam, triumphiert hier allenthalben das Böse. Es ist eine bittere Pille, welche Doyle uns schlucken lässt. Und manch einer fühlt sich in den drastischen Schilderungen gar an die Kriminalromane des „Hardboiled“-Genres erinnert. (Unter ihnen ist auch Charles Ardai, Herausgeber der „Hard Case Crime“-Serie, in der auch Doyles Titel daher nochmalig erschienen ist) Doch trotz des relativ kleinen Auftritts des großen Detektivs, fehlt es der Geschichte nicht an Raffinesse oder Cleverness. Ganz im Gegenteil: Jack McMurdo, ein Gesetzesbrecher aus Chicago, erweist sich als ebenso gewiefter, kühler Planer. Und wie Holmes, so betrachtet auch er die Dinge weit früher als jeder andere im größeren Zusammenhang. Wenn der Leser erkennt, wonach McMurdo wirklich trachtet, ist die Überraschung groß.

Für mich ist Doyles Ausflug ins rauhe, sittenlose Kohlerevier von Pennsylvania (auch abseits eigener nostalgischer Verklärung) eins seiner mit Abstand besten Werke. Eine gelungene erfrischende Abwechslung, welche den von der viktorianischen Ära geprägten Detektiv Sherlock Holmes endgültig in die Moderne katapultiert und der Figur damit auch ein paar neue Facetten abringt. Kein Fest für Freunde des Whodunits, aber ein kompromissloser, knallharter Kriminalroman ohne künstlichen Aha-Effekt oder hineingepresstes Happy-End.

Wertung: 98 von 100 Treffern

  • Autor: Sir Arthur Conan Doyle
  • Titel: Das Tal der Angst
  • Originaltitel: The Valley of Fear
  • Übersetzer: Hans Wolf
  • Verlag: Insel
  • Erschienen: 11/2007
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 259 Seiten
  • ISBN: 978-3458350163

Nachtrag: Ich habe mich bei der Verlinkung des Titels bewusst für die ältere Insel-Ausgabe entschieden, da sie – leider gibt es den Haffmans Verlag ja in dieser Form nicht mehr und die Kein & Aber Ausgabe ist ebenfalls vergriffen – vor allem optisch der äußerst lieblosen Fischer-Version vorzuziehen ist. Ansonsten sollte vor allem bei antiquarischen Stücken darauf geachtet werden, dass es sich um die Übersetzungen von Gisbert Haefs, Hans Wolf etc. handelt. Von gekürzten Ausgaben oder gar solchen, wo Holmes und Watson sich duzen, ist abzuraten.

Auferstanden von den Toten …

© Insel

London, 1893. In der gesamten Stadt, dem Herzen des damals weltumspannenden britischen Empires, herrschten Entrüstung, schwelten Zorn und Wut. Menschen brachten mit Trauerbändern die Schwere ihres Verlusts und ihre Enttäuschung zum Ausdruck, belagerten die Türen zum „Strand Magazine“, so dass man als Ausstehender zur Auffassung gelangen konnte, der Premierminister höchstpersönlich sei wie ein räudiger Hund auf offener Straße erschossen worden. Grund für die niedergedrückte Stimmung war aber der Tod von jemanden, der eigentlich nie gelebt hat: Sherlock Holmes.

Nach dem sein Schöpfer, Arthur Conan Doyle, bereits Ende des Jahres 1891 seines Protagonisten, und der damit zunehmenden Reduzierung seines Werks auf allein diesen, überdrüssig wurde, plante er zielgerichtet dessen Ableben, welches er in „Das letzte Problem“ schließlich auf Papier umsetzte. Abgedruckt in eben jenem, später harsch kritisierten „Strand Magazine“, ließ er Sherlock Holmes und seine Nemesis, den „Napoleon des Verbrechens“ Professor Moriarty, in den reißenden Wogen der Schweizer Reichenbach Fälle ihr Ende finden. Zurück blieb lediglich eine Art Abschiedsbrief an Dr. Watson, welcher sich gleichzeitig auch an die treue Leserschaft richtete. Allen Bitten zum Trotz – selbst Doyles eigene Mutter bekniete ihn um weitere Geschichten – das Kapitel Sherlock Holmes schien beendet.

Die Frage bleibt bis heute unbeantwortet, ob Doyle den großen Detektiv je hätte wiederkehren lassen, wäre er nicht 1900 an Typhus erkrankt und nach Norfolk gereist. Dort lernte er Bertram Fletcher Robinson kennen, der aus Devonshire kam, und auf Dartmoor aufgewachsen war. Es war Robinson, welcher Doyle von den alten Legenden seiner Heimat erzählte, unter denen sich auch einige Gruselgeschichten um einen Geisterhund befanden. Diese inspirierten den Autor, der Dartmoor kurz darauf selbst aufsuchte, für einen neuen Roman, der wiederum einen Helden in der Form eines Detektivs brauchte, welcher die mysteriösen Vorgänge im düsteren Moor untersuchen konnte. Und wer wäre dafür besser geeignet gewesen als Sherlock Holmes? Der Rest ist aus heutiger Sicht Literaturgeschichte.

In „Der Hund der Baskervilles“ (1902 veröffentlicht), Doyles bis heute bekanntestem Buch, das chronologisch vor dem Reichenbach Vorfällen spielt, feierte der Mann mit dem Deerstalker und der Meerschaumpfeife ein beeindruckendes und auch finanziell einträgliches Comeback, dem der Autor in den folgenden beiden Jahren dreizehn Kurzgeschichten folgen ließ. Die erste, „Das leere Haus“, revidierte nicht nur Holmes‘ Tod, sondern lieferte gleichzeitig eine Erklärung für dessen langjährige Abwesenheit. Weitere Geschichten waren:

  • Der Baumeister von Norwood
  • Die tanzenden Männchen
  • Die einsame Radfahrerin
  • Die Abtei-Schule
  • Der schwarze Peter
  • Charles Augustus Milverton
  • Die sechs Napoleons
  • Die drei Studenten
  • Der goldene Kneifer
  • Der verschollene Three-Quarter
  • Abbey Grange
  • Der zweite Fleck

Die Rückkehr des Sherlock Holmes“, ein 1905 erschienener Sammelband, fasst diese nun zusammen, wobei ich heutigen Lesern besonders die Ausgaben von Kein+Aber und dem Insel Verlag ans Herz lege, welche, durch die zwar altmodischere, aber auch authentischere Übersetzung von Werner Schmitz, dem originalen Ton von Doyle weit näher sind als andere Fassungen. Vor allem die grausige Angewohnheit des „Duzens“ zwischen Sherlock Holmes und Dr. Watson glänzt hier glücklicherweise durch Abwesenheit. Das ist bei weitem aber nicht der einzige Grund, warum ein Griff zu diesem Klassiker auch mehr als hundert Jahre später noch lohnt.

In Zeiten blutrünstiger Splatter-Thriller und forensischer Such-Orgien ist „Die Rückkehr des Sherlock Holmes“ eine erfrischend nostalgische Rückbesinnung auf die Anfänge des Kriminalromans, in denen Mord nicht das einzige Verbrechen war, das es aufzuklären galt und der Leser tatsächlich noch selbst seinen Kopf benutzen durfte, um den Ermittlern bei den Lösung des Rätsels zuvorzukommen (Was bei Sherlock Holmes zugegebenermaßen ein schweres Unterfangen ist). Gepaart mit der unverwechselbaren Atmosphäre des Molochs Londons bieten die Geschichten kurzseitige, aber doch stets ansprechende und fordernde Unterhaltung, die, nicht selten mit typisch britischen Humor versehen, die Nachforschungen als Katz-und-Maus-Spiel zwischen Jäger und Gejagtem präsentiert. Und die Fangquote keiner Katze war wohl je besser als die von Sherlock Holmes. Das trifft selbst auf seine späteren Abenteuer zu, wenngleich man der allgemeinen Kritik zustimmen muss, welche die Werke der zweiten Schaffensperiode qualitativ doch mit gewissem Abstand hinter denen der ersteren einordnet. Wahr ist: Nach Holmes‘ vermeintlichen Tod hat Doyle nie wieder ganz diese alte Magie erreicht, diesen besonderen, unverfälschten Funken Genialität, der die Figur des großen Detektivs zu so etwas einzigartigem gemacht hat. So fehlt neben der bemerkenswerten Leichtigkeit auch schlichtweg das Flair der frühen Geschichten.

Nass glänzendes Kopfsteinpflaster. Undurchdringlicher Bodennebel. Laut klappernde Droschken in finsteren Gassen. Dämmrig-träges Gaslaternenlicht. Diese Szenerie des viktorianischen Londons, in dem auch Jack the Ripper unbestraft mordete, gehörte 1903, während der Veröffentlichung von „Das leere Haus“, längst in vielen Teilen der Vergangenheit an. Wo früher Holmes von loyalen Laufburschen seine Nachrichten und Telegramme durch die Stadt tragen ließ, da wird nun immer öfter auf das Telefon zurückgegriffen. Und auch das Geräusch von Pferdegespannen ist vielerorts dem Brummen der Automobile gewichen. Die größte Stadt der damaligen Welt hatte einen gewaltigen Schritt in die Moderne getan und Sherlock Holmes einige Mühe Schritt zu halten. So sehr sich Doyle bemühte – die Erfolge der Vergangenheit ließen sich lediglich kommerziell und nicht literarisch wiederholen. Das lag auch daran, dass der Autor die Bekanntheit seiner Figur zuletzt vor allem dafür nutzte, um den dadurch erworbenen Profit in andere Projekte zu stecken. Vor allem seinem Interesse für Spiritismus widmete er nun wesentlich mehr Zeit und Aufmerksamkeit als Sherlock Holmes, der nach seiner Wiederkehr aus der Schweiz plötzlich auch nicht mehr dem Kokain verfallen war – und damit, neben der letzten, eigentlichen Schwäche, ebenfalls einen gewissen Reiz verlor.

All das wird vor allem dem „Sherlockian“ auffallen, welcher den Holmes‘-Kanon auswendig und natürlich jegliche Hintergründe über deren Entstehung kennt. Gelegenheitsleser werden dies höchstwahrscheinlich kaum bemerken, was wiederum aber auch daran liegt, dass, trotz gerechtfertigter Kritik, Doyle selbst in „Die Rückkehr des Sherlock Holmes“ nochmal einige Highlights zu setzen weiß. Diese sind, neben Holmes‘ überraschender Wiederauferstehung und dem fesselnden Duell mit dem Scharfschützen Sebastian Moran in „Das leere Haus“, vor allem „Der Baumeister von Norwood“, „Die einsame Radfahrerin“, „Die Abtei-Schule“ und „Der goldene Kneifer“.

