Der Name ist Bond. James Bond.

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Bond, James Bond. 007. Es gibt wohl kaum einen bekannteren Spion, als den Mann aus der Doppel-Null-Abteilung des britischen Geheimdiensts MI6 mit der Lizenz zum Töten, was diese inzwischen popkulturelle Figur wohl allerdings in erster Linie den diversen Auftritten auf der Kinoleinwand zu verdanken hat.

Verkörpert von legendären Schauspielern wie Sean Connery, Roger Moore, Pierce Brosnan oder zuletzt Daniel Craig, sind es besonders ihre Interpretationen, welche für verschiedene Generationen von Zuschauern das Bild von James Bond nachhaltig geprägt haben. Die Bandbreite reicht dabei vom maskulinen, frauenfressenden Macho (Sean Connery) über den wortwitzigen Gentleman (Roger Moore) und den smarten, eleganten Anzugträger (Pierce Brosnan) bis hin zur menschlichen Dampframme, welche sich letztlich gar in einen von Gefühlen geleiteten Familienvater wandelt (Daniel Craig). Wie immer man selbst die einzelnen Interpretationen von 007 auch für sich beurteilt – und ja, auch Lazenby und Dalton (über David Niven decken wir lieber den Mantel des Schweigens) haben natürlich den Spion um zusätzliche Facetten erweitert – alle haben eine Tatsache gemeinsam: der literarischen Vorlage wird jede von ihnen nur in Teilen gerecht.

Nachdem nun mit „Keine Zeit zu sterben“ im vergangenen Jahr das Franchise zumindest im Kino zu einem vorläufigen Ende gekommen ist – das Wie möchte ich an dieser Stelle lieber ausklammern, würde doch mein Frust ob dieser 163minütigen Demontage einer Filmikone sicher ganze Seiten füllen – scheint daher nun der richtige Zeitpunkt gekommen, sich näher den Wurzeln von James Bond zu widmen. Und diese haben ihren Ursprung in Ian Flemings Erstlingswerk (zuvor geschriebene Bücher blieben unveröffentlicht) „Casino Royale“ aus dem Jahr 1953, das mit etwas Verspätung (dazu weiter unten mehr) nicht nur ein ganzes Sub-Genre nach dem Zweiten Weltkrieg revitalisierte, sondern zugleich auch in vielerlei Hinsicht autobiografisch stark von seinem Schöpfer geprägt ist. Bevor wir uns daher genauer mit dem Inhalt der Geschichte befassen, lohnt vorab ein Blick auf den Autor selbst, der das Porträt des Anti-Helden mit der Vorliebe für schöne Frauen und schnelle Autos bis heute wie kein anderer maßgeblich beeinflusst.

Im Jahr 1908 in London geboren, wuchs er im Stadtteil Mayfair auf und kam aufgrund guter schulischer Leistungen im Alter von 13 Jahren auf das Eton College, wo er nicht nur diverse Sprachen erlernte (u.a. Deutsch, Französisch und Russisch), sondern sich auch durch sportliche Leistungen hervortat. Zu Disziplin und Regeln hatte er jedoch schon in jungen Jahren ein eher distanziertes Verhältnis und so passt es auch angesichts seiner späteren Biographie fast ins Bild, das er das College aufgrund eines Vorfalls mit einem Mädchen verlassen musste. Für Fleming ging es im Anschluss an die Militärakademie nach Sandhurst, welche er aber krankheitsbedingt ebenfalls nicht abschließen konnte. Damit begann für ihn die Zeit der Reisen. Über eine Privatschule im österreichischen Kitzbühel (hier lernte er Ski fahren und den ehemaligen Geheimdienstler Ernan Forbes und seine Frau, die Schriftstellerin Phyllis Bottome kennen) ging es an die Universitäten von München und Genf. Im Herbst des Jahres 1931 trat er seine Stellung als Journalist bei Reuters an, wo er immer wieder direkt von den damals sehr beliebten Motorsportwettbewerben in den Alpen berichtete, welche sein Interesse an der Rennfahrerei und Sportwagen generell weckte. Größer von sich Reden machte er erstmals mit einem Bericht aus Moskau, wo sechs britische Ingenieure in einem stalinistischen Schauprozess der Spionage angeklagt wurden. Eine Zeit, die Flemings Bild von der Welt hinter dem Eisernen Vorhang und von dem Gegner Sowjetunion nachhaltig prägen sollte.

Ian Flemings kostspieligen Lebensstil – er war als Frauenheld und Lebemann inzwischen berüchtigt – konnte seine Arbeit als Journalist jedoch nicht finanzieren und da auch kein größeres Erbe in Aussicht stand, versuchte er sich zwischenzeitlich erfolglos als Börsenmakler bis ihn schließlich der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs in die Dienste der Armee zwang. Er trat als Lieutenant in den Marine-Nachrichtendienst British Naval Intelligence ein und arbeitete hier ab 1939 als persönlicher Adjutant des Direktors, Konteradmiral John Godfrey. In dieser Funktion war er u.a. für den Schutz von Gibraltar und Südspanien verantwortlich. Die Abwehr der deutschen Radarüberwachung lief damals übrigens unter dem Codenamen „Operation Goldeneye“. Desweiteren diente er als Verbindungsoffizier zum US-Marinegeheimdienst (später rühmte er sich selbst damit, einen großen Beitrag für die Reorganisation der amerikanischen Nachrichtendienste geleistet zu haben) und besuchte in dieser Zeit auch das Casino Estoril in Portugal, das damals größte Casino in Europa und erlernte dort das Baccara-Spiel. Ohne es zu wissen, war bereits hier die Blaupause für die Kulisse von „Casino Royale“ geboren. Als weiterer Einfluss auf sein Werk gilt schließlich auch das Kommando für eine speziell ausgebildete Einheit der Royal Marines, für die er ab 1943 einige gefährliche Einsätze plante und sein Besuch von Jamaika im Jahr 1944. Fleming war von der exotischen Landschaft beeindruckt und bekundete seine Absicht, nach Kriegsende hierhin zurückzukehren.

Mit welcher Frau an seiner Seite, das stand lange nicht fest, hatte doch Ian Fleming gleich mehrere Affären und – laut seinem Umfeld – auch eindeutige sadomasochistische Vorlieben wie das Spanking, die eine längere Beziehung zumindest erschwerten, wenn nicht gar für diese Zeit gänzlich unmöglich machten. Es gilt heute als sicher, dass sich diese Neigungen in den diversen Folter-Szenen und Beinahe-Vergewaltigungen der Bond-Romane widerspiegeln, welche erst spät ihren Weg auf die Leinwand fanden (Erst mit der Veröffentlichung der ungekürzten Ausgaben durch den Cross Cult Verlag im Jahr 2012 liegen diese hierzulande auch literarisch auf Deutsch vor). Dennoch heiratete Fleming Anfang 1952 schließlich seine langjährige Geliebte Ann. Noch im gleichen Jahr kam ihr Sohn Casper auf die Welt, mit dem sie vor allem die Wintermonate auf Jamaika verbrachten, wo Fleming inzwischen ein Grundstück erworben und „Goldeneye“ getauft hatte. Finanziert wurde dies durch seine Anstellung als leitender Kolumnist der „Sunday Times“, welche immer noch viel Zeit zum Schreiben ließ. Inmitten der Flitterwochen begann er mit seinem ersten Spionageroman – „Casino Royale“. Den Namen seines Protagonisten „klaute“ sich der passionierte Vogelbeobachter bei dem Autor eines ornithologischen Bestimmungsbuchs. James Bond war geboren.

Damit nähern wir uns nun endlich auch inhaltlich dem Auftakt der Reihe. Man möge mir die lange Einleitung verzeihen, aber sie ist meines Erachtens notwendig, um vor dem Hintergrund Flemings eigener Biographie Bond näher zu verstehen. Aber jetzt zum Buch:

Das kleine (fiktive) Provinznest Royale-les-Eaux an der französischen Kanalküste. Wir schreiben das Jahr 1951. Einst war dieses Feriendorf ein Anlaufpunkt für die Reichen und Schönen, aber mit den Wirren des Krieges hat es zunehmend an Bedeutung verloren. Wie die Farbe an der Häuserfassaden, so ist auch der Glanz von Royale-les-Eaux längst abgeblättert und der faden Tristesse gewichen. Allein das Casino besitzt noch einen gewissen überregionalen Ruf, der vor allem diejenigen anlockt, welche lieber unter dem Radar bleiben und dennoch um äußerst hohe Beträge spielen wollen. Einer von ihnen ist James Bond, 007. Den Agenten mit der Lizenz zum Töten hat jedoch nicht die eigene Vorliebe für das Glücksspiel nach Nordfrankreich geführt. Vielmehr wurde er persönlich vom British Secret Service, genauer gesagt dem MI6, ausgewählt, um vor Ort eine einmalige Gelegenheit zu nutzen: Le Chiffre, ein sowjetischer Meisterspion und langjähriger Gegenspieler, befindet sich ebenfalls im Casino, um am Spieltisch die Verluste gut zu machen, welche ein fehlgeschlagenes Unterweltgeschäft verursacht hat. Dass er sich dafür eines Geldbetrags bedient hat, welcher seitens des russischen Geheimdiensts eigentlich für die Unterwanderung der französischen Gewerkschaften gedacht war, macht das Ganze umso prekärer. Niemand bestiehlt Stalin ungestraft. Und die eigens dafür installierte Einheit „Smersch“ hat sich bereits an seine Fersen geheftet.

Ein finanzieller Ruin von Le Chiffre ist also im Interesse der Briten, weswegen James Bond sein Geschick nutzen soll, um im Baccara-Duell den Sieg davon zu tragen. Für den jungen Agenten ist es die erste große Bewährungsprobe. Zwar hat er bereits zweimal Gebrauch von seiner Lizenz gemacht, aber noch nie stand so viel auf dem Spiel. Auch aus diesem Grund schickt man ihm zur Unterstützung Vesper Lynd, welche als Kontakt nach oben dienen und gleichzeitig darauf achten soll, dass Bond seinerseits nicht zu verschwenderisch mit den eigenen monetären Mitteln umgeht. Das Raubein hat nur wenig für seine neue Partnerin übrig, welche seinen Hass auf den Kommunismus nicht wirklich zu teilen und auch sonst für den Job viel zu grün zu sein scheint. Wenigstens ist ihr Anblick etwas für die Augen. Eine Eigenschaft, die er sich vielleicht zu Nutze macht, wenn sich Zeit und Gelegenheit ergeben. Bis dahin soll sie vor allem eins tun: Ihm nicht im Weg stehen.

Am Anfang scheint alles nach Plan zu laufen, denn Bond schlägt – auch mit Hilfe der CIA in Person von Felix Leiter – Le Chiffre am Spieltisch und besteht so seine Feuertaufe. Doch im Überschwang seines Erfolgs unterschätzt er seinen Gegenspieler. Als er gemeinsam mit René Mathis vom Deuxième Bureau und Vesper auf seinen Triumph anstoßen will, wird Letztere vor seinen Augen entführt. In einem Bentley aus den Dreißigern nimmt James Bond die Verfolgung auf, wird jedoch in eine Falle gelockt und verliert in einem spektakulären Unfall die Kontrolle über seinen Wagen. Als er wieder zu sich kommt, befindet er sich in Le Chiffres Händen. Und der hat sich eine ganz ausgeklügelte Folter ausgedacht, um wieder in den Besitz seines Geldes zu kommen …

Mehr soll an dieser Stelle nicht verraten werden, zumal gerade an diesem Punkt der Handlung das Buch eine ziemlich unerwartete Wendung nimmt – zumindest für diejenigen, welche die Verfilmung mit Daniel Craig aus dem Jahr 2006 noch nicht kennen sollten (so viele dürften das aber nicht sein). Und damit kommen wir vorneweg gleich zu meiner persönlich erstaunlichsten Erkenntnis nach dieser Lektüre: Martin Campbells cineastische Verarbeitung orientiert sich – ganz im Gegensatz zu früheren Verfilmungen – inhaltlich erstaunlich nah an der literarischen Vorlage, von gewissen Zugeständnissen an das moderne Publikum mal abgesehen. Das ist insofern überraschend, weil es unterstreicht, welche bahnbrechende Wirkung der Roman auf die damaligen Leser gehabt haben muss. Zumindest auf diejenigen, die ihn in den 50ern überhaupt gelesen haben, denn ein breitenwirksamer Erfolg blieb Ian Fleming mit den James-Bond-Titeln noch bis Anfang der 60er Jahre verwehrt. Bis ein gewisser John F. Kennedy eine Liste mit seinen Lieblingsbüchern veröffentlichte – und sich darunter ein Titel mit dem Namen „Liebesgrüße aus Moskau“ wiederfand. Im Zuge der darauffolgenden Popularität wurde schließlich das Fundament für eine Erfolgsgeschichte gelegt, die bis zum heutigen Tag andauert. Aber auch zurecht?

