Die Nackten und der Tote

© Ullstein

Ein Jahr nach dem Edgar Award prämierten Kriminal-Debütroman „In der Hitze der Nacht“ ließ John Dudley Ball seinen zweiten Band aus der Reihe um den schwarzen Detektiv Virgil Tibbs aus Pasadena folgen.

Totes Zebra zugelaufen“, so der deutsche Titel, brachte es hierzulande nur zu einer Veröffentlichung im Jahre 1967 beim Ullstein Verlag. Danach verschwand der Titel, wie auch die meisten restlichen Werke John Balls, komplett vom deutschen Büchermarkt. Selbst die Hoffnung, dass im Rahmen der Fischer Crime Classics Reihe einer der Bände eine Neuausgabe erfahren würde, währte schließlich, wie auch die Reihe selbst, nicht lange. Wer also gern heutzutage chronologisch die Fälle von Virgil Tibbs lesen möchte, muss weiterhin antiquarisch suchen. Aber diese Suche lohnt – ganz sicher.

Totes Zebra zugelaufen“ führt uns in die kalifornische Nudisten-Kolonie „Sun Valley Lodge“ Mitte der 60er Jahre. Dort ist ein fremder Mann nackt im Schwimmbecken aufgefunden worden. An sich nichts Ungewöhnliches an diesem Ort, nur ist dieser „Badegast“ tot und treibt mit dem Rücken nach oben. Ein Mord ist mehr als wahrscheinlich, wobei sich der Täter alle Mühe gegeben hat, eine Identifizierung zu erschweren, denn neben neben der Kleidung wurde ihm gleich auch noch das Gebiss entwendet. Nur soviel ist klar. Der Unbekannte ist kein Mitglied der Kolonie, sondern ein „Zebra“. (Um die Hüften herum ist er weiß, sonst braun. Bei einem Nudist fehlen diese Streifen.)

Für den ortsansässigen Sheriff ist dies ein mysteriöses Rätsel. Er zieht sogleich Virgil Tibbs von der Mordkommission zurate, der sich nicht nur aufgrund seiner Hautfarbe zwischen all diesen weißen Sonnenanbetern ziemlich fehl am Platz fühlt. Besonders die Nacktheit einer äußerst attraktiven Zeugin macht ihm sichtlich zu schaffen. Schnell kommt der sonst so kühle Denker ins schwitzen, zumal die Suche nach der Identität der Leiche ebenfalls früh in einer Sackgasse zu enden scheint. Bis schließlich ein Landpolizist der kalifornischen Polizei einen wichtigen Hinweis gibt und Tibbs damit auf die richtige Spur gebracht wird …

Nein, die Intensität und Wirkung des Erstlings erreicht „Totes Zebra zugelaufen“ leider nicht. Ein überdurchschnittlich guter Krimi ist er aber dennoch, was gleich mehrere Gründe hat. John Ball beweist auch diesmal viel Mut und scheut sich nicht vor Konfliktthemen. Nachdem es sein Schützling Virgil Tibbs zuvor noch mit rassistischen Cops im kleinen Südstaatenkaff Wells zu tun hatte, sieht er sich nun anderweitig ausgegrenzt. Seine Hautfarbe ist dabei weniger von Belang, als vielmehr die Tatsache, dass er sich angezogen auf dem Gebiet der Nackten bewegt. Ball, selbst einen großen Teil seines Lebens lang Nudist, führt der Gesellschaft hier geschickt, pointiert und mit viel Witz ihr falsches Denken vor, ohne groß mit der Moralkeule zu schwingen. Zwischen dem schwarzen Cop und den weißen Nudisten besteht, und das müssen beide Seiten schnell feststellen, eine schon fast ironische Gemeinsamkeit. Beide werden, der eine wegen der Hautfarbe, die anderen wegen ihres Lebensstils, abfällig beäugt. Das Intelligenz, Kompetenz und Charakterstärke aber vom äußeren Schein unabhängig sind, kann Tibbs erneut brillant unter Beweis stellen.

Auffällig ist dabei hier, dass er sich der Unterstützung der ortsansässigen Polizei sicher sein kann, welche die Fähigkeiten des schwarzen Ermittlers schätzt und sich auch nicht schämt, ihre eigene Unkenntnis einzugestehen. Hier ist er nicht einfach nur Virgil, sondern Mr. Tibbs. Geachtet und anerkannt, nimmt er sich in bester Holmes-Manier des Falles an, wobei der Leser (wie die Leiche) direkt zu Beginn ins kalte Wasser geworfen wird. Ball hält sich nicht allzu lang mit einer großen Einführung auf, sondern lässt den Detective mittels Deduktion und Kombinationsgabe wichtige Indizien noch am Tatort entschlüsseln. Während man selbst noch irritiert über Gründe und Motive rätselt, scheint Tibbs bereits sein Netz enger um den Täter zu ziehen.

Es ist die große Stärke dieses Autors, die Genialität seines Ermittlers herauszustellen, obwohl der Leser, dem die gleichen Hinweise zur Verfügung stehen, völlig im Dunkeln tappt. Ob man will oder nicht. Staunend sieht man Tibbs bei der Arbeit über die Schulter. Und obwohl das Buch (das in der Fassung von Ullstein wieder einige Kürzungen erfahren musste) gerade mal knapp 160 Seiten umfasst, und damit ein wenig mehr Umfang als eine Kurzgeschichte hat, fesselt der Plot von Beginn, überzeugt Ball mit Sprachstil und detaillierten Beschreibungen, die uns das Kalifornien der 60er Jahre vor den Augen wieder auferstehen lassen. Krimikenner mit dem genauen Blick werden übrigens dabei erkennen, dass sich hier eine gewisse Entwicklung von klassischen „Whodunit“ zum „Police Procedural“ vollzieht, den vor allem Ed McBain seit Mitte der 50er aus der Taufe gehoben hatte.

Totes Zebra zugelaufen“ ist der würdige Nachfolger eines großartigen ersten Bands, welcher zwar dessen Qualität nicht ganz erreicht, aber mit einem intelligenten, sehr scharfsinnigen Plot unterhält und neben dem eigentlichen Mordfall noch eine ganze Menge Tiefgang mitliefert. Ein kurzes, aber lohnendes Lesevergnügen, das, zumindest derzeit, zu moderaten Preisen aus zweiter Hand zu bekommen ist.

Wertung: 86 von 100 Treffern

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  • Autor: John Dudley Ball
  • Titel: Totes Zebra zugelaufen
  • Originaltitel: The Cool Cottontail
  • Übersetzer: Mechtild Sandberg-Ciletti
  • Verlag: Ullstein
  • Erschienen: 1967
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 160 Seiten
  • ISBN: –

Life played out on a field

© Dumont

Von allen drei großen Sportarten in den Vereinigten Staaten von Amerika – Basketball, Football und Baseball – ist es wohl die letztere, für die ich seit jeher am wenigsten Interesse aufbringen konnte. Nicht zuletzt vielleicht deshalb, weil wir im Sportunterricht der Oberstufe ein bisschen zu oft in den Genuss ihrer Ausübung kamen. Das wiederum dürfte dann auch einer der Gründe gewesen sein, warum Chad Harbachs Roman „Die Kunst des Feldspiels“ eine „etwas“ längere Zeit auf dem „Zu-lesen-“Stapel neben dem Fernseher verbringen durfte – und immer wieder wie von Zauberhand einen Platz weiter nach unten wanderte.

Eine Geringschätzung, welche das Werk rückblickend sicherlich so nicht verdient gehabt hat, wenngleich ich aber auch nicht ganz in die oft sehr hymnischen Einordnungen manch anderer Rezensenten einstimmen kann und will, was ich aber – und deswegen schiebe ich diese Besprechung schon seit Wochen vor mir her – nur schwer in Worte gefasst bekomme.

Und wie immer wenn ich einer Schreibblockade erlege, deren Ursache ich nicht ergründen kann – und Abstand nehmen nicht mehr hilft – nutze ich diese doch jetzt einfach als Einstieg in die Rezension, ist schließlich dieses Symptom auch eine direkte Auswirkung der Lektüre, welche ich einerseits sehr genossen habe, mich aber gerade zum Ende hin mit gemischten Gefühlen zurückgelassen hat. Chad Harbach macht in „Die Kunst des Feldspiels“ einfach unheimlich viel richtig, hat ein typisches „Great American Novel“ zu Papier gebracht, dem man mit der Einordnung als Sportroman bei weitem nicht gerecht wird, da auch Themen wie Bildung, gesellschaftlicher Aufstieg und vor allem das „Coming-of-Age“ eine gewichtige Rolle in ihm spielen. So divers diese Mischung ist, so unterschiedlich auch die Charaktere, welche die Handlung bevölkern, die sich zwar weitestgehend im Mikrokosmos Universitätscampus abspielt, aber dennoch eben – aufgrund ihrer Figuren – universale Themen und Konflikte anspricht.

Ihren Anfang nimmt sie in der tiefsten Provinz in Lankton, South Dakota. Hier spielt im örtlichen Baseballteam der 17-jährigen Henry Skrimshander. Ein schmächtiger, relativ kleiner und wortkarger Bursche, der jedoch ein beinahe unglaubliches Talent besitzt, die Flugbahn eines Balles zu lesen und mit formvollendeter Eleganz diesen nicht nur jedes Mal in verschiedensten Positionen zu fangen, sondern auch gleich direkt dorthin zu werfen, wo er ihn haben will – das alles in einer scheinbar einzigen, fließenden Bewegung. Bei einem Spiel gegen Chicago wird schließlich der Student Mike Schwartz auf dessen unfassbare Begabung aufmerksam. Er ist Kapitän der Baseballmannschaft des Westish College und hofft das dortige Team der Harpooners, bis dato relativ erfolglos, mit Skrimshander zu verstärken. Nach kurzer Bedenkzeit stimmt Skrimshander zu und beginnt in Nordost-Wisconsin, an den Ufern des Lake Michigan, eine neues Leben.

Eine Entscheidung, die sich von Beginn an direkt für ihn auszuzahlen scheint. Nicht nur findet er schnell neue Freunde in Westish – mit seinem schwulen Mitbewohner Owen verbindet ihn bald eine enge Kameradschaft – auch auf dem Baseball-Feld läuft für ihn alles wie am Schnürchen. Sein „goldener Arm“, den er, wie den Rest seines Körpers, täglich in härtesten Übungen mit Mike Schwartz trainiert, wird zur entscheidenden Waffe im Spiel und führt die Harpooners von Sieg zu Sieg. Wie besessen versucht Skrimshander seine Fähigkeiten noch zu verbessern, wobei ihm vor allem „Die Kunst des Feldspiels“, die Baseball-Bibel des (fiktiven) großen Spielers Aparicio Rodriguez – ehemals selbst Shortstop wie Skrimshander – als Leitfaden dient. Schon bald säumen Scouts der Profi-Ligen den Spielfeldrand und versuchen einander mit höher dotierten Vertragsangeboten zu übertreffen. Alles läuft wie erhofft, bis es eines Tages plötzlich zu einem Unglück kommt, welches seinen bis hierhin kometenhaften Höhenflug jäh beendet. Bei einem eigentlich recht einfachen Wurf verfehlt der sonst so treffsichere Junge sein Ziel – und erwischt den auf der Bank lesenden Owen mitten im Gesicht.

Von jetzt auf gleich sieht sich nicht nur Skrimshander mit der eigenen Fehlbarkeit und bisher unbekannten Zweifeln konfrontiert – auch für den Präsidenten des College, Guert Affenlight, ist dieser Moment von entscheidender Bedeutung. Der renommierte Melville-Experte und national anerkannte Akademiker, ein typischer „Ladys Man“, muss sich eingestehen, dass er erstmals in seinem Leben wirklich verliebt ist. Und das ausgerechnet in den schmerzlich getroffenen Owen. Ohnehin ist es leitenden Angestellten am College untersagt, Beziehungen zu den ihnen anvertrauten Studenten zu unterhalten – doch auch noch eine homosexuelle? Affenlight, dessen Tochter Pella nach einer gescheiterten Ehe zu ihm zurückgekehrt ist, will, allen Risiken zum Trotz, seinen Gefühlen nachgeben.