Arthur Conan Doyles dritter Kurzgeschichten-Sammelband „Die Rückkehr des Sherlock Holmes“ hält zwar nicht das Niveau seiner Vorgänger, ein Klassiker des Kriminalromans ist er dennoch. Ein Muss für alle Freunde der guten, alten „Whodunit“-Geschichten, die es sich am liebsten bei herbstlich-ungemütlichem Wetter und dampfenden Earl Grey im kuscheligen Ohrensessel für ihre Lektüre bequem machen wollen.

Wertung: 88 von 100 Treffern

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  • Autor: Sir Arthur Conan Doyle
  • Titel: Die Rückkehr des Sherlock Holmes
  • Originaltitel: The Return of Sherlock Holmes
  • Übersetzer: Werner Schmitz
  • Verlag: Insel
  • Erschienen: 11/2007
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 461 Seiten
  • ISBN: 978-3458350194

Nachtrag: Ich habe mich bei der Verlinkung des Titels bewusst für die ältere Insel-Ausgabe entschieden, da sie – leider gibt es den Haffmans Verlag ja in dieser Form nicht mehr und die Kein & Aber Ausgabe ist ebenfalls vergriffen – vor allem optisch der äußerst lieblosen Fischer-Version vorzuziehen ist. Ansonsten sollte vor allem bei antiquarischen Stücken darauf geachtet werden, dass es sich um die Übersetzungen von Gisbert Haefs, Hans Wolf etc. handelt. Von gekürzten Ausgaben oder gar solchen, wo Holmes und Watson sich duzen, ist abzuraten.

„Mr. Holmes, es waren die Fußspuren eines gigantischen Hundes …“

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Höchstwahrscheinlich gibt es für jeden begeisterten Leser diese eine Initialzündung, diesen Aha-Effekt, der ihn letztendlich für dieses schöne Hobby begeistert hat. Das und viel mehr waren für mich immer die Werke von Sir Arthur Conan Doyle. Wenngleich ich auch nicht an eine Wiedergeburt in einem anderen Körper glaube, so ist es doch irgendwie bemerkenswert und etwas verwunderlich, dass ich seit jüngsten Kindheitstagen dieses große Interesse am viktorianischen England, dem Gaslichtzeitalter mit seinen Droschken, Frackträgern und vernebelten Gassen, gezeigt habe. Wohlgemerkt ohne damit je vorher in Buch- oder Filmform in Kontakt gekommen zu sein. Was lag dann also näher, als irgendwann den Gang in die Stadtbibliothek anzutreten (damals hab ich mir Bücher tatsächlich noch geliehen) und es sich mitsamt den Sherlock-Holmes-Büchern in den ruhigen Hallen gemütlich zu machen. Spätestens ab „Der Hund der Baskervilles“ war es dann um mich geschehen – das Genre „Krimi“ hatte mich fest in seinen Fängen. Und bis heute hat es mich nicht losgelassen.

Sir Arthur Conan Doyles dritter Sherlock Holmes-Roman gilt allgemein als bester und beeindruckendster in der Riege der insgesamt vier längeren Geschichten mit dem großen Meisterdetektiv. Und das zweifellos zurecht, gelingt es doch dem Autor hier zum ersten Mal das volle Potenzial seiner Figur auszuschöpfen und ihn, entgegen seiner Kurzauftritte in z.B. „Studie in Scharlachrot“ und „Das Tal der Angst“, mit einem Problem zu konfrontieren, das seine Aufmerksamkeit über die gesamte Länge der Erzählung erfordert. „Der Hund der Baskervilles“ ist gegenüber den anderen Romanen erfrischend zielstrebig, bedarf weniger Nebenhandlungen und, bis auf dem Brief zu Beginn, auch keiner Rückblenden mehr. Das ist vielleicht auch ein Grund dafür, warum gerade dieses Werk Doyles in der Vergangenheit so oft (inzwischen mehr als 20mal, zuletzt mit Richard Roxburgh als Sherlock Holmes) verfilmt worden ist. Die wenigsten dieser Filmumsetzungen haben sich dabei jedoch genau an die Vorlage gehalten, was die Geschichte nicht selten zu einem billigen Gruseltheater verkommen ließ. Doch „Der Hund der Baskervilles“ ist sicherlich viel mehr als das. Und für die Unkundigen sei an dieser Stelle der Inhalt auch noch mal kurz angerissen:

Dartmoor, in der Grafschaft Devonshire, England, im Jahre des Herrn 1888. Sir Charles Baskervilles Tod hat die Region in tiefe Trauer gestürzt. Der ehrbare und gegenüber wohltätigen Zwecken stets spendable Landadlige war in der Nacht des 4. Juni unter mysteriösen Umständen in der Eibenallee vor dem Anwesen Baskerville Hall ums Leben gekommen. Als Todesursache hatte Dr. Mortimer, ein guter und enger Freund Charles‘, Herzversagen festgestellt. Was er indes Polizei und Gericht nicht verriet, war die Tatsache, dass auf dem Rasen in der Nähe der Leiche Spuren zu sehen waren – die Fußspuren eines gigantischen Hundes. Sollte gar der flammenspeiende Geisterhund Sir Charles in den Tod getrieben haben? Dieser holt laut einer alten Familiensage alle Baskervilles eines Tages, seit der grausame Urahn Hugo einst ein junges Mädchen gefangen nahm und anschließend mit seinen Jagdhunden ins Verderben des Moors hetzte.

Vier Monate später soll der letzte Baskerville Sir Henry, der bisher in Kanada lebte, sein Erbe auf Baskerville Hall antreten. Und Dr. Mortimer, der die Befürchtung hegt, dass Sir Charles‘ Neffe dessen schlimmes Schicksal bald teilen könnte, sucht schließlich in London die Baker Street 221b auf. Das Zuhause des berühmten Meisterdetektivs Sherlock Holmes. Während Watson und Dr. Mortimer beginnen übernatürliche Geschehnisse für Sir Charles‘ Tod verantwortlich zu machen, diktiert Holmes die Logik etwas anderes. So ist ein anonymer Brief, zusammengesetzt aus Zeitungsschnipseln, welcher den jungen Baskerville vor dem Betreten des Moors warnt, eindeutig irdischen Ursprungs. Und auch hinter dem Diebstahl von zwei einzelnen Schuhen Sir Henrys steckt wohl kaum ein teuflisches Monster. Zudem wird Holmes‘ Klient seit seiner Ankunft offensichtlich überwacht. Gemeinsam mit Watson nimmt der Detektiv die Verfolgung des bärtigen Mannes auf, der ihnen jedoch entkommen kann. Als man den Kutscher der fliehenden Droschke später zur Rede stellt, verrät dieser ihnen den Namen des geheimnisvollen Beobachters – Sherlock Holmes. Der Meisterdetektiv ist von der Genialität und Dreistigkeit seines Gegners begeistert und nimmt die Herausforderung an.

Da ihn jedoch andere wichtige Geschäfte derzeit noch in London festhalten, bittet er seinen besten Freund Dr. Watson um Mithilfe. Sein engster Vertrauter, der sich als Chronist des Detektivs einen Namen gemacht hat, soll Sir Henry nach Devonshire begleiten, für Holmes recherchieren und ein waches Auge auf den jungen Baskerville haben. Watson, bisher meist eher im Hintergrund vieler Fälle tätig, fühlt sich ob des Vertrauens seines Freundes geschmeichelt und sagt enthusiastisch zu. Doch bereits bei seiner Ankunft inmitten des vernebelten Moors ist es mit diesem Enthusiasmus vorbei. Baskerville Hall liegt fernab von jeglicher Zivilisation, die tückischen Untiefen rings herum können bei einem falschen Schritt den Tod bedeuten. Hinzu kommt, dass seit einiger Zeit der geistig verwirrte Serienmörder Selden inmitten der unzugänglichen Sümpfe vermutet wird. Der war vor kurzem aus dem berüchtigten Zuchthaus Princetown ausgebrochen und bringt nun die Bewohner der umliegenden Häuser um den Schlaf. Und bereits wenige Tage nach seiner Ankunft in Baskerville Hall, häufen sich auch hier die bedrohlichen Vorzeichen.

Das Dienerpaar Barrymore scheint mitten in der Nacht heimliche Signale ins Moor zu schicken, ein diabolisches Heulen lässt Sir Henry und Dr. Watson bei einem Spaziergang das Blut in den Adern gefrieren und das Geschwisterpaar Stapleton, das im nahe gelegenen Merripit-Haus wohnt, scheint ebenfalls das ein oder andere Geheimnis zu hüten. Um Holmes‘ Vertrauen zu rechtfertigen, versucht Watson allen Vorkommnissen auf den Grund zu gehen, wobei er bald feststellen muss, dass noch jemand anderes sein Auge auf Baskerville Hall geworfen hat. Watson, der nur einmal kurz die Silhouette des Unbekannten im Mondschein erhaschen konnte, setzt nun alles daran, diese mysteriöse Person in die Finger zu bekommen … als es ihm schließlich gelingt, erwartet ihn eine große Überraschung …

Eine derart ausführliche Einleitung in den Buchinhalt verkneife ich mir für gewöhnlich. Ich erachte sie aber in diesem Fall für unerlässlich, da wohl nur so meine Faszination für „Der Hund der Baskervilles“ zu begründen und nachzuvollziehen ist. Sir Arthur Conan Doyle, der seinen ihm überdrüssig gewordenen Helden im Jahr 1893 in der Kurzgeschichte „Sein letztes Problem“ den Tod in den Reichenbach-Wasserfällen sterben ließ, um sich stattdessen einer seriösen Art von Literatur widmen zu können, lässt hier Sherlock Holmes in einer Art und Weise zurückkehren, die bis zum heutigen Tag junge und alte Leser gleichermaßen in ihren Bann zu ziehen versteht. Das ist insofern erstaunlich, da zwar ein Buch dieser Art geplant war, aber Doyle ursprünglich nicht vorhatte es mit seinem Meisterdetektiv zu besetzen. Die Idee zu den merkwürdigen Ereignissen im Moor kam dem Autor im Jahre 1900, als er aufgrund einer Typhuserkrankung nach Norfolk reisen musste und dort mit Fletcher Robinson, einem Mann aus Devonshire, welcher auf Dartmoor aufgewachsen war, Freundschaft schloss. Dieser berichtete Doyle von einer alten Legende aus seiner Heimat, demnach der reiche Landbesitzer Richard Cabell (dessen Grab ich besucht habe, siehe Fotos), der die Töchter seiner Pächter entführte und vergewaltigte, einst von dämonischen Hunden zu Tode gehetzt wurde.