Entgegen meiner üblichen Gewohnheit habe ich diesmal tatsächlich einen Blick in die Einschätzungen diverser Literaturkritiker geworfen, die fast alle ein überwiegend negatives Bild von „Casino Royale“ zeichnen – von einem Roman, dem der Zahn der Zeit ordentlich zugesetzt hat und der heutzutage nur noch mit viel Mühe konsumierbar ist. Auffällig dabei: Viele der deutschen Rezensenten fällen dieses Urteil auf Basis der gekürzten deutschen Auflagen früherer Jahre, die vom Umfang her allenfalls noch knapp als Novelle durchgehen dürften und wichtige Passagen komplett außen vor gelassen haben. Andere kritisieren die Inkohärenz der Figur James Bond, welche zwar als Profi eingeführt wird, jedoch im weiteren Verlauf des Romans immer wieder diverse Anfängerfehler macht und mitunter ziemlich leichtsinnig – und vermeintlich eines Agenten unwürdig – agiert. Der Fakt, das Fleming betont, das wir Bond hier noch am Anfang seiner Karriere begegnen, wird bei dieser Beurteilung gerne ausgeblendet. Genauso wie der zeitliche Kontext, in dem letztlich das ganze Gebaren des Agenten Bond begründet liegt.

Die kurze Phase des Friedens und die aus der Not geborene Allianz der Alliierten nach Ende des Zweiten Weltkriegs hatte sich 1953 bereits in eine deutliche Auseinandersetzung der zwei Blöcke gewandelt – mit der NATO auf der einen und dem Warschauer Pakt auf der anderen Seite. Eine jede Seite strebte nach größtmöglicher Ausbreitung, versuchte ihre Ideologie und damit auch ihren Einflussbereich stetig zu erweitern – mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln. Während wir in Deutschland diese Phase vor allem etwas oberflächlich als Zeit des Wirtschaftswunders und neu gefundener Freiheiten, wie das Reisen in ferne Länder, verklären, fand hinter den Kulissen des Kalten Krieges ein heißer Konflikt statt, in dem sich tatsächlich Geheimdienstler auf diverse Art und Weise ihre Finger schmutzig machen mussten. James Bond ist daher einerseits ein Produkt von Flemings Erfahrungen und andererseits eines dieser Zeit. Entsprechend kaltblütig, rücksichtslos, manipulativ und emotional oberflächlich hat ihn der Autor gezeichnet. Eine Charakterisierung, die er jedoch in späteren Werken nicht nur mehr und mehr differenzierte, sondern auch etwas aufweichte (Eine gänzliche weichgespülte Version wie in „Keine Zeit zu Sterben“ blieb den Lesern aber gottseidank erspart) und zudem immer mit einer gehörigen Position Stil würzte, der Fleming bekanntermaßen äußerst wichtig war. Nur aus diesem Grund trägt James Bond die besten Anzüge, isst die feinsten Delikatessen, steigt in den teuersten Hotels ab und trinkt stets seinen Martini – geschüttelt, nicht gerührt.

Ja, wie Judi Denchs M in „Goldeneye“ treffend feststellt: James Bond ist ein Dinosaurier, ein Relikt des Kalten Krieges. Aber dies ändert nichts am formidablen Vergnügen, das sich bei der Lektüre dieses Romans sofort einstellt. Lange vor einem Elmore Leonard definiert hier Ian Fleming den Begriff „Coolness“ im Kriminalroman, setzt er die Richtlinien dafür, wie ein schurkischer, überlebensgroßer Oberbösewicht zu agieren hat, nutzt er die literarischen Freiheiten aus, um das bis dahin in seinen Konventionen gefangene Genre des Agententhrillers um eine ganz neue Bandbreite an Möglichkeiten zu erweitern. Dafür nimmt er sich trotz kurzen 240 Seiten erstaunlich viel Zeit, verzichtet (von wenigen Momenten wie der Verfolgungsjagd oder eine gezündeten Autobombe abgesehen) auf ausufernde Action und legt Bonds erstes Abenteuer besonders gegen Ende hin ziemlich „character driven“ an. Während sich manche gerade über diesen „Epilog“ nach der ansteigenden Spannungskurve und die damit abfallende Dramaturgie echauffieren, empfinde ich speziell dieses retardierende Moment als sehr gelungen und kennzeichnend für den weiteren Verlauf der Reihe. Die Welt ist eben nicht genug – es muss stets gleichfalls ein persönlicher Preis in der Waagschale liegen, um der Suspense Bedeutung zu verleihen.

Auch wenn James Bond hier noch lange nicht der Profi ist, als den ihn Sean Connery in „James Bond jagt Dr. No“ einst verkörpert und weltweit bekannt gemacht hat (selbst die Walther PPK trägt er in „Casino Royale“ noch nicht) – sein erster Auftritt beeindruckt auch heute noch durch archaische Wucht, britischen Stil und zielgerichtete Eleganz, welche der Cross Cult Verlag in seiner wunderschön aufgemachten Neuauflage dieses Klassikers einer neuen Generation von Lesern (äußerst gelungen übersetzt) zugänglich gemacht hat. Ich kann daher nur jedem Freund von klassischen Agentengeschichten raten: Unbedingt lesen!

Wertung: 95 von 100 Treffern

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  • Autor: Ian Fleming
  • Titel: Casino Royale
  • Originaltitel: Casino Royale
  • Übersetzer: Anika Klüver, Stephanie Pannen
  • Verlag: Cross Cult
  • Erschienen: 09.2012
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 240 Seiten
  • ISBN: 978-3864250705

The unknown troubles on your mind

© Suhrkamp

Geister- und Gruselgeschichten. Seit jeher üben sie auf den Menschen eine oft nicht ganz greifbare Faszination aus, scheint uns dieses, letztlich dann doch immer harmlose Spiel mit der Angst, der literarische Kontakt mit dem unnatürlichen Bösen in den Bann zu ziehen. Und dennoch sind es gerade diese Erzählungen, denen nicht selten ein gewisser Wert abgesprochen wird oder – noch schlimmer – als Schund bezeichnet, ihr Dasein im Schatten anderer, eher respektierter Genres fristen. Dass sich der Kriminalroman inzwischen dazu zählen darf, war ein langer, steiniger (und noch nicht überall zu Ende gegangener) Weg – der Horror aber, ihm haftet dieses Etikett des vermeintlich billigen Kitsches weiterhin an, gespeist aus den Assoziationen, welche vor allem cineastische Werke in den letzten Jahren zuhauf geboten haben.

Der klassische Schauer und Schrecken, er ist der schockierenden Brutalität und dem voyeuristischen Ekel vor Blut und Gedärm gewichen, wobei die Psyche bzw. der Kopf, ehemals Ziel des künstlichen „Angriffs“, seinen Platz für den Magen und den Rest des Verdauungstrakts geräumt hat. Zugegeben – eine vielleicht allzu plakative und verallgemeinernde Aussage, aber man lehnt sich wohl nicht zu weit aus dem Fenster, wenn man behauptet, dass sich inzwischen gerade der ziselierte, psychologische Ansatz zwischen den Buchdeckeln äußerst rar gemacht hat. Ein Grund mehr, den Blick zurückzuwerfen und sich, wie in diesem Fall Algernon Blackwood, den alten Meistern zuzuwenden. Und „Meister“ darf hier durchaus wörtlich genommen werden, denn kaum ein anderer Autor beherrscht diesen eng geführten Tanz mit unseren Urängsten derart eindrucksvoll wie der hierzulande zu Unrecht in Vergessenheit geratene Engländer. Von ein paar wenigen Veröffentlichungen abgesehen, ist er in den letzten Jahren fast vollkommen vom deutschen Buchmarkt verschwunden. Während Lovecraft, maßgeblich von Blackwood beeinflusst, immer wieder neu aufgelegt wird, müssen wir daher weiterhin auf die alten Suhrkamp-Ausgaben zurückgreifen. Nachdem ich bereits „Das leere Haus“ mit Muße genossen haben, steht nun also die Kurzgeschichten-Sammlung „Besuch von Drüben“ auf dem Prüfbestand.

Folgende Erzählungen sind in dem Sammelband enthalten:

  • Der Horcher

  • Die Spuk-Insel

  • Besuch von drüben

  • Gestohlenes Leben

  • Kein Zimmer mehr frei

  • Ein gewisser Smith

  • Seltsame Abenteuer eines Privatsekretärs in New York

  • Griff nach der Seele

Authentizität mag ein etwas unpassendes Attribut für eine Gruselgeschichte sein, aber irritierenderweise ist es genau diese Vokabel, welche unmittelbar in unserem Kopf herumspukt, wenn wir uns uns als Leser mit den acht vorliegenden Erzählungen beschäftigen, da es Algernon Blackwood in durchgängig allen gelingt, auf äußerst intelligente Art und Weise zu unterhalten. Obwohl vom Unmöglichen und Unfassbaren berichtet wird, ertappt man sich schnell dabei, die Logik des Ganzen nie zu hinterfragen, derart fest nimmt uns der Autor an die Hand und erschafft, bar jeder Künstlichkeit, einen atmosphärischen Rahmen, in dem er nach und nach scheinbar mühelos Zugriff auf die Fantasie seines Publikums erhält. Das liegt vor allem an den stimmungsvollen Schauplätzen, die, anders als z.B. bei einem John Dickson Carr, nicht eigens aufgebaute „Kulissen“ sind, sondern Blackwoods eigenen Beobachtungen während seiner vielen Reisen entstammen – und Beleg dafür sind, dass das Schaudern nicht mit Kitsch verbunden sein muss, eine spannende, unheimliche Szenerie keinerlei billige Effekte benötigt.

Stets geht es dabei um den Einfluss andersweltlicher Phänomene auf seine Protagonisten, wodurch sich auch der Leser, meist schon allein aufgrund der bildreichen Beschreibungen, als Teil der Erzählung empfindet. Blackwood will hier nicht einfach nur erschrecken – nein, er nötigt uns quasi, sich näher mit der jeweiligen Materie zu beschäftigen. Das Grauen, es wird nicht auf ein durchsichtiges Gespenst oder einen rachsüchtigen Verfluchten reduziert, sondern ist vielmehr allgegenwärtig, nicht fassbar – und gerade deswegen letztlich auch in diesem Maße bedrohlich und beklemmend. Wie viele seiner Zeitgenossen, z.B. auch Sir Arthur Conan Doyle, so kann sich auch Blackwood einen gewissen lehrerhaften Unterton nicht verkneifen und versucht immer wieder seine Expertise auf dem Gebiet des Okkulten (er war seit 1900 Mitglied im „Hermetic Order of the Golden Dawn“) zu verarbeiten, was sich dann auch in der Wahl seiner Figuren widerspiegelt.

Die bekannteste unter ihnen dürfte Dr. John Silence sein. Ein ziemlich von sich selbst überzeugter, parapsychologischer Seelendoktor, der wohl nicht ganz ungewollt als Reminiszenz an Doyles Sherlock Holmes daherkommt und wie dieser ebenfalls in beratender Funktion tätig ist – und sich natürlich auch die Freiheit nimmt, nur die Fälle zu bearbeiten, die ihn interessieren. In „Griff nach der Seele“ nimmt er sich seines ersten (von insgesamt sechs Kurzgeschichten, die Algernon Blackwood in seiner Karriere über ihn geschrieben hat) an, wobei sich der Autor des Drogengebrauchs als verbindendes Mittel zur Geisterwelt bedient. Natürlich eine weitere augenzwinkernde Parallele zu dem großen Meisterdetektiv und dessen dunklen Laster. „Griff nach der Seele“ ist übrigens auch eines der Highlights dieser Zusammenstellung, die eigentlich keine wirklich schwache Story aufweist und in der Zusammenstellung zudem äußerst abwechslungsreich geraten ist. Obwohl tendenziell die meisten davon ein gutes Ende nehmen, sind sie allesamt von der Grundstimmung ziemlich düster geraten, hängt die Gefahr stets wie dichter Nebel, nicht greifbar, zwischen den Zeilen.

Besonders in „Seltsame Abenteuer eines Privatsekretärs in New York“ tritt dies zutage, welche, für Blackwood eher ungewohnt lebhaft, ja, fast actionreich daherkommt und mit einem Gänsehaut fördernden Ende in der Tradition Edgar Allan Poes aufwartet. Ein schaurig-humoriger Genuss zum mithorchen und Zähne klappern, prädestiniert für die Erzählung im Schein eines von Dunkelheit umhüllten Lagerfeuers. Soviel „Handlung“ begegnet uns allerdings in den wenigsten Geschichten, denn Blackwood lässt die Protagonisten oder Erzähler vor allem viel reden und erklären, wobei es erstaunlich ist, wie es dem Autor dabei dennoch gelingt, in den inneren Monologen und Dialogen die Gefühle, Eindrücke und Wahrnehmungen der jeweiligen Figuren zu transportieren.

