Krieg der Lügen

© Kampa

Es gibt sie immer noch – diejenigen, welche als Grenzschützer die vermeintlichen Übergänge zwischen den Genres überwachen, peinlich genau darauf achten, dass sich das sogenannte Triviale nicht mit der Hochliteratur vermischt, bloß keine Brücken zwischen Niveau und Unterhaltung geschlagen werden.

Sie merken nicht, dass sie die Entwicklungen der letzten Jahre, ja Jahrzehnte vollkommen verschlafen haben, wir nicht mehr länger in diesen Kategorien urteilen und Maß nehmen können, da sich das einstmals Ausschließende inzwischen längst vereinigt hat – vorangetrieben von Autoren, die diese willkürlich gesetzten roten Linien einfach nicht als solche wahrgenommen oder mittels der künstlerischen Freiheit überwunden haben. Und während es einige Schriftsteller gab, wie zum Beispiel Graham Greene, wo dies bereits zu früheren Zeiten akzeptiert worden ist, muss sich der ein oder andere heute weiterhin zu diesem Eiertanz zwischen klassischer Belletristik und Spannungsroman auffordern lassen. Zu ihnen gehört auch William Boyd, dessen Roman „Ruhelos“ man vor einigen Jahren in den Buchhandlungen in verschiedenen Abteilungen finden, leider aber sich in keiner davon augenscheinlich einen dauerhaften Platz erobern konnte.

Das ist weiterhin bedauernswert, zumal gerade „Ruhelos“ bei der damaligen Veröffentlichung hierzulande größere Aufmerksamkeit bekommen hat, welche einen Durchbruch in Deutschland erhoffen ließ. Boyd aber bleibt bis heute, unverständlicherweise, ein Geheimtipp. Und während das Lebenswerk des kürzlichen verstorbenen John Le Carré allenthalben gefeiert und nochmal ins Scheinwerferlicht gerückt wird, muss daher wohl die kriminelle Gasse für den schottischen Autor, der aktuell wieder beim tollen Kampa-Verlag neu aufgelegt wird, Schützenhilfe leisten. Mit Freuden wohlgemerkt, denn Boyd ist hier ein Spionageroman klassischer Schule gelungen, der sowohl sprachlich als auch in seinem Aufbau zu überzeugen weiß und dem Leser nebenbei noch eine Geschichte kredenzt, die gleich mehrere Ebenen aufweist – und sich mitunter äußerst beklemmend liest.

Ihren Anfang nimmt sie im England des Jahres 1976, genauer gesagt im beschaulichen Oxford. Die Bevölkerung der Universitätsstadt leidet unter einem ungewöhnlich heißen Sommer. Unter ihnen auch die allein erziehende Sprachlehrerin Ruth Gilmartin mit ihrem Sohn Jochen, welche sich nicht nur aufgrund der Hitze zunehmend Sorgen um die Gesundheit ihrer alten Mutter Sally macht. Diese sitzt nach einem Hausunfall mittlerweile im Rollstuhl und sucht in letzter Zeit vermehrt und äußerst nervös den angrenzenden Waldrand mit dem Fernglas ab. Ihr Haus verlässt sie selbst kaum noch, Telefonanrufe nimmt sie nur nach einen vorher vereinbarten Klingelzeichen ab. Was Ruth anfangs für den Beginn von Altersdemenz hält, hat jedoch viel tiefer gehende Gründe. Und eines Tages kommt seitens Sally zu einer überraschenden Eröffnung: In Wirklichkeit heißt sie nicht Sally sondern Eva Delektorskaja und war früher für viele Jahre als Spionin für den britischen Geheimdienst tätig. Und genau deswegen, bangt sie nun um ihr Leben …

Was klingt wie mit ziemlich heißer Nadel gestrickt und anfangs noch vielleicht den oder anderen Zweifel aufgrund der Ausgangskonstellation beim Leser erweckt, entfaltet zwischen denn Buchdeckeln aber tatsächlich nach wenigen Seiten (wie so oft bei Boyd) eine schon fast unheimliche Sogwirkung, verlieren wir uns in den zeitgeschichtlichen Ereignissen, die vom Autor in zwei Handlungsstränge aufgeteilt werden, deren Auswirkungen wiederum bis in das Heute spürbar sind. Der Hauptstrang führt uns zurück in das Jahr 1939, genauer nach Paris, wo die russische Emigrantin Eva nach dem Tod ihres Bruders durch die Nazis, von dem mysteriösen Lucas Romer für den britischen Geheimdienst angeworben wird. Es folgt eine intensive Ausbildung in Schottland mit anschließenden Einsätzen in Belgien, England und vor allem in den USA. Das Ziel der geheimen Unterabteilung des British Secret Service: Falschmeldungen zu lancieren, welche die Vereinigten Staaten von Amerika zum Eintritt in den Krieg bewegen sollen. Und dafür ist den Engländern, die ab 1940 die letzte Bastion gegen Hitlers Armeen bilden und sich in einer verzweifelten Lage befinden, beinahe jedes zur Verfügung stehende Mittel recht.

Selbst wer sich grundsätzlich eher wenig für die militärhistorischen Konstellationen vor Pearl Harbour interessiert, wird sich dank Boyds zielsicherer, feinfühliger Schreibe, dem sich zuspitzenden Plot und der facettenreichen Figur Eva und ihren Erlebnissen nur schwerlich entziehen können. Der Autor profitiert dabei von seiner Besetzung, denn in einem Milieu der Geheimdienste, wo man mit erfundenen Geschichten, Falschmeldungen und bewusst konstruierten Fährten die Weltgeschichte in die jeweils gewünschte Richtung lenken will, fällt eine Lüge mehr oder weniger nicht auf, verschwimmen die sonst deutlicher getrennten zwischen Fiktion und historischer Realität. Es ist ein heikles Spiel, welches Boyd hier schildert und das vor allem von Taktik geprägt ist, weswegen sich „Ruhelos“, im Kontrast zum Titel, immer wieder Zeit nimmt, um ausführlich zu erzählen, was in Zeiten geradlinig durchkomponierter und mit Action vollgestopfter Thriller schnell auf Ungeduld stoßen dürfte. Gerade an die Geduld möchte ich aber appellieren, sind doch diese behäbigeren Passagen nur das Luftholen, nur der minutiös geplante Aufbau für eine ganze Reihe von Eröffnungen, die mehr als nur eine Überraschung in sich birgen.

Das einzige Manko: Bis dahin müssen wir auch immer wieder in die 70er Jahre zurückwechseln, wo sich die Ich-Erzählerin Ruth nicht nur mit wachsender Faszination durch die schriftlichen Dossiers ihrer Mutter arbeitet, sondern über Umwege auch noch in den Dunstkreis der Baader-Meinhof-Gruppe gerät. Wie und warum, das sei hier nicht näher geschildert, verkommt doch dieser nicht weiter ausgearbeitete Handlungsstrang zu einem Sturm im Wasserglas, nachdem man sich umso mehr auf Evas Erzählungen aus ihrem „ruhelosen“ Leben freut. Gerade das geschilderte Doppel- und Dreifachspiel der Agenten, die gezielten Seitenhiebe auf die Macht der Medien und der psychologische Unterbau samt der finalen Auflösung, sorgen dafür, dass man nicht nur hochklassig und kurzweilig unterhalten wird, sondern am Ende auch der festen Überzeugung ist, einen völlig neuen und anderen Einblick in das Leben dieser Epoche erhalten zu haben.

So ist „Ruhelos“ schließlich eine auf- und anregende Lektüre, die trotz einiger, unübersehbarer Schwächen den wehrlosen Leser in seinen Bann zu Ziehen vermag und nebenbei noch eine Lanze für das zuweilen abschätzig betrachte Genre des Spionage-Thrillers bricht. Ein Katz-und-Maus-Spiel zwischen feindlichen Agenten kann sehr wohl spannend, literarisch und tiefgründig zugleich sein. Dieses Buch beweist es.

Wertung: 92 von 100 Treffern

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  • Autor: William Boyd
  • Titel: Ruhelos
  • Originaltitel: Restless
  • Übersetzer: Chris Hirte
  • Verlag: Kampa
  • Erschienen: 03.2019
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 384 Seiten
  • ISBN: 978-3311100058

Das Vermächtnis von Queensberry House

© Goldmann

USA, kurz vor der Jahrtausendwende. Ian Rankin befindet sich gerade auf einer Lesereise für sein aktuelles Buch „Die Seelen der Toten“, als er in dem Bordmagazin einer Airline auf einen Bericht über Edinburgh stößt. Seine erste Vermutung, in diesem nicht viel Neues erfahren zu können, wird recht schnell widerlegt, denn während er sich in die Lektüre um die Sehenswürdigkeit Queensberry House vertieft, wird er auf eine ihn bis dato unbekannte, mysteriöse Geschichte aufmerksam.

Direkt am unteren Ende der Holyrood Road gelegen, liegt es nicht weit weg von der Residenz der Königin und gegenüber von dem Grundstück, auf dem zu diesem Zeitpunkt gerade das neue Verlagshaus der Zeitung Scotsman gebaut wird. Direkt neben dem Queensberry House soll zudem bald der Sitz des neuen schottischen Parlaments entstehen. Die früher vornehmste Wohngegend in Edinburgh war in den vergangenen Jahren nach und nach verfallen – nur das besagte Haus, in dem einst der Duke of Queensberry residierte, ist übriggeblieben. Er war mitverantwortlich für den Treaty of Union, den Einigungsvertrag, der aus Schottland und England das „Vereinigte Königreich“ machte.

So weit, so bekannt, doch was Rankin zudem erfährt, soll den Grundstein für den nächsten Rebus-Roman legen: Ein Mitglied der herzoglichen Familie hatte eines Nachts einen der Diener getötet, gekocht und verspeist. Den Bürgern Edinburghs erschien dies damals wie ein schlechtes Vorzeichen für die „Hochzeit“ mit England. Der Herzog wurde sogar durch die Straßen der Stadt gejagt. Im Hinblick auf das entstehende Parlament, mit welchem sich die Schotten nach drei Jahrhunderten Londoner Regierung nun ein gewisses Maß an Selbstverwaltung erkämpft hatten, schien dies Rankin eine spannende Ausgangsposition für einen Krimi zu sein, der an der Schwelle zum nächsten Millennium spielt und doch gleichzeitig mit den Nachwehen der britischen Geschichte zu kämpfen hat. Heraus kam „Der kalte Hauch der Nacht“ (engl. „Set in Darkness“).

Edinburgh, Ende der 90er Jahre. Detective Inspector John Rebus steht einmal mehr auf dem beruflichen Abstellgleis. Nach seinen letzten Querschüssen ist selbst beim geduldigen Detective Chief Superintendent Thomas „Farmer“ Watson die Geduldsgrenze überschritten, der den Quälgeist von der Mordkommission in das Polizei-Parlaments-Verbindungskomitee versetzt, welches mit der Koordination der bevorstehenden Autonomie Schottlands betraut wurde und unter der Leitung des jungen Karrieristen Derek Linford steht. So gehört auch Rebus dem Team an, welches die Baustelle des künftigen Parlamentsgebäudes besichtigen soll. Eine lästige und äußerst langatmige Angelegenheit, die jedoch in einer überraschenden Entdeckung endet. Im Queensberry House, das lange Jahre ein Krankenhaus beherbergt hat, wird während der Inspektion eine mumifizierte Leiche hinter einem Wandpanel entdeckt, wo sich einst der Kamin des Hauses befand. Bei der Obduktion stellt sich heraus, dass diese dort wohl bereits seit zwanzig Jahren liegt. Aufgrund des Fundortes wird dieser Vorfall weitestgehend vertraulich behandelt und ein junges Ermittler-Duo – die Inspektoren Grant Hood und Ellen Wylie – mit der Untersuchung beauftragt.