Es war der Funke, den Doyle zur Inspiration brauchte. Er suchte selbst Dartmoor auf, um einen Teil der realen Atmosphäre aufzunehmen, die bis heute „Der Hund des Baskervilles“ so bemerkenswert macht. Das zudem noch der Hausdiener der Familie Robinson mit Namen Henry Baskerville hieß, ist zusätzlich eine sehr interessante Anekdote. Ein mysteriöser Mordfall nahm in Doyles Kopf Gestalt an – und wer würde sich letztlich besser dafür eignen, einen solchen zu lösen, als Sherlock Holmes. Der Rückkehr des Detektivs stand nun nichts mehr im Wege. Das Strand Magazine veröffentlichte den Roman kapitelweise von August 1901 bis April 1902 und verhalf damit seinem Autor zum endgültigen Kult-Status. Sherlock Holmes war von den Toten auferstanden. Mehr noch, er war lebendiger denn je!

Um zu begreifen, wie sehr die wilde, raue Weite des in Licht und Schatten stetig wechselnden Dartmoors ihn inspiriert haben muss, war immer mein Wunsch, diesen Ort einmal selbst zu besuchen, in Doyles Fußstapfen zu wandeln und die Geheimnisse dieses sogar für englische Verhältnisse so unheimlichen, mysteriösen Schauplatzes zu ergründen. Im Jahr 2019 konnte ich mir diesen Traum gemeinsam mit meiner Familie erfüllen und nicht nur das Zimmer im Duchy Hotel betreten, in dem der Erfinder von Holmes den Roman einst geschrieben hat, sondern – ausgehend von der Stadt Princetown – auch einen Marsch zur Nun’s Cross Farm am Rand des großen Foxtor Mires unternehmen, die Doyle als Vorbilder für Stapletons Haus und das Grimpen Moor dienten (siehe Fotos). Die fast unnatürliche Ruhe dieses Ortes ist mir bis zum heutigen Tag nachhaltig in Erinnerung geblieben. Und die Tatsache, dass wir vor Ort einen großen abgenagten Knochen vorgefunden haben und uns ein Polizeiwagen begegnet ist, hat diesen Eindruck noch verstärkt. Fast als hätte sich der Roman nochmal in die Realität katapultiert, um uns vor dem Hund auf dem Moor und dem entflohenen Sträfling zu warnen. Ich kann nur jedem, der mal nach Devon kommt, ans Herz legen, diese einzigartige, menschenleere Landschaft aufzusuchen und ebenfalls in sich aufzunehmen.

Wann immer ich nun heute die Zeilen „Mr. Holmes, es waren die Fußspuren eines gigantischen Hundes“ im Buch lese, ist es um mich geschehen, hat mich dieser herrliche Schauer wieder in seinen Fängen, den Sir Arthur Conan Doyle mit dem kargen, düsteren Moor so eindringlich zum Leben erweckt hat. Sobald sich die kalte Jahreszeit ankündigt, der Regen gegen die Fensterscheiben prasselt und ein Kaminfeuer unsere Wohnung wärmt, wird „Der Hund der Baskervilles“ aus dem Regal gezogen. Man kennt den Mörder, den Ausgang, weiß welche Schlüsse Sherlock Holmes an welcher Stelle ziehen wird. Der Faszination tut das ebenso keinen Abbruch wie die sicherlich in vielen Passagen, was die Logik angeht, äußerst holprige Geschichte. Eine Lektüre dieses Buches ist halt einfach ein nostalgischer Trip, der weder Action noch Blut bedarf, sondern allein aufgrund der Figuren und der Kulisse in den Bann zu schlagen weiß. Vom grausigen Mörder Selden über den zwielichtigen Mr. Stapleton bis hin zum unerträglichen Mr. Frankland. Die klischeebehaftete Besetzung agiert bestens im Zusammenspiel mit den mysteriösen Vorkommnissen im Moor und unterstreicht in jeder Zeile dieses durchgängige Gefühl der Bedrohung. Hinzu kommt das Team Holmes und Watson.

Wohl in keinem anderen Fall treten die Fähigkeiten BEIDER Akteure deutlicher zutage. Und selbiges gilt auch für ihre innige Freundschaft. Während Watson in den Rathbone-Verfilmungen zum naiven Deppen degradiert wurde, zeigt sich hier die Wertschätzung, welche Holmes für seinen Gefährten hegt. Beide arbeiten, wenn auch anfangs unbewusst, als eingespieltes Team. Und was Watson an kriminalistischer Genialität fehlt, macht er schließlich durch Verbissenheit und Eifer wett. Über seine Schulter wird man Zeuge der Ereignisse und kann diesmal, im Gegensatz zu vielen der Kurzgeschichten, auch seine eigenen Schlüsse ziehen. Dieser Fall ist lösbar, ohne das es Holmes‘ Auftritt bedurft hätte. Das (und wie) er letztlich trotzdem auf der Bildfläche erscheint, setzt dem genialen Aufbau der zwar recht stringenten, aber auch verwinkelten Geschichte die Krone auf.

Der Hund der Baskervilles“ ist für mich schlichtweg DER ewige Klassiker unter den Kriminalromanen. Nie zuvor oder danach war Sherlock Holmes besser, kein anderes Pastiché hat je diese atmosphärische Dichte auch nur annähernd erreicht. Entgegen aller Unkenrufe so genannter Literaturexperten erachte ich dieses Buch für ein absolutes Meisterwerk. Zeitlos, unsterblich und stets aufs Neue bewegend und beeindruckend. Nur wenige Bücher in meinem Regal dürfen sich einer Maximalwertung rühmen – dieses gehört ohne jeden Zweifel dazu.

Wertung: 100 von 100 Treffern

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  • Autor: Sir Arthur Conan Doyle
  • Titel: Der Hund der Baskervilles
  • Originaltitel: The Hound of the Baskervilles
  • Übersetzer: Gisbert Haefs
  • Verlag: Insel
  • Erschienen: 11/2007
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 244 Seiten
  • ISBN: 978-3458350156

Nachtrag: Ich habe mich bei der Verlinkung des Titels bewusst für die ältere Insel-Ausgabe entschieden, da sie – leider gibt es den Haffmans Verlag ja in dieser Form nicht mehr und die Kein & Aber Ausgabe ist ebenfalls vergriffen – vor allem optisch der äußerst lieblosen Fischer-Version vorzuziehen ist. Ansonsten sollte vor allem bei antiquarischen Stücken darauf geachtet werden, dass es sich um die Übersetzungen von Gisbert Haefs, Hans Wolf etc. handelt. Von gekürzten Ausgaben oder gar solchen, wo Holmes und Watson sich duzen, ist abzuraten.

Sherlock Holmes kommt zu Fall

© Insel

Wer diesen Blog bereits etwas länger besucht, der weiß um meine besondere Beziehung zu den Werken von Sir Arthur Conan Doyle, insbesondere zu seinen berühmten Sherlock Holmes Geschichten, welche nicht nur meine Entwicklung als Leser, sondern vor allem das Interesse an der Kriminalliteratur in jungen Jahren maßgeblich beeinflusst haben. Insofern bedeutet eine Rezension über einen Titel aus dem Kanon rund um den größten Detektiv der Literaturgeschichte auch immer mehr als gewohnte Pflichterfüllung und wird vielmehr zu einer echten Herzensangelegenheit, ist mir doch sehr daran gelegen, dass bei all den modernen, vornehmlich visuellen Adaptionen des Mannes mit der scharfen Adlernase, die eigentliche Vorlage nicht in Vergessenheit gerät und ihre wohlverdiente Würdigung erfährt.

Nachdem im Jahre 1892 mit „Die Abenteuer des Sherlock Holmes“ die erste Sammlung der zuvor im Strand Magazine abgedruckten Kurzgeschichten veröffentlicht wurde, ließ Doyle bereits ein Jahr später eine weitere mit dem Namen „Die Memoiren des Sherlock Holmes“ folgen, welche, vollkommen zur Recht, unter neutralen Literaturkritikern und beseelten Sherlockians als erster Höhepunkt des Kanons gilt, mit seinem Titel aber auch schon verrät, wie es um die Beziehung zwischen dem Schriftsteller und seiner Figur zu damaligen Zeitpunkt stand. Das Schreiben war längst zu einer Routine verkommen. So hatte der geborene Schotte zwar zu einer gewissen traumwandlerischen Balance gefunden, einem Rezept, das sich beliebig und ohne größere Schwierigkeiten vervielfältigen ließ – der künstlerische Anspruch, er war aber in den Augen des Autors längst nicht mehr gegeben. Doyle befand sich dadurch in einem Zwiespalt, denn einerseits sicherte ihm sein Detektiv ein sicheres Auskommen, ja, sogar einen gewissen Wohlstand – andererseits fühlte er sich aber in einem Hamsterrad gefangen, dass ihn regelmäßig zu neuen Abwandlungen altbekannter Rätsel nötigte, da sein Publikum längst mit einer konkreten, fast ritualhaften Erwartung zu den Geschichten griff.

Der Ausgang dieses persönlichen Dilemmas ist vielfach bekannt: In „Das letzte Problem“ versucht sich Doyle seines ihm damals verhassten Helden zu entledigen. Wie wir heute wissen vergeblich, da Sherlock Holmes – dies sollte inzwischen keinen Spoiler mehr darstellen – den Sturz in den Reichenbach Fällen in der Schweiz überlebt und (vom Roman „Der Hund der Baskervilles“ abgesehen) in „Das leere Haus“ (enthalten in „Die Rückkehr des Sherlock Holmes“) sein überraschendes Comeback feiert. Dennoch ist es bis dato die Tragik dieses vermeintlichen Todes, welche uns nach all der kalten Logik auf einmal tiefer berührt und uns den sonst so unnahbaren, aber auch durch und durch moralischen Detektiv endgültig näher ans Herz wachsen lässt.