Bestes Beispiel ist dafür wohl „Die Spuk-Insel“, in der ein einsamer Besucher einer kleinen Insel inmitten der kanadischen Wildnis des Nachts Besuch von indianischen Geistern bekommt. Unwillkürlich hält man in dieser Geschichte gleich mehrfach den Atem an, meint selbst die Schweißperlen im Nacken fühlen zu können, derart detailliert und präzise wird die Angst des Protagonisten eins zu eins auf uns übertragen, während der Protagonist, ein Student auf der Suche nach Erholung, sich in der Dunkelheit seiner Blockhütte seinen Angreifern ausgesetzt sieht. Und dann dieses Ende! Für mich ohne Zweifel eine der besten Gruselgeschichten, die je geschrieben wurden.

Auch über die anderen Geschichten gäbe es genug zu bemerken, was hier jetzt aber unerwähnt bleiben soll, um nicht unnötig zu spoilern oder ihnen gar diese spezielle Faszination und ihre Wirkung zu nehmen. Wer also wissen möchte, warum in „Besuch von Drüben“ Marriott plötzlich dem elenden Antlitz seines alten Freundes gegenübersteht oder der Abenteurer und Geisterjäger Shorthouse in „Gestohlenes Leben“ eine Nacht mit einem Phantom verbringen muss, der möge dies bitte lieber selbst lesen.

Und soviel sollte spätestens an dieser Stelle deutlich geworden sein – diese Sammlung ist nicht nur ein absolutes Muss für alle Freunde von stimmungsvollen Gruselgeschichten aus dem guten, alten viktorianischen England, sondern wohl die Abstand beste Zusammenstellung vom Suhrkamp-Verlag. Man kann nur hoffen, dass diese fantastischen Erzählungen bald wieder in würdiger Aufmachung und zumindest stellenweise etwas zeitgemäßerer Übersetzung der heutigen Generation zugänglich gemacht werden. Bis dahin heißt es aber: Antiquarische Suche lohnt, unbedingt!

Wertung: 95 von 100 Treffern

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  • Autor: Algernon Blackwood
  • Titel: Besuch von drüben
  • Originaltitel
  • Übersetzer: Friedrich Polakovics
  • Verlag: Suhrkamp
  • Erschienen: 04/1997
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 246 Seiten
  • ISBN: 978-3518392010

Der Fall des verrückten Hutmachers

© DuMont

Agatha Christie. Dorothy L. Sayers. Ngaio Marsh. Rex Stout. Gilbert Keith Chesterton. Sie alle sind Autoren/innen des sogenannten „Golden Age“ des Kriminalromans und haben in den vergangenen Jahren immer wieder eine Neuauflage erfahren – die ersten zwei sind seit ihrem ersten Erscheinen auf dem deutschen Buchmarkt eigentlich fast durchgängig für den Leser lieferbar. Der klassische Whodunit – er scheint also immer noch sein Klientel zu haben und seine Abnehmer zu finden, was es umso unverständlicher und bemerkenswerter macht, dass ein besonders prägender Genrevertreter aus dieser Zeit, den 20er bis späten 30er Jahren, mittlerweile gänzlich in Vergessenheit geraten ist: John Dickson Carr.

Das Gesamtwerk des amerikanischen Autors, der einst den klassischen „Mystery“-Krimi nachhaltig geprägt und das „Locked-Room“-Thema aus der Taufe gehoben hat, ist – bis auf wenige Ausnahmen – seit langer Zeit vergriffen. Wer sich die vorliegende Lektüre auf der Zunge zergehen lässt, kann über diese Tatsache im Anschluss sicher nur ungläubig den Kopf schütteln. Carrs Bewunderung des alten Europas hat sich nicht nur im persönlichen Leben, er war Mitglied im Londoner „Detection“-Club, sondern vor allem im Stil seiner Bücher widergespiegelt. Die Schauplätze seiner (meist auf dem alten Kontinent spielenden) Romane sind stets verfallene Gebäude, marode Festungen und gespenstische Villen, der Plot immer von einem fast greifbaren Hauch des Gespenstischen umgeben. Und hier macht auch der zweite Band mit dem Privatdetektiv Dr. Gideon Fell keine Ausnahme, in welchem diesmal der Tower von London die schaurig-neblige Kulisse für einen typischen Rätsel-Krimi bildet, in dem sich Carr einmal mehr als Meister des Atmosphäre und des Aha-Effekts erweist. Kurz zur Handlung:

Es sind acht Monate seit den Ereignissen in Chatterham (nachzulesen in „Tod im Hexenwinkel“) vergangen und Rampole, der damals Fells exzentrische Ermittlungen im Fall Starbeth aus nächster Nähe verfolgen durfte, trifft diesen nun samt Chief Inspector Hadley vom Scotland Yard in einem Londoner Pub wieder. Letzterer ist mit seiner Behörde in den letzten Tagen zum Gespött der Öffentlichkeit geworden, denn ein mysteriöser Hutdieb („The Mad Hatter“) treibt in der Hauptstadt sein Unwesen und hält die Justiz zum Narren. Polizisten, Adligen und anderen angesehenen Männern hat man die Kopfbedeckung entwendet, um sie schließlich an den verschiedensten Stellen in der Stadt zu platzieren. Ein bisher amüsanter Schabernack, der auch dank der Kolumne des Journalisten Philipp Driscoll für immer mehr Erheiterung in der Bevölkerung sorgt. Selbst der ehemalige Politiker Sir William Bitton gehört zu den Betroffenen. Dem fleißigen Buchsammler ist zudem auch ein bisher unveröffentlichtes Manuskript von Edgar Allan Poe gestohlen worden, was für Hadley nach einem interessanten Fall für Dr. Fell aussieht. Fell selbst zeigt sich aber wenig interessiert, bis die illustre Runde im Pub von einer Schreckensmeldung unterbrochen wird:

Eine Leiche ist im Tower am Traitor’s Gate aufgefunden worden. Getötet mit einem Armbrustpfeil durchs Herz. Auf dem Kopf der Zylinder von Sir William. Und noch schlimmer: Bei dem Toten handelt es sich um Williams Neffen: Philipp Driscoll …

Wer bereits den ersten Band dieser Reihe gelesen oder sich grundsätzlich etwas näher mit John Dickson Carr beschäftigt hat, der weiß natürlich diese künstlich-romantisierte Szenerie einzuordnen, welche zwar so Anfang der 30er Jahre (der Titel erschien 1933) schon längst nicht mehr existiert hat, aber ein Zugeständnis an dieses Subgenre ist, das nun einmal von einer düsteren, gruseligen Atmosphäre lebt und daraus seine Faszination bezieht. So müssen es naturgemäß und zwangsläufig die alten, ehrwürdigen Festungsmauern des Towers sein, die als Schauplatz des Verbrechens herhalten. Inzwischen zwar längst zu einer Touristenattraktion verkommen, wurde zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von „Der Tote im Tower“ ein Teil der Anlage noch als Gefängnis genutzt (bis 1941, u.a. Rudolf Heß saß vier Tage lang hier ein), was der Kulisse einen ganz eigenen beklemmende Charme verleiht, den Carr geschickt nutzt, um seinen Plot mit diesem geschichtsträchtigen Ort zu verknüpfen.

Während wir heutzutage, verroht und abgestumpft durch immer brutalere, gewaltpornographische Metzgerschinken, das Element des Unheimlichen schon fast vergessen haben, knüpft John Dickson Carr hier mit viel Raffinesse an die Traditionen des alten Schauerromans an und gibt dem Leser dabei genug Raum, die eigene Fantasie spielen zu lassen. Dabei macht er sich keine große Mühe, das Beschriebene auf irgendeine Art und Weise im Hier und Jetzt zu erden oder der Authentizität Rechnung zu tragen. Erlaubt ist, was gefällt – und Carr hat eben Gefallen am skurrilen und dramatischen gefunden, was aber für diese Geschichte auch wie die Faust aufs Auge passt.

Earl Grey aufgesetzt, eine Dose Kekse bereitgestellt, die Leselampe an und dann an einem unwirtlichen Herbsttag ab aufs Sofa – fast automatisch verbinden wir den Whodunit mit einer behaglichen Gemütlichkeit, das Buch als einziges Tor zu einem nicht greifbaren Gefahrenmoment, der sich vor allem aus der Unfähigkeit des Justiz speist, den so mysteriösen Fall zu entwirren. John Dickson Carr greift diese Ingredienzen auf, rührt sie gut durch und verblüfft mit einem Detektiv, der sich im vorliegenden Roman mit so ziemlich allem anderen beschäftigt, als mit der titelgebenden Leiche. Während anderswo die Augen über der Adlernase glänzend den Tatort durchleuchten sind oder kleine, graue Zellen die Indizien miteinander verweben, da überrascht Dr. Gideon Fell als schwerfälliger und vor allem schwer erträglicher Zeitgenosse, der Chief Inspector Hadleys Nervenkostüm auf eine ebenso schwere Probe stellt, denn Fell hat offensichtlich null Interesse irgendetwas zur Auflösung beizutragen. Stattdessen scheint er die Gelegenheit zu nutzen, noch die hintersten Winkel des Towers zu inspizieren, um seine touristische Neugier zu befriedigen und Fragen zu stellen, die auf den ersten Blick so überhaupt nichts mit der eigentlichen Sache zu tun haben.

Wer die Gesetze des Genres kennt, der weiß zwar, dass natürlich hier der Teufel im Detail steckt – dennoch erwischen wir uns dabei, wie wir fasziniert der einen Hand des Taschenspielers folgen, während zeitgleich hinter dem Rücken der eigentliche Trick stattfindet. Mitnichten ist Fell geistig abwesend. Vielmehr nutzt er die erlernten Fähigkeiten aus seiner Tätigkeit als Agent in der Spionageabwehr im Ersten Weltkrieg, um genau die Hinweise zu deuten, welche den anderen Beteiligten verborgen bleiben. Und seine früheren Verdienste sind es auch, welche die ungewöhnliche Geduld der anderen Justizbeamten erklären. Fell ist immer noch angesehen. Und so schrullenhaft und absonderlich seine Methoden auch sind – er ist seinen Begleitern doch stets mindestens ein bis zwei Schritte voraus. Das muss auch Tad Rampole neidlos anerkennen, der eigentlich nur die Hauptstadt besuchen wollte und nun in bester Watson-Manier dem Privatgelehrten Fell assistiert. Von ihm abgesehen wird der Roman von der üblichen Schar skurriler Figuren bevölkert, in der natürlich sowohl der Vorzeige-Butler als auch der ehrenhafte, alte General nicht fehlen darf, um die gesamte Palette abzudecken. Carr übertreibt hier mit einem offensichtlichen, diebischen Vergnügen, welches sich bereits nach wenigen Seiten auch auf den Leser überträgt.

Bis zum Ende führt uns Carr äußerst gekonnt an der Nase herum, legt falsche Fährten und bietet dem Leser ein an Höhepunkten reiches Bühnenstück, das uns nach dem fallenden Vorhang erstaunt und äußerst befriedigt aus dem Tower von London entlässt. Gideon Fells zweiter Fall ist nicht nur eine Hommage an den großen Edgar Allan Poe, sondern auch ein Ausrufezeichen in einer an Ausrufezeichen nicht armen Krimi-Serie. Ein Juwel des „Golden Age“, das auch heute noch jedem Fan dieser Literaturgattung mit Nachdruck ans Herz gelegt sei. Großes Lob an dieser Stelle auch an die damaligen Verantwortlichen der DuMont-Kriminalbibliothek, deren Ausgabe nicht nur ein äußerst informatives Nachwort aufweist, sondern auch einen aufschlussreichen Lageplan. Diese Skizze des Londoner Towers wird im weiteren Verlauf noch sehr nützlich.

Wertung: 95 von 100 Treffern

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  • Autor: John Dickson Carr
  • Titel: Der Tote im Tower
  • Originaltitel: The Mad Hatter Mystery
  • Übersetzer: Marianne Bechhausen-Gerst, Thomas Gerst
  • Verlag: DuMont Kriminal-Bibliothek
  • Erschienen: 2003
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 285 Seiten
  • ISBN: 978-3832120702

Der Tote im Tresor

© Edition Nautilus

Lange Zeit hatte der Nautilus-Verlag ein Schattendasein, oder besser noch, gar keine Rolle in meinem Krimi-Regal gespielt. Das änderte sich schließlich im Jahr 2010, was in erster Linie Wolfgangs Franßens informativer und neugierig machender Besprechung auf der Krimi-Couch zu verdanken war (Wer sich heute auf diese Seite verirrt, mag sich das nur noch schwer vorstellen können).