Währenddessen steht auch Skrimshanders unerbittlicher Förderer Mike Schwartz, dessen Körper von Jahren des Spiels gezeichnet ist, vor einer alles entscheidenden Frage: Was kommt eigentlich nach dem College?

Schon dieser kurze Anriss des Plots sollte verdeutlichen, dass die Sportart Baseball nun wahrlich keine Hürde für den Einstieg in dieses Buch darstellt (auch wenn eine gewisse Vorkenntnis sicherlich nützlich ist), denn die Geschichte hätte auch sicher mit Football oder Basketball ähnlich gut funktioniert. Voraussetzung ist aber in jedem Fall die amerikanische Prägung, denn gerade das beschriebene Leben zwischen College-Sport und Campus-Leben hat natürlich seine Wurzeln jenseits des großen Teichs – und ist auch eben darum dort am besten aufgehoben. Vielleicht ein Grund, weshalb es vergleichbare Literatur für Fußball hierzulande nicht gibt bzw. die in den meisten Fällen von eher minderer Qualität ist. Harbach gelingt es äußerst kunstvoll und vor allem unheimlich wortgewandt, die Träume, Wünsche und Ziele der jungen Studenten, aber auch ihre Ängste, Zweifel und Niederlagen vor dem Hintergrund dieses Spiels, das sie alle vereint, zu verbildlichen und gleichzeitig äußerst einfühlsam mit den Entscheidungen des älteren Guert Affenlight zu spiegeln, der im fortgeschrittenen Alter die Sinnhaftigkeit des eigenen, konfliktlosen Wegs in Frage stellt.

So traumwandlerisch sicher wie Skrimshander seine Bälle ins anvisierte Ziel bringt, so sicher erweist sich Chad Harbach auch in der Zeichnung seiner Figuren, für die ihm meines Erachtens auch das allergrößte Lob gebührt. Lange ist es her, dass mir Protagonisten – auch aufgrund der warmherzigen, gefühlvollen Sprache – so schnell und vor allem intensiv ans Herz gewachsen sind, mich ihr Scheitern hat derart leiden lassen und eine neu gefundene, wahre Liebe so berührt hat. Wenn sich Owen Dunne und Guert Affenlight näher und näher kommen, kann man (selbst als heterosexueller Leser) schlicht nicht anders, als sich mit beiden zu freuen, da Harbach hierbei eine Verbindung schildert, nach der sich wohl ein jeder sehnt, der denjenigen bzw. diejenige im echten Leben noch nicht gefunden hat. Und er tut das wohlgemerkt mit einer sichtbaren Sensibilität, viel (langvermisste) Toleranz und ohne diese Liebe mit unnötigen Kitsch zu überfrachten – oder zu sehr ins Detail zu gehen. Eine Versuchung, welcher der ein oder andere Autor an dieser Stelle wahrscheinlich erlegen wäre.

Desweiteren verzichtet Harbach – zumindest im ersten Drittel – auch auf übertrieben bedeutungsschwangere Passagen, zeigt sich stilistisch äußerst leichtfüßig und lebhaft, findet lange Zeit genau das richtige Maß zwischen Wortwitz und Einfühlsamkeit. Während wir dabei Henry Skrimshander irgendwann nicht mehr wirklich näher kommen, er dem Leser aufgrund seinem überbordenden Perfektionismus und dem Bedürfnis nach Isolation von den anderen zunehmend entrückt, ist es dann vor allem das Schicksal von Mike Schwartz, dem wir mit besonderem Mitgefühl unsere Aufmerksamkeit widmen.

Er steht beinahe stellvertretend für alle Sonnen- und Schattenseiten dieses Sports, verkörpert sowohl die zielgerichtete Professionalität in Form seines besessenen Trainings und seiner fast schon quälenden Selbstdisziplin, als auch das verbindende Element zwischen den Spielern, welches mit strenger Hand dafür sorgt, dass die Kameradschaft innerhalb der Mannschaft nie unter dem Konkurrenzkampf leidet. Und wie so oft, ist es gerade der Anführer, der Leader, welcher sich daraus resultierend als isoliert wiederfindet, sein eigenes Leben und eigene Träume für jemand anderes – in diesem Fall Skrimshander – opfert. Damit dessen Automatismen wieder greifen, sein Wunsch Profi-Spieler zu werden doch noch in Erfüllung geht, tut der Musterathlet Schwartz mit leidenschaftlicher Hingabe alles – und droht am Ende dabei selbst auf der Strecke zu bleiben.

Die Szenen, in denen sich Schwartz, nur noch zusammengehalten von Schmerzmitteln, Bandagen und Tapes, durch die Spiele kämpft, vorangeht und doch immer noch den Blick für das große Ganze beweist – sie hallen lange und eindringlicher nach, als das Schicksal Skrimshanders, der außer seinem Talent nicht allzu viel an bemerkenswerten Eigenschaften mitbringt. Und der, als er es plötzlich verliert, sich in sich selbst zurückzieht, in Selbstzweifeln und Selbstmitleid versinkt – und damit auch gleichzeitig die von Schwartz in ihn gesetzten Hoffnungen als neuer Staffelträger zerstört. Für ihn, seinen Entdecker, ist aber gerade dieses Scheitern auch ein Moment der Erweckung, erkennt er doch nun wie fehl ihn seine Ambitionen geleitet haben, dass sein Scheitern im Spiel auch seine weitere fragile Existenz als solches bedroht, wenn er es einfach geschehen lässt und sein Augenmerk nicht endlich auf die eigene Zukunft richtet.

Harbach kreidet den Pursuit of Happiness damit literarisch auf einem Baseballfeld ab. Ein Ort, der metaphorisch für ein ganzes Land steht, welches alles dem Erfolg unterordnet – und in dem augenscheinlich auch nur der Erfolgreiche glücklich sein darf. Erwartungen, Sehnsüchte und Hoffnungen zerschellen nicht selten an der bitteren Realität, die letztlich auch bedeutet: Selbst in einer Mannschaft kämpft jeder für sich allein, bedeutet Gemeinschaft nicht folgerichtig auch die Abwesenheit von Einsamkeit. Vielmehr teilt sich auch im Baseball alles zwischen Gewinnern und Verlierern – eine Welt voller Obsessionen, in der man sich eben beweist oder das Feld geschlagen verlassen, in der man nach einer Niederlage wieder aufsteht oder mit dessen Schande leben muss. Wie Harbach diese bittere Wahrheit zunehmend verdichtet und dabei noch Zeit hat, sich in literarisch-philosophischen Betrachtungen unter anderem dem Lebenswerk Herman Melvilles zu widmen, das ist durchaus beeindruckend und zeugt von großem Talent, wird aber meines Erachtens durch eine gewisse mangelnde Konsequenz im letzten Viertel des Romans etwas getrübt.

Anstatt seiner vorigen Linie treu zu bleiben, wendet sich hier für meinen Geschmack etwas zu viel und vor allem zu schnell zum Besseren, zielt das zu glatt und präzis inszenierte Finale zu sehr auf Hollywood, um im Kontext zum Rest der Geschichte glaubhaft zu bleiben – und unterwandert damit auch dessen eigentliche Tragik. In der allerbesten Manier und Tradition des US-amerikanischen Kinos endet der Weg in einem prall gefüllten Stadion applaudierender Zuschauer – die in der Sonne wehenden Stars und Stripes darf sich der Leser noch dazudenken. Gerade auf diesen letzten Metern erweist sich Harbach damit einen Bärendienst, hätte er doch weiterhin dem Plot seinen Lauf und seine Bilder wirken lassen sollen, anstatt derart offensichtlich manipulativ einzugreifen. Zumindest habe ich es entsprechend empfunden.

Nein, das ändert nichts daran, dass jeder Freund des großen amerikanischen Romans Chad Harbachs „Die Kunst des Feldspiels“ unbedingt eine Chance geben und diese fantastischen Protagonisten kennenlernen sollte, die lange über das Ende der Lektüre hinaus in Erinnerung bleiben dürften. Mögen meine Worte also als (äußerst persönliche) Kritik auf höchstem Niveau verstanden und diesem Werk über die Irrungen und Wirrungen des Lebens dennoch möglichst viele Leser zuteil werden.

Wertung: 83 von 100 Trefferneinschuss2

  • Autor: Chad Harbach
  • Titel: Die Kunst des Feldspiels
  • Originaltitel: The Art of Fielding
  • Übersetzer: Stephan Kleiner, Johann Christoph Maass
  • Verlag: Dumont
  • Erschienen: 11.2012
  • Einband: Hardcover
  • Seiten: 608
  • ISBN: 978-3832196264

Von Kunst und vom Tod

© Piper

Es ist nun mehr als sechs Jahre her, seitdem ich mich in der kriminellen Gasse das letzte Mal mit Thomas Adcock beschäftigt habe – und mein Wunsch, er möge doch bitte hierzulande endlich wieder (auch als Print-Ausgabe) neu und in angemessener Ausstattung aufgelegt werden, ist bis heute unerfüllt geblieben. In der Hoffnung, dass nicht noch einmal so viel Zeit vergehen wird – und auch von einem gewissen ostwestfälischen Sturkopf geleitet – nutze ich daher an dieser Stelle mal wieder die Gelegenheit, um den New Yorker Autor zumindest etwas in das Scheinwerferlicht zu rücken, das er aufgrund seines Werks eigentlich verdient hat. Dieses hat, anders als das von so namhaften Kollegen wie James Lee Burke oder oder Michael Connelly, nie einen derart großen Eindruck auf dem deutschen Buchmarkt hinterlassen. Seltsamerweise, möchte man behaupten, den wirft man einen näheren Blick auf Adcocks Vita, so muss sich auch er hinter diesen namhaften Konkurrenz kaum verstecken.

Thomas Adcock wuchs zwar in seiner Geburtsstadt Detroit auf, verließ diese jedoch in jungen Jahren um als Polizeireporter und Journalist bis 1978 in Michigan und Minnesota erste Erfahrungen mit dem kreativen Schreiben zu sammeln, bevor es ihn schließlich nach New York zog. Hier arbeitete er einige Zeit in der Werbebranche, schrieb mehrere Hörspiele und Drehbücher für diverse Fernsehserien und veröffentlichte 1984 sein erstes Buch unter eigenem Namen. In „Precinct 19“ schildert er im Format eines Tatsachenberichts den Alltag der Polizei im gleichnamigen Revier in Manhattan. Ein Jahr später folgten schließlich die ersten Krimi-Kurzgeschichten für das „Ellery Queen’s Mystery Magazine“, wobei die Leser in „Christmas Cop“ (1986) erstmals Bekanntschaft mit dem New Yorker Cop Neil „Hock“ Hockaday machen. Der grimmige Ermittler gewinnt schnell die Herzen der Leser, die Geschichte selbst wird sogar für den Edgar Allan Poe Award nominiert, so dass bald weitere mit derselben Figur folgen. Vom Erfolg motiviert legt Adcock 1989 dann „Hell’s Kitchen“ (orig. „Sea of Green“) vor, den ersten Kriminalroman mit Hockaday, dessen irische Abstammung er im Verlauf seiner Serie größere Aufmerksamkeit zollen wird. So auch im vorliegenden zweiten Band der Reihe, „Feuer und Schwefel“, mit dem sich der Autor nicht nur gegenüber dem Vorgänger gesteigert, sondern auch die Auszeichnung mit dem Edgar Allan Poe Award für den besten Taschenbuchkrimi von 1992 wohlverdient hat.