Neben „Das letzte Problem“ enthält der Sammelband noch folgende zehn Geschichten:

  • Silberstern
  • Das gelbe Gesicht
  • Der Angestellte des Börsenmaklers
  • Die „Gloria Scott“
  • Das Musgrave-Ritual
  • Die Junker von Reigate
  • Der Verwachsene
  • Der niedergelassene Patient
  • Der griechische Dolmetscher
  • Der Flottenvertrag

Ursprünglich wären es sogar insgesamt 12 Kurzgeschichten gewesen, doch „Die Pappschachtel“ (engl. „The Cardboard Box“) fiel der Selbstzensur durch den Autor zum Opfer, dem das Ehebruch-Thema für eine Veröffentlichung letztlich zu heikel war, allerdings den Beginn der Erzählung, in der Sherlock Holmes einmal mehr seine Genialität unter Beweis stellt, kurzerhand in „Der niedergelassene Patient“ einbaute.

Aber auch ohne diese eine fehlende Episode, weiß „Die Memoiren des Sherlock Holmes“ nachhaltig überzeugen, denn Doyle befindet sich nicht nur auf dem Gipfel seines Könnens – er traut sich auch zu, mit der ein oder anderen Gesetzmäßigkeit des Kanons zu brechen. Bestes Beispiel dafür ist „Gloria Scott“, welche, entgegen der üblichen Gewohnheit, nicht von Dr Watson wiedergegeben wird, sondern direkt von Sherlock Holmes selbst, der hier von seinem allerersten Fall berichtet und dabei, überraschend offen, sogar eigene Fehler eingesteht. Dem Autor ist dabei die Charakterisierung des jungen Holmes am Beginn seiner Karriere gut gelungen, während uns als Leser gleichzeitig endlich ein näherer Einblick in die sonst so mysteriöse Geschichte des großen Detektivs gewährt wird. Und soviel sei gesagt – es soll nicht der letzte in dieser Kurzgeschichtensammlung sein.

Den Anfang in der Riege macht jedoch die Story „Silberstern“ in der Sherlock Holmes und sein getreuer Freund Dr. Watson ins Dartmoor reisen, um ein verschwundenes Rennpferd mit dem titelgebenden Namen zu finden und gleichzeitig den Mord an dessen Trainer John Straker aufzuklären. Arthur Conan Doyle trug damit der Beliebtheit des Pferderennens in seiner Heimat Rechnung, die bis heute ungebrochen ist. Da dabei meist mit horrenden Geldbeträgen gewettet wird, sind Bestechungen und Betrug an der Tagesordnung, Zusätzlich ist die Geschichte aufgrund des Schauplatzes erwähnenswert, kehrt doch Holmes in seinem wohl bekanntestem Abenteuer, „Der Hund der Baskervilles“, noch mal in diese ursprüngliche und stellenweise undurchdringliche Sumpflandschaft Devons zurück, deren unheimliche Atmosphäre sich in beiden Geschichten äußerst schnell auf den Leser überträgt. Wer, wie ich, selbst einmal durch das Dartmoor wandern durfte, weiß zu schätzen, wie plastisch Doyle diese ganz besondere Stimmung des Ortes einfängt.

Eine noch beklemmendere Stimmung erzeugen die beiden Erzählungen „Das gelbe Gesicht“ und „Das Musgrave-Ritual“ – beide eine vortreffliche Hommage an den klassischen Schauerroman bzw. die Gespenstergeschichte, wodurch sie sich perfekt für die Lektüre an einem verregneten, stürmischen Herbsttag eignen. Weit vor John Dickson Carr löst Sherlock Holmes in „Der Verwachsene“ auch einen Mordfall in einem verschlossenen Raum und unterstützt in „Der Flottenvertrag“ die britische Regierung dabei, ein für die europäische Politik brisantes Dokument zurückzubekommen. Für den Holmes-Kanon ist auch „Der griechische Dolmetscher“ von Bedeutung, in der Sir Arthur Conan Doyle mit Mycroft erstmals den Bruder des beratenden Detektiv einführt. Auch wenn dieser zugegebenermaßen etwas überraschend und unglaubwürdig aus der Versenkung auftaucht – seine Präsenz erlaubt doch einen ganz neuen Blick auf die familiäre Seite von Sherlock Holmes. Zwar hätte die Geschichte um den Übersetzer Melas, der im elitären Diogenes Club um die Hilfe des Detektivs bittet, die Figur Mycroft nicht zwingend gebraucht – dennoch ist Doyle mit ihr ein brillanter Wurf gelungen, der bis heute seine Wiederkehr in vielen Pastichés feiert. Völlig zurecht, ist doch das Zusammenspiel (und Konkurrenzgehabe) der intellektuell gleichwertigen Brüder immer äußerst amüsant zu verfolgen.

Dennoch, bei aller Qualität der enthaltenen Geschichten – es wäre ein Sammelband ohne große, herausragende Highlights, hätte Doyle nicht eben jenes, bereits oben erwähnte, Aufsehen erregende Ende gefunden. Das Kräftemessen zwischen dem genialen Meisterdetektiv und dem „Napoleon des Verbrechens“, Professor Moriarty, gehört zweifelsohne zu den großen Momenten der Kriminalliteratur-Geschichte und ist ein Grund für die spätere weltweite Berühmtheit des Autors. Natürlich darf man bemängeln, dass dieser große Gegenspieler vorher nie Erwähnung fand und wie unvermittelt er von Doyle eingeführt wird. Doch es ändert nichts an der Tatsache, dass ich auch nach der x-ten Lektüre wieder schlucken muss, wenn sich der traurige Watson am Rande des tosenden Wasserfalls über Holmes‘ letzte Notiz bückt und voller Schmerz über seinen verlorenen Freund resümiert:

Der beste und weiseste Mensch, den ich je gekannt habe.“

Der Sammelband „Die Memoiren des Sherlock Holmes“ – er gehört zu den ganz großen Werken der Kriminalliteratur, versprüht die Magie eines längst vergessenen Zeitalters stets aufs Neue und sei jedem Freund intellektueller Detektivgeschichten unbedingt ans Herz gelegt. In meiner Sammlung hat dieses Buch – in mehrfacher Ausführung – einen ganz besonderen Ehrenplatz.

Wertung: 92 von 100 Treffern

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  • Autor: Sir Arthur Conan Doyle
  • Titel: Die Memoiren des Sherlock Holmes
  • Originaltitel: Memoirs of Sherlock Holmes
  • Übersetzer: Nikolaus Stingl
  • Verlag: Insel
  • Erschienen: 11/2007
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 356 Seiten
  • ISBN: 978-3458350187

Nachtrag: Ich habe mich bei der Verlinkung des Titels bewusst für die ältere Insel-Ausgabe entschieden, da sie – leider gibt es den Haffmans Verlag ja in dieser Form nicht mehr und die Kein & Aber Ausgabe ist ebenfalls vergriffen – vor allem optisch der äußerst lieblosen Fischer-Version vorzuziehen ist. Ansonsten sollte vor allem bei antiquarischen Stücken darauf geachtet werden, dass es sich um die Übersetzungen von Gisbert Haefs, Hans Wolf etc. handelt. Von gekürzten Ausgaben oder gar solchen, wo Holmes und Watson sich duzen, ist abzuraten.

„Elementar, mein lieber Watson.“

© Insel

Wer bereits das ein oder andere Mal diesem Blog einen Besuch abgestattet hat, dem wird vielleicht – neben meiner Faszination für eine gewisse schottische Stadt – auch meine besondere Verbindung zu dem größten Detektiv der Literaturgeschichte aufgefallen sein. Die Rede ist natürlich von Niemand geringerem als Sherlock Holmes. Sein Name ist untrennbar mit meinem erwachenden Interesse für den Krimi verbunden, weshalb die Werke Sir Arthur Conan Doyles wohl Zeit meines Lebens eine Ausnahmestellung einnehmen werden (Mehr dazu auch hier). Neben seinen vier Romanen, so war es hier besonders die Kurzgeschichtensammlung „Die Abenteuer des Sherlock“, welche diese Begeisterung nachhaltig befeuert hat.

Und sie ist es auch, die, nachdem die ersten beiden Romane „Eine Studie in Scharlachrot“ und „Das Zeichen der Vier“ kommerziell eher mäßig erfolgreich waren, Sir Arthur Conan Doyle zum endgültigen Durchbruch verhalf. Von Juli 1891 bis Juni 1892 erschien monatlich jeweils eine kleine Holmes-Erzählung im Strand Magazine, welche den Zeitgeist genau traf, wodurch mit jeder neuen Ausgabe die Auflagen in die Höhe stiegen. Bereits im Oktober desselben Jahres (1892) folgte dann der illustrierte Sammelband mit dem vorliegenden Titel. Diese zwölf Geschichten gelten sowohl bei den „Sherlockisten“ als auch den Literaturkritikern als die mit Abstand besten Werke aus der Feder Doyles, zeigen sie doch noch den wahren, unverfälschten und Kokain spritzenden Meisterdetektiv, der im vernebelten, düsteren London Queen Victorias mit traumwandlerischer Sicherheit kleine Probleme und große Verbrechen gleichermaßen löst. Dieser Esprit, dieses spezielle Flair – in späteren Geschichten glänzt es doch oft durch Abwesenheit, schimmert zwischen den Zeilen immer wieder der Verdacht durch, dass Doyle in erster Linie nur noch des benötigten Geldes wegen und auf Wunsch der Leser hin weiterschrieb.

In „Die Abenteuer des Sherlock Holmes“ zeigt er sich jedoch auf dem Zenit seines Könnens, als der begnadete Unterhaltungs-Schriftsteller, welcher das von Edgar Allan Poe entwickelte Modell der modernen Detektivstory ausgebaut und damit ein bis heute noch gültiges Vorbild für kriminalistische Rätselgeschichten aus der Taufe gehoben hat. Und die Form der Kurzgeschichte scheint bis heute nur folgerichtig, denn Holmes‘ Begabung, aus der Interpretation minimaler Spuren zu verblüffenden Schlussfolgerungen zu gelangen und gleichsam beiläufig Verbrechen aufzuklären, findet in den folgenden zwölf Erzählungen tatsächlich ihre ideale ästhetische Form:

  • Ein Skandal in Böhmen
  • Die Liga der Rotschöpfe
  • Eine Frage der Identität
  • Das Rätsel von Boscombe Valley
  • Die fünf Orangenkerne
  • Der Mann mit der entstellten Lippe
  • Der blaue Karfunkel
  • Das gesprenkelte Band
  • Der Daumen des Ingenieurs
  • Der adlige Junggeselle
  • Die Beryll-Krone
  • Die Blutbuchen

Bei näherer Betrachtung fällt auf: Der Anteil wirklich „kriminalistischer“ Fälle ist verhältnismäßig gering, tritt doch Sherlock Holmes nur als letzte Instanz in der Lösung allgemeiner rätselhafter Angelegenheiten auf (z.B. in „Eine Frage der Identität„). Dennoch reicht die geringe Seitenanzahl aus, um den Leser mit seiner analytischen „Deduktion“ zu beeindrucken, eine von Holmes zu einer wahren Kunst entwickelten Fähigkeit, die es ihm ermöglicht, viele Spuren und Indizien zu einem Gesamtbild zusammenzusetzen, das Sinn ergibt und die wahren Hintergründe einer rätselhaften Geschichte offenbart.