Seine Ausführungen zu „Nebel am Montmartre“ von Patrick Pécherot ließen mir damals jedenfalls schlicht keine andere Wahl, als mir das Buch sofort zuzulegen und, für mich ungewöhnlich, noch am gleichen Tag auf der Rückreise von der Arbeit im Zug zu lesen. Und Franßen hatte bzw. hat nicht zu viel versprochen. Vielmehr stapelt er noch zu tief, denn Pécherots erster Teil einer Trilogie über das „populäre“ Paris zwischen den Weltkriegen (dessen weitere Bände „Belleville-Barcelona“ und „Boulevard der Irren“ ebenfalls bei Nautilus erschienen sind), bietet kurzweilige, aber sehr literarische Unterhaltung vom Allerfeinsten. Die Story sei kurz angerissen:

Paris im Jahre 1926. Nestor, wegen seiner unvermeidlichen Pfeife, die er überall mit sich herumträgt, auch „Pipette“ genannt, ist ein herumlungernder Möchtegern-Poet. Da ihm seine zweifelhafte Kunst nur wenig einbringt, hat er sich einer Gruppe von Illegalisten/Anarchisten angeschlossen, welche sich, ganz nach dem Vorbild von Jules Bonnot und seiner Bande (wen dieses Thema interessiert, dem empfehle ich Pino Cacuccis, ebenfalls bei Edition Nautilis veröffentlichtes Buch „Besser auf das Herz zielen„. Hier zu meiner Rezension), mit kleineren Raubzügen und Diebstählen über Wasser halten. Nur Menschen sollen bitte nicht zu Schaden kommen! Mangels irgendwelcher Talente ist allerdings auch dieses Geschäft nur wenig einträglich. Bis zu dem Tag, wo ihnen ein großer Coup gelingt. Gemeinsam bringen sie den Tresor eines abwesenden Grafen in ihren Besitz, dessen Größe die vier Schmalspurganoven vom großen Reichtum träumen lässt. Als sie ihn jedoch schließlich knacken können, weicht die Freude schnell der Ernüchterung und diese wiederum der Übelkeit. Statt Bargeld, Schecks oder Juwelen fällt ihnen eine bereits verwesende Leiche entgegen … und mit ihr beginnen die Probleme.

Pipette findet heraus, dass es sich bei dem Toten um den Journalisten Rouleau handelt, der sich vor allem mit der Erpressung von bekannten Persönlichkeiten seinen Lebensunterhalt verdient hat. Im Falle des Grafen scheint er damit einen Schritt zu weit gegangen zu sein. Gemeinsam mit Lebœf, einem stiernackigen Jahrmarktringer mit sinistrem Freundeskreis, stellt der junge Pipette nun auf eigene Faust Ermittlungen an, um das Rätsel der Leiche zu lösen und gleichzeitig den zwei verbliebenen Räubern, Raymond und Cottet, zuvorzukommen, welche ihrerseits nun den Graf erpressen wollen. Was jetzt folgt ist eine atemlose Jagd durch das nächtliche Paris der 20er Jahre, welche unter anderem neben einem hübschen Dienstmädchen auch die Wege des surrealistischen Dichters André Bretons kreuzt und die selbst ernannten Privatdetektive letztendlich bis in die Kreise der Großindustrie führt … und damit auch in allerhöchste Gefahr.

Patrick Pécherots Auftakt seiner Trilogie ist ein kriminalliterarischer Genuss, der von Seite eins, ja, der ersten Zeile an, in Bann zieht und mir ein Dauergrinsen ins Gesicht gezaubert hat. Mit einer beeindruckenden sprachlichen Leichtigkeit erweckt er eine vergangene Epoche zum Leben, ohne dafür zu viele Worte verlieren oder gar seine Geschichte in irgendeiner Art und Weise beschränken zu müssen. Der nebelverhangene Montmartre, die verrauchten Künstlerkneipen, das hell erleuchtete Vergnügungsviertel und die heruntergekommenen Elendsquartiere der ganz Armen. Pécherots Darstellungen sind trotz ihrer Beiläufigkeit von einer Intensität, die atemlos macht, zum Staunen verführt. Dabei bedient er sich einer ganzen Anzahl von Anspielungen, welche im Glossar zwar erläutert werden, in meinem Fall aber auch dazu geführt haben, Wikipedia näher zu durchforsten.

Hier stieß ich vor neun Jahren tatsächlich zum ersten Mal auf den Namen Léo Malet, als dessen Hommage sich das Werk von Pécherot versteht. Wie Malet, der seine Geschichten mit Nestor Burma in den verschiedenen Arrondissements spielen ließ, wählt der französische Autor eine Zeit des gesellschaftlichen Umsturzes als Hintergrund der Handlung und bevölkert seine Welt mit den kleinen Helden des Alltags, welche in der Maschinerie der Großen um Geld, Essen und die Hoffnung nach einer besseren Zukunft kämpfen. Und auch wenn es im ersten Band der Trilogie noch nicht an die große Glocke gehängt wird – bei Pipette handelt es sich natürlich um niemand geringeres als Nestor Burma selbst. Gewürdigt wurde u.a. diese gelungene Hommage 2002 mit dem „Grand Prix de Littérature Policière“.

Nebel am Montmartre“ ist aber mehr als nur eine gelungene Zeitreise. Er funktioniert als historische Milieustudie genauso wie als Kriminalroman, der natürlich typisch französisch, sehr „noir“ daherkommt, mit schwarzem, trockenen Humor an keiner Stelle spart. Trotz gerade mal knapp 190 Seiten entwickelt das Buch eine erstaunliche Sogwirkung, was sowohl am verwinkelten, bis in höchste Kreise reichenden Plot, als auch an dem äußerst gelungenen Spagat zwischen Tempo und tiefgründiger Nachdenklichkeit liegt. Verfolgte man noch eben die atemlose Flucht Pipettes über die nassen Dächer von Paris, sieht man sich schon kurz darauf mit Bretons surrealistischen Ansichten konfrontiert. Das dieser schließlich sogar selbst in einer patronengeschwängerten Auseinandersetzung auf einem Friedhof zur Waffe greift, setzt dem Ganzen schließlich die Krone auf. Es sind diese glaubhaften, nachvollziehbaren Figuren, welche im Verbund mit ihrer Umgebung, den Charme ausmachen, und aus einem spielerisch literarischen Experiment einen spannenden, ernstzunehmenden und letztendlich auch ernüchternden Kriminalroman machen. Oder wie Breton im Buch meint:

„Was für eine Geschichte! Als Poet sind Sie zwar ein Stümper, alter Knabe, aber langweilig wird einem in Ihrer Gesellschaft nicht.“

Patrick Pécherots „Nebel am Montmartre“ war für mich eine DER Entdeckungen des Jahres 2010, dessen Fortsetzungen ich – soviel darf ich vorab verraten – ebenfalls mit Genuss verschlungen habe (mehr dazu bald hier in der Crime Alley). Ein augenzwinkerndes, humoriges Leseerlebnis, das am Ende die bittere Realität über den Wunsch nach Gerechtigkeit siegen lässt und mich nicht nur deshalb so nachhaltig beeindruckt hat. Vielen Dank an den Nautilus Verlag für die Veröffentlichung und die gelungene Übersetzung. Man kann dem Roman weiterhin nur möglichst viele Leser und vor allem eine baldige Neuauflage wünschen.

Wertung: 95 von 100 Trefferneinschuss2

  • Autor: Patrick Pécherot
  • Titel: Nebel am Montmartre
  • Originaltitel: Les brouillards de la Butte
  • Übersetzer: Katja Meintel
  • Verlag: Edition Nautilus
  • Erschienen: 02.2010
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 192
  • ISBN: 978-3894017200

Das Erbe des Uther Pendragon

© Rowohlt

Nachdem zuletzt die Warterei auf Band 11 von Bernard Cornwells Sachsen-Saga zu lang zu werden drohte, habe ich mir „Der Winterkönig“ aus dem Bücherregal hervorgeholt, um damit zumindest etwas die Zeit überbrücken zu können. Ich konnte ja nicht ahnen, dass der Auftakt der Arthur-Trilogie, welche Cornwell Mitte der 90er und damit chronologisch vor der so erfolgreichen Serie mit dem Sachsen Uthred geschrieben hat, die anderen Werke nochmal derart in den Schatten stellen sollte. Und dabei standen die Zeichen vor der Lektüre doch eigentlich nicht so günstig, gibt es schließlich bereits genug Bücher über die Artus-Saga, von denen ein Großteil (von wenigen Ausnahmen abgesehen) letztendlich am versuchten Spagat zwischen Fiktion und Fakten gescheitert ist.

Besonders auf Letztere legt nun ja auch Cornwell bekanntlich großen Wert, weswegen das von ihm hier Geleistete umso höher zu bewerten ist. Ihm ist es gelungen, aus Mythen und Legenden, und trotz fehlender geschichtlich belegbarer Aufzeichnungen, einen historischen Roman zu schmieden, der die märchenhafte Erzählung zwar zu großen Teilen entzaubert, dafür aber gleichzeitig eine viel realistischere aus der Taufe gehoben hat. Diese sei schnell angerissen:

Britannien Ende des 5. Jahrhunderts. Es ist eine dunkle, eine düstere Zeit. Die Königreiche der Insel werden von Sachsen und Iren gleichermaßen bedroht, innere Streitigkeiten sorgen für Krieg zwischen den einzelnen Stämmen. Uther Pendragon, der alternde Großkönig, wartet verzweifelt auf die Geburt seines Kindes, in der Hoffnung es möge ein Junge sein, der seine Nachfolge sichert. Sein Wunsch wird ihm erfüllt, doch nur wenige Zeit später stirbt Uther aufgrund seines hohen Alters. Da der Säugling mit dem Namen Mordred das Land nicht regieren kann, beginnt nun die Suche nach einem Vertreter unter den Rittern, der anstatt des jungen Königs die Führung übernimmt und die begonnenen Friedensgespräche zwischen den britannischen Stämmen weiter vorantreibt. Ist Mordred alt genug, muss dieser Regent von seinem Amt zurücktreten und dem von Geburt an bestimmten Herrscher die Macht übergeben. Doch wer soll dieser Ritter sein?

Ein Rat wird gegründet, der aus den verschiedensten Stämmen den geeignetsten Kandidaten auswählen soll. Nach langen, zähen Verhandlungen einigt man sich schließlich auf Arthur, den Bastardsohn Uthers ohne legitimen Kronanspruch, der derzeit in Armorica, an der nordwestlichen Küste Galliens weilt, um dort das gefährdete britannische Reich gegen die vorrückenden Franken zu verteidigen. Bevor er sein Amt als Protektor Mordreds antreten kann, kommt es zu Verrat zwischen den Stämmen auf der Insel, den der junge rechtmäßige König nur knapp überlebt. Arthur eilt in Riesenschritten zur Hilfe und macht sich fortan an daran, das zerteilte Britannien zu einen, um die Sachsen endgültig vernichtend schlagen zu können. Alles sieht danach aus, als hätte er Erfolg. Die Heirat der Tochter eines ehemaligen Feindes scheint endlich den ersehnten Frieden und damit auch den Sieg zu bringen … bis Arthurs Blick auf die junge Guinevere fällt und durch seine Liebe zu ihr das gesamte Königreich in den Abgrund zu stürzen droht.

Uther Pendragon, Arthur, Guinevere, Merlin, Gawain, Lancelot. All die aus der legendären Sage bekannten Namen tauchen auch in diesem Buch auf, soviel sei verraten. Doch mit den Namen endet dann auch jegliche Ähnlichkeit zu anderen Artus-Büchern. Von Rittern in glänzenden Metallrüstungen oder elfengleichen Prinzessinnen vor turmhohen Steinburgen fehlt hier nämlich jede Spur. Und auch die Figuren sind so ganz anders, als man sie aus Film und vergleichbaren Büchern kennt. Cornwell zeigt sich einmal mehr als innovativer Autor und lässt die Geschichte, wie auch in der Sachsen-Saga, rückblickend erzählen. In diesem Fall von einem alten Mönch mit Namen Derfel, der als Kind nur knapp einer Todesgrube entkam und als Mündel des Druiden Merlins aufwuchs. In späteren Jahren wurde er zum findigen Krieger, Heerführer und Freund an Arthurs Seite, mit dem er gemeinsam so manche Schlacht schlug, um letztendlich in einem christlichen Kloster zu landen. Nun, im hohen Alter, schreibt er auf Wunsch von Lady Igraine seine Erlebnisse nieder, wobei diese stets den Ausgang der Geschichte sowie die Darstellung der Figuren zu beeinflussen versucht, da die von Derfel berichteten Vorgänge nicht zu dem von ihr lieber gesehenen Heldenbild der Beteiligten passen wollen. An dieser Stelle spielt Cornwell augenzwinkernd auf die verschiedenen, zumeist eher traditionellen Artus-Sagen an, die in seiner realitätsnahen Geschichte letztendlich keinen Platz finden.