Doch schon bald mehren sich die schlechten Vorzeichen rund um das neue Parlament. Nur kurze Zeit später wird Roddy Grieve, Kandidat der Scottish Labour Party in eben jenem neuen Parlament, auf derselben Baustelle brutal ermordet aufgefunden. Nun schlagen die Wellen in der Öffentlichkeit hoch und Inspektor Derek Linford sieht seine Chance gekommen, im Rampenlicht der Presse zu glänzen, wobei ihm ausgerechnet John Rebus helfen soll. Der denkt erst gar nicht daran und stellt stattdessen seine eigenen Nachforschungen an, die ihn sehr schnell in den Kreis von Grieves Familie führen. Währenddessen hat Siobhan Clarke ihrerseits einen vertrackten Fall zu lösen. Ein Obdachloser hat sich von der North Bridge gestürzt. An sich nichts Ungewöhnliches in dieser Stadt mit vielen Selbstmorden, doch der Tote gibt allerlei Rätsel auf. So finden sich auf dessen 400.000 Pfund. Eingezahlt im Jahr 1979 und seitdem weitestgehend unberührt geblieben. Siobhans Interesse ist geweckt und schon bald kreuzen sich ihre Ermittlungen mit denen von John Rebus. Gibt es gar einen Zusammenhang zwischen ihren beiden Fällen? Rebus, der nicht nur Linfords Geduld zunehmend auf die Probe stellt, braucht Ergebnisse und zapft schließlich seine Kontakte in der Edinburgher Unterwelt an, wo eine böse Überraschung auf ihn wartet:

Morris Gerald „Big Ger“ Cafferty, einst Kopf der Unterwelt von Edinburgh und von Rebus nach langem Ringen hinter Gittern gebracht, ist wieder auf freiem Fuß. Vorzeitig aus der Haft entlassen, weil er angeblich an einer unheilbaren Krankheit leidet, sinnt er nun auf Rache … oder hat er gar ganz andere Pläne?

An „Der kalte Hauch der Nacht“ werden sich, nicht nur bei Fans der Reihe, sicherlich die Geister scheiden, denn Ian Rankin, der bis dato ohnehin nie für eine temporeiche Art des Erzählens bekannt war, lässt sich im vorliegenden Roman immens viel Zeit beim Aufbau seiner Handlung und der Ausarbeitung seiner Charaktere. Zu viel Zeit, wird sicher mancher konstatieren und damit nicht ganz unrecht haben, zumindest wenn man dieses Buch mit seinen Vorgängern vergleicht. Doch wer genau hinschaut, der kann hier auch einen gewissen Entwicklungsschritt, eine Evolution in der Herangehensweise von Rankin erkennen. So ist John Rebus diesmal nicht mehr allein das tragende Element des Plots, sondern teilt sich die Bühne mit Siobhan Clarke und Derek Linford, deren eigene Nachforschungen über längere Zeit ohne den bärbeißigen Schnüffler auskommen müssen. Das mag dem ein oder anderen missfallen, machte aber zum damaligen Zeitpunkt durchaus Sinn, da Rankins Hauptprotagonist inzwischen stramm auf die Mitte 50 zuging und damit das Rentenalter näher rückte (Wie wir inzwischen wissen, wurde diese Altersobergrenze später nochmal erhöht und hat Rebus, den Rankin ja in realer Zeit altern lässt, nochmal ein bisschen mehr Zeit im Dienst verschafft).

Dennoch sind die Kollegen bei der Polizei alles andere als Lückenfüller. Insbesondere Siobhan Clarke hat sich über die vergangenen Bücher hinweg zu einer äußerst interessanten Figur entwickelt, die laut Rankins Worten ihm nicht nur wesentlich ähnlicher ist als der anarchisch veranlagte Maverick Rebus, sondern auch weit offener für Veränderungen bzw. Neuerungen ist. John Rebus tut sich dagegen mit den Umwälzungen schwer. Das neue schottische Parlament beäugt er mit großer Skepsis, wie überhaupt sämtliche Autonomiebestrebungen der Schotten. Wie erfahren, dass er sich schon bei den ersten politischen Bewegungen in diese Richtung Ende der 70er bei der Wahl enthalten hat. Diese fast schon manische Angst vor einem Wandel des Gegenwärtigen erntet sogar den Spott durch „Big Ger“ Cafferty, der dem „Strohmann“ vorwirft, in der Vergangenheit zu leben. Für den Autor selbst ist diese charakterliche Eigenschaft aber ein vortrefflicher Wetzstein, an dem er seine Hauptfigur immer wieder schärfen kann, wenn sich dieser alle naselang mit den Größen aus Politik, Wirtschaft, Justiz und sogar der Unterwelt anlegt. Bestes Beispiel ist in diesem Fall ein Telefonat mit dem früheren Unterweltboss Edinburghs Bryce Callan, der inzwischen im sonnigen Spanien seinen Lebensabend verbringt und in allerbester Rebus‘ Manier bis hin zur Mordlust getrieben wird.

Doch so interessant das politische Geplänkel der Partei oder die skandalösen Familiengeheimnisse der Familie Grieve am Ende sind – den größten Reiz bezieht auch „Der kalte Hauch der Nacht“ wieder durch das Katz-und-Maus-Spiel zwischen John Rebus und seiner ewigen Nemesis Cafferty. Der überraschende Auftritt des Letzteren ist nur ein Gänsehautmoment von vielen in diesem Roman, der wieder mal Zeugnis davon gibt, welchen Gefallen der Autor Ian Rankin inzwischen an dem diabolischen Gegenspieler gefunden hat. Und natürlich gibt es auch noch einen weiteren Protagonisten, der erneut auf ganzer Linie zu überzeugen weiß: Die Stadt Edinburgh. Wer schon einmal die Canongate entlangspaziert ist, wird bestätigen können, wie lebendig Rankin dieses Viertel zum Leben erweckt, wenngleich sich natürlich seit dem Baubeginn des Parlaments bis heute auch einiges verändert hat. Und auch Rosslyn Chapel, die auch Dan Brown ein paare Jahre später für seinen Thriller „Sakrileg“ verwurstet hat, spielt eine kleine, wenn auch am Ende eher unwichtige Nebenrolle.

Authentizität ist inzwischen zu einem Markenzeichen von Rankins Romanen geworden, der selbst auf kleinste Details acht gibt und John Rebus neben seinem Stammlokal der Oxford Bar (hier treten einige reale Stammgäste auf) nun u.a. auch im ebenfalls realen Swany’s ein und ausgehen lässt. Hierzu gibt es übrigens eine äußerst witzige Hintergrundgeschichte: Rankin war nach zehnjähriger Abwesenheit nach Edinburgh zurückgekehrt, wo ihn ein Buchhändler schließlich ins Swany’s einführte. Beim ersten Besuch setzte er sich dabei mit ein paar von dessen Kumpels zusammen, darunter auch einem Gentleman namens Joe Rebus. Wie sich herausstellte, waren er und seine Angehörigen die einzigen Rebusse in ganz Schottland. Und um dem Ganzen noch die Krone aufzusetzen, wohnte dieser Joe sogar noch im Rankin Drive. Ein äußerst komischer, ja, beinahe schon unheimlicher Zufall, den Rankin natürlich im Buch verarbeiten musste.

Nein, letztlich sind solche Zutaten natürlich nicht wesentlich für den Spaß an einer Lektüre. In Kombination mit der aber einmal mehr äußerst komplexen, intelligenten und interessanterweise auch wieder in Schottland erschreckend aktuellen Thematik der Handlung, sorgen sie aber dafür, dass man als Leser peu à peu – und ohne große Gegenwehr – in dieses Gewirr aus Korruption, Missbrauch und Gewalt hineingezogen wird, zumal Rankin spätestens im letzten Drittel des Romans den Spannungsbogen mit viel Raffinesse in luftige Höhen katapultiert. Mehr noch: Das düstere und Gänsehaut erzeugende Finale gehört zu den absoluten Highlights der ganzen Serie und legt äußerst intensiv Zeugnis vom Können dieses Ausnahmeautors ab, der uns zwar in „Der kalte Hauch der Nacht“ ein gewisses Maß an Geduld und Aufmerksamkeit abverlangt, dafür aber auch nachhaltig zu beeindrucken weiß.

Wertung: 92 von 100 Treffern

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  • Autor: Ian Rankin
  • Titel: Der kalte Hauch der Nacht
  • Originaltitel: Set in Darkness
  • Übersetzer: Christian Quatmann
  • Verlag: Goldmann
  • Erschienen: 10.2002
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 544 Seiten
  • ISBN: 978-3442453870

Geschichten aus der Finsternis

© Ullstein

Ein Abend am Lagerfeuer. Ein düsterer Wald. Ein Kreis aus nebeneinander sitzenden Freunden, welche der undurchdringlichen Dunkelheit den Rücken zukehren. Ein wirklich stimmungsvolles Bild, aber auch eins, das in Zeiten von Computerspielorgien und Facebook-Partys Seltenheitswert besitzt und an dem sich wohl nur noch Nostalgiker oder verklärte Romantiker erfreuen können. Zum Glück aber gehöre ich dieser aussterbenden Gattung an, der noch ein Fünkchen Fantasie geblieben ist und die eine gut erzählte Horrorgeschichte vor entsprechender Kulisse zu schätzen weiß. Wenn man dann gleich 15 dieses Kalibers in die Finger bekommt – umso besser.

Folgende sind in diesem Sammelband enthalten:

  • Der Krebscowboy reitet
  • Mr. Pettingers Dämon
  • Der Erlkönig
  • Die neue Tochter
  • Das Ritual der Knochen
  • Der Heizungskeller
  • Die Hexen von Underbury
  • Der Affe auf dem Tintenfass
  • Treibsand
  • Manche Kinder laufen aus Versehen weg
  • Dunkles Grün
  • Miss Froom, Vampirin
  • Nocturne
  • Die Wakefordschlucht
  • Das spiegelnde Auge

Nocturnes“ von John Connolly reiht sich, nachhaltig beeindruckend, in die Liste meiner Horrorfavoriten ein und nimmt damit Platz neben Genre-Größen wie Algernon Blackwood, Edgar Allan Poe oder Stephen King. Die Befürchtung, der irische Autor könne seine Wortgewalt nur über größere Distanz zur Geltung bringen, erweist sich bereits mit der ersten Geschichte aus dieser Anthologie als unbegründet.

Der „Krebs-Cowboy“ ist nicht nur einer der widerlichsten Bösewichte seit langem, sondern auch derart bizarr und furchterregend, dass man sich unwillkürlich selbst nach Geschwüren abtastet und sich am Körper Gänsehaut breitmacht. Krebs als durch Berührung übertragbare Krankheit? Ein schrecklicher Gedanke und gerade wohl deswegen so beängstigend für den Leser, dem der fiktive Horror plötzlich sehr real vorkommt. Sicherlich, Connollys Stil erinnert hier (oder z.B. auch in den Geschichten „Treibsand“ oder „Manche Kinder laufen aus Versehen weg“) stark an Altmeister King, ahmt diesen vielleicht sogar stellenweise nach – Connollys eigener Ton, sein Hang zur Mystik, wird dadurch aber nicht verwässert. Im Gegenteil: Eindrücklich stellt er hier sein Können unter Beweis, seine Fähigkeit, mit den Besten des Genres auf Augenhöhe zu konkurrieren. Und dabei zeigt er sich zudem als äußerst vielseitig und wortgewandt.

Brutalen, blutigen Horror findet man hier ebenso vor wie klassische Gothic-Geschichten, bei dem auch Freunde des viktorianischen Zeitalters und des altmodischen Grusels voll auf ihre Kosten kommen. In „Die Hexen von Underbury“ vergisst man beinahe glatt, dass hier ein moderner Schreiberling am Werk gewesen ist, derart „very british“ wirkt diese stimmungsvolle Erzählung, die immer wieder augenzwinkernd Bezug auf Meisterdetektiv Holmes und seinen Freund Dr. Watson nimmt. Und wenn der Ermittler, wie in den Sümpfen Dartmoors, im dichten Nebel zwischen Büschen Bewegungen ausmacht, ihn unsichtbare Finger tastend im Nacken berühren, packt man die Seiten unwillkürlich fester. Connolly dosiert in richtigem Maße, setzt jeden Satz an die richtige Stelle und nimmt den Leser mit geschickt geführter Feder gefangen. Selbst Schnellleser dürften sich jetzt dabei ertappen, wie sie das Tempo drosseln, um ja kein Wort zu überlesen bzw. der angespannten Atmosphäre nicht den sehnlichst erwarteten Effekt zu nehmen.

Am Ende gibt es natürlich meist, so verlangt es das Genre, kein Happy-End. Und selbst ein kurzfristiger Triumph wird noch auf den letzten Seiten mit bitterem Geschmack versetzt. Das Gute obsiegt letztlich nie, das Böse lauert in der Finsternis nur auf eine zweite Chance, um zuzuschlagen. Sei es in der tiefen Erde eines Grabhügels oder am Grunde eines nachtschwarzen Sees.