Es ist eine Maxime von mir, dass das, was übrig bleibt, wenn man das Unmögliche ausgeschieden hat, die Wahrheit sein muss, so unwahrscheinlich es auch scheinen mag.

Der Detektiv ist dabei in nicht geringem Maße dem Mediziner Joseph Bell nachempfunden, welcher, von 1874 bis 1901 Dozent an der medizinischen Fakultät der Universität, nicht nur die Rolle des Mentors von Doyle einnahm, sondern rückblickend auch zu den Pionieren der modernen Forensik gehört. Schon in seinen Vorlesungen, die der spätere Autor mit Begeisterung besuchte, betonte Bell die Wichtigkeit von genauen Beobachtungen für eine Diagnose und bediente sich oft eines fremden Zuschauers, um seine Methoden zu verdeutlichen. Ein kurzer Blick genügte ihm meist, um die berufliche Beschäftigung oder vergangene Aktivitäten präzise herzuleiten. Während man sich zuvor vor allem auf die Zeugenaussagen verließ, so erweiterte Bells Herangehensweise die polizeilichen Ermittlungen um ein ganz neue Ebene. Der Beweismittelsicherung am Tatort wurde fortan weit größere Aufmerksamkeit zuteil (und Bell sogar beim Jack the Ripper-Fall hinzugezogen). Eine Neuerung, welche Doyle, ebenso wie Bells Kombinationsgabe, mit Begeisterung für sein Werk aufgriff. „Die Abenteuer des Sherlock Holmes“ ist nicht ohne Grund seinem Mentor gewidmet.

Natürlich – in der heutigen Zeit wird die Wiederbeschaffung einer Weihnachtsgans vermutlich viele nicht mehr groß vom Hocker reißen (Man ist abgestumpft, taub und ein Opfer zunehmender bluttriefender Schmalspur-Literatur). Für damalige Verhältnisse stellten die überraschenden Wendungen aber den Stoff da, den die Leserschaft nur allzu gierig verschlang, weil er dem Verbrechen eine fast spielerische Perspektive verlieh. Was schließlich dazu führte, dass Doyle seine bald verhasste Figur am Ende sogar wiederauferstehen lassen musste, nachdem sie in „Sein letzter Fall“ eigentlich das vermeintliche Ende fand, die aufgebrachte Fangemeinde im Anschluss jedoch zum stürmenden Protest aufrief. Um es also allegorisch zu sagen: In all dem himmelschreienden, betäubenden Lärm sind die Geschichten um den Meisterdetektiv eine leise, aber meisterhafte Melodie, welcher der Leser auch heute noch vortrefflich lauschen kann, sofern man denn gewillt ist sich mit ihr auseinanderzusetzen. Und es sind schließlich auch diese Geschichten, die das Bild des exzentrischen Detektivs prägen, dieses arroganten Dandys und Kopfmenschen, der seine Langeweile allein mit Opium und Kunst bekämpfen kann und in Dr. Watson einen verlässlichen Freund und Helfer an seiner Seite hat, der sich als Chronist seiner Abenteuer betätigt. Letzterer ist es auch, der genau jene Fragen stellt, die dem Leser selbst auf der Zunge liegen, im Angesicht des Rätsels schnell kapituliert und sich schließlich an unserer statt zur Zielscheibe von Holmes Spötterei macht.

Ein Spott, den er weitestgehend schicksalsergeben und mit Fassung erträgt, um stattdessen als Chronist Holmes‘ detektivische Kunststücke festzuhalten, was dieser wiederum in der Regel eher abfällig kommentiert. Unsereins ist natürlich dankbar über diese genauen „Aufzeichnungen“, können wir doch dank ihnen daran teilnehmen, wenn das ungleiche Duo aus der Baker Street 221B ausschwärmt und im weihnachtlichen London auf Gänsejagd geht („Der blaue Karfunkel“) oder einen besonders diabolischen, milchliebenden Mörder in flagranti überrascht („Das gefleckte Band“). Gerade letztere Geschichte gehört übrigens – trotz offenkundigen Mangels an Realismus – zu den stärksten Auftritten von Sherlock Holmes. Die angespannte und gruselige Atmosphäre, welche sich in der überraschenden Auflösung entlädt, sie vermag mich auch nach der x-ten Lektüre noch in den Bann zu ziehen. Und ja, DIE eine Frau, Irene Adler, muss hier ebenfalls erwähnt werden („Ein Skandal in Böhmen“). Neben Moriarty und Sherlocks Bruder Mycroft wohl der einzige Mensch, der dem großen Detektiv in List und Tücke ebenbürtig ist. Dass ich an dieser Stelle auf so hervorragende und schaurig-stimmungsvolle Geschichten wie „Die Blutbuchen“ aus Platzgründen gar nicht mehr näher eingehen kann, verdeutlicht zusätzlich die hohe Qualitätsdichte der vorliegenden Sammlung.

Eine Sammlung, die alle Jahre wieder den Weg aus dem Regal in meine Hände findet und die jedem Freund klassischer Kriminalliteratur nur ans Herz gelegt werden kann.

Wertung: 91 von 100 Treffern

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  • Autor: Sir Arthur Conan Doyle
  • Titel: Die Abenteuer des Sherlock Holmes
  • Originaltitel: The Adventures of Sherlock Holmes
  • Übersetzer: Gisbert Haefs
  • Verlag: Insel
  • Erschienen: 11/2007
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 432 Seiten
  • ISBN: 978-3458350170

Nachtrag: Ich habe mich bei der Verlinkung des Titels bewusst für die ältere Insel-Ausgabe entschieden, da sie – leider gibt es den Haffmans Verlag ja in dieser Form nicht mehr und die Kein & Aber Ausgabe ist ebenfalls vergriffen – vor allem optisch der äußerst lieblosen Fischer-Version vorzuziehen ist. Ansonsten sollte vor allem bei antiquarischen Stücken darauf geachtet werden, dass es sich um die Übersetzungen von Gisbert Haefs, Hans Wolf etc. handelt. Von gekürzten Ausgaben oder gar solchen, wo Holmes und Watson sich duzen, ist abzuraten.

+++ Vorschau-Ticker „Non-Crime“ – Winter 2019/Frühjahr 2020 – Teil 2 +++

Mit dem zweiten Teil unseres Tickers zur Belletristik beenden wir die Auslese der aktuellen Verlagsvorschauen, welche auf den letzten Metern noch ein paar verheißungsvolle Titel zutage fördern konnte. Natürlich hat auch diese Liste keinen Anspruch auf Vollständigkeit – den oder anderen Roman wird man im Laufe der Monate dank des Feuilletons oder anderer Blogs sicher noch entdecken – gibt aber vielleicht einen hilfreichen Querschnitt durch die Verlagshäuser. Diesmal u.a. dabei sind Insel, weissbooks, Harper Collins, Heyne Encore und der Kampa Verlag. Besonders Letzterer hat mich diesmal mit einem Buch hellhörig werden lassen, das auch einer gewissen Weingenießerin aus Hamburg eventuell zusagen könnte. ;-)

Wie schaut es bei euch aus? Ist etwas dabei, was euer Interesse weckt?