Arthur ist hier kein strahlender Held und schon gar nicht König, sondern lediglich ein willensstarker, fähiger Krieger mit politischem Weitblick, dem es jedoch nicht an charakterlichen Schwächen und Feinden mangelt. Sein Mentor Merlin kann keine Zauberkräfte aufbieten und ist vielmehr der führende Kopf des vom Aussterben bedrohten Druidenkults. Und selbst Lancelot, der strahlende, blondgelockte Vorzeigeritter aus der Sage, hat keinerlei Ähnlichkeit mit der von z.B. Richard Gere verkörperten Figur. In diesem Buch ist er ein Feigling und Blender, und ein besonders hassenswertes Geschöpf dazu, an dem Cornwell seinen Spaß gehabt zu haben scheint. Selbiges gilt natürlich auch für Merlin, der mit seiner zynischen Art und dem staubtrockenen Humor nicht nur für ordentlich Spaß in der Geschichte sorgt, sondern der auch trotz seiner anfangs undurchsichtigen Handlungen die zusammenhängenden und -führenden Faden der Ereignisse in den Händen zu halten scheint.

Wo sonst besonders die Ausarbeitung der Nebencharaktere zu den größeren Schwächen des Autors zählt (u.a. bei „Das Zeichen des Sieges“ oder den ersten Bänden der Uthred-Reihe), so ist sie gerade hier das Bemerkenswerte des Romans. Alle, wirklich alle Personen innerhalb der Handlung überzeugen mit einer beeindruckenden Tiefe und einem Facettenreichtum, den man sonst innerhalb dieses Genres vergeblich sucht. Gute und Böse gibt es hier nicht. Vielmehr verkörpert fast jede Figur vor allem das Menschliche, das Zerrissene. Geleitet von den verschiedensten Motivationen und Wünschen sind sie weit entfernt von den strahlenden Rittergestalten der Sage, wodurch der Plot nicht nur an Authentizität gewinnt, sondern auch der Leser einen viel engeren Zugang zu den Charakteren bekommt. Und obwohl sich Cornwell liebevoll um diese, SEINE Figuren kümmert, verliert er doch nie den größeren Kontext aus den Augen. Dies hat zur Folge, dass „Der Winterkönig“ weit mehr ist, als nur eine weitere Version einer Legende. Der Autor erweckt eine ganze Epochen mit ihren Kriegen, Religionsstreitigkeiten und politischen Auseinandersetzungen zum Leben, und tut dies derart bildreich und berührend, das man nicht anders kann, als mitgerissen zu werden. So blutig und brutal auch hier die Schlachten wieder sind, sind es doch diesmal die ruhigen Szenen, die im Gedächtnis haften bleiben und das Leseerlebnis damit zu einem äußerst nachhaltigen machen.

Der Winterkönig“ ist weit mehr als ein guter Auftakt einer Trilogie. Cornwell stellt hier vielleicht erstmals sein sprachliches Können und seine Befähigung als Romancier auf ganzer Länge unter Beweis. Ein historischer Roman mit Anleihen des Fantasy-Genres, der einen Mythos auf die allerbeste Weise neu erzählt und gleichzeitig in Punkto Spannungsaufbau neue Grenzen auslotet. Für mich das (bisher) beste Werk dieses Autors, der sich langsam aber sicher zum Olymp des Genres schreibt.

Wertung: 95 von 100 Trefferneinschuss2

  • Autor: Bernard Cornwell
  • Titel: Der Winterkönig
  • Originaltitel: The Winter King
  • Übersetzer: Gisela Stege
  • Verlag: Rowohlt
  • Erschienen: 09.2008
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 688
  • ISBN: 978-3499246241

„Nichts ist trügerischer als eine offenkundige Tatsache“

© Insel

Sherlock Holmes langte die Flasche von der Ecke des Kaminsimses herunter und nahm seine Spritze aus dem fein gearbeiteten Saffian-Etui. Mit seinen langen, weißen, nervösen Fingern setzte er die feine Nadel auf und rollte sich die linke Manschette hoch. Eine Zeitlang verweilte sein Blick nachdenklich auf dem sehnigen Unterarm und dem Handgelenk, die von den Flecken und Narben unzähliger Einstiche gesprenkelt waren. Endlich stieß er die dünne Nadelspitze hinein, drückte den kleinen Kolben durch und ließ sich dann mit einem langen Seufzer der Befriedigung in die Samtpolster seines Lehnstuhls zurücksinken.

Wenn „Eine Studie in Scharlachrot“ rückblickend meinen Initiationsritus als Sherlockian darstellte, so war es dieser erste Absatz des drei Jahre später veröffentlichten Romans „Das Zeichen der Vier“, welcher für meine endgültige Konvertierung verantwortlich zeichnete – und diese bis dato ungebrochene Faszination für den großen Detektiv aus der Baker Street befeuerte. Mehr noch: Selbst so lange Zeit nach meiner ersten Lektüre kann ich mich noch genau an die Wirkung der obigen Worte auf mein damals noch jüngeres Ich erinnern. Das Staunen, der Unglaube, die Gänsehaut – gefolgt von einem unwirklichen Gefühl der Erkenntnis, hier etwas Besonderes in den Händen zu halten, das Auswirkungen auf meine Zukunft als Leser haben wird.

Wenngleich auch heutzutage viele Holmes-Anhänger dessen Drogensucht so weit wie möglich ignorieren und sich vor allem auf seine deduktive Geistesarbeit konzentrieren – es ist dieses Laster, diese Achillesferse, die den Mann mit der alten Bruyèreholzpfeife, trotz seiner scheinbar übermenschlichen intellektuellen Meisterleistungen, von einer künstlichen Figur in ein gesellschaftliches Phänomen verwandelten und ihn auch ironischerweise im selben Augenblick erdeten. Denn so sehr das Fixen von Morphium und Heroin im London des viktorianischen Zeitalters verrufen war – mehrere Opium-Höhlen rund um die Themse kündeten von dessen weiter Verbreitung. Und das obwohl die schädlichen Nebenwirkungen – die natürlich Dr. Watson nicht unerwähnt lässt – nicht nur in Medizinerkreisen bekannt waren.

Gleichzeitig markiert der Beginn von „Das Zeichen der Vier“ den Abschied von Sir Arthur Conan Doyles Findungsphase. Litt Sherlock Holmes‘ erster Auftritt in „Eine Studie in Scharlachrot“ (1887) noch unter dem inkohärenten Plotaufbau und streckenweise gar fehlender Wegfindung, webt der gebürtige Edinburgher Doyle hier nun mit neu gefundener Sicherheit einen geradlinigen roten Faden um diese Kriminalgeschichte, die, recht schnell zum Klassiker avanciert, im Anschluss ganze Generationen von Schriftstellern des Sub-Genres Whodunit maßgeblich beeinflusst hat und dies mitunter noch immer tut. Sie sei im folgenden deswegen kurz angerissen:

Mary Morstan, Tochter des verschollenen und als verstorben geltenden Captain Morstan, der lange Jahre in Indien stationiert war, erhält seit sechs Jahren an jedem Geburtstag eine wertvolle Perle. Stets wird diese ihr anonym zugeschickt, ohne nähere Erklärung. Nun, in einem nebligen Herbst des Jahres 1888, wird sie von ihrem unbekannten Wohltäter kontaktiert, welcher ihr nicht nur den Grund für das regelmäßige Präsent offenbaren will, sondern auch im Besitz von Informationen über die näheren Umstände des damaligen Verschwindens ihres Vaters ist. Da Mary Morstan sich nicht allein zu diesem Treffen mit einem Fremden begeben will, wendet sie sich mit diesem Rätsel an Sherlock Holmes und dessen getreuen Freund Dr. Watson, damit diese zwei ihr bei der Ergründung der Geheimnisse beiwohnen. Während Holmes die mysteriösen Eigenheiten des Falls reizen, ist Watson aus einem ganz anderen Grund Feuer und Flamme. Er hat sich auf den ersten Blick unsterblich in ihre neue Klientin verliebt.

Gemeinsam macht man sich in tiefster Nacht auf und folgt der Spur zum Anwesen des exzentrischen Thaddeus Sholto, der ihnen – gegen den Willen seines Bruders Bartholomew – schließlich eröffnet, dass er der Sohn desjenigen Mannes ist, durch den Mary Morstans Vater seinen Tod fand – und der ihn bis zuletzt um den Anteil an einem riesigen Schatz gebracht hat. Ein Schatz, der seit Jahren von einem geheimnisvollen, von Rache beseelten Mann gesucht wird, der nach dem Tode des alten Sholto einst eine Nachricht hinterließ. Ein Zettel, unterschrieben mit: „Das Zeichen der Vier“. Während Thaddeus Sholto nun die alte Schuld begleichen und den Reichtum mit Mary Morstan teilen will, wandelt Bartolomew in den Spuren seines Vaters. Von Geiz und Missgunst getrieben, hat er sich auf sein Anwesen zurückgezogen, um dort mit Argusaugen über den Schatz zu wachen. Eine Tragödie befürchtend, machen sich Holmes, Watson und Mary auf den Weg – doch der Tod ist schneller. Da sich die Polizei einmal mehr als überfordert erweist, übernimmt Sherlock Holmes kurzerhand das Ruder und bläst zu einer Jagd, bei der all seine Fähigkeiten auf die Probe gestellt werden …

London, Spätherbst 1888. Wenn man nicht gerade Patricia Cornwell heißt oder auf dem Mond großgezogen wurde, assoziiert ein jeder diesen Ort und dieses Jahr mit den Serienmorden von Jack the Ripper im Londoner East End von Whitechapel. Nicht nur wegen ihrer Brutalität, sondern vor allem aufgrund der Tatsache, dass der Täter nie gefunden wurde, sind sie kollektiv im Gedächtnis geblieben. Letzteres lastete man seinerzeit vor allem den Polizeikräften Londons an, die in der Tat kein gutes Bild abgaben bzw. in den übervölkerten dunklen Gassen der Armenviertel an die Grenzen ihrer damals beschränkten Möglichkeiten stießen. Ihr Versagen war aber auch gleichzeitig ein Startschuss für die Einführung moderner Ermittlungsmethoden, was in Sir Arthur Conan Doyles „Das Zeichen der Vier“ jedoch noch keinerlei Widerhall findet. Im Gegenteil: Die Polizei, hier in der Gestalt von Athelny Jones, suhlt sich in ihrer vermeintlichen Überlegenheit und sieht sich recht bald durch Sherlock Holmes eines wortwörtlich Besseren belehrt, der naturgemäß als einziger in der Lage ist, die Indizien am Tatort richtig zu deuten und die Fährte aufzunehmen.

Bereits zu diesem frühen Zeitpunkt im Buch lässt Doyle seinen großen Detektiv unter dem Dachfirst des Sholto-Anwesens zur Höchstform auflaufen – und weiß dabei auch die örtlichen Begebenheiten äußerst atmosphärisch zu nutzen. Ein abgeschlossener Raum unter einem Dachboden ohne offensichtlichen Zugang – das typische, nur auf den ersten Blick unerklärliche Locked-Room-Mystery. Und natürlich keine Herausforderung für den scharfen Verstand von Sherlock Holmes, der eine Probe seiner Fähigkeiten gibt und damit auch diejenigen Leser abholt, an denen „Eine Studie in Scharlachrot“ noch vorübergegangen ist. Auffällig dabei ist, dass auch die Figur Watson nun immens an Profil gewonnen hat. Aus der anfänglichen Zweckgemeinschaft ist längst eine enge Freundschaft geworden. Und gar mehr: Holmes hat den pragmatischen Afghanistan-Veteranen inzwischen zu schätzen gelernt, der wiederum erstmals seinen Wert beweist und verdeutlicht, dass man in Zukunft als Duo eine noch weit größere Gefahr für die kriminellen Elemente der Stadt darstellen wird.

Diese Stadt, das dreckige London des viktorianischen Zeitalters, sie ist der heimliche Star in diesem zweiten Roman mit Sherlock Holmes, führt uns doch die Spurensuche alsbald durch die dunklen Gassen der Themse-Metropole – und dies wiederum so zielsicher, bildreich und stimmungsvoll, dass vor unseren Augen eine längst vergangene Epoche wiederaufersteht. Doyles London, es ist ein äußerst Lebendiges und zeugt von der scharfen Beobachtungsgabe des gebürtigen Schotten, der seine Pappenheimer und vor allem das Milieu kannte. Nachdem Sherlock Holmes im ersten Roman noch weitestgehend durch Abwesenheit glänzte und stattdessen rückblickend der Wilde Westen zur Bühne verkam, wächst hier endlich zusammen was zusammen gehört. Eine Stadt und ihr Detektiv, der, einer Spinne gleich, von der Baker Street aus seine Fäden zieht, Kontakte in alle Gesellschaftsschichten hat und für die passende Gelegenheit selbst den richtigen Schnüffler hinzuziehen weiß. In diesem Fall den Bluthund Toby, dem sowohl Holmes und Watson als auch der Leser in das laute Hafenviertel folgt – dem Schauplatz für die finale Dampfboot-Verfolgungsjagd auf der Themse, welche für Doylesche Verhältnisse ziemlich actionreich daherkommt und den letzten Halt vor der eigentlichen Auflösung darstellt, die auch diesmal in Gestalt einer Rückblende inszeniert wird.