Hätte Connolly es bei 14 Geschichten belassen, „Nocturnes“ wäre schon ohne Frage ein sicherer, wärmstens empfohlener Tipp für Horror-Freunde geworden. Mit der 15. Erzählung erwartet den Leser dann aber noch ein besonderer Leckerbissen. In „Das spiegelnde Auge“ (eigentlich schon eine Novelle, die zeitlich zwischen „Die weiße Straße“ und „Der brennende Engel“ spielt) feiern wir ein Wiedersehen mit Charlie „Bird“ Parker, der dem Geheimnis eines alten Hauses nachgeht, das einst als Unterschlupf für die blutigen Praktiken eines gnadenlosen Kindesentführers gedient hat. Der Birdman, dem natürlich auch diesmal Louis und Angel zur Seite stehen, stolpert im Fall Grady dabei über einen Gegenspieler, der in den folgenden Parker-Romanen noch von größerer Bedeutung sein wird und der bezüglich seiner boshaften Ausstrahlung, den Vergleich mit Caleb Kyle oder Mr. Pudd nicht zu scheuen braucht.

Nocturnes“ ist, trotz der ein oder anderen schwächeren Story, eine lesenswerte, äußerst vielseitige Anthologie, in dem der Horror uns so mühelos gefangen nimmt, wie ihn Connolly scheinbar auf Papier gebracht hat. Klasse übersetzt, sprachlich wirklich stark, atmosphärisch allererste Kajüte – was mehr kann ein Freund dieses Genres verlangen? Eine antiquarische Suche lohnt in jedem Fall.

Wertung: 90 von 100 Treffern

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  • Autor: John Connolly
  • Titel: Nocturnes
  • Originaltitel: Nocturnes
  • Übersetzer: Charlotte Breuer, Norbert Möllemann
  • Verlag: Ullstein
  • Erschienen: 01.2007
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 416 Seiten
  • ISBN: 978-3548264127

Die Geister der Vergangenheit

© Goldmann

Der schottische Autor Ian Rankin und die Stadt Edinburgh, sie sind inzwischen untrennbar in unserer Wahrnehmung miteinander verbunden, gibt es doch kaum eine andere britische Krimi-Reihe, welche ihrem Schauplatz derart viel Platz innerhalb der Handlung einräumt. Ja, man könnte fast behaupten, diesen zum eigentlichen Hauptprotagonisten auserkoren hat, der selbst nochmal um einige Facetten reicher ist als der schon so detailliert gezeichnete Serienheld Detective Inspector John Rebus. Seine Ermittlungen, sie leben in großem Maße von dieser speziellen Atmosphäre und von Rankins grandiosen Gespür für den Puls der Stadt.

Umso mehr verwundert es rückblickend, dass zum Zeitpunkt der Veröffentlichung, vom Auftakt „Verborgene Muster“ einmal abgesehen, „Die Seelen der Toten“ erst der zweite Rebus-Roman war, der vollständig in Edinburgh konzipiert und geschrieben wurde. So entstanden alle übrigen Bände während seines vierjährigen Aufenthalts in London sowie in den sechs Jahren danach, in denen der Autor mit seiner Familie in Frankreich lebte. Seine Rückkehr war, wie er selbst gesteht, mit einigen Ängsten verbunden. Insbesondere die Befürchtung, sein fiktional entworfenes Bild könnte dem tatsächlichen Zustand der Stadt nicht entsprechen, trieb ihm bei der Ausarbeitung des vorliegenden Buches um. Was wenn Vorstellung und Wirklichkeit nicht miteinander in Einklang zu bringen wären? Wenn das Edinburgh seiner Erinnerung dem Ist-Zustand nicht entspräche?

Nach der Lektüre von „Die Seelen der Toten“ wird wohl ein jeder bestätigen können, dass diese Befürchtungen gänzlich unbegründet waren. Ganz im Gegenteil: Der Roman atmet Milieu und Lokalkolorit aus jeder Pore, was für mich persönlich das Lesevergnügen noch einmal gesteigert hat, durfte ich doch Edinburgh in den vergangenen Jahren bereits dreimal einen Besuch abstatten – und mich deshalb von der Detailtreue und Bodenständigkeit in Rankins Skizzierungen diesmal selbst überzeugen. Natürlich mit Abstrichen, ist doch der zehnte Rebus-Fall bereits vor dem Millennium erschienen und damit zu einem Zeitpunkt, in dem gerade das Gebiet zwischen Holyrood Road und Canongate noch ein komplett anderes Erscheinungsbild hatte. Das Scottish Parlament Buildung befand sich damals noch im Bau und die heruntergekommene Hochhaussiedlung Dumbiedykes, von Rankin hier (wahrscheinlich aus Rücksichtnahme) Greenfield genannt, ist mittlerweile ein beliebter Wohnort für Studenten bzw. wird zunehmend auch für die Vermietung an Touristen genutzt. Ende der 90er jedoch war dieses Gebiet am Fuße des Arthur’s Seat ein sozialer Brennpunkt. Und genau an dieser Stelle nimmt „Die Seelen der Toten“ seinen Anfang.

DI John Rebus wird von den Geistern der Vergangenheit geplagt. Der Tod seines Freundes Jack Morton (nachzulesen in „Die Sünden der Väter“) hält ihn des Nachts wach und tagsüber leidet er unter seiner Hilflosigkeit im Umgang mit seiner Tochter, die seit einem Autounfall gelähmt im Rollstuhl sitzt und hart daran arbeitet, wieder in ihr altes Leben zurückzufinden. Ein Leben, das Rebus selbst immer mehr entgleitet und er langsam beginnt in Frage zu stellen. Immer öfter kreisen Selbstmordgedanken in seinem Kopf, bis ihn ironischerweise der Suizid eines Polizei-Kollegen aus der Lethargie herausreißt.

Jim Margolies hatte sich offensichtlich des Nachts von den Salisbury Crags gestürzt – ein Motiv dafür ist weit und breit nicht in Sicht. Nur Rebus hat eine Vermutung und glaubt mit der Rückkehr des verurteilten Kinderschänders Darren Rough nach Edinburgh den Grund zu kennen. Rough, der in einem großen Prozess um langjährige Kindesmisshandlung in einem Heim aussagen soll, war einst von Margolies vor seiner Verurteilung hart angegangen worden. Rebus, die feine Grenze zwischen Gerechtigkeit und Rache für den verstorbenen Margolies übertretend, spielt die Anwesenheit Roughs im Viertel Greenfield der Presse zu. In dem stadtbekannten sozialen Brennpunkt kommt es daraufhin zu wütenden Protesten. Bürgerwehren werden gebildet und die angeheizte Atmosphäre droht in eine gewalttätige Hexenjagd umzuschlagen. Rebus versucht seinen Fehler zu korrigieren, muss aber auch an anderer Front kämpfen.

Seine ehemalige Schulfreundin Janice und ihr Mann bitten ihn um Hilfe bei der Suche nach ihrem Sohn. Der 19jährige ist nach einem Trip nach Edinburgh spurlos verschwunden. Seine Begleitung, eine geheimnisvolle blonde Schönheit, scheint der einzige Anhaltspunkt. Rebus‘ Nachforschungen führen ihn nicht nur ins Rotlichtviertel und das Nachtleben der Stadt, sondern auch zurück in die ehemalige Minenarbeiterstadt Cardenden in Fife, wo er einst aufwuchs. Seine Reise in die eigene Vergangenheit öffnet alte Wunden und auf ihr lastet zudem ein Schatten. Der Mörder Cary Oakes, in Edinburgh aufgewachsen, wurde in den Vereinigten Staaten aus dem Gefängnis entlassen. Unter der Bedingung das Land zu verlassen. Oakes kehrt nun nach Schottland zurück. Chief Superintendent „Farmer“ Watson und Rebus sehen das Unheil kommen und beschließen ihn durchgehend zu beschatten, um ihm den Aufenthalt so unangenehm wie möglich zu machen. Doch sie haben Oakes unterschätzt. Während er den Journalisten Jim Stevens mit angeblich exklusiven Informationen für eine Artikelreihe in der Zeitung füttert, nutzt er gleichzeitig jede freie Minute, um sein gefährliches Spiel mit der Polizei zu treiben. In seinem Visier vor allem: John Rebus. Als ihm nahestehende Menschen in Oakes‘ Visier geraten, ist einmal mehr dessen verbissene Kämpfernatur gefordert …

Vorab: Es wurden und werden ja immer wieder mal Vergleiche zwischen Ian Rankin und Henning Mankell gezogen, gerade in den ersten Jahren des Schotten auf dem deutschen Buchmarkt mit der vorgeblichen Ähnlichkeit geworben. Für mich war und ist das stets eine Gegenüberstellung, welche gewaltig hinkt und wenig gerechtfertigt ist. Wenn jedoch ein Buch der Reihe unbedingt mit dem schwedischen Autor in Verbindung gebracht werden muss, eignet sich wohl das vorliegende dazu am Besten, denn in keinem der zuvor neun Bände wird John Rebus seelisch so an seine Grenzen gebracht, hat er mit so viel Düsternis um ihn herum zu kämpfen. Ein Kampf, den er trotz der Beziehung zu seiner Freundin Patience zunehmend allein austrägt – mit einen Glas Whisky als einzigem Begleiter. Rankin beschreibt diese dunklen Stunden der Einsamkeit, welche Rebus im Sessel seiner spärlich möblierten Wohnung in der Arden Street verbringt, mit einer bitterschwarzen Schärfe, die wehtut. Selbst sein Beruf, jahrelange Triebfeder, scheint angesichts der Schicksale von Jack Morton oder Jim Margolies keinerlei Reiz mehr auszuüben. Stattdessen erinnert ihn der frei umher spazierende Pädophile Darren Rough nur an die Vergeblichkeit seines Tuns. An den Irrglauben, dass Gesetz und Gerechtigkeit jemals ein und dasselbe waren.

Wie Margolies, so steht auch Rebus im übertragenen Sinne am Rande einer Klippe. Nicht bereit zu springen, aber bereit alles dafür zu tun, damit ihn jemand hinunterstößt. Was in diesem Falle dazu führt, dass er Rough der Öffentlichkeit zum Fraß vorwirft, ungeachtet der absehbaren Konsequenzen. Doch die beruflichen Erfolge der Vergangenheit sorgen ironischerweise dafür, dass er weiterhin Rückendeckung erhält. Chief Superintendent „Farmer“ Watson hält allen Unkenrufen zum Trotz an John Rebus fest, erkennt aber auch den Konflikt in dem er sich befindet und versteht, was es braucht, um ihn aus dem finsteren Tal seiner Gedanken herauszuholen. Eine Herausforderung. Und als diese stellt sich Cary Oakes tatsächlich heraus, der Rebus nicht nur an seine Grenzen bringt, sondern letztlich auch aus der Lethargie reißt. Bis es dazu kommt, braucht es aber viele Seiten, denn wie schon im Vorgänger, so jongliert Ian Rankin auch hier gleich mit mehreren Handlungssträngen, welche sich nur nach und nach miteinander vernetzen und überschneiden, was „Die Seelen der Toten“ zu alles andere als einem Page Turner macht.

Und genau das ist auch gut so, denn der Roman lebt von der Zeit, die er sich für Figuren und Hintergründe nimmt. Von all den Verflechtungen und Leichen im Keller, über die Rebus nicht durch irgendwelche Zufälle stolpert, sondern die letztendlich dann tatsächlich Resultate echter polizeilicher Ermittlungen sind. Eine simpel klingende Aufgabe, an der sich aber viele Schreiberlinge heutiger „Krimis“ und „Thriller“ in schöner Regelmäßigkeit gehörig verheben. Oder sich ihrer erst gar nicht annehmen. Ob wir uns im tristen Greenfield, in einem nebligen Hochmoor oder in den vom Fortschritt irgendwie vergessenen Siedlungen Cardendens befinden – als Leser erfährt und erlebt man das alles durch Rebus‘ Sinne, was wiederum dessen Erlebnisse umso eindringlicher macht. Gerade der Aufenthalt im Herz von Fife bleibt in Erinnerung und wühlt auf, was insofern wenig verwunderlich ist, da dies auch für Rankin den Weg zurück nach Hause darstellt. „Die Seelen der Toten“ ist wohl dessen persönlichste Auseinandersetzung mit der eigenen Heimat. So schreibt er im von Random House zur Verfügung gestellten Vorwort:

Wenn Rebus‘ Schulflamme Janice sich mit ihm in Erinnerungen ergeht, dann sind es meine Erinnerungen und Anekdoten. Wir erfahren auch mehr über Rebus‘ Kindheit. Unter anderem, dass er in einem Fertighaus auf die Welt kam (wie ich), seine Familie aber bald in ein älteres Reihenhaus in einer Sackgasse umzog (wie meine). Wir erfahren, dass er, wie ich, einen Pub namens Goth (kurz für Gothenburg) frequentierte und dass sein Vater einen Seidenschal aus dem Zweiten Weltkrieg mitgebracht hatte (wie meiner). Diese autobiographischen Elemente spiegeln sich auch in den Namen wider, die ich Rebus‘ Schulfreunden gegeben habe: Brian und Janice Mee. Sie sind Mee/me, also „ich“, oder zumindest ein Teil von mir, wie viele andere meiner Geschöpfe. Am unmittelbarsten natürlich Rebus.