Nach weiteren vier Hockaday-Romanen ist es im Krimi-Genre inzwischen ruhig um Thomas Adcock geworden, der jedoch über seine regelmäßigen, sehr lesenswerten (!) Beiträge im CulturMag den deutschen Lesern zumindest noch ein wenig erhalten blieben ist. Doch natürlich ist es gerade diese besagte New Yorker-Reihe, welche endlich wieder mehr Aufmerksamkeit verdient, zumal ihr Schöpfer zu den wenigen seiner Zunft gehört, die den Balanceakt zwischen dem klassischen Hardboiled und dem Thema des Serienmörders auf hohem literarischen Niveau begeistert. Und ein Serienmörder spielt tatsächlich auch in „Feuer und Schwefel“ eine gewichtige Rolle:

Frühling in New York, Anfang der 90er. Normalerweise eine Jahreszeit, in der sich selbst die Verbrecher eine Auszeit gönnen und das sonst so raue Hell’s Kitchen mit einem beinahe rustikalen Charme aufwartet, der selbst den ein oder anderen Touristen in die Gegend lockt. Für Neil „Hock“ Hockaday, den etwas abgehalfterten Detective von der SCUM-Patrol, ist es vor allem der beste Zeitpunkt, um endlich seinen langersehnten und wohlverdienten Urlaub zu nehmen. Gerade mal ein halbes Jahr ist es her, seit „Hock“ im Fall um den ermordeten Father Love ermittelt und dabei sein Leben aufs Spiel gesetzt hat und Ruhe daher dringend vonnöten. Doch erstens kommt es immer anders und zweitens als man denkt, denn ausgerechnet die Kunst soll seinen Plänen einen Strich durch die Rechnung machen. In diesem Fall verkörpert durch ein meisterhaftes, aber auch grauenerregendes Gemälde, welches die Fassade eines Gebäudes im alten New Yorker Stadtteil Coney Island ziert – und der Feder eines bekannten, aber auch berüchtigten heimischen Malers entstammt, den man auf den Straßen nur unter den Namen „Picasso“ kennt. Der Titel des Gemäldes: „Feuer und Schwefel“.

Ausgerechnet diesen „Picasso“, der in der Vergangenheit u.a. auch für die Gestaltung der Vergnügungsparks auf Coney Island verantwortlich zeichnete, inzwischen sich aber nur noch mit Gelegenheitsjobs und Betteln über Wasser hält, trifft „Hock“ eines Abends, scheinbar zufällig und in erregten Zustand an. Der ehemalige Künstler prahlt unverhohlen mit der Absicht, an denjenigen Rache zu nehmen, die für sein jetziges Leben verantwortlich sind. Notfalls auch mit Gewalt. Der Cop schenkt dem wirren Gefasel des offensichtlich Geistesgestörten keinerlei Beachtung und versucht den Vorfall schnell wieder zu vergessen. Bis er in seiner Lieblingskneipe auf ein Bild „Picassos“ stößt, das eine in grün gekleidete Frau porträtiert – und ausgerechnet diese einige Stunden später an derselben Stätte erschossen wird. Auf einmal häufen sich die Morde im Umfeld „Picassos“ und „Hock“ sieht sich gezwungen, selbst Ermittlungen anzustellen, um hinter das wahre Motiv der Taten zu kommen und dem blutigen Spiel ein Ende zu setzen …

Der versoffene, sture Cop. Die paragraphenreitenden Vorgesetzten. Das heruntergekommene, von Verbrechen und schrägen Typen durchsetzte Milieu. Ja, wenn man „Feuer und Schwefel“ nur einen kurzen, ungenauen Blick schenkt, so erwartet den Leser auch hier ein typischer Hardboiled-Vertreter nach Schema F, der sich vielleicht allenfalls durch den Schauplatz noch von seiner Konkurrenz unterscheidet und ansonsten gewohnte Kost bietet. Und es wäre dann am Ende genau dieser Oberflächlichkeit, mit dem er sich selbst einen Bärendienst erweisen würde, denn gerade in der Reihe vom Neil „Hock“ Hockaday steckt soviel zwischen den Zeilen, so viel Herz und Seele seitens des Autors, das man mit der obigen Einschätzung nicht weiter daneben liegen könnte. Adcocks Vergangenheit als Journalist, sie erweist sich bei der Konzeption dieser Reihe als echter Segen, schwitzen seine Krimis doch geradezu nur vor Atmosphäre und Authentizität, da hier eben kein Autor irgendwo im sonnigen Hawaii zum Stift gegriffen, sondern von der Welt direkt vor der Haustür berichtet hat. „Hocks“ Schrullen sind mitnichten irgendwelchen künstlerischen Einfällen ihres Erfinders geschuldet, sondern logische Begleiterscheinungen seines Umfelds und letztlich auch die Erkenntnisse aus Adcocks eigenen Beobachtungen als Polizeireporter.

Wie schon Michael Connelly, so gelingt es auch Thomas Adcock meisterhaft, diese Barriere zwischen Fiktion und Realität zu überwinden, persönliche Erfahrungen seiner Arbeit mit einfließen zu lassen, um den Leser nach und nach in das echte New York, das echte Hell’s Kitchen hineinzuziehen. In „Feuer und Schwefel“ präsentiert sich dies nicht mehr so sehr als kalter und ungemütlicher Ort wie im ersten Band – hier hat man beim Lesen unwillkürlich bibbernd den Rollkragen hochklappen wollen – sondern tatsächlich von seiner frühlingshaften Seite. Diese jahreszeitbedingte Hochstimmung schwappt sowohl auf uns als auch auf „Hock“ über, zumindest bis er immer tiefer in das abgründige Wirken des mysteriösen Maler hineingezogen wird. Und sich beharrlich weigert, sich ab sofort etwas anderem zu widmen. Wie ein Terrier beißt er sich an dem Fall und den Fersen der Verdächtigen fest, entwirrt mit scheinbar engelsgleicher Geduld nach und nach die Umstände und Hintergründe der Morde.

Adcock vermeidet es dabei, sich der üblichen Serienmörder-Elemente zu bedienen, so dass sich das Gesamtprodukt weit eher wie ein Police Procedural mit Hardboiled-Einschlag liest. Im Gegensatz zum Auftakt der Reihe fährt er zudem den Brutalitätsgrad etwas zurück, was vielleicht auch daran liegt, dass „Hock“ diesmal die wunderschöne Ruby zur Seite steht, welche nach seiner gescheiterten Ehe einen neuen Lichtblick im doch arg tristen Junggesellendasein darstellt. Dies scheint sich gleichzeitig auf seine Gewohnheiten auszuwirken, denn der einst einsame Wolf raucht und säuft nicht mehr annähernd soviel wie noch in „Hell’s Kitchen“. Ob dies jedoch so bleibt – der Ausgang des Romans macht dies mehr als fraglich. Bis zu diesem Ende liest sich auch der zweite Auftritt des New Yorker Cops wie aus einem Guss und – nicht unwichtig für dieses Genre – bleibt vor allem durchgehend spannend.

Im Dunstkreis von John Rebus, Harry Bosch und Dave Robicheaux dürfte auch Neil Hockaday in Deutschland sicher seine Leser finde – eine längst fällige Wiederveröffentlichung vorausgesetzt. Mit „Feuer und Schwefel“ kann sich Adcock nicht nur nochmal steigern, er bereitet auch den Boden für den dritten Band „Ertränkt alle Hunde“, der, über die Grenzen des Genres hinaus, zum Besten gehört, was über den andauernden Konflikt in Irland bis dato veröffentlicht worden ist. Doch dazu mehr an anderer Stelle.

Wertung: 91 von 100 Trefferneinschuss2

  • Autor: Thomas Adcock
  • Titel: Feuer und Schwefel
  • Originaltitel: Dark Maze
  • Übersetzer: Jürgen Bürger
  • Verlag: Piper
  • Erschienen: 01.1998
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 348
  • ISBN: Serien978-3492256759

Sarah Jane – das Rätsel des Menschseins

© Liebeskind

Sarah Jane Pullman arbeitet als Polizistin in Farr, einem kleinen Kaff inmitten der USA. Als eines Tages ihr Chef und Förderer Cal Phillips verschwindet, beginnt nicht nur eine aufreibende Suche, sondern auch eine intensive Reise in Sarah Janes Vergangenheit. So entsteht eine Mischung aus Reflektion und Beichte, angefertigt von Sarah Jane selbst für ihren Freund Sid.

Sarah Jane erzählt von einer Mutter, die abzutauchen zur Profession gemacht hat, einem Vater der sich zu kümmern versucht, aber überfordert vom Leben ist, , vom Abrutschen in die Kriminalität, dem bedrohlichen Spiel mit Drogen, der Rettung durch den Eintritt in die Armee – statt ins Gefängnis einzufahren. Und immer wieder von Männern: Freundlichen, unzuverlässigen, verzweifelten und toxischen. Die Beziehung zu einem gewalttätigen Polizisten führt zu einem ebensolchen Ende. Mit Sarah Jane als Überlebender.

Das wird sie Jahre später einholen, gerade als sie als Interims-Polizeichefin das mysteriöse Verschwinden ihres Chefs und wohlmeinenden Beistandes Cal untersucht. Dessen Abwesenheit eng mit Sarah Janes Biographie zusammenhängt.

James Sallis gelingt es wieder auf rund 200 Seiten ein kleines Universum zu erschaffen. „Er konnte den Peloponnesischen Krieg in einem Satz zusammenfassen“, heißt es an einer Stelle. Das trifft auch auf den Autor zu. Sallis gelingen Lebensabrisse in wenigen Sätzen, selbst bei Figuren, die nur am Rande auftauchen. Die ewig suchende, herumirrende Sarah Jane, die erst spät einen Moment der Sicherheit erfährt, gerät ungleich komplexer. Sallis beherrscht die Kunst der Komprimierung. Zugleich poetisch und treffgenau gibt er seinen Lesern Raum, das brennende Unausgesprochene zu füllen und den Text weiterzuentwickeln.

Bloße Ermittlungsarbeit und stereotype Spannungsentwürfe spielen dabei kaum eine Rolle. Spannend ist die Sicht Sarah Janes aufs Leben, auf Möglichkeiten, Verweigerungen, verpasste Chancen und die ewig lauernde Unbehaustheit. Die menschliche Existenz als Monster, das sich selbst verspeist.

Alle Geschichten sind Geistergeschichten, über verlorene Dinge, verlorene Menschen, Erinnerungen, Heimat, Leidenschaft, Jugend, über Dinge, die darum ringen, von den Lebenden gesehen und anerkannt zu werden.


Sätze wie Grabinschriften, die haften bleiben, die einen Sog erzeugen, der mitreißt, wenn man Sarah Jane auf ihren verschlungenen Pfaden folgt. Präsentiert mit einer liebevollen Ernsthaftigkeit, die weit entfernt ist von Zynismus oder einem ironischen Gestus, der das Geschriebene zur beiläufigen Banalität degradiert. Ein großartiges, eindringliches Buch, der beste Begleiter durch eine Nacht, die Sarah Jane selbst heraufbeschwört.

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Wertung: 90 von 100 Treffern

  • Autor: James Sallis
  • Titel: Sarah Jane
  • Originaltitel: Sarah Jane
  • Übersetzer: Kathrin Bielfeldt, Jürgen Bürger
  • Verlag: Liebeskind
  • Erschienen: 08.2021
  • Einband: Hardcover
  • Seiten: 216 
  • ISBN: 978-3954381371

 

Krieg der Lügen

© Kampa

Es gibt sie immer noch – diejenigen, welche als Grenzschützer die vermeintlichen Übergänge zwischen den Genres überwachen, peinlich genau darauf achten, dass sich das sogenannte Triviale nicht mit der Hochliteratur vermischt, bloß keine Brücken zwischen Niveau und Unterhaltung geschlagen werden.

Sie merken nicht, dass sie die Entwicklungen der letzten Jahre, ja Jahrzehnte vollkommen verschlafen haben, wir nicht mehr länger in diesen Kategorien urteilen und Maß nehmen können, da sich das einstmals Ausschließende inzwischen längst vereinigt hat – vorangetrieben von Autoren, die diese willkürlich gesetzten roten Linien einfach nicht als solche wahrgenommen oder mittels der künstlerischen Freiheit überwunden haben. Und während es einige Schriftsteller gab, wie zum Beispiel Graham Greene, wo dies bereits zu früheren Zeiten akzeptiert worden ist, muss sich der ein oder andere heute weiterhin zu diesem Eiertanz zwischen klassischer Belletristik und Spannungsroman auffordern lassen. Zu ihnen gehört auch William Boyd, dessen Roman „Ruhelos“ man vor einigen Jahren in den Buchhandlungen in verschiedenen Abteilungen finden, leider aber sich in keiner davon augenscheinlich einen dauerhaften Platz erobern konnte.