Es gibt Kritiker, die Doyle an dieser Stelle dann unnötiges Ausschweifen und eine Verschleppung des Tempos vorwerfen. Für mich persönlich rundet der Ausflug in das Indien während des Sepoy-Aufstands von 1857 die ohnehin mystisch aufgeladene Geschichte hervorragend ab. Gerade dieser Abschnitt ist mir wie kaum eine andere Passage aus dem Holmes-Kanon in Erinnerung geblieben – und hat nebenbei auch mein späteres Interesse an der britischen Kolonialgeschichte geweckt. Die Ereignisse rund um den Schatz von Agra sind genau diese Prise Mantel-und-Degen-Abenteuer, welche einem herausragend komponierten Detektivroman (und einem persönlichen Favoriten) die Krone aufsetzt. „Das Zeichen der Vier“ hat den Grundstein für Sherlock Holmes heutigen Kultstatus gelegt und ruft uns dank einer bestens aufgelegten Spürnase stets eins in Erinnerung:

Nichts ist trügerischer als eine offenkundige Tatsache.

Wertung: 95 von 100 Treffern

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  • Autor: Sir Arthur Conan Doyle
  • Titel: Das Zeichen der Vier
  • Originaltitel: The Sign of the Four
  • Übersetzer: Leslie Giger
  • Verlag: Insel
  • Erschienen: 11.2007
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 196 Seiten
  • ISBN: 978-3458350149

Nachtrag: Ich habe mich bei der Verlinkung des Titels bewusst für die ältere Insel-Ausgabe entschieden, da sie – leider gibt es den Haffmans Verlag ja in dieser Form nicht mehr und die Kein & Aber Ausgabe ist ebenfalls vergriffen – vor allem optisch der äußerst lieblosen Fischer-Version vorzuziehen ist. Ansonsten sollte vor allem bei antiquarischen Stücken darauf geachtet werden, dass es sich um die Übersetzungen von Gisbert Haefs, Hans Wolf etc. handelt. Von gekürzten Ausgaben oder gar solchen, wo Holmes und Watson sich duzen, ist abzuraten.

Die Natur ist Natur, sie kennt uns nicht …

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© Pendragon

Gefühlt jeder zweite Literaturblog hat in den vergangenen Wochen diesen Buchtitel in irgendeiner Form besprochen oder in den Mittelpunkt eines Beitrags gestellt. Und auch der Feuilleton hat Willi Achtens „Nichts bleibt“ durchaus einiges an Aufmerksamkeit zuteil werden lassen. Für den immer noch relativ kleinen Pendragon Verlag sicherlich äußerst wünschenswerte Werbung, was jedoch die Frage aufwirft, ob es Sinn macht, auch auf Crime Alley nochmal mit einer Rezension nachzulegen, ward doch eigentlich bereits alles gesagt. Doch kann man wirklich alles zu diesem hervorragenden Buch sagen? Und viel wichtiger – kann man es eigentlich oft genug sagen?

Meines Erachtens nicht, weshalb all die Kenner dieses Romans zwar jetzt ruhigen Gewissens abschalten können, all die anderen jedoch die Augen schärfen und sich nachhaltig davon überzeugen lassen sollten, Achten die bis dato ausgebliebene Beachtung (Haha, Wortspiel) zu schenken, denn – soviel sei vorab verraten – „Nichts bleibt“ gehört für mich jetzt schon zum Besten, was das Jahr 2017 bereitgehalten hat. Wohlgemerkt auch außerhalb des Genres Kriminalroman, wo ihn zwar der ein oder andere verortet, er allenfalls aber aus marketingstrategischen Gründen sein Zuhause findet. Nicht weil ein Krimi eine solche Geschichte nicht erzählen kann, sondern aufgrund der Art und Weise wie Achten diese erzählt bzw. aus der Ich-Perspektive wiedergeben lässt.

Zum Leser spricht der Roman durch Franz Mathys, einen langjährigen und u.a. mit dem World Press Photo Award dekorierten Kriegsfotografen, dem sein Erfolg jedoch kein Glück, sondern vor allem eine Ladung an tiefen Schuldgefühlen gebracht hat, da er stets nur vom Leid anderer profitierte. Inzwischen hadert er mit seinem Beruf, wird er des Nachts von schrecklichen Bildern und Momenten heimgesucht, spürt er, dass irgendetwas in ihm kaputt gegangen ist. Halt findet er allein in seinem Vater und seinem Sohn, mit denen er gemeinsam auf einem abgelegenen Hof mitten im Wald lebt und sich der Taubenzucht widmet, sowie in seiner neuer Liebe Karen, der Lehrerin seines Sohns. Weit weg von den Kriegsschauplätzen, von Leid, Hunger und schlimmsten Verbrechen, mitten in der Natur – hier will und kann er neu beginnen. So denkt Mathys zumindest, denn dieser Rückzugsort ist allenfalls eine trügerische Idylle und findet auch bald ein jähes Ende, als sein Vaters des Nachts im Wald von zwei Männern brutal niedergeschlagen wird. Obwohl er sofort ins Krankenhaus gebracht wird, verschlechtert sich sein Zustand rapide.

In Mathys, dem in der Vergangenheit – so erfahren wir immer wieder rückblickend – bereits die Erkrankung seines Sohnes zu schaffen gemacht hat (welche auch noch ausgerechnet von dessen geliebten Tauben ausgelöst wurde), zerbricht etwas. Die tief unter der Oberfläche köchelnde Wut bricht sich nun immer stärker Bahn, der Wunsch nach Rache wird drängender – und mit jedem Schritt den er seiner Vergeltung näher kommt, entfremdet er sich von denjenigen, die er liebt und die seinen letzten Halt bedeuten. Während das Glück um ihn herum zerbricht und auch von ihm zerbrochen wird, bereitet er sich unbeirrt auf seine ganz persönliche Abrechnung vor. Hoch oben, zwischen den eisigen Gletschern und den staubigen Geröllfeldern der Alpen, kommt es zu einer letzten Konfrontation …

Wenn „Nichts bleibt“, dann muss natürlich vorher etwas dagewesen sein und daher geht es auch in diesem Roman weniger um die Rache an sich, als in erster Linie um den Verlust – in all seinen Formen und Facetten, denn ironischerweise sind sowohl Aufstieg als auch Niedergang des Franz Mathys eng mit ihm verknüpft. Als Kriegsfotograf hielt er in Krisengebieten wie Serbien oder Somalia das Leid und das Sterben auf Bildern fest, wartete er auf den passenden Moment, in dem jemand seine Würde, seine Hand oder gleich das Leben verlor. Dort wo Menschen nichts blieb außer dem Schrecken, sie alles verloren, was ihnen etwas bedeutete – dort erntete Mathys seinen fragwürdigen Ruhm. Nicht ohne gleichzeitig dabei wiederum einen Teil von sich selbst vor Ort zu lassen, den Teil, den man Menschlichkeit nennt, diese sichernde Schutzschicht der Empathie, die Epidermis des zivilisierten Ichs, welche, einmal entfernt, ihn anfällig macht für diese schleichende Destruktion der Vernunft. Statt sein Glück mit den Händen zu schützen, versucht er danach zu greifen, wobei es ihm nach und nach wie Sand durch die Finger rinnt.

Seine Frau, sein Sohn, sein Vater – alle verlassen sie ihn auf die eine oder andere Weise, speisen die tiefe Leere in ihm. Allein sein Nachbar steht Mathys in diesen dunklen Zeiten zur Seite, doch ist dieser als zuweilen militanter Tierschützer auch gleichzeitig der denkbar schlechteste Verbündete und leistet dem Absturz letztlich nur noch schneller Vorschub. Die Jagd auf die beiden Männer, welche, neben dem Angriff auf seinen Vater, auch für sadistische, auf Video aufgezeichnete Tötungen an Wildtieren verantwortlich zeichnen, gerät mit jeder Seite mehr außer Kontrolle. Dabei ist die Tatsache, dass die Männer ihre brutalen Inszenierungen unter dem Deckmantel der Kunst vollziehen, für Mathys noch schwerer zu ertragen, ist doch einer der beiden der Sohn des gönnerhaften Theaterliebhabers Grunewald, welcher seinerseits Karen mit unliebsamer Aufmerksamkeit überhäuft.

Diese Lust auf Gewalt, diese Gier nach Tod und Blut der Männer – sie erzeugen einen Widerhall in Mathis, spiegeln sich in seiner eigenen Vergangenheit, zeigen ihm Bilder des Mannes, der er zu einem gewissen Bruchteil selbst einst war. Zeigen ihm das, was er vergessen, was er nicht mehr sehen und vor allem nicht mehr sein wollte. Es ist dieser Widerspruch, der für ihn zu einer Schlinge wird, die sich immer mehr zuzieht. Um nicht daran zu baumeln, muss er nur einen Schritt zurücktreten und es geschehen, es gut sein lassen. Doch der Mensch, der er inzwischen ist, ist dazu nicht in der Lage. Braucht die Vergeltung. Braucht die Gewalt. Eben weil sie in seiner Reichweite liegt, weil sie ihm vertraut ist, weil ihm sonst nichts bleibt.

Wie Willi Achten diesen Absturz verbildlicht, wie er diese Spirale aus verlorenen Hoffnungen und Gelüsten nach Rache letztlich plottet – das ist gleich auf mehreren Ebenen zugleich unheimlich intensiv und beeindruckend. Seine Sprache ist geschliffen und wortgewaltig, die Sätze verknappt und kurz wie schnell geschossene Fotos, oft beim Anfang des Satzes das Ende des vorherigen aufgreifend. Zu Beginn ist das vor allem dort irritierend, wo der Autor mitten im Absatz zwischen Gegenwart und Vergangenheit wechselt, allerdings stellt man sich relativ schnell darauf ein, wobei der Rhythmus zwar einerseits zum schnellen Lesen auffordert, die inneren Monologe und Beschreibungen andererseits aber zum Innehalten und Nachdenken anregen, wozu ich mich auch immer wieder habe hinreißen lassen – der drängenden Stimme, die wissen wollte, was als nächstes passiert, zum Trotz. Bereut habe ich es nicht, denn Achten entführt uns hier auch gedanklich an Orte, die man in sich aufnehmen muss, die man wirken lassen muss, um diese moralische, aber vor allem psychologische Tiefe reflektieren zu können. Und dies lohnt sich, denn der Roman bietet soviel mehr als nur pure Unterhaltung.

Die Lektüre ist vor allem eine Auseinandersetzung mit unserer eigenen Gefühlswelt, mit den über dem ganzen Roman dräuenden Fragen: Wie weit würde ich gehen? Was braucht es, um meine Aggressionen das Handeln übernehmen zu lassen? Was wäre ich bereit von mir selbst zu opfern? Was besonders irritiert, was das Ganze uns so nahe gehen lässt – wir kennen die Antworten darauf, wenngleich sich vielleicht der eine das eher als der andere eingestehen kann. Und hieraus entwickelt sich schließlich auch so etwas wie ein Dialog mit dem Erzähler, ergeben wir uns ein Stück weg der Unvermeidlichkeit des Ganzen, welche, einer drückenden Schwüle gleich, am Leser nagt, ihn schlaucht, ihn in gewissem Sinne verzweifeln lässt, weil er nur hilfloser Beifahrer auf dieser Fahrt gen Abgrund ist. Die Einsamkeit, die uns dabei befällt, lässt bei mir – wie schon auch von einigen anderen Rezensenten bemerkt – Erinnerungen an Gerald Donovans „Winter in Maine“ aufkommen, dessen Protagonist seinen Verlust von Hund und Frau ähnlich zu verarbeiten sucht. Mit dem einzigen Unterschied, dass dort die kunstvolle Schreibe nicht derart intensiv auf meine Gefühle gewirkt hat, wie hier. Das gilt übrigens gleichermaßen für die fast fotografisch genauen Beschreibungen der Mathis umgebenden Topographie, welche wiederum besonders im letzten Drittel Parallelen zu Willmans „Das finstere Tal“ aufweisen.