Ian Rankin hat viel Herz in dieses Buch gesteckt. Und das spürt man, merkt man, in jeder Zeile. Es liegt ein gewichtiger Ernst, eine schottische Ehrlichkeit in seinen Worten, welche uns schlicht vergessen lässt, dass es sich hierbei um einen Kriminalroman handelt. Rankin hat das enge Korsett dieser Genrebezeichnung aufgeschnürt und endgültig hinter sich gelassen, verwendet es inzwischen lediglich als Vehikel, um über eben die Themen zu schreiben, zu denen gerade ein ermittelnder Polizeibeamter den besten Zugang hat. Wer also vor der Lektüre der festen Ansicht ist, dass es über Pädophilie keine zwei Meinungen geben kann, wird diese im Anschluss wahrscheinlich nicht ändern, in seiner Standfestigkeit aber sicher erschüttert, da es diesem begnadeten Autor einmal mehr gelingt, das Schwarz-Weiß-Denken aufzuweichen und genau in die Grauzonen hineinzublicken, derer man sich auch aus Bequemlichkeit nur zu gern entzieht. Was ist Recht, was ist Unrecht? Wo beginnt es? Wo platzieren wir Schuld? Können wir ohne Gedanken an die Konsequenzen im Sinne unseres Gewissens handeln? Rankin hat sich der Herausforderung gestellt, gerade den stets eine klare Linie verfolgenden Rebus zumindest in einigen Dingen zum Umdenken zu bewegen und der Figur dadurch einige neue Facetten abgewonnen.

Ob es das Duell mit Cary Oakes am Ende überhaupt gebraucht hätte, kann sicherlich diskutiert werden. So sehr ich diejenigen verstehe, die sich über diesen Subplot mokieren, muss ich persönlich sagen, dass ich diesen roten Faden hervorragend innerhalb der Handlung platziert fand. Ja, er war meines Erachtens sogar nötig, um eben die Wandlung anzustoßen, die Rebus hier durchmacht bzw. durchmachen muss, um die mysteriösen Vorgänge rund um Margolies und Rough aufklären zu können. Was er dann am Ende zutage fördert, habe ich so überhaupt nicht vorhergesehen. Ob dies nun ein Beweis für Rankins hervorragendes Plotbuilding oder für meine eigene Naivität ist, mag jeder dann selbst für sich entscheiden.

Was bleibt nun am Ende? Kein Buch, das Hochspannung zum Hauptmerkmal deklarieren kann, aber uns eine äußerst komplexe, tiefgehende, erschütternde und aufrüttelnde Geschichte kredenzt, welche erneut vom großen Variantenreichtum ihres Autors kündet und ums um kommende Bände nicht Bange werden lässt. Rankin hat noch einige Pfeiler im Köcher. Wenn er sie weiterhin so sicher ins Ziel bringt wie hier, haben wir Leser mehr als Grund zur Vorfreude.

Wertung: 92 von 100 Treffern

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  • Autor: Ian Rankin
  • Titel: Die Seelen der Toten
  • Originaltitel: Dead Souls
  • Übersetzer: Giovanni Bandini, Ditte Bandini
  • Verlag: Goldmann
  • Erschienen: 04.2006
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 576 Seiten
  • ISBN: 978-3442446100

Journey into Fear

© Atlantik

In vielerlei Fällen übersteigt der Bekanntheitsgrad einer Verfilmung, den der literarischen Vorlage – und hier bildet auch „Von Agenten gejagt“ (Orig. „Journey into Fear“) keinerlei Ausnahme.

1943, mitten während des Zweiten Weltkriegs, kam diese Umsetzung von Eric Amblers gleichnamigem Thriller – der auf den Deutsch den Titel „Die Angst reist mit“ erhielt – in die Kinos und konnte, trotz der vergleichsweise übersichtlichen Spiellänge von gerade mal 68 Minuten, nicht zuletzt auch aufgrund der starken Besetzung sein Publikum überzeugen. So spielt hier unter anderem Orson Welles, der zwei Jahre zuvor mit „Citzen Kane“ von sich Reden machte, eine der tragenden Hauptrollen und teilte sich die Regie mit Norman Forster, welcher wiederum Krimi-Kennern als Regisseur der Charlie-Chan-Streifen ein Begriff sein dürfte. Doch verdient nun auch das Buch denselben Klassiker-Status wie die erste Leinwandversion (1975 erschien eine weitere, kanadische Produktion mit u.a. Donald Pleasance und Ian McShane)?

Diese Frage kann, soviel sei vorab schon mal gesagt, besten Gewissens mit einem kräftigen „Ja“ beantwortet werden, denn einmal mehr gelingt es dem englischen Autor scheinbar mühelos, aus einer vergleichsweise äußerst alltäglichen und unspektakulären Ausgangssituation ein unfassbar spannendes, intelligentes Kammerspiel zu skulptieren, das einen Großteil moderner Spionagekrimis mühelos hinter sich lässt und äußerst gekonnt die Brücke zum klassischen Whodunit schlägt. Gekonnt und wohlgemerkt gewollt, denn die Reminiszenzen an ein paar der ganz großen Vertreter des Golden Age of Crime sind mehr als offensichtlich, was dem Werk allerdings nicht nur ein größeres Publikum eröffnet, sondern auch unterstreicht, wie vielschichtig und vor allem genreübergreifend der Kriminalroman mit dem richtigen Schriftsteller an der Feder sein kann. Der bedient sich beim Aufbau seiner Handlung auch bei sich selbst und präsentiert dem Leser einen Protagonisten, der Ambler-Kennern in seinen Charakteristika vielleicht etwas bekannt sein dürfte.

Frühjahr 1940, Istanbul. Während die Truppen des Dritten Reichs erbarmungslos ihre Macht über das bereits eroberte Polen festigen und hinter den Kulissen die Planungen für die Eroberung der Benelux-Staaten („Fall Gelb“) und von Frankreich („Fall Rot“) laufen, rüsten sich die Alliierten ihrerseits für den erwarteten Angriff. Unter ihnen ist auch die noch relativ junge türkische Republik, die zwar bis zum August 1944 außenpolitisch ihre Neutralität bewahren sollte, der aber dennoch daran gelegen war, militärisch auf Abschreckung zu setzen. Aus diesem Grund reist der englische Ingenieur Graham von der Rüstungsfirma Cator & Bliss (schon bekannt aus Amblers Erstling „Der dunkle Grenzbezirk“ und „Anlass zur Unruhe“) in die Stadt am Bosporus. Er soll die notwendigen Daten sammeln, um die Kriegsschiffe der türkischen Marine mit neuen Geschützen ausstatten zu können und mit diesen Informationen nach England zurückkehren. Ein Routineauftrag für Graham, der vor seiner Abreise noch die Gastfreundschaft der Türken genießt und, von einem mysteriösen Beobachter in einem Nachtclub mal abgesehen, einen schönen letzten Abend in der Metropole verbringt. Doch dieser soll jäh enden.

Als Graham in sein Hotelzimmer zurückkehrt, wird direkt auf ihn geschossen. Er überlebt nur knapp, zeigt sich typisch englisch empört und glaubt in seiner Naivität lediglich einen Einbrecher überrascht zu haben. Doch als sein türkischer Verbindungsmann Kopeikin ihn ins Bild setzt, eröffnet sich ihm die ganze Ernsthaftigkeit der Situation. Der versuchte Raubüberfall war in Wirklichkeit ein fehlgeschlagenes Attentat auf ihn. Oberst Haki vom türkischen Geheimdienst setzt ihn in Kenntnis, dass bereits zuvor ein Anschlag auf ihn vereitelt wurde und die deutschen Agenten mit aller Macht verhindern wollen, dass Graham zeitnah England erreicht und damit die Aufrüstung der Türken vorantreibt. Obwohl sich der schrullige Ingenieur noch weiterhin gegen die ihn so absurde Vorstellung wehrt, Beteiligter in einem Spionage-Katz-und-Maus-Spiel zu sein, muss er dennoch tatenlos zusehen, wie seine Fahrt mit dem Orient-Express verhindert und er stattdessen an Bord eines Dampfschiffs gebracht wird, das ihn über die griechischen und italienischen Häfen bis nach Südfrankreich transportieren soll.

Die kurze Planänderung gelingt und Graham erreicht das Schiff. Er ist in Sicherheit, so scheint es. Oder haben seine Verfolger diesen Schritt vielleicht auch vorausgesehen? Arbeitet gar einer der anderen Passagiere auch für die Deutschen? Für den Engländer beginnt eine „Journey into Fear“ …

Die Angst reist mit“ kann natürlich in gewisser Weise als Verbeugung Eric Amblers vor der großen Agatha Christie verstanden werden, welche im Jahrzehnt zuvor mit Werken wie „Mord im Orient-Express“ (1934) und „Tod auf dem Nil“ (1937) den „Closed-Room-Mystery“-Roman John Dickson Carrs aus dem klassischen englischen Landhaus erfolgreich in einen neuen, beweglichen Schauplatz transportiert hatte. Und so erinnert gerade die Konstellation auf der Fähre stark an diese Vorbilder, zumal sich dem Leser ein ähnlich diverses Ensemble an möglichen Verdächtigen präsentiert. Recht schnell ist klar – irgendjemand an Bord spielt ein falsches Spiel und versucht Graham noch vor dem Erreichen seines Ziels zu töten. Doch bloß wer? Neben Josette, der aufdringlichen und anhänglichen Kabarett-Tänzerin, welche der Ingenieur bereits in Istanbul kennengelernt hatte, sind dies unter anderem ihr reizbarer Geschäftspartner (Zuhälter wäre wohl passender) Josè, der türkische Tabakhändler Kuventli, der vom Kommunismus begeisterte, französische Geschäftsmann Monsieur Mathis und seine Frau sowie der alte, deutsche Archäologe Dr. Fritz Haller samt dessen Gattin.

Insbesondere die Anwesenheit des Letzteren trägt maßgeblich zu der angespannten Stimmung zwischen den Schiffsreisenden bei, die Hallers Mitfahrt inmitten des Krieges als Affront ansehen und dessen Nähe demonstrativ meiden. Sehr zum Missfallen Grahams, der den einzigen freien Platz ausgerechnet am Tisch des Deutschen in Anspruch nehmen muss. Eric Ambler erweist sich hier – einmal mehr – als ausgezeichneter Beobachter und Charakterzeichner, vermenschlicht den kriegerischen Konflikt in Person der unterschiedlichen Figuren, welche, abseits üblicher Nationalitätenklischees, die politischen und gesellschaftlichen Zustände ihrer jeweiligen Heimatländer widerspiegeln. Das hier insbesondere, verkörpert durch Graham selbst, das britische Empire auch nicht ungeschont davon kommt, spricht für das ehrliche Ansinnen des Autors. Für England ist der Krieg, trotz des Überfalls der Deutschen auf Polen und dem damit ersichtlichen Irrtums Chamberlains nach der Konferenz in München, scheinbar immer noch weit weg und eine allenfalls abstrakte Gefahr. Eine geistige Maginot-Linie scheint jeden Gedanken daran abzuwehren, auch die westlichen Länder könnten nun in naher Zukunft ins Visier von Hitlers Expansionsplänen geraten. Und überhaupt, Mord? Ein dreckiges Geschäft und doch nichts für europäische Gentlemen.

Es ist nicht das erste Mal, dass Ambler einen vollkommen naiven, gutgläubigen Menschen mit den Gefahren der politischen Verwerfungen in Mitteleuropa konfrontiert – aber noch nie zuvor hat sich der Autor so viel Zeit genommen, diese Konfrontation mit der Wirklichkeit in der Gefühlslage seines Protagonisten abzubilden. „Die Angst reist mit“ ist ein mehr als passender Titel, denn mit jeder Meile, die das Schiff zwischen sich und Istanbul bringt, passiert genau das Gegenteil von dem, was sich Graham erhofft hat. Anstatt sich sicherer zu fühlen, droht ihn zunehmend die Panik zu überwältigen, beobachtet er die anderen Passagiere mit steigender Skepsis – und eben Angst. Und genau diese überträgt Ambler äußerst geschickt auf den Leser, der sich mit diesem Jedermann und dessen aufsteigender Furcht und den quälenden Gedanken relativ leicht identifizieren kann. Graham ist kein Profi, ist nicht abgeklärt und hat entsprechend auch keinerlei Kontrolle über diese Situation, woraus wiederum der Plot, trotz dem viele Seiten nichts passiert und vor allem die Dialoge zwischen den Passagieren in Mittelpunkt stehen, seine zunehmend beklemmende Suspense bezieht.