Das ist weiterhin bedauernswert, zumal gerade „Ruhelos“ bei der damaligen Veröffentlichung hierzulande größere Aufmerksamkeit bekommen hat, welche einen Durchbruch in Deutschland erhoffen ließ. Boyd aber bleibt bis heute, unverständlicherweise, ein Geheimtipp. Und während das Lebenswerk des kürzlichen verstorbenen John Le Carré allenthalben gefeiert und nochmal ins Scheinwerferlicht gerückt wird, muss daher wohl die kriminelle Gasse für den schottischen Autor, der aktuell wieder beim tollen Kampa-Verlag neu aufgelegt wird, Schützenhilfe leisten. Mit Freuden wohlgemerkt, denn Boyd ist hier ein Spionageroman klassischer Schule gelungen, der sowohl sprachlich als auch in seinem Aufbau zu überzeugen weiß und dem Leser nebenbei noch eine Geschichte kredenzt, die gleich mehrere Ebenen aufweist – und sich mitunter äußerst beklemmend liest.

Ihren Anfang nimmt sie im England des Jahres 1976, genauer gesagt im beschaulichen Oxford. Die Bevölkerung der Universitätsstadt leidet unter einem ungewöhnlich heißen Sommer. Unter ihnen auch die allein erziehende Sprachlehrerin Ruth Gilmartin mit ihrem Sohn Jochen, welche sich nicht nur aufgrund der Hitze zunehmend Sorgen um die Gesundheit ihrer alten Mutter Sally macht. Diese sitzt nach einem Hausunfall mittlerweile im Rollstuhl und sucht in letzter Zeit vermehrt und äußerst nervös den angrenzenden Waldrand mit dem Fernglas ab. Ihr Haus verlässt sie selbst kaum noch, Telefonanrufe nimmt sie nur nach einen vorher vereinbarten Klingelzeichen ab. Was Ruth anfangs für den Beginn von Altersdemenz hält, hat jedoch viel tiefer gehende Gründe. Und eines Tages kommt seitens Sally zu einer überraschenden Eröffnung: In Wirklichkeit heißt sie nicht Sally sondern Eva Delektorskaja und war früher für viele Jahre als Spionin für den britischen Geheimdienst tätig. Und genau deswegen, bangt sie nun um ihr Leben …

Was klingt wie mit ziemlich heißer Nadel gestrickt und anfangs noch vielleicht den oder anderen Zweifel aufgrund der Ausgangskonstellation beim Leser erweckt, entfaltet zwischen denn Buchdeckeln aber tatsächlich nach wenigen Seiten (wie so oft bei Boyd) eine schon fast unheimliche Sogwirkung, verlieren wir uns in den zeitgeschichtlichen Ereignissen, die vom Autor in zwei Handlungsstränge aufgeteilt werden, deren Auswirkungen wiederum bis in das Heute spürbar sind. Der Hauptstrang führt uns zurück in das Jahr 1939, genauer nach Paris, wo die russische Emigrantin Eva nach dem Tod ihres Bruders durch die Nazis, von dem mysteriösen Lucas Romer für den britischen Geheimdienst angeworben wird. Es folgt eine intensive Ausbildung in Schottland mit anschließenden Einsätzen in Belgien, England und vor allem in den USA. Das Ziel der geheimen Unterabteilung des British Secret Service: Falschmeldungen zu lancieren, welche die Vereinigten Staaten von Amerika zum Eintritt in den Krieg bewegen sollen. Und dafür ist den Engländern, die ab 1940 die letzte Bastion gegen Hitlers Armeen bilden und sich in einer verzweifelten Lage befinden, beinahe jedes zur Verfügung stehende Mittel recht.

Selbst wer sich grundsätzlich eher wenig für die militärhistorischen Konstellationen vor Pearl Harbour interessiert, wird sich dank Boyds zielsicherer, feinfühliger Schreibe, dem sich zuspitzenden Plot und der facettenreichen Figur Eva und ihren Erlebnissen nur schwerlich entziehen können. Der Autor profitiert dabei von seiner Besetzung, denn in einem Milieu der Geheimdienste, wo man mit erfundenen Geschichten, Falschmeldungen und bewusst konstruierten Fährten die Weltgeschichte in die jeweils gewünschte Richtung lenken will, fällt eine Lüge mehr oder weniger nicht auf, verschwimmen die sonst deutlicher getrennten zwischen Fiktion und historischer Realität. Es ist ein heikles Spiel, welches Boyd hier schildert und das vor allem von Taktik geprägt ist, weswegen sich „Ruhelos“, im Kontrast zum Titel, immer wieder Zeit nimmt, um ausführlich zu erzählen, was in Zeiten geradlinig durchkomponierter und mit Action vollgestopfter Thriller schnell auf Ungeduld stoßen dürfte. Gerade an die Geduld möchte ich aber appellieren, sind doch diese behäbigeren Passagen nur das Luftholen, nur der minutiös geplante Aufbau für eine ganze Reihe von Eröffnungen, die mehr als nur eine Überraschung in sich birgen.

Das einzige Manko: Bis dahin müssen wir auch immer wieder in die 70er Jahre zurückwechseln, wo sich die Ich-Erzählerin Ruth nicht nur mit wachsender Faszination durch die schriftlichen Dossiers ihrer Mutter arbeitet, sondern über Umwege auch noch in den Dunstkreis der Baader-Meinhof-Gruppe gerät. Wie und warum, das sei hier nicht näher geschildert, verkommt doch dieser nicht weiter ausgearbeitete Handlungsstrang zu einem Sturm im Wasserglas, nachdem man sich umso mehr auf Evas Erzählungen aus ihrem „ruhelosen“ Leben freut. Gerade das geschilderte Doppel- und Dreifachspiel der Agenten, die gezielten Seitenhiebe auf die Macht der Medien und der psychologische Unterbau samt der finalen Auflösung, sorgen dafür, dass man nicht nur hochklassig und kurzweilig unterhalten wird, sondern am Ende auch der festen Überzeugung ist, einen völlig neuen und anderen Einblick in das Leben dieser Epoche erhalten zu haben.

So ist „Ruhelos“ schließlich eine auf- und anregende Lektüre, die trotz einiger, unübersehbarer Schwächen den wehrlosen Leser in seinen Bann zu Ziehen vermag und nebenbei noch eine Lanze für das zuweilen abschätzig betrachte Genre des Spionage-Thrillers bricht. Ein Katz-und-Maus-Spiel zwischen feindlichen Agenten kann sehr wohl spannend, literarisch und tiefgründig zugleich sein. Dieses Buch beweist es.

Wertung: 92 von 100 Treffern

einschuss2
  • Autor: William Boyd
  • Titel: Ruhelos
  • Originaltitel: Restless
  • Übersetzer: Chris Hirte
  • Verlag: Kampa
  • Erschienen: 03.2019
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 384 Seiten
  • ISBN: 978-3311100058

Hit the Road, Jack!

© Eichborn

„Ich suche Elmore Leonard.“
„Elmore wer?“
„Na, Elmore Leonard. „Schnappt Shorty“, „Out of Sight“ und „Jackie Brown“ basieren auf seinen Büchern.“ „Ach, der.“

Zugegebenermaßen ein fiktiver Dialog, der jedoch möglicherweise mal im Umfeld einer Buchhandlung so stattgefunden haben könnte, denn, wie Horst Eckert in Bezug auf Elmore Leonard äußerst treffend in dessen Kurzbiographie auf der Krimi-Couch bemerkt:

Seine Bücher stehen im Schatten ihrer Verfilmungen. Sie gelten bei uns als Insidertipps, und das in einem Land, dessen Krimileser doch traditionell nach Amerika schielen.“

Bei eben dieser Klientel wagte der Eichborn Verlag vor mehr als zehn Jahren mit Leonards (bisher) vorletzten Roman „Road Dogs“ nochmals einen neuen Versuch. Und „wagen“ ist in diesem Fall wörtlich zu nehmen, da es dieses Werk, trotz einer sehr gelungenen Übersetzung durch die Damen Conny Lösch und Kirsten Riesselmann, inmitten des tristen Mainstream-Wühltischs aus depressiven Forensikern, romantischen FBI-Ermittlern und schlachtenden Serienkillern auf dem deutschen Büchermarkt wieder schwer haben wird.

Kurz zur Geschichte: Jack Foley (George Clooney spielte seine Rolle in Steven Soderberghs Verfilmung des Vorgängerromans „Zuckerschnute / Out of Sight“) ist ein cooler Bankräuber. Und ein schwer zu bekehrender dazu. Das FBI vermutet, dass an die zweihundert, stets unbewaffnete Überfälle auf sein Konto gehen. Foley selbst hat ein paar weniger gezählt. Im Knast, in den er dank der (oder des?) zielsicheren US-Marshall Karen Sisco wieder gewandert ist, zollen ihm selbst die Schwerverbrecher Respekt. Man ist ein wenig stolz auf die Bekanntschaft mit einen Mann, der mehr Banken geknackt als John Dillinger oder William „Willie“ Sutton. Von dieser Prominenz profitiert auch der Exil-Kubaner Cundo Rey, der hinter Gittern zu Foleys bestem Kumpel wird. Sie passen aufeinander auf, halten sich den Rücken frei – werden „Road Dogs“. Cundo, der nicht mehr lange einsitzen muss, will Foley zu einer drastischen Strafminderung verhelfen. Da er selbst, dank der geschickten Arbeit seines Verwalters „Monk“, mit Immobilien ein Vermögen gescheffelt hat, bezahlt er eine erstklassige Anwältin, welche Foleys dreißigjährige Haftstrafe kurzerhand auf ebenso viele Monate runterkürzt, so dass dieser sogar noch vor Cundo ungesiebte Luft atmen kann.

So schön die Freiheit nun ist, Foley hat kein gutes Gefühl. Er schuldet Cundo einen ganzen Batzen Geld und fühlt sich diesem verpflichtet. Wie soll er die Kohle auftreiben? Wieder eine Bank ausrauben? Was für ihn früher ein Leichtes war, wird nun durch die Tatsache erschwert, dass der übereifrige FBI-Agent Lou Adams seine ganze berufliche Karriere aufs Spiel setzt, um Foley beim nächsten Mal auf frischer Tat zu ertappen. Der Mann, der sich schon als neuer Melvin Purvis sieht, plant sogar ein Buch über die Verhaftung des „netten Bankräubers“. Dieser taucht erst einmal in einer von Cundos Villen in Venice Beach unter, wo dessen attraktive Frau Dawn Navarro bereits auf ihn wartet. Sie hat die letzten Jahre für ihren Mann vorgeblich wie eine Heilige gelebt und steigt jetzt sogleich mit Foley in die Kiste. Auf die Chance, ihren Gatten um sein Geld zu erleichtern, hat sie lange hingearbeitet. Und wer könnte ihr da besser helfen als ein trickreicher Bankräuber? Foley, der nicht weiß, wem er trauen kann, ist gefangen zwischen den weiblichen Reizen Dawns und seiner Schuld bei Cundo. Während jeder den anderen übers Ohr zu hauen versucht und nichts so ist wie es scheint, muss Foley einen Weg finden, um Heil aus dem Ganzen herauszukommen …

Ein klassischer Leonard: lakonisch, schnell, voll herrlicher Dialoge und überraschend bis zur letzten Seite. Große Unterhaltung mit Soul.