  • Breece D’J Pancake – Liebe ist Nuttengerede
    • Hardcover, August 2019, weissbooks Verlag, 978-3863371791, 216 Seiten, 18,00 €
    • Crimealley-Prognose: Chuck Palahniuk, Kurt Vonnegut und Andre Dubus III bezeichnen ihn bis heute als literarisches Vorbild. Und in seiner kurzen schriftstellerischen Karriere verglich man seinen Stil u.a. mit dem von Ernest Hemingway. Als er sich mit 27 Jahren selbst richtete, löste die Tat in den USA große Bestürzung aus. Hierzulande ist sein Name kaum mehr ein Begriff, was eine Schande ist, denn Pancakes Kurzgeschichten gehören zum ehrlichsten, kompromisslosesten und aber auch gefühlvollsten, was ich in meinem Leben zu lesen die Ehre hat. Umso mehr freut es mich, dass der weissbooks Verlag diesen Erzählband nun nochmal neu auflegt (war dort bereits vor einiger Zeit unter dem Titel Stories erschienen). Ich kann nur jedem Liebhaber großer Literatur zum Kauf dieses Buch raten. 18 Euro lassen sich kaum besser investieren.
  • Susan Fletcher – Das Geheimnis von Shadowbrook
    • Hardcover, Oktober 2019, Insel Verlag, 978-3458178163, 400 Seiten, 22,00 €
    • Crimealley-Prognose: Ich muss zugeben: Susan Fletcher war mir bis dato kein Begriff und wäre wohl aufgrund ihrer vorherigen Werke auch keiner geworden, welche mich thematisch eher so gar nicht ansprechen. Ganz anders nun Das Geheimnis von Shadowbrook. Die Geschichte um einen verlassenen, von Spuk heimgesuchten Landsitz, in dem eine junge Frau im Jahr 1914 ein exotisches Gewächshaus aufbauen soll, birgt genau diese Art von Stimmung in sich, welche ich vom feinziselierten Grusel des klassischen Schauerromans erwarte. Ob Fletcher hier in Blackwoods oder Mauriers Fußstapfen wandelt, muss man abwarten. Großes Interesse meinerseits ist in jedem Fall geweckt.
  • Petina Gappah – Aus der Dunkelheit strahlendes Licht
    • Hardcover, August 2019, S. Fischer Verlag, 978-3103974492, 464 Seiten, 24,00 €
    • Crimealley-Prognose: Die Entdeckung des Nils – und in diesem Zusammenhang besonders die Reisen des schottischen Missionars und Afrikaforschers David Livingstone – faszinieren mich, seit dem ich das erste Mal in jungen Jahren von ihnen gehört habe. Eine Faszination, die ich augenscheinlich mit Petina Gappah teile, welche in ihrem Roman in das Jahr 1873 zurückkehrt und die beschwerliche Rückreise der Expedition mit Livingstones Leichnam beschreibt. Dieser Ausflug ins Herz von Schwarzafrika verspricht auch aufgrund der ungewöhnlichen Hauptfigur, einer scharfzüngigen Köchin, Abenteuer und Humor im Stile von Boyles Wassermusik. Wird definitiv in mein Regal wandern.
  • Tot Taylor – The Story of John Nightly
    • Hardcover, September 2019, Heyne Encore Verlag, 978-3453272101, 1024 Seiten, 28,00 €
    • Crimealley-Prognose: Ich muss gestehen: Mit Musik-Romanen oder literarischen Biopics über Sänger oder Bands tue ich mich seit jeher schwer. Das Musikalische zu verschriftlichen, es funktioniert – zumindest für mich – meist eher schlecht als recht, was aber auch daran liegen mag, dass ich das richtige Buch noch nicht in den Händen hatte. The Story of John Nightly (ein fiktiver Songwriter) könnte das vielleicht ändern. Die Geschichte, welche uns von London in den 60ern über L.A. nach Cornwall führt, macht in jedem Fall sehr neugierig. Andererseits: 1024 Seiten sind eine Hausnummer für jemanden, der kaum noch Zeit zum Schmökern findet. Mal schauen.
  • Peter Keglevic – Wolfsegg
    • Hardcover, August 2019, Harper Collins Verlag, 978-3328600985, 320 Seiten, 20,00 €
    • Crimealley-Prognose: Alttestamentarische Wucht. Enges, abgelegenes Bergtal. Missbrauch, Betrug, Mord. Das klingt ein bisschen nach Winters Knochen in den Alpen, zumal auch in diesem Roman ein 15-jähriges Mädchen im Mittelpunkt steht, das plötzlich die komplette Verantwortung für ihre jüngeren Geschwister übernehmen muss. Von Keglevic hatte ich bisher noch nichts gelesen. Das wird sich mit Wolfsegg sicherlich ändern.
  • Sonja M. Schultz – Hundesohn
    • Hardcover, August 2019, Kampa Verlag, 978-3311100133, 320 Seiten, 22,00 €
    • Crimealley-Prognose: Fast, aber gottseidank nur fast, habe ich Hundesohn übersehen, was, da lehne ich mich jetzt einfach mal aus dem Fenster, sicher ein Fehler gewesen wäre, denn die Geschichte um einen Ex-Knacki, der im Jahr 1989 von seiner Vergangenheit eingeholt wird, liest sich schon in der Kurzbeschreibung sooo vielversprechend. Kiez, Milieu, St. Pauli in den 60ern, Provinz- und Hafenkneipen, Reue, Schuld, Sühne und alte Liebe. Das birgt soviel Potenzial für einen Debütroman, auf den ich mich bereits jetzt schon freue.
  • Rebecca Wait – Das Vermächtnis unsrer Väter
    • Hardcover, September 2019, Kein & Aber, 978-3036958088, 320 Seiten, 22,00 €
    • Crimealley-Prognose: Ein grausames Verbrechen in einer kleinen Gemeinde auf den schottischen Hebriden. Und ein Betroffener, der nach Jahren zurückkehrt und sich mit der düsteren Vorgeschichte seiner Familie auseinandersetzt. ‚Nuff said. Genau die Art (hoffentlich) atmosphärischer, eindringlicher Literatur, welche ich bevorzuge.
  • Mick Kitson – Sal
    • Hardcover, August 2019, Kiepenheuer & Witsch Verlag, 978-3462051407, 352 Seiten, 20,00 €
    • Crimealley-Prognose: Und gleich nochmal Schottland. Diesmal geht es aber in die Highlands, wo sich zwei Schwestern vor den Übergriffen ihres Stiefvaters verstecken. Die ältere, 13-jährige Sal, hat sich auf die Flucht und das Leben in der Wildnis lange vorbereitet und bekommt dort auch unerwartet Hilfe von der deutschen Einsiedlerin Ingrid. – Die raue Schönheit der schottischen Landschaft, die Liebe zwischen zwei Schwestern und der Kampf ums Überleben in der freien Natur. Wir planen für 2020 unseren Sommerurlaub im Norden Schottlands. Mit Sal bietet sich hier die erste Urlaubslektüre schon förmlich an.
  • Gøhril Gabrielsen – Die Einsamkeit der Seevögel
    • Hardcover, August 2019, Insel Verlag, 978-3458177807, 174 Seiten, 20,00 €
    • Crimealley-Prognose: Wortwörlich einsam wird es auch in Gøhril Gabrielsens Buch, in dem wir an der Seite einer Wissenschaftlerin im Winter nach Finnmark reisen, den äußersten Zipfel Norwegens. Dort möchte sie das Schwinden der Zugvögelpopulationen und die Klimaveränderungen untersuchen. Ganz allein, umgeben von Schnee und Sturm, wartet sie auf die Ankunft der Vögel und auf ihren Geliebten, der die Einsamkeit mit ihr teilen wollte. Das Warten wird zur Geduldsprobe, als sie beginnt seltsame Geräusche in der Hütte zu hören. Ist sie doch nicht allein? – Perfekte Ausgangslage für einem stimmungsvollen Roman, in dem die Grenzen zwischen Wahn und Wirklichkeit verschwimmen. Ich bin in jedem Fall angefixt.
  • Rebecca Gablé – Teufelskrone
    • Hardcover, August 2019, Bastei Lübbe Verlag, 978-3785726600,  928 Seiten, 28,00 €
    • Crimealley-Prognose: Alle zwei Jahre feiere ich einen besonderen Geburtstag, erwartet mich doch dort zwischen den Geschenken stets auch die neueste Rebecca Gablé. Wer sich, allen Unkenrufen über das inzwischen bis zum Brechreiz trivialisierte und vor allem romantisierte Genre des historischen Romans zum Trotz, einmal an ein Buch dieser Autorin gewagt hat, der wird meine Freude sicher nachvollziehen können. In diesem Jahr wird sie noch durch die Tatsache gesteigert, dass sie mit Teufelskrone zum Geschlecht der Waringhams zurückkehrt und sich (endlich!!!) der Epoche um John Ohneland annimmt. Wenn sie dabei auch nur annährend die Qualität der anderen Bände erreicht, erwarten uns wieder 928 Seiten geschichtliche Immersion auf allerhöchstem Niveau.

 

+++ Vorschau-Ticker „Non-Crime“ – Winter 2018/Frühjahr 2019 – Teil 1 +++

Parallel zu unserer Titel-Auslese im Krimi-Bereich werde ich auch dieses Jahr wieder einen Blick auf den großen Bereich „Non-Crime“ werfen, unter dem ich mal ganz frech nicht nur die moderne Unterhaltungsliteratur, sondern je nach meiner Facon sogar phantastische Romane, historische Fiktion oder Science-Fiction verorte. Wer mich inzwischen etwas näher kennt, der weiß, dass ich für eine gute Lektüre halt auch gern in mehreren Teichen zugleich fische. In diesem Ticker werfe ich als erstes die Angel für Bücher aus dem Hause Piper, Festa und Insel aus.

Welchen Titel würdet ihr an Land ziehen?

  • Lawrence Osborne – Welch schöne Tiere wir sind
    • Hardcover, März 2019, Piper Verlag, 978-3492059268, 352 Seiten, 22,00 €
    • Crimealley-Prognose: Mit Denen man vergibt machte Lawrence Osborne im letzten Frühjahr im Feuilleton von sich reden. Und auch Kollege Jochen König war in seiner Rezension in der Crime Alley voll des Lobes. Das allein würde mir schon reichen, um den Titel in die engere Auswahl zu rücken. Zudem birgt aber noch das aktuelle Thema (griechische Insel, gestrandeter Flüchtling, Auflehnung gegen reichen Vater) ordentlich Potenzial. Vor allem in den Händen dieses versierten Schreibers. Welche schöne Tiere wir sind wandert mit ziemlicher Sicherheit in mein Regal.
  • William Kent Krueger – Für eine kurze Zeit waren wir glücklich
    • Hardcover, März 2019, Piper Verlag, 978-3492058452, 416 Seiten, 22,00 €
    • Crimealley-Prognose: 2014 wurde Ordinary Grace, so der Original-Titel, mit dem Edgar Award ausgezeichnet. Im November 2015 bedauerte ich im Vorschau-Ticker, dass das Buch noch immer nicht übersetzt wurde. Nun, knappe fünf Jahre später, erbarmt sich endlich Piper. Und ich freue mich sehr, denn die 1961 spielende Geschichte über mehrere mysteriöse Morde und Selbstmorde hatte mich bereits damals ziemlich angefixt. Nun kann ich mich endlich selber von der Qualität des Buches überzeugen.
  • Paul Ingendaay – Königspark
    • Hardcover, März 2019, Piper Verlag, 978-3492057196, 320 Seiten, 22,00 €
    • Crimealley-Prognose: Casa de Campo in Madrid. Berühmt-berüchtigter Strich und Anlaufstelle für Freier verschiedenster Couleur. Mittendrin eine Kampfsportlerin mit eigener Agenda als Aufpasserin. Ingendaay war mir bis dato kein Begriff, aber Königspark klingt nach dieser Art rauer Literatur, welche dahin geht, wo es weh tut. Ein Buch, das ich daher auf dem Schirm behalten werde.
  • Shirley Jackson – Spuk in Hill House
    • Hardcover, Mai 2019, Festa Verlag, 978-3865527073, 272 Seiten, 19,99 €
    • Crimealley-Prognose: Die Ankündigung einer Neuauflage dieses Klassikers der Schauerliteratur ist für mich schon jetzt eine der Nachrichten des Jahres, war der Titel doch seit Jahren vergriffen – und das obwohl er zu den Grundpfeilern zählt, auf welcher die moderne Horrorliteratur errichtet wurde. Stephen King hat mit Brennen muss Salem nicht nur eine Homage geschrieben, er hält ihn auch für einen der unheimlichsten Romane der letzten 100 Jahre. Wer ihn bis dato noch nicht kennt, sollte diese Erfahrungslücke im Mai unbedingt schließen. Ein ganz, ganz großes Buch!
  • Shirley Jackson – Wir haben schon immer im Schloss gelebt
    • Hardcover, Juni 2019, Festa Verlag, 978-3-865527097, 224 Seiten, 19,99 €
    • Crimealley-Prognose: Hier gilt Selbiges wie für obigen Titel. Erneut eine Neuauflage, die lange überfällig war. Die Geschichte um das Schloss der Familie Blackwood ist heute noch genauso beklemmend und skurril wie im Erscheinungsjahr 1962. Toll, dass sich Frank Festa auch diesem Klassiker des gespenstischen Grusels annimmt.
  • Michael McDowell – Der Elementare
    • Hardcover, Februar 2019, Festa Verlag, Vorzugsausgabe ohne ISBN, 420 Seiten, 34,99 €
    • Crimealley-Prognose: McDowells Roman Der Elementare ist nun schon der vierte Band aus der Festa-exklusiven Reihe Pulp Legends und dementsprechend auch nur direkt über den Verlag erhältlich. Während die vorigen drei Titel mich allerdings nur wenig triggern konnten, werde ich für diesen Southern-Gothic-Horror die ca. 35 € wohl auf den Tisch hauen. Ein mysteriöses, tödliches Haus aus viktorianischen Zeiten an der Golfküste von Alabama.  Dazu der Autor, der u.a. die Drehbücher zu Beetlejuice und Nightmare before Christmas geschrieben hat. Klingt alles zu verlockend, um es zu ignorieren.
  • Philipp Lyonel Russell – Am Ende ein Blick aufs Meer
    • Hardcover, April 2019, Insel Verlag, 978-3458177845, 220 Seiten, 20,00 €
    • Crimealley-Prognose: Der Titel wäre mir fast durchgerutscht, aber durch den zeitlichen Kontext und den Schauplatz (Farnham, Surrey in England sowie franz. Atlantikküste) wurde ich dann doch hellhörig. Ein ewig heiterer und gefeierter Autor wird während des Zweiten Weltkriegs von den Nazis in einem Lager inhaftiert. Er hebt dort mit seinem Humor die Stimmung seinr Mitinsassen, bis er merkt, dass er von der deutschen Propaganda benutzt wird. Tönt wie ein Witz, der am Ende im Halse stecken bleiben könnte und erinnert mich damit ein wenig an den Film Das Leben ist schön. Das Buch werde ich definitiv ganz scharf im Auge behalten.