Nichts bleibt“ – das ist Sog und Strudel zugleich. Eine langsame, aber stetige und quasi uns nebenbei in die Geschichte hineinziehende Auseinandersetzung mit dem persönlichen Verlust, mitunter düster und drastisch, dann wieder poetisch und gefühlvoll und dabei eins nie – oberflächlich. Achten beweist sich hier als literarischer Boxer, der an jeder Stelle Treffer erzielt, ohne augenscheinlich außer Puste oder dem leichtfüßigen Schritt zu kommen. Unglaublich, dass dieser Schriftsteller bisher so unter dem Radar geflogen ist, denn so passend der Titel inhaltlich auch ist, als Bewertung gerät er zur Farce – da bleibt einiges und das für viele Tage noch bei mir im Gedächtnis. Ein herausragendes Stück deutscher Literatur!

Wertung: 95 von 100 Treffern

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  • Autor: Willi Achten
  • Titel: Nichts bleibt
  • Originaltitel: –
  • Übersetzer: –
  • Verlag: Pendragon
  • Erschienen: 02.2017
  • Einband: Broschiertes Taschenbuch
  • Seiten: 372 Seiten
  • ISBN: 978-3865325686

Along came a Spider

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© Ullstein

Nicht selten sind die Titel der deutschen Bücher schlecht gewählt, sehr oft sogar soweit weg vom Original, dass der interessierte Käufer einen Bezug zum Inhalt vergeblich sucht. In diesem Fall hat man allerdings eine gute Entscheidung getroffen, denn John Connolly führt uns mit dem dritten Band der Charlie „Bird“ Parker-Reihe tatsächlich (und erneut) an Orte, wo tiefste Finsternis herrscht.

Während die Konkurrenz solch düstere Plots in erster Linie mit viel Blut, viel Gedärmen und viel billigem Sex unterfüttert, zeigt Connolly einmal mehr, welch erstklassiger Schreiberling er ist. Geschickt mischt er Thriller-, Schock- und Mystery-Elemente miteinander und bringt ein Werk auf Papier, das sowohl sprachlich als auch dramaturgisch zur ersten Liga zählt. Und wer nach dem fulminanten Vorgänger „Das dunkle Vermächtnis“ dachte, der Autor könne diesen hohen Level nicht halten, sieht sich schon nach wenigen Seiten eines Besseren belehrt.

Nach dem gewaltsamen Zusammentreffen mit Caleb Kyle, wollte sich Charlie Parker, Ex-Cop und mittlerweile Privatdetektiv, ein wenig Ruhe gönnen. Ein paar Fälle in Sachen Wirtschaftskriminalität hier und da, ein wenig Fitnesstraining, die Einsamkeit in seinem Haus in Scarborough genießen. Doch irgendwie scheint das Böse den Weg zu ihm stets zu finden und er findet sich schon bald mit einem verzwickten Fall konfrontiert. Als man bei Waldarbeiten im Norden des Bundesstaates Maine ein Massengrab entdeckt, wird Parker von dem Millionär Jack Mercier angeheuert, um nicht etwa die Hintergründe der aufgefundenen Toten zu erklären, sondern weil seine alte Jugendfreundin Grace Peltier fast zeitgleich mit Auffinden des Grabes angeblich Selbstmord begangen hat. Der Vater der Toten glaubt dies nicht und bittet Charlie darum Nachforschungen anzustellen. „Was kann das schon schaden?

„Bird“ soll schon kurz darauf eine Antwort auf die Frage des sorgenvollen Vaters erhalten. Über die verschwundene Doktorarbeit von Grace, in welcher sie über das Verschwinden der Aroostook-Baptisten referiert, stößt er auf eine eigenartige Sekte, welche sich „Die Bruderschaft“ nennt. Hier findet er verschlossene Türen für seine Fragen vor und wird „dezent“ darauf hingewiesen, seine Ermittlungen einzustellen. Als die Drohungen zunehmen, der Mob aus Boston sich einschaltet und ein mysteriöser Killer namens „Golem“ die Gegend unsicher macht, spielt Charlie wieder mal seine Trumpfkarte aus… Louis und Angel, das schwule Pärchen und die beste Unterstützung im Kugelhagel, eilen zur Hilfe, welche der Privatdetektiv nun auch braucht, denn er hat nicht nur in ein Wespennest – oder sollte ich besser sagen Spinnennest gestochen, sondern gleichzeitig sich und seine Freunde in höchste Gefahr gebracht.

Was hat das alles mit dem Massengrab zu tun? Wer ist der schauderhafte Spinnenliebhaber Mr. Pudd? Und was hat es mit dem kleinen Jungen auf sich, dem Charlie immer wieder begegnet? Fragen, die John Connolly mit einer traumwandlerischen Sicherheit verarbeitet, an der sich ein Gros der Konkurrenz gern mal ein Beispiel nehmen darf und die dem ein oder anderen vielleicht gar vor Neid das Wasser in die Augen treibt. Einfach gekonnt, nein, mitunter sogar meisterhaft, wie der Autor hier die verschiedenen Sujets zu einem stimmigen Ganzen vermischt. Wo Kollegen früh ins Reißerische verfallen, der Plot schnell unrealistisch wirkt, findet der irische Autor stets das richtige Maß und kreiert eine Geschichte, die von Kapitel zu Kapitel Fahrt aufnimmt und Spannung gewinnt, um sich schließlich in einem beeindruckenden Showdown zu entladen. Im Mittelpunkt stehen dabei wieder diese herrlich bösen Gegenspieler, die derart finster und dreckig daherkommen, dass sie nur noch entfernt menschlich wirken. Sie sind das Salz in der Suppe, machen – trotz oder vielleicht gerade wegen der Überzeichnungen – die Faszination dieser Reihe aus und verursachen allenthalben wohligen Schauer und Nackenhaarsträuben. In diesem Fall vor allem in Person des ekelhaft-irren Mr. Pudd, der allein schon durch seine Beschreibung für fest geknautschte Sofalehnen sorgt und seinen Vorgängern, dem „Fahrenden Mann“ und „Caleb Kyle“, in Punkto Gefahrenmoment in Nichts nachsteht.

Gewalt wird hier nicht eingebaut, sie wird mitunter zelebriert, denn einem Racheengel gleich marschiert Parker voran, um seine Art der Gerechtigkeit für all diejenigen walten zu lassen, die selbst hilflos sind. Selbstjustiz ist nicht nur ein Mittel zum Zweck, sondern eine Notwendigkeit, welche angewandt wird, wann immer die Justiz versagt. Und in diesem Fall ist sie nicht mal ansatzweise in Sicht, wodurch das Buch einen Ton erhält, der tatsächlich noch einen Tick dunkler ist als der der beiden Vorgängerromane. Wuchtig und brachial zeigt uns Connolly die hässlichste Seite der Welt, die Fratze des Grauens, welcher der Leser allerdings auch gewachsen sein muss. Wer sich vor brutalster Gewalt und Blut ekelt, nichts über verstümmelte Leichen, Folter und ähnliche Perversitäten lesen möchte oder gar unter Arachnophobie leidet, sollte von diesem Buch die Finger lassen. Alle anderen bekommen einen Mystery-Hardboiled-Mischling kredenzt, der Dauerspannung und ordentlich beklemmende Unterhaltung garantiert.

Wohlgemerkt ohne dabei befürchten zu müssen, oberflächliches Gemetzel vorgesetzt zu bekommen. Ganz im Gegenteil: John Connolly hat in allen Belangen seine Hausaufgaben gemacht, augenscheinlich enorm viel recherchiert und die sich um die „Bruderschaft“ windende Handlung – trotz der Einsprengsel des Übernatürlichen – im Kontext realer Kriminalität verankert. Ähnlich wie Stephen King, so versteht es auch der Ire, das Alltägliche auf eine Art und Weise zu verformen, die zwar durch die Konfrontation mit dem archaischen Bösen an die Urängste des Lesers appelliert, uns doch gleichzeitig aber nie wirklich lange an der Glaubwürdigkeit des uns vorgesetzten Plots zweifeln lässt. Die meines Erachtens erstaunlichste Leistung des Romans, der immerhin unter anderem Parker richtige Gespenster sehen lässt. Spätestens hier trennt sich wohl auch in der Leserschaft die Spreu vom Weizen. Wer seinen Private-Eye rein nach klassischem Schema bevorzugt und Aufweichungen dieses Genres als Sakrileg verurteilt, der wird möglicherweise an diesem Punkt den Absprung machen. Wer jedoch diese Ausflüge ins Phantastische als Treibstoff, als eigenständiges Element dieser Reihe versteht, den wird diese bedrückende Atmosphäre auch diesmal in den Bann ziehen.

In tiefer Finsternis“ ist – um beim Thema Spinnen zu bleiben – ein langsam über und irgendwann dann auch unter die Haut krabbelnder Ausflug in tiefste seelische Abgründe und in eine Gesellschaft des mitunter kaum mehr zu ertragenden Wahnsinns. Und so sehr ich die Adjektive „fesselnd“ und „packend“ im Zusammenhang mit Buchbesprechungen inzwischen verabscheue – hier kann eine finale Bewertung ohne ihre Benutzung nicht erfolgen. Daher bleibt die Hoffnung, dass in naher Zukunft wieder ein Verlag den Faden John Connolly aufnimmt und die Übersetzung der Reihe fortsetzt – Herr Markus Naegele, wäre das nicht etwas für sie?

Wertung: 95 von 100 Treffern

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  • Autor: John Connolly
  • Titel: In tiefer Finsternis
  • Originaltitel: The Killing Kind
  • Übersetzer: Georg Schmidt
  • Verlag: Ullstein
  • Erschienen: 09.2006
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 464 Seiten
  • ISBN: 978-3548266237

Der Fluch des Blutes

Unbenannt

© Bastei Lübbe

Ich bin wohl alles andere als der typische Stephen-King-Fan, habe ich diesen Autor doch – im Gegensatz zu vielen anderen meiner Schulkollegen – in Jugendzeiten komplett verschlafen. Ob seine Werke oder die Verfilmungen – das Genre Horror war für mich lange Zeit nur über klassische Grusel -und Schauergeschichten von Stoker, Shelley, Walpole, Lovecraft oder Blackwood zugänglich. King selbst erschien mir stets zu trivial, zu billig und zu wenig subtil. Eine Einschätzung, welche natürlich auf Nichtkenntnis beruhte und sich erst änderte, als ich mich vor ein paar Jahren schließlich doch überwand, um mir „Es“ und im Anschluss daran „Carrie“ zu Gemüte zu führen. Ab da an war es um mich geschehen – und um mein Konto, denn nach und nach sind schließlich fast alle seine Bücher in mein Regal gewandert, welche ich nun chronologisch nach Erscheinungsdatum verschlinge, glücklich darüber, dass King in den letzten Jahrzehnten so produktiv gewesen ist (Und hoffentlich auch noch sehr lange bleiben wird).

In den nächsten Monaten (und vielleicht auch Jahren) möchte ich euch hier auf meinem Blog an dieser Reise in die Welt des „Grand Master of Horror“ teilnehmen lassen. Den Anfang macht, logischerweise, „Carrie“. 

Wohl kaum ein anderer Autor in der Literaturgeschichte schuldet seiner Frau derart viel Dankbarkeit wie Stephen King, war es doch seine Frau Tabitha, die Anfang der 70er Jahre das Manuskript zu „Carrie“ aus dem Papierkorb fischte und ihren Mann, damals noch ein arbeitsloser Englischlehrer, dazu überredete, es fertig zu schreiben und den Verlagen anzubieten. Der Grundstein für sein späteres literarisches Schaffen war damit gelegt, alles weitere liest sich aus heutiger Sicht wie die perfekte Version der amerikanischen „from rags to riches“-Biographie. Knapp 40 Jahre später ist Stephen King nicht nur der finanziell erfolgreichste Schriftsteller der Welt, sondern gilt auch als unangefochtener „Grand Master of Horror“, der eine ganze Generation folgender Schreiberlinge des Genres inspiriert und beeinflusst hat. Umso interessanter der Blick auf diesen allerersten Erfolgsroman, welcher jedoch mitnichten der erste war, den King geschrieben hat. Einige der frühen vier, die genauen Titel sowie ihre Anzahl sind immer noch umstritten, kamen ein paar Jahre später, überarbeitet, unter dem Pseudonym „Richard Bachman“ heraus, das der zum damaligen Zeitpunkt bereits berühmte King wählte, um zu sehen, ob sich sein Stil möglicherweise auch ohne den zugkräftigen Namen verkaufen würde. (Der Erfolg blieb, so groß er war, weit hinter den „King“-Werken zurück)

Nimmt man „Carrie“ heute in die Hand und schaut sich gleichzeitig die weiteren King-Titel im Regal an, fällt dem Betrachter vor allem der geringe Umfang von knapp dreihundert Seiten ins Auge, der sich im Vergleich zu den späteren epischen Wälzern beinahe mickrig ausnimmt. Bringt man sich dabei noch in Erinnerung, dass das ursprüngliche „Müll“-Manuskript gerade mal 98 Seiten umfasste, wird die bemerkenswerte Entwicklung des Autors King umso deutlicher. Das ein jeder für eine steile Karriere aber unten beginnen muss, kann auch „Carrie“ nicht verhehlen. Auch wenn es in Punkto Qualität und Wirkung sich nicht hinter Meisterwerken wie „Brennen muss Salem“ oder „Es“ verstecken muss, haftet dem Buch doch dieser typische Erstlings-Charakter an. Stark am Zeitgeist der 70er Jahre orientiert, bot es eine Gänsehaut für Puristen, die angesichts moderner Splatter-und-Folter-Werke, oberflächlich gesehen, schrecklich trivial erscheint. Eine Kritik, welche der haarscharfe Beobachter aber bereits nach wenigen gelesenen Seiten relativieren muss, denn „Carrie“ hat weder an Aktualität noch an Intensität verloren.