Wieso sich als Rezensent große Mühe machen, wenn die Werbung des Eichborn-Verlags im Klappentext bereits ein treffendes Urteil abgibt? Elmore Leonard, der im Jahr 2013 gestorben und in seiner langen, nicht selten schwierigen Karriere als Autor von Westernheften und später Gaunerkomödien unter anderem mit drei Edgar Allan Poe Awards und einem Grand Master Award ausgezeichnet worden ist, bleibt sich auch mit „Road Dogs“ treu. Und auch wenn er seinen amerikanischen Kultstatus nie gänzlich auf Europa übertragen konnte, so schimmern doch zwischen den Zeilen immer die Gründe hervor, warum er ihn überhaupt erhalten hat.

Fakt ist: Ob es auf dem Cover draufstehen würde oder nicht, einen Leonard erkennt man sofort. Hier sitzt jedes Wort am richtigen Platz, sind die Dialoge geschliffen wie die schärfsten Messer. Da ist kein Satz zu viel, ist jede Zeile im Einklang mit dem Rhythmus. Egal, welche Wege der Autor in seinem Plot einschlägt, stets beherrscht sein trockener Humor die Szenerie, überzeugen die Bilder mit einer Lässigkeit und Coolness, welche man woanders vergebens sucht. Während andere Schriftsteller die Gänge durchjagen, das Gaspedal ihrer Story auf Vollgas durchtreten, bedeutet die Lektüre eines Leonards chilliges und geradliniges Cruisen. Der rote Faden ist hier so gerade wie ein amerikanischer Highway, sein Sound einmalig. Diesem gerecht zu werden, ihn richtig zu treffen, bedeutet für die Übersetzer Schwerstarbeit. Leonards unverwechselbaren Klang, seine Vorliebe für knappe, lakonische Dialoggewitter kann man nur mühsam und unzulänglich ins Deutsche übertragen. Vielleicht ein Grund, warum der amerikanische Autor hierzulande bisher nur so wenige Leser gefunden hat.

An den Plots selbst kann es jedenfalls nicht liegen, denn wie Leonard in ein auf den ersten Blick so triviales Handlungsgerüst derart viel Tiefgang hineinpackt, dass muss zwangsläufig beeindrucken. Mal leicht und spritzig, mal boshaft und brutal. Der Autor balanciert stets mit unbekümmerter Leichtigkeit auf dem dünnen Seil, zieht dessen Fäden erst gegen Ende zusammen, das zwar nicht mit den Twists und Turns heutiger Thriller aufwartet, aber dennoch immer die ein oder andere Überraschung bereithält. Bis dahin lebt der Krimi vom Zusammenspiel der Figuren, in diesem Fall von Foley, Cundo und Dawn, deren verstrickte Dreiecksbeziehung an eine Pokerpartie gemahnt, bei der die Blätter auf der Hand auch für den Beobachter allesamt verdeckt bleiben. Es wird getäuscht, geblufft, gereizt und letztlich auch verzockt, während der Leser zwischen den vielen Andeutungen und Unklarheiten die wahren Absichten zu entdecken versucht. Es bleibt bei einem Versuch, denn Leonard schreibt mit traumwandlerischer Sicherheit und entpuppt sich in den eigenen eng gesteckten Grenzen als Meister seines Fachs.

Vom Moralisieren hält Leonard auch in „Road Dogs“ nichts. Die tragenden Säulen der Geschichte stammen zwar aus unterschiedlichen Milieus, sind jedoch, jeder auf ihre Weise, kriminell. Selbst FBI-Agent Lou Adams vermag die Rolle des „Guten“ nicht auszufüllen, da er in seiner verbissenen Jagd auf Foley das normale Maß der Gesetzesvollstreckung bereits weit überschritten hat. Genau diese genaue Schilderung, diese präzise gezeichneten Individuen (eine Femme Fatale darf natürlich auch nicht fehlen), machen Leonards Bücher aber auch immer so besonders. Er gewährt einen detaillierten Einblick in einen Grenzbereich der Gesellschaft, wo Kleinkriminelle, Spitzel, Starlets oder Prostituierte ihr Leben fristen und der (zumindest in den meisten Fällen) weit weg von den alltäglichen Erfahrungen des Lesers liegt.

Elmore Leonards „Road Dogs“ ist dynamischer und bitterer Pulp mit einem Schuss Erotik und sommerlichem Kalifornien-Flair. Eine klassisch-elegante Geschichte, die schnurrt wie ein Kätzchen. Und die mag ja bekanntlich auch nicht jeder.

Wertung: 84 von 100 Treffern

einschuss2
  • Autor: Elmore Leonard
  • Titel: Road Dogs
  • Originaltitel: Road Dogs
  • Übersetzer: Conny Lösch, Kirsten Riesselmann
  • Verlag: Eichborn
  • Erschienen: 01.2011
  • Einband: Hardcover
  • Seiten: 304 Seiten
  • ISBN: 978-3821861197

Money for nothin and chicks for free

© Polar

Wer sich schon etwa länger in der kriminellen Gasse herumtreibt, dem wird vielleicht schon aufgefallen sein, dass ich das Werk des leider bereits 2012 verstorbenen Schriftstellers William Gay über alle Maße schätze – und im vorletzten Herbst entsprechend freudig auf die Nachricht des Polar-Verlags reagiert habe, als mit „Stoneburner“ die Übersetzung eines posthum veröffentlichten Romans angekündigt wurde. Dass dieser überhaupt erscheinen konnte, ist einer kleinen Gruppe von Freunden und Bewunderern des Autors zu verdanken, welche sich nicht nur die Mühe machten, dessen unzählige Manuskripte zu sichten, sondern auch die handgeschriebenen Texte abtippten und letztlich in Form brachten.

Mühe, die sich – soviel sei vorab verraten – durchaus bezahlt gemacht hat, was allerdings auch ein wenig davon abhängt, mit welchen Erwartungen man die Lektüre von „Stoneburner“ in Angriff nimmt, der als Hardboiled-Detective-Eye beworben wird, tatsächlich sogar mit einigen der klassischen Ingredienzien aufwartet, dennoch aber sich der eingeschlagenen Richtung nicht immer so ganz sicher zu scheint. Ein Grund dafür ist bereits in der Entstehungsgeschichte des Buches zu finden, in dem Gay nicht nur einen gehörigen Teil seiner eigenen Biografie verarbeitet, sondern auch seine frühe Liebe zu Autoren wie William Faulkner, Thomas Wolfe, Ross MacDonald oder Mickey Spillane (Insbesondere letzterer dürfte gerade die Charakterisierung der weiblichen Hauptfigur maßgeblich beeinflusst haben, die das Motiv der umtriebigen Femme Fatale tatsächlich auf die höchstmögliche literarische Spitze treibt). Dennoch blieb „Stoneburner“ über viele Jahre in der Schublade, wofür letztlich vor allem Cormac McCarthy verantwortlich zeichnet, mit dem Gay, erstmals nachhaltig beeindruckt durch dessen „Draußen im Dunkel“, eine lange und innige Freundschaft verbunden hat. McCarthy gelang sein großer Durchbruch schließlich mit „Kein Land für alte Männer“, was wiederum Gay veranlasste, sein eigenes Manuskript noch vor der Veröffentlichung zurückzuziehen.

Einerseits war Gay immer sehr empfindlich gegenüber Vergleichen mit seinem Freund, andererseits gibt es dermaßen viele Parallelen zwischen den beiden Werken, dass er mit dem Vorwurf, die Handlung geklaut zu haben, hätte rechnen müssen. Um auch nochmal zu verdeutlichen, wie ähnlich sich beide Plots sind, sei der von „Stoneburner“ hier kurz angerissen:

Ackerman’s Field, Tennessee, im Jahr 1974. Sandy Thibodeaux, Vietnam-Veteran und inzwischen unberechenbarer Trinker, nutzt die Gunst des Stunde, als er eines Nachts die heimliche Landung eines Drogenkuriers mitverfolgt und sich den kurzzeitig unbeobachtet gelassenen Koffer mit dem dafür vorgesehenen Geld unter den Nagel reißt. Hundertfünfundachtzigtausend Dollar. Genug um die drückende Enge der Provinz hinter sich zu lassen und vielleicht auch endlich bei Cathy Meecham zu landen, deren verführerisches Äußeres Sandy schon seit längerem um den Verstand bringt. Cathy, beeindruckt von dessen neuerworbenen Reichtum, zeigt sich tatsächlich interessiert und brennt kurzerhand mit ihm durch. Sehr zum Missfallen von „Cap“ Holder, dem ehemaligen Sheriff des Countys, der allein schon aufgrund seiner Statur immer noch von vielen vor Ort gefürchtet wird. Er erhebt Anspruch auf Cathy, hatte Thibodeaux bereits vorgewarnt und setzt nun, zusätzlich noch von Schulden geplagt, alles auf eine Karte, um sie zu finden und zurückzuholen.

Hier kommt der titelgebende Privatdetektiv (ohne Lizenz) Stoneburner ins Spiel. Von Holder beauftragt, soll er das flüchtige Pärchen aufspüren, welches, mit Geld um sich schmeißend, eine allzu deutliche Spur im Süden der USA hinterlässt, bis diese schließlich in den Baumwipfeln eines Bergpasses in den Ozarks endet. Für Stoneburner ist es jedoch mehr als ein Routineauftrag. Er hatte einst gemeinsam mit Thibodeaux in Vietnam gedient, war dort gar eng mit ihm befreudnet. Und eine Frage bleibt zudem offen: Welches Spiel spielt eigentlich „Cap“ Holder in dieser Geschichte? Als Stoneburner nach und nach die Zusammenhänge erkennt, wird der Fall für ihn im wahrsten Sinne des Wortes heiß …

Bei uns ins Ostwestfalen gibt es bei einer kritischen Betrachtung die Redewendung „Wie wenn einer will und kann nicht.“ Das lässt sich aber nicht eins zu eins auf „Stoneburner“ übertragen und muss in „Wie wenn einer kann und weiß nicht genau wie“ abgewandelt werden, denn wiewohl William Gay einmal mehr stilistisch und sprachlich auf allerhöchstem Niveau zu überzeugen weiß – es ist diesmal eine literarische Reise mit einigen (unnötigen) Hindernissen für den Leser. Der muss nach dem Prolog erst einmal für knapp zweihundert Seiten von Stoneburner Abschied nehmen und damit gleichzeitig von der (durchaus im Klappentext geschürten) Hoffnung, den Privatdetektiv bei seinem Fall durchgängig begleiten zu dürften. Stattdessen konzentriert sich William Gay gänzlich auf die Beschreibung von Thibodeaux‘ wilder Flucht, welche von den beiden Flüchtenden jedoch wie eine Perversion der üblichen Flitterwochen gelebt wird, wodurch sich „Stoneburner“ in der ersten Hälfte eher wie ein Roadmovie anfühlt als wie ein typischer Vertreter des „Noir“. Und dabei, das muss man natürlich trotzdem betonen, seine Sache auch sehr gut macht.

William Gay nutzt die lange Reise um uns insbesondere in Thibodeaux‘ Gedankenwelt einen größeren Einblick zu gewähren, dem zwar von vorneherein bewusst ist, dass Cathy ihn nur wegen des Geldes begleitet, darüber sich aber bald in paranoiden Wahnvorstellungen verliert, sie könnte ihn berauben oder – noch schlimmer – „Cap“ Holder absichtlich auf seine Fährte bringen. Was immer Thibodeaux anfasst, scheint im Unglück zu enden, was diesen vom Krieg traumatisierten Tunichtgut aber mehr und mehr zum Sympathieträger aufsteigen lässt, zumal er, trotz eindeutig krimineller Tendenzen, zwischendurch stets sein gutes Herz beweist. So riskiert er zum Beispiel im verschneiten Gebirge seine eigene Gesundheit, um einem schwer kranken Jungen Medizin zu bringen. Ein selbstloser Akt, der ihn auch die Augen bezüglich Cathy endgültig öffnet, dadurch aber wiederum eine Kette von unglücklichen Ereignissen auslöst, die Böses erahnen lassen. Überraschenderweise ertappen wir uns selbst dabei, ihm bei seinem Vorhaben Glück zu wünschen, wobei Kenner von William Gays Werken natürlich wissen, dass es kein Happy-End geben kann. Die enge Beziehung, welche wir zu Thibodeaux aufbauen, erweist dem Roman dann deshalb auch ungewollt einen Bärendienst, wenn dessen Erzählperspektive gänzlich zu Stoneburner wechselt, der nun die Jagd auf seinen alten Kriegskameraden eröffnen soll.