 

 

+++ Vorschau-Ticker „Crime“ – Winter 2018/Frühjahr 2019 – Teil 2 +++

Mit dem zweiten Vorschau-Ticker lasse ich mich ein wenig zu Spekulationen hinreißen, denn die Termine bei den Pulp-Master-Titeln sind in erster Linie Platzhalter ohne wirkliche Gewähr. Ob die Bücher tatsächlich in diesem Zeitraum erscheinen ist also mehr als fraglich. Wer Frank Nowatzkis literarische Goldschmiede kennt, der weiß aber, dass Gut Ding Weile haben muss und sich das Warten grundsätzlich immer lohnt. Sollten also die unten stehenden Bücher irgendwann im Jahr 2019 erscheinen, ist das Anlass genug zur Freude.

Aus dem Insel-Verlag rutscht noch Horowitz‘ neuester Titel auf die Liste sowie ein neuer Pelecanos bei ars vivendi, die mich mit der Abkehr vom Hardcover überraschen – und sonst auch keine weiteren Appetitanreger für das nächste Halbjahr anbieten. Kannte man zuletzt anders. Dafür überrascht Piper mit zwei interessanten Büchern – und drei weiteren im Bereich Belletristik (zu dem ein Ticker separat erscheinen wird). Bei diesem Verlag war zuletzt sonst für mich eher weniger zu holen.

Und nun zu den Büchern. Ist für euch hier auch was dabei?

  • Paul Cain – Ansturm auf L.A.
    • Taschenbuch, Mai 2019, Pulp Master Verlag, 978-3946582021, 270 Seiten, 14,80 €
    • Crimealley-Prognose: Große Depression, Prohibition, L.A. im Griff von Gangstern, geschmierten Cops und korrupten Bullen. Wie schon die Kurzgeschichtensammlung Totschlag, so verspricht auch Cains Erstlingswerk frühesten Hardboiled-Pulp mit knallharter, stakkatohafter Sprache. Ein kleiner Hinweis: Hierbei handelt es sich um die Neuauflage der alten Ullstein-Ausgabe Null auf Hundert. Ich kaufs es mir aber definitiv trotzdem!
  • Derek Raymond – Er starb mit offenen Augen
    • Taschenbuch, Mai 2019, Pulp Master Verlag, 978-3946582014, 270 Seiten, 14,80 €
    • Crimealley-Prognose: Schon letztes Jahr auf der Frankfurter Buchmesse verriet uns Frank sein Vorhaben, den Beginn von Raymonds „Factory“-Reihe neu aufzulegen. Nun wird diese Planung konkret. Für alle die Derek Raymond noch nicht kennen: Seine Mischung aus bitterschwärzestem Noir und Polizeiroman, während der Thatcher-Ära spielend, gehört zum Besten was in diesem Genre je auf Papier gekommen ist. Verflucht nochmal unbedingt kaufen und lesen!
  • Dave Zeltserman – Alles endet hier
    • Taschenbuch, Mai 2019, Pulp Master Verlag, 978-3927734982, 300 Seiten, 14,80 €
    • Crimealley-Prognose: Den kommenden Zeltserman habe ich erfolglos in seiner aktuellen Bibliographie gesucht, um schließlich festzustellen, dass Murder Club (so der Origina-Titel) als erstes bei Pulp Master in Deutschland erscheinen wird. Small Crimes fand ich klasse, weswegen ich mich auch auf Alles endet hier wieder freue. Diesmal kommt ein durchschnittliches Paar aufgrund falscher Entscheidungen in Kontakt mit der Welt des Verbrechens. Bin sehr gespannt, wie Zeltserman dies präsentiert. Es heißt also: Aller guten Dinge sind drei. Auch dieser Titel wird vom Fleck weg gekauft.
  • Anthony Horowitz – Ein perfider Plan
    • Hardcover, März 2019, Insel Verlag, 978-3458177821, 400 Seiten, 22,00 €
    • Crimealley-Prognose: Der klassische Whodunit ist tot? Mitnichten, denn Anthony Horowitz, den ich schon als Drehbuchautor seit Jahren schätze, ist es in der Vergangenheit gelungen, diesem äußerst alten Subgenre des Krimis wieder Leben einzuhauchen. Nun ermittelt er offensichtlich selbst in seinem eigenen Krimi. Im Stil von Holmes und Watson, womit bei mir alle wichtigen Knöpfe gedrückt wurden. Muss-Kauf!
  • George Pelecanos – Gefangene
    • Broschiertes Taschenbuch, Juni 2019, ars vivendi Verlag, 978-3747200117, 220 Seiten, 18,00 €
    • Crimealley-Prognose: Ein belesener Ex-Knacki gerät gezwungenermaßen wieder in kriminelle Kreise, ausgenutzt von einem skrupellosen Privatdetektiv. Das Ganze kredenzt auf schlanken 220 Seiten von Meister Pelecanos (seit The Wire bei mir ganz hoch im Kurs). Das werd ich mir sicherlich ebenfalls gönnen. Komisch bloß, dass ars vivendi von der Hardcover-Ausgabe abgerückt ist. Schade, dass hatte mir bis dato in der Aufmachung sehr gefallen.
  • Ray Celestin – Todesblues in Chicago
    • Broschiertes Taschenbuch, April 2019, Piper Verlag, 978-3492061049, 624 Seiten, 16,00 €
    • Crimealley-Prognose: 20er Jahre in Chicago. Ein Mörder im Umfeld von Al Capone. Zwei Pinkertons und ein Handlanger der Mafia ermitteln zusammen im Rotlichtviertel und den Hinterhöfen der Jazzclubs. Atmosphärisch ist hier augenscheinlich alles für einen guten Krimi bereitet. Der zweite Teil des City-Blues-Quartett klingt wieder höllisch gut, dennoch muss da erst einmal von mir der erste gelesen werden (Der sich übrigens an wahren Begebenheiten – den Axt-Mörder gab es wirklich – orientiert). In beiden Bänden dürften in jedem Fall auch Jazz-Freunde auf ihre Kosten kommen.
  • Joël Dicker – Das Verschwinden der Stephanie Mailer
    • Hardcover, April 2019, Piper Verlag, 978-3492059398, 640 Seiten, 25,00 €
    • Crimealley-Prognose: Krimi oder Non-Krimi. Schon Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert konnte man in Buchhandlungen in beiden Abteilungen finden. Ich ordne den neuen Roman mal der Spannungsliteratur zu, denn die Geschichte eines Mehrfachmords Mitte der 90er an der amerikanischen Ostküste wird vor allem aus der Sicht zweier Polizisten und einer Journalistin vorangetrieben. Einmal mehr ist hier ein Justizirrtum Anlass neuer Ermittlungen und ich traue Dicker zu, daraus eine raffinierte und wieder stilistisch ansprechende Story zu zimmern.

 

 

„Nichts ist trügerischer als eine offenkundige Tatsache“

© Insel

Sherlock Holmes langte die Flasche von der Ecke des Kaminsimses herunter und nahm seine Spritze aus dem fein gearbeiteten Saffian-Etui. Mit seinen langen, weißen, nervösen Fingern setzte er die feine Nadel auf und rollte sich die linke Manschette hoch. Eine Zeitlang verweilte sein Blick nachdenklich auf dem sehnigen Unterarm und dem Handgelenk, die von den Flecken und Narben unzähliger Einstiche gesprenkelt waren. Endlich stieß er die dünne Nadelspitze hinein, drückte den kleinen Kolben durch und ließ sich dann mit einem langen Seufzer der Befriedigung in die Samtpolster seines Lehnstuhls zurücksinken.

Wenn „Eine Studie in Scharlachrot“ rückblickend meinen Initiationsritus als Sherlockian darstellte, so war es dieser erste Absatz des drei Jahre später veröffentlichten Romans „Das Zeichen der Vier“, welcher für meine endgültige Konvertierung verantwortlich zeichnete – und diese bis dato ungebrochene Faszination für den großen Detektiv aus der Baker Street befeuerte. Mehr noch: Selbst so lange Zeit nach meiner ersten Lektüre kann ich mich noch genau an die Wirkung der obigen Worte auf mein damals noch jüngeres Ich erinnern. Das Staunen, der Unglaube, die Gänsehaut – gefolgt von einem unwirklichen Gefühl der Erkenntnis, hier etwas Besonderes in den Händen zu halten, das Auswirkungen auf meine Zukunft als Leser haben wird.