Hinzu kommt Amblers feine Feder bei der literarischen Illustration seiner Schauplätze. Ob das lärmende, nie stillstehende Istanbul oder der glutheiße Hafen von Saloniki – hier sind wir erneut mittendrin statt nur dabei, entsteht vor unseren Augen die Mittelmeerregion der 40er Jahre und das damalige Lebensgefühl wieder auf. Und mit ihnen die letzte Ausgelassenheit vor einem weltumspannenden Krieg, der in wenigen Monaten auch die Etappenziele dieser Schiffsreise mit in den Konflikt hineinziehen wird. Wie Ambler diese scheinbare unvermeidbare Abfolge der Ereignisse durch einen Monolog des Monsieur Mathis wieder auf den Punkt bringt – das ist von beklemmender, unbehaglicher Brillanz. Grandios auf welch intelligentem Niveau dieser fantastische Schriftsteller auch in seinem sechsten Roman unterhält, er am Ende nochmal in bester Bond-Manier (Herr Fleming scheint Ambler wohl auch aufmerksam gelesen zu haben) die Handlung verdichtet.

Die Angst reist mit“ gehört vollkommen unbestritten zu den besten Titeln aus dem an herausragenden Romanen nicht armen Lebenswerk Eric Amblers. Ein atmosphärisch unheimlich stimmiger, den blinden Nationalismus erneut entblößender Thriller, der es tatsächlich schafften dürfte, sowohl Freunde von Agatha Christie als auch Anhänger von John Le Carré gleichsam zu begeistern. Ein Spagat, den so wohl nur auch dieser Ausnahmeschriftsteller hinzulegen imstande war. Ich möchte weniger für eine Wiederentdeckung plädieren, als vielmehr dafür, diesen Autor endlich die ihm gebührende Präsenz im Buchhandel einzuräumen, welcher er seit jeher eigentlich verdient.

Nachtrag: Eric Ambler wird inzwischen vom Atlantik-Verlag neu aufgelegt.

Wertung: 92 von 100 Trefferneinschuss2

  • Autor: Eric Ambler
  • Titel: Die Angst reist mit
  • Originaltitel: Journey into Fear
  • Übersetzer: Matthias Fienbork
  • Verlag: Atlantik
  • Erschienen: 07/2017
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 320
  • ISBN: 978-3455651126

The truth is for those who seek it

© Heyne

„Als würden Caleb Carr und Frederick Forsyth aufeinandertreffen.“

So das Zitat von Lee Child, welches dick und fett auf der Rückseite der deutschen Ausgabe von Christopher Hydes „Die Weisheit des Todes“ aus dem Heyne Verlag prangt, um damit – branchenüblich – den bis dato hierzulande eher unbekannten kanadischen Autor einem größeren Publikum schmackhaft zu machen. Doch kann der Roman diesem Vergleich tatsächlich standhalten oder verbirgt sich auch hier hinter, wie so oft, nur der Versuch, ein lahmes literarisches Pferd zumindest zum humpeln zu bringen?

Bereit seit Jahren auf meinem überbordenden SUB dümpelnd, habe ich mir Hydes Werk nun endlich mal zu Gemüte geführt, um genau dieser Frage auf den Grund zu gehen, nur um abschließend mit Begeisterung feststellen zu dürfen – selten haben sich Reklame und Inhalt derart treffend gedeckt, wie bei „Die Weisheit des Todes“. Einem Buch, das sicherlich rückblickend zu meinen größten positiven Überraschungen der letzten Jahre gehören wird.

Da leider auch dieser Titel bereits seit Jahren nicht mehr lieferbar und aufgrund des geringeren Bekanntheitsgrad des Schriftstellers in Deutschland auch in naher Zukunft kaum mit einer Neuauflage zu rechnen ist, wird sich vielleicht manch einer fragen, welchen Sinn aktuell eine ausführliche Besprechung überhaupt macht. Wer allerdings schon länger zu den Besuchern dieses Blogs zählt, der weiß, dass Aktualität für mich kein Qualitätskriterium darstellt und es sich zudem in der Vergangenheit immer mal wieder ausgezahlt hat (Stichwort z.B. James Lee Burke), auch ältere Perlen aus dem Bereich der Kriminalliteratur ins Scheinwerferlicht etwaiger Leser, oder noch wichtiger, möglicher Verlagshäuser zu ziehen. Hyde hätte es mit Sicherheit verdient, denn wie er seine fiktive Handlung mit den realen Geschehnissen rund um das Attentat an John F. Kennedy verwebt – das kann sich wahrlich sehen und vor allem lesen lassen.

Besagte Handlung setzt zwei Tage vor dem Besuch des Präsidenten John F. Kennedy in Dallas an. Wir schreiben den 20. November 1963. Während die ganze texanische Stadt im Ausnahmezustand ist und insbesondere die Polizeikräfte fast gänzlich mit den Vorbereitungen der Sicherheitsmaßnahmen vorbereitet sind – Kennedys Auftritt in Chicago war zuvor bereits aufgrund von Gerüchten über ein mögliches Attentat abgesagt worden – hat Detective Sergeant Horatio „Ray“ Duval vom Dallas Police Department ganz andere Probleme: Zum einen ist da eine grausam verstümmelte männliche Leiche, welche in einem alten Kühlschrank auf der örtlichen Müllhalde gefunden wurde und der man offensichtlich post mortem Arme und Beine hat, nur um sie danach wieder mit Draht am Körper zu befestigen. Zum anderen ist da sein persönlicher Gesundheitszustand. Duval wurde erst kürzlich eine kongestive Herzkrankheit diagnostiziert, welche heute zwar therapierbar ist, Mitte der 60er Jahre aber nicht heilbar war und letztendlich das Todesurteil bedeutete. Er weiß nicht, wie lange er noch zu leben hat. Und zu allem Überfluss steht jetzt in der kommenden Woche auch der Fitnesscheck an. So oder so – Duval bleibt also nicht mehr viel Zeit.

Das Opfer, ein homosexueller (zum damaligen Zeitpunkt war diese sexuelle Ausrichtung noch strafbar) Antiquitätenhändler und Antiquar, der offensichtlich sein Geld vor allem durch illegale Transaktionen und Betrügereien verdiente, hatte nicht nur eine unübersichtliche Liste von Liebhabern, sondern in der Vergangenheit auch schon den ein oder anderen Geschäftspartner über den Tisch gezogen. Könnte es sich also um eine Tat aus Rache handeln? Duvals erste Ermittlungen führen alle in eine Sackgasse. Und überhaupt deuten die Umstände der Tat eher auf einen Ritualmord hin. Als er bei einem Besuch zuhause von seinem Vater erfährt, dass es in den 30er Jahren nahezu identische Fälle im Norden Texas gegeben hat, ist seine Neugier geweckt. Bei den Opfern hier handelte es sich jedoch fast durchgehend um zehn bis zwölfjährige Mädchen. Die meisten von ihnen waren schwarz.

Duval, der inzwischen ziemlich sicher ist, es mit einem Serienmörder zu tun zu haben, macht es nun zu seiner letzten Aufgabe, ihm das Handwerk zu legen. Eine beinahe aussichtslose Mission, sind doch alle vorhandenen Spuren inzwischen seit Jahren kalt. Zudem kann er nicht mit Unterstützung durch seine Behörde rechnen, denn auch im Texas der 60er Jahre interessiert sich niemand wirklich für das Schicksal von ein paar getöteten schwarzen Mädchen. Ganz im Gegenteil: Ein Großteil der Kollegen trägt in der Freizeit immer noch stolz die weiße Kapuze. Während drei Schüsse am Dealey Plaza John F. Kennedys Leben auslöschen und um ihn herum eine ganze Stadt in Aufruhr gerät, treibt Duval unerbittlich seine Nachforschungen voran. Ein Wettlauf mit dem Tod beginnt, im wahrsten Sinne des Wortes …

Ich bin ganz ehrlich: Ohne die Empfehlung meines ehemaligen Krimi-Couch-Kollegen Jürgen Priester wäre wohl dieser Titel schon aus mehreren Gründen nicht in meinem Regal gelandet. Neben dem absolut gruseligen Cover, das wohl eher Freunde von Tom Clancy ansprechen dürfte, sind es eben genau die obige Kurzbeschreibung wie auch der Prolog des Buches, welche vor allem eine Sache erwarten lassen – mehr vom ewig blutigen Gleichen. Ein brutaler Psychopath von Serienmörder, der seine Opfer ritualisiert anordnet und nur als „das Monster“ bezeichnet wird – das klingt nicht wirklich nach höchster, literarischer Krimi-Kunst oder einem Werk, das in irgendeiner Art und Weise das Genre bereichern könnte. Nach der Lektüre von „Die Weisheit des Todes“ bleiben mir jedoch nur zwei Dinge zu sagen: So kann man sich irren. Und gut, dass ich Jürgens Empfehlung gefolgt bin. Christopher Hyde, der seit Jahren unter vielen verschiedenen Namen seine Bücher unter das vor allem US-amerikanische Volk bringt, ist mit diesem lupenreinen Thriller ein Riesenwurf gelungen, der mir nebenbei bemerkt auch gleich aus einer Vielzahl von Gründen noch lange im Gedächtnis bleiben wird.

Zuallererst ist da das Setting zu nennen: Hyde gelingt es hervorragend die Stimmung des Dallas der 60er Jahre einzufangen, seinen Blick über die Stadt schweifen zu lassen, welche, vor allem von der Öl- und Baumwollindustrie geprägt, zu diesem Zeitpunkt auch das drittgrößte Technologiezentrum der Vereinigten Staaten war. Die Bevölkerung hatte sich zwischen den 50er und 60er Jahre mehr als verdoppelt – und mit dem Geld kam naturgemäß vermehrt auch Korruption und die organisierte Kriminalität in die Metropole. In „Die Weisheit des Todes“ vor allem zusammengeführt durch die historische Figur Jack Ruby, Sohn polnisch-jüdischer Einwanderer und Nachtclub- und Stripteaselokalbesitzer, der stets enge Verbindungen zu lokalen Mobstern pflegte und als Mörder des Kennedy-Attentäters Lee Harvey Oswald in die Geschichte gegangen ist.

Er spielt nicht nur eine wesentliche Rolle bei Duvals Ermittlungen, sondern ist auch ein Beispiel fürs Hydes Geschick, das reale Dallas mit der fiktiven Handlung zu verbinden, welche immer wieder die geschichtlichen Ereignisse kreuzt (daher der passende Forsyth-Vergleich) und den Cop u.a. Zeuge werden lässt, wenn man John F. Kennedy, zu diesem Zeitpunkt bereits tot, unter dem Schutz des Secret Service und gemeinsam mit einer völlig verstörten Jackie Kennedy ins Parkland Memorial Hospital einliefert. Nur eine von vielen Szenen, die nachhaltig Eindruck hinterlässt und in seiner plastischen Schilderung beileibe nichts für Zartbesaitete ist.

Hyde sucht diese Schockeffekte aber nicht, sondern macht immer wieder deutlich, dass wir uns im Raum dessen bewegen, was laut Zeugenaussagen von den damaligen Geschehnissen überliefert ist. Allein diese Erkenntnis reicht, um die Wirkung seiner Worte auf uns, den Leser, nochmal zu verstärken. Selbiges gilt übrigens auch für die Mordserie selbst, welche es tatsächlich ebenfalls gegeben hat und die bis heute unaufgeklärt ist. Hier nimmt sich der Autor die künstlerische Freiheit für einen anderen Ausgang, doch bis wir dorthin gelangen, ist es vielleicht für manchen ein langer Weg, denn polizeiliche Untersuchungen müssen in dieser Ära noch ohne den modernen CSI-Schnickschnack auskommen.

So nimmt Hyde sich viel Zeit, um Ray Duval und sein Umfeld zu zeichnen. Zeit, die aber gut investiert ist, denn mir ist schon lange nicht mehr ein so authentischer Ermittler in einem Spannungsroman begegnet. Auch weil es zur Abwechslung mal einen nachvollziehbaren Grund für die zynische Menschenfeindlichkeit des Protagonisten gibt, der sich inmitten seiner rassistischen Kollegen und aufgrund seines unvermeidlichen Schicksals einfach irgendwann einen Scheißdreck dafür interessiert, was andere von ihm denken. Er hat schlicht nichts mehr zu verlieren. Und es ist auch dieser zunehmende Fatalismus, gepaart mit einen zunehmenden inneren Frieden, der ab der Hälfte das Spannungsmoment befeuert – und, soviel sei verraten, in einem klaustrophobischen, düsteren Finale mündet, das sich in seiner gewaltsamen Konsequenz nicht hinter Caleb Carrs „Die Einkreisung“ verstecken muss.