Im Mittelpunkt der Geschichte steht das titelgebende junge Mädchen, das, aufgewachsen im Schatten des religiösen Wahns ihrer fanatischen Mutter, als Außenseiterin ihr Leben an der Ewen High School im kleinen Städtchen Chamberlain fristet. Versehen mit der Gabe der Telekinese, lässt sie bereits als Dreijährige einen Steinregen auf ihr Elternhaus prasseln, weil die Mutter ihrer in „Sünde gezeugten“ Tochter nach dem Leben trachtet. Dreizehn Jahre später sieht sich Carrie nicht enden wollendem Spott seitens ihrer Mitschüler ausgesetzt, welche keinerlei Gelegenheit auslassen, um das scheue, zurückhaltende Mädchen für ihren christlichen Glauben und die aus ihrer Erziehung resultierende Unwissenheit zu hänseln. Den Höhepunkt findet das Ganze schließlich im Duschraum der Sporthalle, wo Carrie, vollkommen überrumpelt vom Eintreten ihrer ersten Menstruation, mit Binden und Tampons beworfen und schließlich von der Sportlehrerin nach Hause geschickt wird.

Was zu diesem Zeitpunkt keiner weiß: „Der Fluch des Blutes“, wie ihre Mutter später kalt feststellt, führt schließlich zu einer Kette von Ereignissen, welche die zurückhaltende Carrie an ihre Grenzen und darüber hinaus treiben. Während manch einer versucht, die begangenen Gemeinheiten durch gute Taten zu sühnen, bereiten sich andere auf einer allerletzten Streich vor, der Carries Position innerhalb der Gemeinschaft der anderen Schüler und Schülerinnen endgültig vernichten soll. Um ihre erste aufkeimende Liebe gebracht und durch Wut und Verzweiflung zum Äußersten getrieben, entfesselt Carrie schließlich ihre Gabe, um Kraft ihres Willens gnadenlose Rache zu nehmen …

Auch wenn das Motiv des Loser-Teenagers bereits zu Beginn der 70er Jahre kein Neues mehr war – derart emotional auf die Spitze getrieben und in seiner Essenz erfasst, hat es wohl nur Stephen King, der in einem von Vietnam-Krieg, Umweltzerstörung und atomarer Bedrohung geprägten Amerika, die Angst mit „Carrie“ wieder auf ihren Ursprung reduziert. Es ist der alltägliche Horror, der Blick unter die Dächer und damit hinter die Kulissen der sauberen Vorstadtsiedlungen und Kleinstädte, welcher den Autor nicht nur durch seine weiteren Werken begleitet, sondern letztlich auch seine große Popularität begründet hat. Grusel, Schrecken, Spannung – all dies ergibt sich in erster Linie aus den ursprünglichen, menschlichen Gefühlen und nicht aus den durchaus auch immer präsenten übersinnlichen oder fantastischen Elementen. Der Grund warum man die Seiten von „Carrie“ schon direkt nach Beginn der Lektüre immer fester packt, ist die gefühlsmäßige Verbindung zu den Figuren, deren präzise Zeichnung Stephen Kings herausragende Stärke ist. Ob Wut, Hass, Mitleid oder eben Angst – die Gefühle dieser fiktiven Charaktere sind stets nachvollziehbar und vor allem nachfühlbar. So resultiert die Spannung schließlich aus Dingen, welche man in ähnlicher Form selbst bereits erlebt hat.

In „Carrie“ ist dieses Fingerspitzengefühl und Einfühlungsvermögen Kings zwar erst in Ansätzen vorhanden – im Verbund mit den fiktiven, (pseudo-)wissenschaftlichen Fachartikeln und Verhandlungen der White-Kommission, welche King nachträglich einbaute, um einerseits den Umfang zu strecken und andererseits die Authentizität zu erhöhen, ergibt sich jedoch ein äußerst intimer Einblick in die Schicksale der Figuren. Das dieser so prägend ausfällt, ist auch insofern verwunderlich, da eigentlich niemand der Beteiligten in seinen Handlungen Sympathie erwecken kann. Selbst gut meinende Charaktere wie Miss Desjardin oder Sue Snell können sich ihrer Abscheu für Carrie nicht erwehren, müssen sich von der Falschheit der gegen sie begangenen Taten mit Logik überzeugen, weil ihre Gefühle, wie die aller anderen, gegen die Außenseiterin sprechen. Diese innere Zerrissenheit zieht sich durch das gesamte Buch und sorgt für diese immense Sogkraft, der man sich nur schwer entziehen kann. Und das obwohl durch oben genannte Berichte dem Leser bereits Fakten zukünftiger Ereignisse bekannt gemacht werden und man dadurch eigentlich bereits weiß, wohin das Ganze führt.

Dem Lesevergnügen tut das keinen Abbruch – im Gegenteil: Durch sie wird das Ausmaß der Katastrophe, welches im Kleinen, nämlich im Hause der Whites, seinen Anfang nahm, in seiner vollen Tragweite deutlich. Angesichts heutiger Schulmassaker, nicht nur in Amerika, ist der beinahe deckungsgleiche Verlauf ein zusätzlich unheimlicher und nachdenklich stimmender Nebeneffekt. Dazu passt auch der Ursprung der Figur Carrie, die ein reales Vorbild hat. King, der als Kind in Durham, Maine lebte, wählte den Namen aufgrund eines seltsamen Mädchens, welches mit ihm zusammen zur Schule fuhr und von allen gemieden wurde – im Erwachsenenalter nahm sie sich das Leben.

Trotz durchaus vorhandener und kritikwürdiger Schwächen – Stephen Kings Frühwerk „Carrie“ ist, immer noch, ein in allen Belangen überzeugender Horror-Roman. Ein perfekter Einstieg in das Kingsche Universum, der mich persönlich tief beeindruckt und endgültig zum „Jünger“ dieses fantastischen Schriftstellers gemacht hat.

Wertung: 95 von 100 Trefferneinschuss2Autor: Stephen King

  • Titel: Carrie
  • Originaltitel: Carrie
  • Übersetzer: Wolfgang Neuhaus
  • Verlag: Bastei Lübbe
  • Erschienen: 01.2011
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 320
  • ISBN: 978-3404169580

Krieg liegt in der Luft

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© Diogenes

Ambler-Marathon, die Vierte. Diesmal im Mittelpunkt: „Anlass zur Unruhe“

Bei Diogenes, wo Eric Ambler lange Jahre verlegt wurde, gehörten seine Bücher zu denjenigen, welche sich am wenigsten verkaufen. Gerade mal drei bis vier Exemplare eines Titels pro Jahr. Eine traurige Ausbeute. Nun hab ich mittlerweile vier seiner Werke gelesen und kann mir immer noch nur kopfschüttelnd die Frage stellen: Warum? Allein seine fünf Vorkriegsromane, die in einem zeitlichen Abstand von gerade mal drei Jahren (1936 – 1939) erschienen sind, gehören zum Besten, was ich in diesem Genre lesen durfte. Und auch wenn „Die Maske des Dimitrios“ der bekannteste dieser fünf Romane ist, wirkt wohl keiner anderer so nach wie „Anlass zur Unruhe„.

Ambler, der selbst Maschinenbau studierte und als Ingenieur abschloss, wählt hier erneut die Zusammenarbeit multinationaler Konzerne mit faschistischen Gruppierungen als thematischen Hintergrund für sein Buch, das wie kein anderer Vertreter dieses Genres die politisch angespannte Stimmung dieser Zeit treffend und erschreckend wiederzugeben vermag. Diesmal konzentriert sich Ambler auf Italien, das sich, seit 1926 unter der Führung von Mussolini stehend, zu einer militärischen Großmacht aufgerüstet hat und an der Seite von Hitlers Deutschen Reich eine zunehmend aggressivere Außenpolitik verfolgt. Möglich ist dies kurioserweise vor allem durch ausländisches Kapital, das in großen Mengen ins Land fließt und die staatlich geförderte Produktion von Kriegsmaterial zusätzlich ankurbelt. Und hier setzt Amblers Story an:

Nicholas Marlow, wie Ambler selbst Ingenieur, verliert seine Arbeit just an dem Tag, an dem er seiner Freundin einen Heiratsantrag machen will. Aufgrund der landesweiten Rezession verläuft die Suche nach einer neuen Anstellung für ihn lange Zeit erfolglos, bis ihm schließlich ein ungewöhnliches Angebot gemacht wird. Die englische Werkzeugmaschinenfabrik Spartacus bietet ihm einen Job in ihrer Mailänder Dependance an und Marlow, verzweifelt und ziemlich pleite, nimmt an, zumal seine Aufgaben relativ einfach klingen. Als Repräsentant der Firma, soll er die Nachfolge seines Vorgängers Fernside antreten, der bei einem Autounfall im dichten Nebel der Stadt ums Leben kam. Was er nicht weiß: Der Unfall war keineswegs einer und mit dem Antritt seiner Stelle heften sich gleich mehrere nicht eindeutig zuzuordnende Spione an seine Fersen, die mehr über die Bewaffnung des faschistischen Staates in Erfahrung bringen wollen. Marlow verstrickt sich schnell in einem Gewirr aus Spionage und Gegenspionage, und muss schließlich um sein Leben rennen…

Dass Eric Ambler ein Meister darin ist, den lautlosen Krieg feindlicher Agenten im Europa der Zwischenkriegszeit zu beschreiben, beweist er in „Anlass zur Unruhe“ einmal mehr. Mit viel dramaturgischen Geschick und einer schon beängstigenden Weitsicht führt er den Leser in ein Italien, das zu diesem Zeitpunkt bereits einen Krieg mit Äthiopien hinter sich hatte und mit begehrlichen Blicken Richtung Albanien schielte. Das Volk wird an der kurzen Leine gehalten, Überwachung ist oberstes Gebot. Ambler weckt eine Epoche mit all ihrer Düsternis zum Leben und analysiert nebenbei das nur auf den ersten Blick so eng wirkende Verhältnis vom Hitler-Deutschland zu Mussolini-Italien. Unwillkürlich macht sich Gänsehaut breit, wenn der Autor den Protagonisten Zaleshoff, der hier gemeinsam mit seiner Schwester Tamara seinen zweiten Auftritt nach „Ungewöhnliche Gefahr“ hat, vom bevorstehenden Krieg reden lässt:

Die vier apokalyptischen Reiter sind zum Start bereit, und, Marlow, wenn die wieder durch Europa reiten, können Sie allen Ihren Träumen adieu sagen. Das wird ein Krieg sein, nach dem auf der Welt alles mögliche gedeihen wird, nur nicht die Menschen (…)

Es sind solche Zeilen, die Ambler zum visionärsten seiner Zunft machten und welche nachhaltig beeindrucken. Und erneut steht dabei ein Jedermann im Mittelpunkt, ein Unbeteiligter und Unschuldiger, der feststellen muss, dass gerade seine Unschuld ihn zum Schuldigen macht. Es ist die Geschichte über einen Mann, der gezwungen wird, seine Loyalität gegenüber seinen Arbeitgebern, seinem Land, der Wissenschaft und der Welt zu hinterfragen.

Insgesamt ist „Anlass zur Unruhe“ ein Meisterwerk des Spionage-Thriller-Genres, dessen Tiefgang im Verbund mit der stets spannender werdenden Handlung, die schließlich bis in verschneite Norditalien führt, auch heute noch über Stunden fesselt. Ohne Zweifel eines seiner besten Bücher, das viel mehr Leser verdient hätte. Möge diese Rezension dazu beitragen.

Wertung: 95 von 100 Trefferneinschuss2

  • Autor: Eric Ambler
  • Titel: Anlass zur Unruhe
  • Originaltitel: Cause for Alarm
  • Übersetzer: Dirk van Gunsteren
  • Verlag: Diogenes
  • Erschienen: 1/1999
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 397
  • ISBN: 978-3-257-23108-3