Zwar ergibt sich durch Stoneburners Blickwinkel noch einmal ein facettenreicheres Bild von Thibodeaux, aber der Leser sieht sich an dieser Stelle dennoch etwas störend gezwungen, nochmal gänzlich von vorne Vertrauen zu einer weiteren Figur aufzubauen. Ein Prozess, der zumindest in meinem Fall nur äußerst schleppend in Gang kam, da Stoneburner sich doch allzu willig von dem herrschsüchtigen, wenngleich ebenfalls von Tragik umgebenen „Cap“ Holder durch die Gegend kommandieren lässt und – wie es sich nun für einen Private-Eye in den Tradition von Ross MacDonald und Chandler gehört – ebenfalls den erotischen Reizen der herrlich hassenswerten Cathy zu erliegen droht. Die Reminiszenzen an Gays große Vorbilder, sie sind allgegenwärtig, laufen aber zu oft nebeneinander her, um eine richtige Symbiose eingehen zu können, wodurch einige Passagen allzu holprig daherkommen. The more, the merrier. Das gilt nun eben nicht immer. Und hier wäre ein bisschen weniger Inspiration von außen und stattdessen ein Schuss mehr Gay angebrachter gewesen. Es hätte auch dem Lesefluss selbst gut getan.

Dennoch darf und will ich diese Besprechung keinesfalls mit einem kritischen Ton abschließen – dafür ist auch der vorliegende Roman einmal mehr viel zu hochklassig. Was William Gays bildgewaltige, epochale und düster-schwarze Schreibe stets aufs Neue mit mir anrichtet, das hat schon ein Alleinstellungsmerkmal. Da stört es sogar nicht, dass sämtliche wörtliche Rede ohne Anführungsstriche auskommen muss, zwingt doch diese archaisch-brachiale Wortgewalt unseren Blick geradezu fest an die Zeilen, um ja jedes Detail auch aufnehmen zu können. Wie auch James Lee Burke oder William Faulkner, so vermag es auch Gay, aus einer simplen Wetterbeschreibung ein nachhaltig wirkendes Erlebnis zu schmieden.

So bleibt „Stoneburner“ ein zwar streckenweise etwas inkohärenter, aber auch immer stimmungsvoller Mischling aus Southern-Gothic und klassischem Noir, der vielleicht sogar auf der Leinwand ein noch besseres Bild abgeben dürfte – wenn nicht hier ein gewisser Javier Bardem mit seinem Bolzenschussgerät die qualitative Latte schon so hoch gelegt hätte.

Wertung: 83 von 100 Treffern

einschuss2
  • Autor: William Gay
  • Titel: Stoneburner
  • Originaltitel: Stoneburner
  • Übersetzer: Sven Koch
  • Verlag: Polar
  • Erschienen: 08/2020
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 388 Seiten
  • ISBN: 978-3948392123

Das Mädchen mit dem langen grünen Herzen

© Rotbuch

Im September 2004 ging der Verlag „Hard Case Crime“ in den USA an den Start. Sein Programm: Das in den 60er Jahren für den schnellen Lektüre-Verbrauch konzipierte Genre der Pulp-Krimis durch längst verloren geglaubte Noir-Klassiker und die stärksten Werke zeitgenössischer Autoren neu zu beleben. Ein Konzept das aufging, denn die Reihe geht 2021 bereits in ihr siebzehntes Jahr.

Grund für den Erfolg ist neben der treffsicheren Autoren- und Titelauswahl sicherlich auch die herrliche klassische Cover-Gestaltung. Die hatte der Rotbuch-Verlag eins zu eins übernommen, welcher ab 2008 einige der „Hard Case Crime“-Werke dem deutschen Büchermarkt zugänglich machen konnte. Darunter unter anderem auch Lawrence Blocks „Abzocker“ (engl. „Grifters Game“), mit dem „Hard Case Crime“ in den USA einst begann. Mit Band zehn der Rotbuch-Reihe kehren wie nun zu Block zurück. „Falsches Herz“ (engl. „The Girl with the Long Green Heart“) ist einmal mehr ein Pulp-Krimi par excellence, der nicht nur bei den älteren Semestern unter den Lesern nostalgische Gefühle weckt, sondern dank eines sauber konstruierten Plots und knackig, flotter Sprache auch heute noch bestens unterhält.

John Hayden hat es geschafft. Nachdem er wegen Betrugs sieben Jahre lang im Gefängnis saß, konnte er letztlich doch mit seiner kriminellen Vergangenheit abschließen. Mit seiner Arbeit auf einer Bowlingbahn hält er sich über Wasser, Geld wird angespart, um sich irgendwann den Traum vom Neuanfang als Hotelier erfüllen zu können. Doch dieses irgendwann macht Hayden zunehmend zu schaffen. Er selbst wird nicht jünger und die Zeit scheint unerbittlich gegen ihn zu ticken. Genau in diesem Moment erscheint Douglas Rance auf der Bildfläche, ein Bekannter und ehemaliger Komplize, der seine Hilfe benötigt und ihn zu einem letzten großen Coup überreden will. Hayden zeigt sich störrisch, will von der Sache nichts wissen … und sagt schließlich doch seine Mitarbeit zu, denn Rances Plan ist trotz seiner Einfachheit äußerst genial.

Gemeinsam wollen sie Wallace Gundermann, einen Immobilienspekulanten aus der Kleinstadt Olean, ausnehmen. In den vergangenen Jahren hatte dieser in großem Stil billige Grundstücke und Land aufgekauft und es sich mit engelsgleicher Ruhe auf ihnen so lange bequem gemacht, bis anstehende Bauprojekte oder der Fund von Bodenschätzen die Preise in die Höhe getrieben hatten und er sie wiederum für teures Geld verkaufen konnte. Eine simple Vorgehensweise, durch die er steinreich geworden ist, allerdings auch eine herbe Schlappe einstecken musste. Betrüger hatten ihm eine wertlose „Elchweide“ in Kanada angedreht, die ihm bisher keinerlei Gewinn gebracht hat. Und Gundermann, ehrgeizig und ein schlechter Verlierer, will diese Scharte nun unbedingt wieder gut machen. Hier kommen John Hayden und Douglas Rance ins Spiel: Sie gründen im kanadischen Toronto ein Scheinfirma, die riesige Flächen von brachliegendem Waldland für wenig Geld aufkauft und treten schließlich selbst an ihr Opfer heran. Gundermann denkt nicht dran zu verkaufen, wird aber durch die Aktivität dieser Firma, die anscheinend mehr über das Land weiß als er, zunehmend neugieriger. Gibt es vielleicht dort ein geheimes Uranvorkommen?

Hayden und Rance setzen Gerüchte in die Welt und Gundermanns Sekretärin und Geliebte, die wunderschöne Evelyn Stone, tut ihr übriges dazu, um ihrem Chef Sand in die Augen zu streuen, da dieser sein Versprechen, sie zu ehelichen, augenscheinlich nicht zu halten pflegt und sie nun auf Rache aus ist. Alles scheint perfekt zu laufen, jedes Rädchen in das andere zu greifen, bis Hayden einen entscheidenden Fehler macht – er beginnt eine Affäre mit Eveyln und tut damit genau das, was ein Profi eben in so einer Situation besser nicht tun sollte … er vermischt das Geschäft mit der Liebe.

Falsches Herz“ beinhaltet alles, was ein guter Krimi-“Noir“ haben sollte. Gewiefte, aber glücklose Gangster, ein hilfloses Opfer sowie eine Femme Fatale, welche mit ihren verführerischen Fähigkeiten ordentlich Chaos verursacht und aus einem Routine-Betrug ein ganz heißes Eisen macht. Insofern zeigt bereits das Cover deutlich, was einen hier erwartet. Und der geneigte Block-Leser, weiß ohnehin was auf ihn zukommt, bleibt doch der Autor eigentlich immer seinem Erfolgsschema treu. Er lässt sich Zeit, um den bis ins Detail ausgeklügelten Betrug zu inszenieren, gönnt uns einen Blick in den zwar komplizierten, aber besonders in seiner Vorbereitung äußerst spannungsarmen kriminellen Coup, der bereits zu Beginn so seine Fehlerchen durchschimmern und wenig Gutes erwarten lässt. Haydens Traum vom eigenen Hotel steht im harten Kontrast zur Wirklichkeit. Ein echter Profi könnte sich derartiges nicht erlauben. Hayden ist alt geworden, schwach, anfällig. Seine sich selbst eingeredete Läuterung hat im Angesicht des langvermissten Kicks bei einem Betrug keinerlei Bestand mehr. Die Aussicht, jemanden nach Strich und Faden auszunehmen, lässt ihn alle Vorsicht über Bord werfen. Und die Schönheit von Evelyn Stone bringt ihn letztlich komplett vom Kurs ab. Wer das „Noir“-Genre kennt, weiß das so etwas nicht lange gut gehen kann.

Überhaupt liegt auf „Falsches Herz“, nicht nur aufgrund der ruhigen Schilderungen des Autors, dieser Hauch von Tragik und Melancholie. Das Buch liest sich wie der Abgesang eines zwar ausgeschlafenen, aber auch zu naiven Gauners, der seinen Zenit überschritten hat und der sein Feld für die viel gewissenlosere nächste Generation räumen muss. So gekonnt und detailliert wie Block das Betrugsunternehmen aufzieht, so sicher ist man sich auch, dass es scheitern muss. Und um es scheitern zu sehen, liest man weiter. Blocks Sprache ist dabei zwar ohne Höhepunkte, aber in ihrer Glanzlosigkeit auch irgendwie mitreißend. Die Handlungsorte werden sparsam bis überhaupt nicht beschrieben, auf die Darstellung der äußeren Umgebung kein Wert gelegt. Allein die hier benutzten Kommunikationsformen lassen erahnen, dass man sich in den 60ern befindet. Abgesehen davon könnte das Buch auch erst kürzlich auf dem Büchermarkt aufgeschlagen sein. Mit dem einzigen Haken, das in der Zeit von Handys, Fax und Notebooks dieser Coup wohl gar nicht mehr durchführbar wäre.

Das tut dem Lesevergnügen allerdings auch keinen Abbruch. „Falsches Herz“ sagt mit wenigen Worten zwar nicht alles, aber das nötigste. In Zeiten von ausschweifenden Persönlichkeitsanalysen und Forensik-Bla-Bla ist diese kühle, knappe Schreibe eine herzerfrischende Abwechslung. Und trotz dem wenig originellen und streckenweise offensichtlichen Aufbau der Geschichte, muss sich der Leser um die Spannung keine Sorgen machen. Das Seitenblättern geschieht automatisch, der Sog stellt sich sofort ein. Und Block gelingt es einmal mehr, gewieft mit unseren Erwartungen zu spielen und dank genialen Timings uns letztlich doch die ein oder andere Überraschung zu kredenzen.

Falsches Herz“ ist eine äußerst lesenswerte (leider bereits wieder vergriffene) Neuauflage aus der Hochzeit des pulpigen Noir, die zwar nicht ganz das Niveau des ersten Block-Bands dieser Reihe („Abzocker“) erreicht, aber dennoch jedem Freund von gut geplotteten Gaunergeschichten nur ans Herz gelegt werden kann. Ein Oldtimer, der kaum Staub angesetzt hat und uns auf weitere Werke der „Hard Case Crime“-Reihe, insbesondere von Block, freuen lässt.