Mit „Die Weisheit des Todes“ hat Christopher Hyde einen nachtschwarzen Hardboiled-Thriller abgeliefert, der dem durchgekauten, faden Serienkiller-Thema endlich wieder ein paar neue Impulse verleiht und nebenbei noch eines der wichtigsten Ereignisse in der US-amerikanischen Geschichte behandelt, ohne sich in simplen Voyeurismus zu verlieren oder dadurch die eigentliche Handlung zu überladen. Ein sprachlich, inhaltlich und auch im Spannungsaufbau hoch zu lobendes Werk, nach dem sich eine antiquarische Suche mal so wirklich lohnt.

Wertung: 92 von 100 Treffern

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  • Autor: Christopher Hyde
  • Titel: Die Weisheit des Todes
  • Originaltitel: Wisdom of the Bones
  • Übersetzer: Helmut Gerstberger
  • Verlag: Heyne
  • Erschienen: 06/2009
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 448 Seiten
  • ISBN: 978-3453431010

Sherlock Holmes kommt zu Fall

© Insel

Wer diesen Blog bereits etwas länger besucht, der weiß um meine besondere Beziehung zu den Werken von Sir Arthur Conan Doyle, insbesondere zu seinen berühmten Sherlock Holmes Geschichten, welche nicht nur meine Entwicklung als Leser, sondern vor allem das Interesse an der Kriminalliteratur in jungen Jahren maßgeblich beeinflusst haben. Insofern bedeutet eine Rezension über einen Titel aus dem Kanon rund um den größten Detektiv der Literaturgeschichte auch immer mehr als gewohnte Pflichterfüllung und wird vielmehr zu einer echten Herzensangelegenheit, ist mir doch sehr daran gelegen, dass bei all den modernen, vornehmlich visuellen Adaptionen des Mannes mit der scharfen Adlernase, die eigentliche Vorlage nicht in Vergessenheit gerät und ihre wohlverdiente Würdigung erfährt.

Nachdem im Jahre 1892 mit „Die Abenteuer des Sherlock Holmes“ die erste Sammlung der zuvor im Strand Magazine abgedruckten Kurzgeschichten veröffentlicht wurde, ließ Doyle bereits ein Jahr später eine weitere mit dem Namen „Die Memoiren des Sherlock Holmes“ folgen, welche, vollkommen zur Recht, unter neutralen Literaturkritikern und beseelten Sherlockians als erster Höhepunkt des Kanons gilt, mit seinem Titel aber auch schon verrät, wie es um die Beziehung zwischen dem Schriftsteller und seiner Figur zu damaligen Zeitpunkt stand. Das Schreiben war längst zu einer Routine verkommen. So hatte der geborene Schotte zwar zu einer gewissen traumwandlerischen Balance gefunden, einem Rezept, das sich beliebig und ohne größere Schwierigkeiten vervielfältigen ließ – der künstlerische Anspruch, er war aber in den Augen des Autors längst nicht mehr gegeben. Doyle befand sich dadurch in einem Zwiespalt, denn einerseits sicherte ihm sein Detektiv ein sicheres Auskommen, ja, sogar einen gewissen Wohlstand – andererseits fühlte er sich aber in einem Hamsterrad gefangen, dass ihn regelmäßig zu neuen Abwandlungen altbekannter Rätsel nötigte, da sein Publikum längst mit einer konkreten, fast ritualhaften Erwartung zu den Geschichten griff.

Der Ausgang dieses persönlichen Dilemmas ist vielfach bekannt: In „Das letzte Problem“ versucht sich Doyle seines ihm damals verhassten Helden zu entledigen. Wie wir heute wissen vergeblich, da Sherlock Holmes – dies sollte inzwischen keinen Spoiler mehr darstellen – den Sturz in den Reichenbach Fällen in der Schweiz überlebt und (vom Roman „Der Hund der Baskervilles“ abgesehen) in „Das leere Haus“ (enthalten in „Die Rückkehr des Sherlock Holmes“) sein überraschendes Comeback feiert. Dennoch ist es bis dato die Tragik dieses vermeintlichen Todes, welche uns nach all der kalten Logik auf einmal tiefer berührt und uns den sonst so unnahbaren, aber auch durch und durch moralischen Detektiv endgültig näher ans Herz wachsen lässt.

Neben „Das letzte Problem“ enthält der Sammelband noch folgende zehn Geschichten:

  • Silberstern
  • Das gelbe Gesicht
  • Der Angestellte des Börsenmaklers
  • Die „Gloria Scott“
  • Das Musgrave-Ritual
  • Die Junker von Reigate
  • Der Verwachsene
  • Der niedergelassene Patient
  • Der griechische Dolmetscher
  • Der Flottenvertrag

Ursprünglich wären es sogar insgesamt 12 Kurzgeschichten gewesen, doch „Die Pappschachtel“ (engl. „The Cardboard Box“) fiel der Selbstzensur durch den Autor zum Opfer, dem das Ehebruch-Thema für eine Veröffentlichung letztlich zu heikel war, allerdings den Beginn der Erzählung, in der Sherlock Holmes einmal mehr seine Genialität unter Beweis stellt, kurzerhand in „Der niedergelassene Patient“ einbaute.

Aber auch ohne diese eine fehlende Episode, weiß „Die Memoiren des Sherlock Holmes“ nachhaltig überzeugen, denn Doyle befindet sich nicht nur auf dem Gipfel seines Könnens – er traut sich auch zu, mit der ein oder anderen Gesetzmäßigkeit des Kanons zu brechen. Bestes Beispiel dafür ist „Gloria Scott“, welche, entgegen der üblichen Gewohnheit, nicht von Dr Watson wiedergegeben wird, sondern direkt von Sherlock Holmes selbst, der hier von seinem allerersten Fall berichtet und dabei, überraschend offen, sogar eigene Fehler eingesteht. Dem Autor ist dabei die Charakterisierung des jungen Holmes am Beginn seiner Karriere gut gelungen, während uns als Leser gleichzeitig endlich ein näherer Einblick in die sonst so mysteriöse Geschichte des großen Detektivs gewährt wird. Und soviel sei gesagt – es soll nicht der letzte in dieser Kurzgeschichtensammlung sein.

Den Anfang in der Riege macht jedoch die Story „Silberstern“ in der Sherlock Holmes und sein getreuer Freund Dr. Watson ins Dartmoor reisen, um ein verschwundenes Rennpferd mit dem titelgebenden Namen zu finden und gleichzeitig den Mord an dessen Trainer John Straker aufzuklären. Arthur Conan Doyle trug damit der Beliebtheit des Pferderennens in seiner Heimat Rechnung, die bis heute ungebrochen ist. Da dabei meist mit horrenden Geldbeträgen gewettet wird, sind Bestechungen und Betrug an der Tagesordnung, Zusätzlich ist die Geschichte aufgrund des Schauplatzes erwähnenswert, kehrt doch Holmes in seinem wohl bekanntestem Abenteuer, „Der Hund der Baskervilles“, noch mal in diese ursprüngliche und stellenweise undurchdringliche Sumpflandschaft Devons zurück, deren unheimliche Atmosphäre sich in beiden Geschichten äußerst schnell auf den Leser überträgt. Wer, wie ich, selbst einmal durch das Dartmoor wandern durfte, weiß zu schätzen, wie plastisch Doyle diese ganz besondere Stimmung des Ortes einfängt.

Eine noch beklemmendere Stimmung erzeugen die beiden Erzählungen „Das gelbe Gesicht“ und „Das Musgrave-Ritual“ – beide eine vortreffliche Hommage an den klassischen Schauerroman bzw. die Gespenstergeschichte, wodurch sie sich perfekt für die Lektüre an einem verregneten, stürmischen Herbsttag eignen. Weit vor John Dickson Carr löst Sherlock Holmes in „Der Verwachsene“ auch einen Mordfall in einem verschlossenen Raum und unterstützt in „Der Flottenvertrag“ die britische Regierung dabei, ein für die europäische Politik brisantes Dokument zurückzubekommen. Für den Holmes-Kanon ist auch „Der griechische Dolmetscher“ von Bedeutung, in der Sir Arthur Conan Doyle mit Mycroft erstmals den Bruder des beratenden Detektiv einführt. Auch wenn dieser zugegebenermaßen etwas überraschend und unglaubwürdig aus der Versenkung auftaucht – seine Präsenz erlaubt doch einen ganz neuen Blick auf die familiäre Seite von Sherlock Holmes. Zwar hätte die Geschichte um den Übersetzer Melas, der im elitären Diogenes Club um die Hilfe des Detektivs bittet, die Figur Mycroft nicht zwingend gebraucht – dennoch ist Doyle mit ihr ein brillanter Wurf gelungen, der bis heute seine Wiederkehr in vielen Pastichés feiert. Völlig zurecht, ist doch das Zusammenspiel (und Konkurrenzgehabe) der intellektuell gleichwertigen Brüder immer äußerst amüsant zu verfolgen.

Dennoch, bei aller Qualität der enthaltenen Geschichten – es wäre ein Sammelband ohne große, herausragende Highlights, hätte Doyle nicht eben jenes, bereits oben erwähnte, Aufsehen erregende Ende gefunden. Das Kräftemessen zwischen dem genialen Meisterdetektiv und dem „Napoleon des Verbrechens“, Professor Moriarty, gehört zweifelsohne zu den großen Momenten der Kriminalliteratur-Geschichte und ist ein Grund für die spätere weltweite Berühmtheit des Autors. Natürlich darf man bemängeln, dass dieser große Gegenspieler vorher nie Erwähnung fand und wie unvermittelt er von Doyle eingeführt wird. Doch es ändert nichts an der Tatsache, dass ich auch nach der x-ten Lektüre wieder schlucken muss, wenn sich der traurige Watson am Rande des tosenden Wasserfalls über Holmes‘ letzte Notiz bückt und voller Schmerz über seinen verlorenen Freund resümiert:

Der beste und weiseste Mensch, den ich je gekannt habe.“

Der Sammelband „Die Memoiren des Sherlock Holmes“ – er gehört zu den ganz großen Werken der Kriminalliteratur, versprüht die Magie eines längst vergessenen Zeitalters stets aufs Neue und sei jedem Freund intellektueller Detektivgeschichten unbedingt ans Herz gelegt. In meiner Sammlung hat dieses Buch – in mehrfacher Ausführung – einen ganz besonderen Ehrenplatz.

Wertung: 92 von 100 Treffern

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  • Autor: Sir Arthur Conan Doyle
  • Titel: Die Memoiren des Sherlock Holmes
  • Originaltitel: Memoirs of Sherlock Holmes
  • Übersetzer: Nikolaus Stingl
  • Verlag: Insel
  • Erschienen: 11/2007
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 356 Seiten
  • ISBN: 978-3458350187

Nachtrag: Ich habe mich bei der Verlinkung des Titels bewusst für die ältere Insel-Ausgabe entschieden, da sie – leider gibt es den Haffmans Verlag ja in dieser Form nicht mehr und die Kein & Aber Ausgabe ist ebenfalls vergriffen – vor allem optisch der äußerst lieblosen Fischer-Version vorzuziehen ist. Ansonsten sollte vor allem bei antiquarischen Stücken darauf geachtet werden, dass es sich um die Übersetzungen von Gisbert Haefs, Hans Wolf etc. handelt. Von gekürzten Ausgaben oder gar solchen, wo Holmes und Watson sich duzen, ist abzuraten.

Back on track

© Ullstein

Nachdem es in den letzten beiden Bänden fast so aussah, als würde John Connolly seine Serie um den Anti-Helden Charlie „Bird“ Parker im Dan-Brownschen-Mystery-Stil mit Vollgas an die Wand fahren, hat er nun kurz vorm Aufprall an eben dieser anscheinend doch nochmal die Kurve bekommen. Und es wirkt ganz so, als wäre es eine 180° Wende, denn mit „Der Kollektor“ ist der irische Autor eindeutig wieder „Back on track“.