Wenngleich auch heutzutage viele Holmes-Anhänger dessen Drogensucht so weit wie möglich ignorieren und sich vor allem auf seine deduktive Geistesarbeit konzentrieren – es ist dieses Laster, diese Achillesferse, die den Mann mit der alten Bruyèreholzpfeife, trotz seiner scheinbar übermenschlichen intellektuellen Meisterleistungen, von einer künstlichen Figur in ein gesellschaftliches Phänomen verwandelten und ihn auch ironischerweise im selben Augenblick erdeten. Denn so sehr das Fixen von Morphium und Heroin im London des viktorianischen Zeitalters verrufen war – mehrere Opium-Höhlen rund um die Themse kündeten von dessen weiter Verbreitung. Und das obwohl die schädlichen Nebenwirkungen – die natürlich Dr. Watson nicht unerwähnt lässt – nicht nur in Medizinerkreisen bekannt waren.

Gleichzeitig markiert der Beginn von „Das Zeichen der Vier“ den Abschied von Sir Arthur Conan Doyles Findungsphase. Litt Sherlock Holmes‘ erster Auftritt in „Eine Studie in Scharlachrot“ (1887) noch unter dem inkohärenten Plotaufbau und streckenweise gar fehlender Wegfindung, webt der gebürtige Edinburgher Doyle hier nun mit neu gefundener Sicherheit einen geradlinigen roten Faden um diese Kriminalgeschichte, die, recht schnell zum Klassiker avanciert, im Anschluss ganze Generationen von Schriftstellern des Sub-Genres Whodunit maßgeblich beeinflusst hat und dies mitunter noch immer tut. Sie sei im folgenden deswegen kurz angerissen:

Mary Morstan, Tochter des verschollenen und als verstorben geltenden Captain Morstan, der lange Jahre in Indien stationiert war, erhält seit sechs Jahren an jedem Geburtstag eine wertvolle Perle. Stets wird diese ihr anonym zugeschickt, ohne nähere Erklärung. Nun, in einem nebligen Herbst des Jahres 1888, wird sie von ihrem unbekannten Wohltäter kontaktiert, welcher ihr nicht nur den Grund für das regelmäßige Präsent offenbaren will, sondern auch im Besitz von Informationen über die näheren Umstände des damaligen Verschwindens ihres Vaters ist. Da Mary Morstan sich nicht allein zu diesem Treffen mit einem Fremden begeben will, wendet sie sich mit diesem Rätsel an Sherlock Holmes und dessen getreuen Freund Dr. Watson, damit diese zwei ihr bei der Ergründung der Geheimnisse beiwohnen. Während Holmes die mysteriösen Eigenheiten des Falls reizen, ist Watson aus einem ganz anderen Grund Feuer und Flamme. Er hat sich auf den ersten Blick unsterblich in ihre neue Klientin verliebt.

Gemeinsam macht man sich in tiefster Nacht auf und folgt der Spur zum Anwesen des exzentrischen Thaddeus Sholto, der ihnen – gegen den Willen seines Bruders Bartholomew – schließlich eröffnet, dass er der Sohn desjenigen Mannes ist, durch den Mary Morstans Vater seinen Tod fand – und der ihn bis zuletzt um den Anteil an einem riesigen Schatz gebracht hat. Ein Schatz, der seit Jahren von einem geheimnisvollen, von Rache beseelten Mann gesucht wird, der nach dem Tode des alten Sholto einst eine Nachricht hinterließ. Ein Zettel, unterschrieben mit: „Das Zeichen der Vier“. Während Thaddeus Sholto nun die alte Schuld begleichen und den Reichtum mit Mary Morstan teilen will, wandelt Bartolomew in den Spuren seines Vaters. Von Geiz und Missgunst getrieben, hat er sich auf sein Anwesen zurückgezogen, um dort mit Argusaugen über den Schatz zu wachen. Eine Tragödie befürchtend, machen sich Holmes, Watson und Mary auf den Weg – doch der Tod ist schneller. Da sich die Polizei einmal mehr als überfordert erweist, übernimmt Sherlock Holmes kurzerhand das Ruder und bläst zu einer Jagd, bei der all seine Fähigkeiten auf die Probe gestellt werden …

London, Spätherbst 1888. Wenn man nicht gerade Patricia Cornwell heißt oder auf dem Mond großgezogen wurde, assoziiert ein jeder diesen Ort und dieses Jahr mit den Serienmorden von Jack the Ripper im Londoner East End von Whitechapel. Nicht nur wegen ihrer Brutalität, sondern vor allem aufgrund der Tatsache, dass der Täter nie gefunden wurde, sind sie kollektiv im Gedächtnis geblieben. Letzteres lastete man seinerzeit vor allem den Polizeikräften Londons an, die in der Tat kein gutes Bild abgaben bzw. in den übervölkerten dunklen Gassen der Armenviertel an die Grenzen ihrer damals beschränkten Möglichkeiten stießen. Ihr Versagen war aber auch gleichzeitig ein Startschuss für die Einführung moderner Ermittlungsmethoden, was in Sir Arthur Conan Doyles „Das Zeichen der Vier“ jedoch noch keinerlei Widerhall findet. Im Gegenteil: Die Polizei, hier in der Gestalt von Athelny Jones, suhlt sich in ihrer vermeintlichen Überlegenheit und sieht sich recht bald durch Sherlock Holmes eines wortwörtlich Besseren belehrt, der naturgemäß als einziger in der Lage ist, die Indizien am Tatort richtig zu deuten und die Fährte aufzunehmen.

Bereits zu diesem frühen Zeitpunkt im Buch lässt Doyle seinen großen Detektiv unter dem Dachfirst des Sholto-Anwesens zur Höchstform auflaufen – und weiß dabei auch die örtlichen Begebenheiten äußerst atmosphärisch zu nutzen. Ein abgeschlossener Raum unter einem Dachboden ohne offensichtlichen Zugang – das typische, nur auf den ersten Blick unerklärliche Locked-Room-Mystery. Und natürlich keine Herausforderung für den scharfen Verstand von Sherlock Holmes, der eine Probe seiner Fähigkeiten gibt und damit auch diejenigen Leser abholt, an denen „Eine Studie in Scharlachrot“ noch vorübergegangen ist. Auffällig dabei ist, dass auch die Figur Watson nun immens an Profil gewonnen hat. Aus der anfänglichen Zweckgemeinschaft ist längst eine enge Freundschaft geworden. Und gar mehr: Holmes hat den pragmatischen Afghanistan-Veteranen inzwischen zu schätzen gelernt, der wiederum erstmals seinen Wert beweist und verdeutlicht, dass man in Zukunft als Duo eine noch weit größere Gefahr für die kriminellen Elemente der Stadt darstellen wird.

Diese Stadt, das dreckige London des viktorianischen Zeitalters, sie ist der heimliche Star in diesem zweiten Roman mit Sherlock Holmes, führt uns doch die Spurensuche alsbald durch die dunklen Gassen der Themse-Metropole – und dies wiederum so zielsicher, bildreich und stimmungsvoll, dass vor unseren Augen eine längst vergangene Epoche wiederaufersteht. Doyles London, es ist ein äußerst Lebendiges und zeugt von der scharfen Beobachtungsgabe des gebürtigen Schotten, der seine Pappenheimer und vor allem das Milieu kannte. Nachdem Sherlock Holmes im ersten Roman noch weitestgehend durch Abwesenheit glänzte und stattdessen rückblickend der Wilde Westen zur Bühne verkam, wächst hier endlich zusammen was zusammen gehört. Eine Stadt und ihr Detektiv, der, einer Spinne gleich, von der Baker Street aus seine Fäden zieht, Kontakte in alle Gesellschaftsschichten hat und für die passende Gelegenheit selbst den richtigen Schnüffler hinzuziehen weiß. In diesem Fall den Bluthund Toby, dem sowohl Holmes und Watson als auch der Leser in das laute Hafenviertel folgt – dem Schauplatz für die finale Dampfboot-Verfolgungsjagd auf der Themse, welche für Doylesche Verhältnisse ziemlich actionreich daherkommt und den letzten Halt vor der eigentlichen Auflösung darstellt, die auch diesmal in Gestalt einer Rückblende inszeniert wird.

Es gibt Kritiker, die Doyle an dieser Stelle dann unnötiges Ausschweifen und eine Verschleppung des Tempos vorwerfen. Für mich persönlich rundet der Ausflug in das Indien während des Sepoy-Aufstands von 1857 die ohnehin mystisch aufgeladene Geschichte hervorragend ab. Gerade dieser Abschnitt ist mir wie kaum eine andere Passage aus dem Holmes-Kanon in Erinnerung geblieben – und hat nebenbei auch mein späteres Interesse an der britischen Kolonialgeschichte geweckt. Die Ereignisse rund um den Schatz von Agra sind genau diese Prise Mantel-und-Degen-Abenteuer, welche einem herausragend komponierten Detektivroman (und einem persönlichen Favoriten) die Krone aufsetzt. „Das Zeichen der Vier“ hat den Grundstein für Sherlock Holmes heutigen Kultstatus gelegt und ruft uns dank einer bestens aufgelegten Spürnase stets eins in Erinnerung:

Nichts ist trügerischer als eine offenkundige Tatsache.

Wertung: 95 von 100 Treffern

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  • Autor: Sir Arthur Conan Doyle
  • Titel: Das Zeichen der Vier
  • Originaltitel: The Sign of the Four
  • Übersetzer: Leslie Giger
  • Verlag: Insel
  • Erschienen: 11.2007
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 196 Seiten
  • ISBN: 978-3458350149

Nachtrag: Ich habe mich bei der Verlinkung des Titels bewusst für die ältere Insel-Ausgabe entschieden, da sie – leider gibt es den Haffmans Verlag ja in dieser Form nicht mehr und die Kein & Aber Ausgabe ist ebenfalls vergriffen – vor allem optisch der äußerst lieblosen Fischer-Version vorzuziehen ist. Ansonsten sollte vor allem bei antiquarischen Stücken darauf geachtet werden, dass es sich um die Übersetzungen von Gisbert Haefs, Hans Wolf etc. handelt. Von gekürzten Ausgaben oder gar solchen, wo Holmes und Watson sich duzen, ist abzuraten.