Wertung: 85 von 100 Treffern

einschuss2
  • Autor: Lawrence Block
  • Titel: Falsches Herz
  • Originaltitel: The Girl With the Long Green Heart
  • Übersetzer: Andreas C. Knigge
  • Verlag: Rotbuch
  • Erschienen: 02/2009
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 224 Seiten
  • ISBN: 978-3867890687

Der Steppenwolf und die Fliegen

© Kampa

Nach dem sogleich mit einem Edgar Award ausgezeichneten Debütroman „Schwarzes Echo“ ließ Autor Michael Connelly schon direkt ein Jahr später den zweiten Band aus der Reihe um den unbequemen Detective Hieronymus „Harry“ Bosch folgen und griff dabei einmal mehr auf seine reichhaltigen Erfahrungen aus der Zeit als Polizeireporter für die Los Angeles Times zurück.

Ende der 1980er konnte er sich aus erster Hand überzeugen, wie vor allem neuartige Drogen zum rapiden Verfall ganzer Gesellschaftsschichten und Stadtviertel beitrugen – und auch die Kriminalitätsrate in schwindelerregende Höhen katapultierten. Als besonders gefürchtet galt „Ice“, ein äußerst reine Form vom Methamphetaminhydrochlorid, welche, ursprünglich aus Asien stammend, vor allem in Hawaii schnell Fuß fassen und von dort schließlich auch nach Kalifornien gelangen konnte. Im vorliegenden Roman greift Connelly diese Thematik nun auf, erfindet mit „Black Ice“ eine Variante, die jedoch aus Mexiko ihren Weg in die USA findet und nutzt den Namen auch zeitgleich (und passenderweise) als Titel. Doch wie bereits schon im Vorgänger, so ist auch in „Schwarzes Eis“ Drogenhandel nur ein Element eines vielschichtigen Plots, welcher für Bosch seinen Anfang am ersten Weihnachtstag nimmt:

Bosch sitzt gerade beim Essen und beobachtet ein fernes Buschfeuer am Rand der nächtlichen Lichter von Los Angeles, als über den Polizeifunk eine Meldung eingeht und Personal zu einem Tatort in Hollywood beordert wird. Er ist irritiert, sich nicht unter den angeforderten Personen zu befinden, hat er doch eigentlich für diese Nacht Einsatzbereitschaft. Irgendjemandem scheint sehr daran gelegen zu sein, dass er bei diesem neuesten Fall außen vor bleibt. Ein zusätzlicher Anreiz für den sturköpfigen Cop, der sich nach einem kurzen Anruf bei der Dienststelle die Adresse besorgt und direkt im Anschluss auf den Weg Richtung Sunset Boulevard macht. Das Ziel ist das heruntergekommene Hideaway Hotel. Eine alte, abgewrackte Anlage voller dreckigen Absteigen – und Fundort von Calexico „Cal“ Moores Leiche, einem Drogenfahnder und Kollegen, der Bosch noch vor kurzem bei seinen Ermittlungen im Mordfall Jimmy Kapps – einem Drogenkurier, verantwortlich für den Transport der Modedroge „Black Ice“ von Hawaii nach L.A. – unterstützt hatte. Dass nun auch Moore tot ist, weckt Boschs Argwohn, zumal als Todesursache Selbstmord angegeben wird.

Bevor er sich selbst ein Bild davon machen kann, wird er jedoch von Assistant Chief Irvin Irving aufgehalten, mit dem Bosch in der Vergangenheit, erstmals im Zusammenhang mit dem „Dollmaker“-Fall (siehe Beginn von „Schwarzes Echo“), heftig aneinandergeraten ist. Irving hat die Untersuchungen offiziell an sich gerissen und gibt deutlich zu verstehen, dass die Anwesenheit des bekannten Quertreibers aus der Abteilung Hollywood unerwünscht ist. Doch Bosch lässt nicht locker, verschafft sich dennoch Zutritt und erkennt recht schnell, dass etwas an dem vermeintlichen Suizid mittels Schrotflinte nicht ganz zu passen scheint. Und überhaupt – warum ist auch die Dienstaufsicht direkt am Tatort erschienen?

Boschs Jagdtrieb ist geweckt und wird noch stärker, als immer mehr Instanzen der Behörde alles daran setzen, ihn von diesem Fall fernzuhalten. Wieso will man das Ganze so schnell zu den Akten legen? Was kann Moore entdeckt haben, dass eventuell seinen Mord rechtfertigt? Und was haben sterilisierte Fruchtfliegen damit zu tun? Bosch geht jeder möglichen Spur nach, muss aber dann doch von der Fährte ablassen, als ihn sein Vorgesetzter Lieutenant Harvey Pounds mit den liegengebliebenen Akten eines vom Dienst beurlaubten Kollegen betreut, um die bescheidene Aufklärungsquote der Abteilung etwas aufzuhübschen. Nur widerwillig nimmt sich Bosch dieser kalten Spuren an, bis ihn eine davon plötzlich zu Cal Moore und nach Mexiko, genauer gesagt in die Grenzstadt Mexicali führt. Genau gegenüber, auf amerikanischer Seite, liegt auch Calexico, die Stadt welche Moore seinen Namen gab. Ein Zufall zu viel für Moore, der langsam ahnt, dass der Großteil des „Black Ice“ inzwischen nicht mehr aus Hawaii kommt. Unter fadenscheinigen und vorgeschobenen Gründen macht er sich auf eigene Faust auf den Weg nach Mexiko – nicht ahnend, dass bereits jeder seiner Schritte von den Männern des Drogenbosses Zorillo, genannt „Der Papst“, mit Argusaugen verfolgt wird …

Was auf den ersten Blick vielleicht noch wie ein ziemlich geradliniger roten Faden aussieht, erweist sich schon bereits nach wenigen Seiten als ein abermals äußerst komplexes Geflecht vieler kleinerer Handlungsstränge, welche gerade zu Beginn höchste Aufmerksamkeit und ein gutes Namensgedächtnis seitens des Lesers voraussetzen. Es wird auch in „Schwarzes Eis“ deutlich – Michael Connelly macht wenig bis keine Zugeständnisse an eine bessere Zugänglichkeit, sondern erzählt seine Geschichte haargenau so, wie er es für richtig hält. Und das ihn dabei besonders die großen Namen des „Noir“ wie Raymond Chandler und Dashiell Hammett maßgeblich inspiriert und beeinflusst haben, will und kann er gar nicht verhehlen. Allein sein Hauptprotagonist ist – mit dem Unterschied, dass er eben (noch) nicht als Privatdetektiv arbeitet – ein Spiegelbild des klassischen Private-Eye der 30er und 40er Jahre, dem das Protokoll und Hierarchien nichts bedeuten, und der gegen jeglichen Widerstand seinen eigenen Willen durchzusetzen vermag – und damit auch immer wieder durchkommt. Ist das realistisch? Wohl kaum. Auch wenn jede Polizeistelle der Welt wohl gerne eine solch hartnäckige Spürnase wie Harry Bosch in seinen Reihen hätte – für das zerschlagene „Porzellan“ dieses mitunter brachialen „Elefanten“ würde wohl kaum ein Vorgesetzter seinen Kopf hinhalten.

Und doch speist sich gerade aus dieser Figur und Michael Connellys unnachahmlichen Gespür für die Inszenierung seiner Schauplätze die Faszination dieser inzwischen so langlebigen Reihe. Harry Bosch, nicht selten ein Arschloch wie es eben nur im Buche steht, ist genau wegen seiner aufmüpfigen Art und den unkonventionellen Methoden der perfekte Sympathieträger für den Leser, zumal er in einem Umfeld wirken darf, dass – dank Connellys eigener Erfahrungen – so lebensecht wie nur möglich herüberkommt. Von Bosch abgesehen zeichnet der Autor ein äußerst realistisches Bild des Polizeiapparats von L.A., der unter Druck der Öffentlichkeit, vorgegebener Quoten und machtgieriger Karrieristen nicht nur immer wieder äußerst unbeweglich, sondern auch für äußere Einflussnahme unheimlich anfällig ist. Zwar gehören die Zeiten der ganz großen Korruption der Justizbehörden in den frühen 90ern inzwischen lange der Vergangenheit an – die Strukturen selbst haben sich mitunter aber kaum geändert. Und so ist es auch kein Wunder, dass der unbestechliche Einzelgänger Bosch schon fast ein Dauerabonnement auf das berufliche Abstellgleis hat und oft gänzlich allein gegen alle kämpft.

In Folge dessen ist auch jeder berufliche Kontakt für Bosch vor allem eins – ein nützliches Mittel zum Zweck, das ihm letztlich dazu dient, der Gerechtigkeit, und wenn schon nicht ihr, dann wenigstens der Wahrheit zum Sieg zu verhelfen. Das muss in „Schwarzes Eis“ auch Teresa Corazon erfahren, die als Stellvertretende Chefgerichtsmedizinerin vom L.A. County vom nächsten beruflichen Schritt in ihrer Karriere träumt. Bosch, mit dem sie eine Affäre hat, nutzt ihre Position rücksichtslos aus, um die Vertuschung rund um Moores Ableben an die Öffentlichkeit zu bringen und damit erst weitere Ermittlungen möglich zu machen. Connelly gelingt es dabei jedoch meisterhaft, die menschliche Seite seines Hauptprotagonisten nie außen vor zu lassen. Bosch ist bar jeder Künstlichkeit, hat nicht viel gemein mit den überzeichneten Rächergestalten, die heute den Thriller vielfach bevölkern – nein, sein Benehmen, seine ganze Persönlichkeit ist Resultat eines längeren Prozesses, der in frühen Jahren seinen Anfang genommen hat. Wie wir in „Schwarzes Eis“ erfahren, wuchs er ohne Vater auf und wurde schon in jungen Jahren aus der Obhut seiner Mutter, einer Prostituierten, geholt und in einer einem Jugendheim ähnelnden Wohnanlage, der McLaren Youth Hall, untergebracht, wo man Kinder sowohl vernachlässigt als auch systematisch misshandelt hat.

Seinen eigenen, unehelichen Vater, J. Michael Haller, lernte Harry Bosch erst in späteren Jahren an dessen Sterbebett kennen. Eine für ihn traumatische Begegnung, in der Autor Michael Connelly übrigens äußerst geschickt seine große Liebe für Hermann Hesse, insbesondere für sein Werk „Steppenwolf“ verarbeitet, dessen Hauptfigur Harry Haller sich eben aus jenen beiden Namen zusammensetzt. Für Interessierte sei erwähnt, dass an dieser Stelle auch erstmalig Michael „Mickey“ Haller, Boschs Halbbruder erwähnt wird, der zwölf Jahre später in seinem ersten eigenen (und auch verfilmten) Roman „Der Mandant“ nachhaltig Eindruck hinterlassen und anschließend dann ein fester Bestandteil des Connelly-Kanons wird. Doch bis dahin warten noch einige Bosch-Bände auf den Leser, der sich sicherlich auf jeden einzelnen freuen darf – denn auch wenn „Schwarzes Eis“ nicht ganz das hohe Niveau des großartigen Auftakts erreicht, kann das Buch doch auf vielerlei Ebenen überzeugen.

Harry Boschs zweiter Auftritt ist ein durchweg spannender Mischling aus Police-Procedural und Noir, der besonders nochmal im letzten Drittel zwischen Stierkampfarenen und verlassenen mexikanischen Herrenhäusern mit einer atmosphärischen Dichte aufwartet, die Connellys großen Vorbildern in nichts nachsteht. Wenngleich die Handlung vielleicht den ein oder anderen Haken zu viel schlägt, wandelt man unheimlich gern in den Fußspuren dieses einsamen Wolfs, der inzwischen – auch dank der erfolgreichen TV-Serienumsetzung – aus dem Olymp der Kriminalliteratur nicht mehr wegzudenken ist. Wer sich also immer noch fragt, ob ein Griff zu den frühen Bänden der Serie lohnt, dem gibt „Schwarzes Eis“ eine deutliche Antwort. Definitiv, ja.