Connolly blendet das Übernatürliche weitgehend aus, verzichtet auf mystifizierte Bösewichte wie im Stile z.B. Brightwells und orientiert sich wieder mehr am klassischen Detective-Eye-Novel. Wie schon zu Beginn in „Das schwarze Herz“ oder in „In tiefer Finsternis“ nimmt sich der Ire wieder die Zeit, um die mühsamen Ermittlungen Parkers zu schildern, der diesmal bei einem auf den ersten Blick so simplen Fall in einen Sumpf aus Lügen und Verbrechen gerät, welcher mit jedem Schritt dicker und abgründiger zu werden droht. Mit der Thematik „Kindesmissbrauch“ fasst Connolly hier ein heißes und heikles Eisen an, ohne dabei jedoch, wie so viele seiner Kollegen, ins Pietätlose abzugleiten oder es lediglich als Mittel zum Zweck fungieren zu lassen.

Mit viel Einfühlsamkeit und Bedacht, aber auch gleichzeitig mit schonungsloser Härte, zieht er den Leser in diese düstere Geschichte, die von einer Melancholie durchdrungen ist, welcher man sich nicht zu entziehen vermag. Das liegt nicht zuletzt daran, dass das Böse hier wieder greifbar und nachvollziehbar präsentiert wird. Die finsteren Gegenspieler sind weder dunkle Engel noch seelenlose Killer, sondern unscheinbare Familienmenschen, Wohltäter und gutbetuchte Bürger, deren wohlgestaltete Fassaden lediglich eine Hülle darstellen, die das faulige Innere verbirgt. In ihrer nach außen vorgetragenen „Normalität“ sind sie widerlicher, als es abstoßende Finsterlinge wie Mr. Pudd oder eben bereits oben genannter Brightwell, je sein könnten.

Der Kollektor“ ist der bis hierhin traurigste und hoffnungsloseste Roman der Reihe – auch weil sich Connolly, des schmalen Grats zwischen Unterhaltung für den Leser und Verantwortung gegenüber einem sensiblen Thema bewusst, mit dem sonst so knackigen, tiefschwarzen Humor doch stark zurückhält. Zwar sind erneut Louis und Angel mit von der Partie. Sie stehen jedoch eindeutig im Schatten der von Parker Gejagten, die man teils verabscheut, teils fürchtet und teils sogar achten muss. Besonders mit Frank Merrick ist ihm eine Figur gelungen, die nicht nur als eine weitere Variante eines vom Weg abgekommenen Parkers taugt, sondern auch als verbindendes Glied zwischen Schwarz und Weiß, Gut und Böse zu verstehen ist.

Vom titelgebenden Sammler (engl. Kollektor), der bereits in „Das schwarze Herz“ und in der Parker-Geschichte des Sammelbands „Nocturnes“ einen Kurzauftritt hatte, liest man vergleichsweise wenig. Diese raren Auftritte sind dafür aber umso beeindruckender (Gänsehaut und offener Mund garantiert) und lassen uns für die Zukunft einiges erahnen und erhoffen.

Der Kollektor“ ist wieder ein richtig starker Charlie „Bird“ Parker-Roman, mit dem John Connolly zurück in die Spur findet und sich qualitativ in der Nähe von Lehanes „Gone Baby Gone“ einreiht. Ein vergleichsweise actionarmes, dafür aber umso nachhaltiger wirkendes, unbequemes und berührendes Buch, das mich in Punkto Sprachgewalt nicht selten an die großen Werke Stephen Kings erinnert hat. So kann es, so darf es – nein, so muss es bitte weitergehen.

Wertung: 92 von 100 Treffern

einschuss2
  • Autor: John Connolly
  • Titel: Der Kollektor
  • Originaltitel: The Unquiet
  • Übersetzer: Georg Schmidt
  • Verlag: Ullstein
  • Erschienen: 11.2010
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 480 Seiten
  • ISBN: 978-3548282732

Pulp Fiction, Rediscovered

© Pulp Master

„Totschlag“ prangt in schwarzer Schrift auf dem kleinen, braunen Buch (Beschreibung bezieht sich auf den gebundenen Sondereinband, hier nicht abgebildet), das, vom Hamburger Künstler 4000 dezent illustriert, auf den ersten Blick nicht wirklich Anlass gibt, einen zweiten darauf werfen zu müssen, zumal sich dabei die Einordnung in eine spezifische Literaturgattung auch nicht gerade einfach gestaltet. Und überhaupt – wer ist eigentlich dieser Paul Cain?

Im Anschluss an diese, selbst von vielen Krimikennern nicht zu beantwortenden Frage, wird der interessierte Käufer höchstwahrscheinlich das Werk zur Seite legen, um sich anderen Büchern zuzuwenden oder gar das Antiquariat (der 1994 in der „pulp master“-Reihe des Maas-Verlags erschienene Titel ist bereits seit einiger Zeit vergriffen) zu verlassen. Damit er aber genau dies nicht tut, sehe ich mich geradezu genötigt, eine Besprechung zu schreiben, um nicht nur den Stellenwert von Cains vorliegender Kurzgeschichtensammlung zu betonen, sondern auch gleichzeitig damit einen Autor wieder ins Scheinwerferlicht zu rücken, der gemeinsam mit Größen wie Dashiell Hammett und Raymond Chandler in besonderem Maße für die Entstehung des späteren „Pulp“-Genres verantwortlich zeichnet. Und, um mal die sonstige Zurückhaltung des objektiven Rezensenten über Bord zu werfen, „Totschlag“ als eine der besten Anthologien zu preisen, welche zu Lesen ich das Vergnügen hatte.

Als George Caryl Sims 1902 in Des Moines, Iowa, geboren, war Paul Cains Einfluss auf die Geschichte des Kriminalromans äußerst kurz, aber in Stil und Inhalt nachhaltig und vor allem Weg ebnet und Weg weisend für spätere Vertreter des Genres wie James M. Cain, Mickey Spillane oder Lawrence Block. In einer Zeit als der Lärm des Börsenkrachs die grenzenlose Ausgelassenheit der „Roaring Twenties“ verstummen ließ, auf der Wall Street Spekulanten als letzten Ausweg den Sprung aus dem Fenster nahmen und der Höhepunkt der Prohibition Gangster wie Al Capone zu reichen Männern machte, tauchte Cain in New York auf und lieferte bei Cap Shaw, dem Herausgeber des legendären Pulp-Magazins „Black Mask“, ein paar Stories und einen Roman ab. Sein Timing war mehr als perfekt, denn Hammett und Daly hatten so eben das „Hardboiled“-Genre aus der Taufe gehoben – und Pulps fanden reißenden Absatz. Auf dem Höhepunkt seiner Popularität verkaufte „Black Mask“ mehr als 100.000 Hefte pro Monat.

Wir brauchen Geschichten, in denen Gewalthandlungen direkt und schnörkellos geschildert werden.

So lautet das Konzept von „Black Mask“. Und Cain verstand und lieferte, ohne groß Aufhebens um seine Herkunft zu machen, wenngleich der Ton seiner Geschichten, welche oft von Spielern, Killern, leichten und leichtsinnigen Mädchen handelten und die durchweg kalt und amoralisch geschrieben waren, den Verdacht nahelegten, dass der Autor mit solchen Leuten nicht bloß literarischen Umgang gehabt hatte. „Totschlag“ enthält folgende sieben dieser Geschichten:

  • Taubenblut
  • Eins, zwei, drei
  • Black
  • Rote 71
  • Ausgetrickst
  • Hinrichtung in Blau
  • Bombenstimmung

Wie kaum ein anderer Schriftsteller zuvor begab sich Paul Cain in die schattige Grauzone zwischen Gesetzt und Gangster, ergänzte er die Galerie der schießwütigen Detektive von Hammett und Daly um die Figur des kriminellen Grenzgängers, welcher nicht darauf aus ist, ein bestimmtes Problem zu lösen, sondern vor allem darauf seinen Schnitt, seinen Profit zu machen. Notfalls auch auf Kosten von Menschenleben, wenn es das erfordert, um den eigenen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Zweifelhafte, zwielichtige Helden sind die Helden in „Totschlag“. Kleine Erpresser, die das große Geld wollen. Kleine Banditen, die sich mit mächtigen Gangsterbossen anlegen. Bewohner aus den dunklen Gassen der Städte, der Halb- und Unterwelt. Eine Welt, in der Moral ein Fremdwort und Loyalität eine Hure ist. Ob Black, der in der gleichnamigen Kurzgeschichte zwei Kleinstadtbanden gegeneinander ausspielt oder Doolin („Hinrichtung in Blau“), für den die Gefahr ein Kick ist, für den er sich gerne bezahlen lässt – allesamt können sie als Prototypen des zynischen, amoralischen Einzelgängers verstanden werden, dessen Variation später u.a. auch in Richard Starks Parker seinen Widerhall gefunden hat.

Aber es ist nicht allein die literarische Bedeutung der Motive und Elemente, welche Cain verwendet hat, die „Totschlag“ auch heute noch lesenswert machen – es ist der unverwechselbare, prägende und vor allem zeitlose Stil. Kurz, knapp, kantig, karg. Vollkommen schmucklos sind die Geschichten ausformuliert. Sie erlauben weder einen Blick ins Innere der Figuren, noch scheren sie sich einen Dreck um irgendwelche Details, die die Story am Ende dann sowieso nicht weiterbringen. Hier ist kein Wort zu viel, werden die Punkte wie präzise Fäuste am Ende jedes Satzes versenkt. In keiner Passage hat es den Anschein, als hätte der Autor auch nur im geringsten Zeit verschwendet, um seine Gedanken auf Papier zu bringen. Wie bei einem geübten Mechaniker wurden die Teile methodisch aneinander gesetzt, ein bisschen geölt und verschraubt und letztlich auf dem Band weitergeschickt. Das Ergebnis: Plot, Spannungsbogen, Dialoge – sie alle funktionieren noch genauso tadellos wie am Tag ihrer Entstehung. Es bedarf keinerlei Anstrengung, sich in das Geschehen zu versetzen, noch zerrt uns ein störender geschichtlicher Kontext aus der Handlung. Wie seitdem fast alle Vertreter des „Pulps“ reduziert Cain mit diesen sieben Geschichten eine immer schneller und komplexer gewordene Welt auf ihre Grundkonflikte, macht er das sichtbar, was die Fassade der Zivilisation zu verdecken droht.

Hass, Eifersucht, Gier, Neid, Liebe, Rache, Betrug – es sind diese Ingredienzien, mit denen Cain würzt. Oder wie Chandler in seinem Essay „Die simple Kunst des Mordens“ über Hammett schrieb:

Er „brachte den Mord zu der Sorte von Menschen zurück, die mit wirklichen Gründen morden, nicht nur, um dem Autor eine Leiche zu liefern . . . Er brachte diese Menschen aufs Papier, wie sie waren, und er ließ sie in der Sprache reden und denken, für die ihnen unter solchen Umständen der Schnabel gewachsen war.

Totschlag“ war für mich eine der größten Überraschungen der letzten Jahre und einmal mehr auch ein Beweis für Frank Nowatzkis untrüglichen Riecher in Sachen guter, verschollener oder einfach bisher noch nicht entdeckter Spannungsliteratur. Dickes Lob und Danke für diese Übersetzung, welche mein Interesse am Pulp Master Verlag in einem noch höheren Maße entfacht hat, der im Mai mit der Neuveröffentlichung von „Ansturm auf L. A.“ (bereits bei Ullstein als „Null auf Hundert“ herausgebracht) einen weiteren Titel von Cain nachlegen wird.

Wertung: 92 von 100 Treffern

einschuss2
  • Autor: Paul Cain
  • Titel: Totschlag
  • OriginaltitelSeven Slayers
  • Übersetzer: Thomas Rach
  • Verlag: Pulp Master
  • Erschienen: 01/1995
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 189 Seiten
  • ISBN: 978-3927734210

„He who controls the spice controls the universe.“

© Heyne

Frank Herbert – im Oktober 1920 in Tacoma, Washington geboren – hegte nach eigener Aussage bereits zu seinem achten Geburtstag den Wunsch, Schriftsteller werden zu wollen. Da seine Familie jedoch in Armut lebte, boten sich ihm kaum Perspektiven, diesen Traum in die Wirklichkeit umsetzen zu können. Gelegenheitsjobs als Journalist, Einsätze als Fotograf bei der Marine und ein Seminar für kreatives Schreiben während seines Studiums an der Universität von Washington setzten schließlich den Kurs in die richtige Richtung, bis im Jahr 1965 – nach sechs Jahren Recherche und zwanzig Absagen seitens der Verleger – das erste Buch seines sechsteiligen Romanzyklus „Dune“ das Licht der Welt erblickte.

Es war nicht nur der Beginn einer literarischen Karriere, sondern auch ein Wendepunkt im Genre der Science-Fiction, welche mit „Der Wüstenplanet“ auch über die Grenzen dieser bis dahin eher müde belächelten Literatur-Sparte für Aufsehen sorgte. Mehr noch: Herberts monumentales Epos, dessen erster Band auch gleich der umfangreichste ist, gilt auch ein halbes Jahrhundert nach seiner Veröffentlichung noch als Referenz, an dem sich künftige Generationen messen lassen müssen. Wenn dann noch Vergleiche mit J.R.R. Tolkien bemüht werden, wird selbst jemand hellhörig, der sich – von Lems „Solaris“ mal abgesehen – bis dahin nur wenig und äußerst zögerlich mit Sci-Fi-Literatur beschäftigt hat. Letztendlich hat mir dieses Zögern aber vielleicht auch gut getan, denn so herausragend Herberts Auftakt ist – es bedarf einer Menge Geduld seitens des Lesers, um die Faszination von „Dune“ zu ergründen, denn ein Page-Turner ist das Buch beileibe nicht. Eher im Gegenteil.

Wer also in jungen Jahren beherzt zu „Der Wüstenplanet“ greift, könnte sich alsbald von der Vielschichtigkeit dieses reichhaltigen Werks überfordert sehen und entweder entnervt abbrechen oder eine Fortsetzung erst gar nicht Angriff nehmen. Was wiederum beides ein Fehler wäre, ist doch Herberts Roman ein Musterbeispiel der Devise „Der Weg ist das Ziel“. Von Beginn an zwingt uns der Autor ein gemäßigtes Tempo auf, dass wir auch annehmen sollten, um einfach jeden Aspekt dieses facettenreichen Klassikers in seiner Gänze zu erfassen, der inhaltlich derart viel bietet, dass bereits zwei oder drei überflogene Sätze schon einen unwiederbringlichen Verlust darstellen. Wer das tut, wer sich darauf einlässt und bereit ist, sich gefangen nehmen zu lassen, den erwartet eine unvergleichliche Lektüre, die mit dem ersten Band lediglich die Spitze des Eisbergs – oder sollte ich besser sagen des Sandwurms – erahnen lässt. Kurz zur Handlung:

Wir schreiben das Jahr 10191. Über zwanzig Generationen lang hat das Haus der Atreides über das Lehen Caldan geherrscht. Nun soll Herzog Leto auf Geheiß des Kaisers Arrakis, den Wüstenplanet, übernehmen. Ein Befehl, den jeder Atreides nur allzu gut einschätzen kann, handelt es sich dabei doch um ein abgekartetes Spiel, mit dem politischen Hintergrund, den Einfluss der mächtigen Familie endgültig zu brechen. So bietet die lebensfeindliche Welt seinen Bewohnern auf den ersten Blick nur Sand, Hitze und Tod. Und besonders letzterer ist außerhalb der wenigen Städte allgegenwärtig. Gewaltige Sandstürme, fähig selbst Metall zu zerschneiden und Menschen das Fleisch von den Knochen zu schälen, fegen über die Oberfläche von Arrakis, die nahezu komplett von Wüsten und Dünen bedeckt ist. Unter diesen leben die Shai-Hulud, riesige Sandwürmer, welche Längen von über 400 m erreichen können, und die so ziemlich alles verschlingen, was sich ihnen in den Weg stellt. Einer Legende nach sind sie es sogar, welche den größten Teil des arrakischen Sandes erzeugt haben, weshalb das Volk der „Fremen“, die Ureinwohner des Planeten, sie auch „den alten Mann der Wüste“ nennt.

Während es den Sand im Überfluss gibt, ist Wasser wiederum das (zweit-)kostbarste Gut auf dieser Welt, die nicht eine einzige sichtbare Quelle aufweist, geschweige denn, einen Fluss oder gar einen See. Selbst das vergießen von Tränen gilt als Verschwendung von Körperflüssigkeit, weshalb die Fremen auch einen Weg gefunden haben, selbst den abgesonderten Schweiß mittels eines speziellen Anzugs wiederzuverwenden. Sie sind es auch, welche als einzige außerhalb der Städte, am Rande der Wüste, leben. Viel ist über ihre Gesellschaft und die Kultur nicht bekannt. Außenweltler betrachten sie mit Argwohn. Allen voran die bisherigen Herrscher über Arrakis, die Harkonnens, deren Oberhaupt, der despotische Baron Wladimir Harkonnen, seit mehr als achtzig Jahren das Volk des Wüstenplaneten unterjocht und ausbeutet. Ihn gelüstet es nach dem „Gewürz“, der Melange. Diese Pflanze, welche nur in den Dünenfeldern von Arrakis wächst und gedeiht, zählt zu den seltensten und wertvollsten Gütern des gesamten Universums. Einmal eingenommen wirkt diese Substanz wie eine lebensverlängernde Droge und verleiht den Menschen zugleich die Gabe, in die Zukunft blicken zu können. Ohne das Gewürz wäre eine interstellare Raumfahrt nicht möglich.

Mit der Ankunft von Herzog Atreides ändert sich die Situation jedoch. Leto Atreides weiß, dass er die Ausbeutung des Planeten stoppen und eine Allianz mit den misstrauischen Fremen schließen muss, um seine Herrschaft zu sichern und das Überleben seiner Liebsten zu garantieren, wohl wissend, dass die Harkonnens nichts unversucht lassen werden, ihm und seiner Familie nach dem Leben zu trachten. Bevor seine Diplomatie jedoch Früchte tragen kann, kommt es zu einem Verrat in den eigenen Reihen und er wird Opfer eines Mordanschlags, dem seine Frau Jessica und sein Sohn Paul nur knapp entgehen. Und Letzterer ist es auch, auf dem jetzt die Hoffnungen des Hauses Atreides liegen. Viel schneller als alle anderen hat er sich nach seiner Landung auf Arrakis an das Leben vor Ort angepasst. Er fühlt sich auf sonderbare Weise mit dem Wüstenplaneten und vor allem mit dem Volk der Fremen verbunden. Als die Verbündeten um ihn herum fallen, flüchtet er deshalb gemeinsam mit seiner Mutter in die Wüste. Damit beginnt für den jungen Paul ein Abenteuer, das nicht nur sein Leben, sondern das Geschick der ganzen Galaxis für immer verändern wird …

Vergleiche – sie werden immer wieder auf Buchdecken bemüht, um dem interessierten Leser das Einordnen des vorliegenden Werks zu erleichtern und gleichzeitig auch dessen Qualität in Zusammenhang mit anderen großen Romanen zu stellen. So ist es vielleicht wenig verwunderlich, dass in Bezug auf Frank Herberts „Der Wüstenplanet“ nicht selten auch „Der Herr der Ringe“ Erwähnung findet. Meiner Ansicht nach allerdings vollkommen zurecht, denn wenngleich Tolkiens meisterhaftes Epos seine Heimat im Fantasy-Genre hat, so gibt es doch zu viele qualitative und inhaltliche Gemeinsamkeiten, um eine Gegenüberstellung gänzlich außer acht zu lassen. Mehr noch: Ich lehne mich sogar soweit aus dem Fenster und behaupte, dass diejenigen, welche die Reise des Einen Rings bereits nach wenigen Seiten nicht weiter verfolgt haben, auch Herberts Roman keine andauernde Aufmerksamkeit schenken werden. Von dem gesamten (übrigens von vorneherein vom Autor als mehrbändig ausgelegten) „Wüstenplanet“-Zyklus ganz zu schweigen. Wie bereits weiter oben erwähnt, ist Herberts Auftakt genau des Gegenteil der modernen Mainstream-Berieselungsliteratur. Wo die sich auf Bestsellerlisten tummelnden Titel heutzutage nur allzu bereitwillig ihre Kurzweil vergeben und der Leser bis aufs Blättern der Seiten keinerlei Beitrag leisten muss, fordert „Der Wüstenplanet“ (eben wie auch „Der Herr der Ringe“) eine durchgängige Bereitschaft ein, der bis ins kleinste Detail ausgearbeiteten Welt und den vielschichtigen Zusammenhängen zu folgen.

Komplexität ist das Stichwort. Von ihr lebt, durch sie atmet Herberts „Der Wüstenplanet“. Und sie ist es auch, welche Umfang und Reichhaltigkeit des Werks bedingen, dessen nachhaltiger Eindruck durch die folgenden Bände noch verstärkt wird (Auf die weitere Entwicklung von Paul Atreides im Zuge des „Wüstenplanet“-Zyklus gehe ich in dieser Rezension mit voller Absicht nicht ein, um künftige Ereignisse nicht zu „spoilern“ und dem Leser einen „unvorbelasteten Eindruck“ – und damit denselben wie ich bei meiner Lektüre – zu gewähren). Aber bereits der Beginn von Herberts großer Saga reicht aus, um einen Blick auf die Tiefe der Welt von Dune zu erhaschen. Die Gesellschaft in Herberts Universum umfasst nicht nur unzählige Systeme, sondern verbindet auch ein vielschichtiges Geflecht verschiedenster Häuser, welche, untereinander im ewigen Streit um die Macht, alle einen Teil des großen Epos tragen. Hinzu kommen verschiedene Geheimgesellschaften wie die Bene Gesserit und die Bene Tleilax, die einflussreiche MAFEA (Merkantile Allianz für Fortschritt und Entwicklung im All) und die Mentaten.

Insbesondere letztere haben ein gewisses Alleinstellungsmerkmal in der Science-Fiction, verzichtet Frank Herbert doch in seinem Zyklus auf die sonst allgegenwärtigen Roboter bzw. künstliche Intelligenz im Allgemeinen. Erklärt wird dies durch „Butlers Djihad“, einen in ferner Vergangenheit geführten Kampf der freien Menschen gegen die Maschinen, der mit der völligen Vernichtung aller so genannten Denkmaschinen und deren immerwährenden Verbot endete. Als Antwort darauf werden Menschen mit besonderen psychischen Kräften ausgebildet, mittels Hilfe bestimmter Drogen komplexe Probleme innerhalb kürzester Zeit zu lösen – die Mentaten. Und gerade sie spielen, ohne damit viel zu verraten, auch in Paul Atreides‘ Lebensweg eine wichtige Rolle und tragen ihren Teil im Kampf um die Herrschaft von Arrakis bei. Tyrannei, Ausbeutung, Versklavung, Ränkespiele, Attentate, Verrat, Machtgier. Ingredienzen, die auch den Alltag unserer Welt bestimmen, in Herberts Epos jedoch noch mehr im Mittelpunkt stehen und ein düsteres Bild dieses alternativen Universums zeichnen. (Nur soviel: Diese dystopischen Ansätze wird Herbert bereits im Nachfolger noch intensiver verfolgen und fortführen) Gepaart mit den Schilderungen von religiösem Fanatismus und mystischen Aberglauben ergibt sich vielleicht auch der Grund, warum „Der Wüstenplanet“ bis heute diesen Stellenwert in der Weltliteratur hat, ist doch diese „Fiction“ vielerorts inzwischen bzw. immer noch Realität.

Der andere Grund ist die erzählte Geschichte selbst. Getragen von den wohl mit interessantesten Figuren, welche das Genre der Science-Fiction in den letzten hundert Jahren hervorgebracht hat, entführt sie den Leser, immer wieder von mäandernden Nebenhandlungen und Perspektivwechseln unterbrochen, in die Gluthitze der Wüste und die tunnelreichen Höhlensysteme der Fremen – mit jeder Seite mehr Zugriff auf uns gewinnend, bis man selbst den Schweiß und den Durst zu spüren meint, was selbst der anhaltende Regen vor unserem Fenster nicht zu ändern vermag. Bei all dem Detailreichtum, seiner fast schon pedantischen Versessenheit (das Buch enthält neben einer Karte von der nördlichen Polarregion von Arrakis und einem Personenregister samt Geschichte der Hohen Häuser auch noch ein Lexikon über fremdsprachige Begriffe sowie eine Einführung in Ökologie und Religion des Planeten), wenn es darum geht, jedes kleine Rädchen im großen Getriebe des Zyklus Aufmerksamkeit zu schenken – Frank Herbert ist zudem auch immer noch ein großartiger Schreiber, der die Grundelemente dieser Literaturgattung niemals vernachlässigt.

Das Fantastische, das Faszinierende – es hat seinen Platz direkt in der Mitte dieses epischen Werks. Und es hat, einmal richtig darauf eingelassen, eine eindringliche und vor allem andauernde Wirkung.

Wertung: 92 von 100 Treffern

einschuss2
  • Autor: Frank Herbert
  • Titel: Der Wüstenplanet
  • OriginaltitelDune
  • Übersetzer: Ronald M. Hahn
  • Verlag: Heyne
  • Erschienen: 5/2001
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 872 Seiten
  • ISBN: 978-3453186835