Wertung: 86 von 100 Treffern

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  • Autor: Michael Connelly
  • Titel: Schwarzes Eis
  • Originaltitel: The Black Ice
  • Übersetzer: Norbert Puszkar
  • Verlag: Kampa
  • Erschienen: 08.2021
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 464 Seiten
  • ISBN: 978-3311155126

No Big Easy

© Rowohlt

Zuletzt hat der US-amerikanische Autor Nathaniel Rich (nicht nur) hierzulande vor allem durch sein aufrüttelndes Werk „Losing Earth“ auf sich aufmerksam gemacht, das uns schonungslos die Kette von falschen Entscheidungen vor Augen hält, welche letztlich das unumkehrbar gemacht haben, was wir inzwischen tagtäglich weltweit als Klimawandel erleben bzw. teilweise schon bitter am eigenen Leib erfahren müssen.

Sein nur ein Jahr zuvor veröffentlichter Roman „King Zeno“ konnte dieses mediale Scheinwerferlicht jedoch nicht für sich beanspruchen, lief weitestgehend unter dem Radar und hat – trotz durchaus positiver Resonanz im Feuilleton – wenig nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Dass dennoch meine Wahl nun aber genau auf diesen Titel fiel, hat vor allem mit meinem grundsätzlichen Interesse an der Stadt New Orleans und deren Geschichte zu tun, das – einst geweckt durch James Lee Burke – inzwischen schon zu einer gewissen Faszination angewachsen ist. Wenn dann noch ein realer Kriminalfall dazu gemengt wird – auch Ray Celestin hatte sich zuletzt literarisch des (nie gefassten) Axtmörders angenommen – stehen die Chancen für eine atmosphärische Reise in die historischen Straßen von „The Big Easy“ ja eigentlich nicht schlecht. Doch macht Rich auch etwas aus dieser Ausgangskonstellation?

Bevor an dieser Stelle kurz die Handlung angerissen wird, sei aber noch darauf hingewiesen, dass es sich nicht, wie in mancher Rezensionen behauptet, um einen Kriminalroman im klassischen Sinne oder gar einen reinen Vertreter des „Noir“ handelt – entsprechend also diejenigen unter den Lesern vorgewarnt sind, die hier einen intensiven Spannungsbogen erwarten oder auf jeder zweiten Seite eine überraschende Wendung voraussetzen. Richs größte Stärke (und auch Schwäche, doch dazu später mehr) ist vielmehr sein enorm facettenreicher und opulenter Ansatz, der sich nicht nur in mehreren Handlungssträngen, sondern auch in der Vielzahl der tragenden Charaktere widerspiegelt, deren Schicksale sich im New Orleans von 1918 überschneiden.

Mit der großen Gelassenheit, welche die Stadt namensgebend verkörpern will, ist es im Mai 1918 nicht weit her. New Orleans befindet sich im Aufruhr, denn ein mysteriöser Unbekannter, von der Presse aufgrund des Modus Operandi als „Axtmörder“ bezeichnet, verbreitet Angst und Schrecken in der Bevölkerung. Seine Opfer sind anfangs vor allem italienischstämmige Geschäftsleute und Händler, weswegen die Polizei Schutzgeldpressung als Motiv und den Täter im Umkreis der hiesigen Mafia vermutet. Unter den Beamten befindet sich auch Bill Bastrop, ein traumatisierter Kriegsheimkehrer, der sich nicht nur mit seinen Erlebnissen an der Westfront, sondern auch mit dem Alltagsrassismus seiner Kollegen herumplagen muss. Als einer von ihnen bei einer Verfolgungsjagd durch einen Schwarzen ums Leben kommt, hat diese Tat auch Auswirkungen auf den titelgebenden Protagonisten Isadore Zeno. Isadore, tagsüber als Arbeiter beim Bau des Industrial Canal beschäftigt, der den Lake Pontchartrain mit dem Mississippi verbinden soll, und nachts als Kleinkrimineller unterwegs, um seine Liebe zum Jass (der bald Jazz heißen soll) zu finanzieren, wird Zeuge des Polizistenmordes und fürchtet nun den Verrat durch seinen im Gefängnis sitzenden Kumpanen Bailey.

Gleichzeitig träumt Beatrice Vizzini, Matriarchin eines sizilianischen Mafia-Clans, von einem weiter wachsenden Machteinfluss auf die Stadt, den sie durch ihre Beteiligung beim Kanalbau zu erreichen hofft. Neben den ständigen Arbeitsunfällen auf der gefährlichen Baustelle macht ihr vor allem der eigene Sohn zunehmend Sorgen. Zwar hat er sich aufgrund seiner Brutalität bereits einen gefürchteten Namen gemacht, verliert aber mehr und mehr die Kontrolle und scheint auch vor (nicht beauftragten) Morden Halt zu machen. Vizzini fürchtet ungebetene Aufmerksamkeit und als eine Leiche im Schlamm des Kanals gefunden wird, soll sich ihre Besorgnis als begründet erweisen. Derweil kann sich Isadore mit gelegentlichen Auftritten nach und nach einen Namen in der Jazz-Szene machen, was vor allem seinem Talent am Kornett zu verdanken ist. Doch bevor dieser neue Musikstil, der schon in New Orleans als gescheitert galt, die Stadt und seine Bewohner infizieren kann, kommt ihm ein Virus zuvor. Die letzten Heimkehrer aus dem Ersten Weltkrieg haben die Spanische Grippe mit in die Heimat gebracht – und plötzlich droht neben dem Axtmörder noch eine weit tödlichere Gefahr …

Alle Schulen, staatlich, privat oder kirchlich sind geschlossen. Alle Kinos und Theater geschlossen. Alle Kirchen geschlossen. Alle öffentlichen Zusammenkünfte, Konzerte und Sportveranstaltungen abgesagt. Menschenansammlungen auf Straßen sind verboten.

Nein, hier hat sich kein Ausschnitt vom Spiegel aus der Anfangszeit der aktuellen Corona-Pandemie in den Text verirrt, sondern es handelt sich tatsächlich um eine von mehreren originalen Zeitungsmeldungen, welche Rich immer wieder geschickt in seinem Text platziert, um die Authentizität seines Romans zu unterstreichen. Und auch wenn obiges Zitat aus dem Oktober 1918 stammt, so ist es schon unheimlich, wie sehr es sich eins zu eins auf die Jetztzeit anwenden lässt – wohlgemerkt seitens des Autors eher ungewollt, denn „King Zeno“ entstand bereits 2018 und damit lange vor den ersten Schrecknissen durch Covid-19. Andererseits stehen diese Parallelen auch sinnbildlich für die uralte (und augenscheinlich ewig geltende) Wahrheit, dass wir Menschen aus der Geschichte lernen, dass wir eben nichts aus ihr lernen. Auch im New Orleans der Jahre 1918 und 1919 hat dieser staatlich verordnete Lockdown seine Auswirkungen auf die Gesellschaft, kämpfen die Krankenhäuser mit einer nicht enden wollenden Flut an Infizierten. Obwohl New Orleans sich weit liberaler als die meisten Nachbarstädte des Südens zeigt, so kocht unter dem Druck der Ereignisse auch hier Stimmung schnell hoch – und die Suche nach den Schuldigen führt in den meisten Fällen in die Reihen der schwarzen Bevölkerung.

Verkörpert wird deren ohnmächtige Wut in „King Zeno“ in erster Linie durch Isadore, dem die Quarantäneverordnungen genauso schwer zu schaffen machen, wie die allgemeine Ablehnung schwarzer Musik. Zwar zeigen sich auch mehr und mehr Weiße für den Jazz aufgeschlossen, aber auch diese geben sich ihre Leidenschaft entweder nur in den eigenen vier Wänden oder exklusiven Clubs hin. Genau an diesen Orten versucht Isadore nachträglich Eindruck zu hinterlassen, um sich endlich einen Namen zu machen und sich finanziell abzusichern. Ein Kampf gegen viele Widerstände, gefördert und gestützt von einem ungerechten System, dem auch Bill Bastrop angehört, in dessen Zeichnung Nathaniel Rich ebenfalls viel Zeit investiert. Er ist auch vielleicht die tragischste Figur des Romans, hängt ihm doch eine folgenschwere Fehlentscheidung an der Kriegsfront immer noch nach und wie ein Schatten über seinen Handlungen. Seine introvertierte, ablehnende Art und die kühle Vorgehensweise während seiner Ermittlungen sind deutlich erkennbare Anleihen des Noirs der 30er Jahre, werden mitunter aber zu dominant skizziert, um glaubwürdig zu überzeugen. Und damit kommen wir auch zum großen Knackpunkt des Romans:

King Zeno“ will schlichtweg zu viel, leidet an seinem epischen Grundgerüst, wodurch das erzählerische „Gebäude“ am Ende keinerlei einheitliche Form erhält und ein roter Faden als Fundament nicht erkennbar bleibt. Richs Ansinnen, New Orleans in all seinen Facetten zum Leben zu erwecken, darf atmosphärisch als mehr als gelungen bezeichnet werden, sorgt im Umkehrschluss aber auch dafür, dass sich der Plot immer wieder selbst ausbremst, ja, quasi erstarrt, wodurch sich ein richtiger Lesefluss nie so recht einstellen will. Wann immer wir die Seiten festen greifen – so zum Beispiel meinerseits unter anderem geschehen bei der Schilderung von Isadores, nur durch eine Tür getrennten Begegnung mit dem Axtmörder – lässt Rich das Potenzial dieses Augenblicks brach liegen, in dem er entweder direkt den Schauplatz wechselt oder im nächsten Absatz gleich erst mit einem Abstand von ein paar Monaten innerhalb der Geschichte fortsetzt. Die Gelegenheit, diese räumliche Enge der French Quarter, das knisternde Momentum, diesen einen entscheidenden Augenblick einfach laufen zu lassen – sie verstreicht und wird oft ersetzt durch eine Unmenge von detaillierten Beschreibungen, die zwar das Milieu akkurater, aber dann auch nicht immer zwingend lebendiger erscheinen lassen.

Sperrig ist wohl das Adjektiv, mit dem man die Lektüre treffend zusammenfassen könnte, was mittendrin immer wieder ärgert, da „King Zeno“ gleichzeitig auch soviel richtig macht und man quasi zwischen den Zeilen spürt, welchen großen Wurf Nathaniel Rich hier landen wollte. Und dass er dazu in der Lage ist, steht außer Frage, denn trotz dem unbeweglichen Duktus bleiben doch viele Passagen nachhaltig in Erinnerung, gelingt es dem Autor gelegentlich mit seiner augenzwinkernden Schreibe, die spiegelnden Flächen seiner Erzählung sichtbar zu machen. Bestes Beispiel dafür ist eben jener Bau des Industrial Canal, durch dessen Fertigstellung man sich damals einen größeren strategischen Vorteil als wichtiger Hafen der USA erhoffte. Wie die meisten Leser heute wissen, ist es aber genau dessen Verlauf direkt vom Golf von Mexiko Richtung New Orleans, der 2005 die Überflutung der Stadt in Folge des Hurrikan „Katrina“ entscheidend begünstigte. Viele Menschen verloren dabei ihr Leben oder zumindest jegliches Hab und Gut. Ein Fingerzeig, ganz im Stil von „Losing Earth“, mit dem uns Nathaniel Rich elegant und dennoch unmissverständlich auf die direkten Folgen der Ausbeutung unserer natürlichen Ressourcen hinweist.

So bleibt am Schluss für mich paradoxerweise ein Buch, das sich streckenweise nur schlecht genießen lässt und dennoch gut in Erinnerung bleibt, weil es gerade historisch interessierte (und vor allem Jazz-begeisterte) Leser äußerst glaubwürdig in die Vergangenheit dieser so einmaligen Metropole der USA katapultiert, wenn sie willens sind, bei der durchgehenden Spannung und einer klaren Linie in der Erzählung qualitative Abstriche zu machen.

Wertung: 79 von 100 Treffern

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  • Autor: Nathaniel Rich
  • Titel: King Zeno
  • Originaltitel: King Zeno
  • Übersetzer: Henning Ahrens
  • Verlag: Rowohlt
  • Erschienen: 10.2020
  • Einband: Hardcover
  • Seiten: 448 Seiten
  • ISBN: 978-3737100915