Was haben das Album einer neuseeländischen Rock-Gruppe und ein Dokumentarfilm über das schottische Parlament mit dem zwölften Band aus der Reihe um Detective Inspector John Rebus zu tun? Nun, sie bildeten quasi den Ausgangspunkt für die Geschichte von „Puppenspiel“, der rückblickend zu einem von Sir Ian Rankins wichtigsten Romanen werden sollte, markiert er doch den Zeitpunkt, ab dem er endgültig komplett vom Schreiben leben konnte – und damit das Ende einer mehr als 12-jährigen, finanziell nicht immer auf Rosen gebetteten Lehrzeit. Geduld, so stellt er heute selbst fest, ist daher die vielleicht wertvollste Tugend, welche man sich als angehender Schriftsteller zu Eigen machen kann. Geduld, für die richtige Idee zur richtigen Zeit. Für einen Verleger, der den Wert und die Chancen hinter dieser Idee nicht nur erkennt, sondern auch wertschätzt. Und Geduld für den Moment, an dem sich all dieser Fleiß und die Hingabe auszahlt.
Wer sich bereits ein paar Interviews mit Sir Ian Rankin angeschaut hat, der erkennt und versteht, dass sich dieser Schotte nicht nur seiner Heimat Fife und der naheliegenden Stadt Edinburgh auf eine besondere Art verbunden fühlt, sondern schon seit seiner Kindheit in Cardenden an, der Faszination des geschriebenen Wortes genauso erlegen ist, wie dem Zauber der Musik. Von der Comic-Lektüre über das Schreiben eigener kleiner Kurzgeschichten und Gedichte bis hin zum Studium von Muriel Spark und seinem ersten eigenen Werk „Verborgene Muster“ (engl. „Knots and Crosses“). Von Abenden in Tanzlokalen und einer kurzen Zeit als Sänger in der Punkband „Dancing Pigs“ bis hin zur Zusammenarbeit mit Jackie Leven. Literatur und Musik haben Sir Ian Rankins Werdegang beeinflusst, gelenkt und letztlich auch den speziellen Charakter und Charme seiner Bücher geformt. So ist es fast folgerichtig, dass ihn beide Elemente immer wieder zu Ideen inspirieren – er stets aufs Neue aus Musikalben und Songtexten seine Ideen bezieht und diese dann nicht selten dann auch den Ton des Buchs bestimmen. „Puppenspiel“, dessen englischer Original-Titel „The Falls“ lautet, ist dafür einmal mehr ein treffendes Beispiel.
Bei „The Falls“ handelt es sich einen Song der neuseeländischen Band „Mutton Birds“ aus dem Album „Rain, Steam and Speed“, über das Rankin nach seinem ersten Aufenthalt in Neuseeland Anfang der 2000er beim fernsehen in einem Werbespot stolperte. Er kaufte es sich kurzerhand am Flughafen, hörte es sich zuhause in Edinburgh an – und blieb am langsamen, quälend eindringlichen und mythischen Sound des Liedes hängen. Der Text handelte davon, wie der Mensch sich in seiner unersättlicher Neugier die Welt erfindet und hat eine besonders prägende Zeile im Refrain:
„There must be a story behind all that …“
Dieser Satz schien Rankins eigenen inneren Antrieb zum Schreiben zusammenzufassen und sollte ihm kurz darauf direkt wieder durch den Kopf spuken, als er für ein französisches Fernsehteam im Untergeschoss des damals gerade erst eröffneten Museum of Scotland ein Interview über das neue Parlamentsgebäude gab (Der Autor verfolgte zu der Zeit die Baukosten, den gewählten Standort und die ganze Notwendigkeit, mehr Bürokratie einzurichten, mit großer Skepsis). Ein Museumsarbeiter erkannte den Autor wieder und bat ihn darum, sich die „Püppchen“ im vierten Stock in der Abteilung „Religion und das Leben nach dem Tod“ anzusehen. Eher widerwillig kam er diesem Ansinnen nach und sah dort erstmals die „Särge vom Arthur’s Peak“. Kleine, geschreinerte Miniatursärge mit darin bestatteten Holzpüppchen, welche man 1836 in einer Höhle des „Arthur’s Peak“-Hügels entdeckt hatte und über deren Herkunft und Bedeutung bis zum heutigen Tage ohne eine abschließende Deutung diskutiert wird. „There must be a story behind all that …“ Rankin sah sofort die Gelegenheit, seinerseits eine Deutung zu liefern, wo eine historische „Wahrheit“ bislang gefehlt hatte, begann mit der Recherche und hatte einige Monate später seinen Plot. Und dieser sei kurz angerissen:
Edinburgh, Anfang der 2000er Jahre. Nicht nur ein neues Jahrtausend ist angebrochen, auch sonst scheint die Welt rund um Detective Inspector John Rebus von der Mordkommission im Revier St. Leonard’s Street im Wandel begriffen. Mit seinem Vorgesetzten Chief Superintendent Thomas „Farmer“ Watson geht eine langjährige Konstante in Rebus‘ beruflichen Leben endgültig in den Ruhestand. Ihr Verhältnis war von Gegensätzlichkeit, aber auch von großem Respekt geprägt. Watson, um die Stärken des unkonventionell agierenden Detectives wissend, hatte immer wieder mehr als nur ein Auge zugedrückt oder ganz weggeschaut, selbst den zuletzt immer exzessiver werdenden Alkohol- und Nikotinkonsum so gut und lang es ging ignoriert. Nun rückt auf seine (lange von Männern dominierte) Position die Karrierefrau Gill Templer nach, die nicht nur eine komplizierte gemeinsame (wenngleich kurze) Vergangenheit mit Rebus verbindet, sondern ungünstigerweise direkt mit einem Aufsehen erregenden Fall konfrontiert wird:
Philippa Balfour, junge Studentin und Tochter des stadtbekannten Privatbankiers John Balfour, ist wie vom Erdboden verschluckt. Sie hatte sich eigentlich mit Freunden für denselben Abend verabredet, ist aber nie am Treffpunkt angekommen. Der erste Verdacht fällt direkt auf ihren Freund David Costello, dem Rebus und seine Kollegin Detective Sergeant Siobhan Clarke sogleich einen Besuch abstatten. Während Letztere sich durch den Rechner der Vermissten wühlt und dabei in deren eMails über ein seltsames Online-Rollenspiel stolpert, an dem Philippa augenscheinlich teilgenommen hat, fühlt Rebus wiederum Costello auf den Zahn. Der ist selbst Sohn gut betuchter Eltern und muss zugeben, Philippa nach einem heftigen Streit verlassen zu haben. Beweise für eine Gewalttat gibt es aber keine, was John Balfour jedoch nicht davon abhält, seine Beziehungen spielen zu lassen und sämtliche Reviere für eine Großfahndung in Bewegung zu setzen. Der Druck von Öffentlichkeit und Medien steigt schnell – und mit ihm die Nervosität in der polizeilichen Führungsetage.
Rebus wird nach einem nächtlichen alkoholischen Absturz in Costellos Wohnung ein Arzttermin aufgedrückt. Gill Templer hofft ihn so aus dem Dunstkreis der Ermittlungen herauszuhalten. Eine weitere Gelegenheit ergibt sich in dem kleinem Dorf Falls. Hier hat eine Einwohnerin einen kleinen Holzsarg an dem namensgebenden Wasserfall gefunden. An sich keine nennenswerte Entdeckung, würde nicht unweit der schlossähnliche Familiensitz der Balfours liegen. Widerstrebend begibt sich Rebus in die ländliche Provinz, tut den bizarren Fund aber schnell als makabren Scherz ab und hat dabei sogar die Finderin selbst im Verdacht. Dennoch ist sein Interesse geweckt. Ist der Zeitpunkt wirklich ein Zufall? Oder ist die Aktion eine Botschaft an Philippas Eltern? Bei seinen Nachforschungen macht er kurz darauf die Bekanntschaft mit Dr. Jean Burchill, eine Historikerin im Museum of Scotland und Expertin für ein paar besondere Ausstellungsstücke: Sechzehn Miniatursärge gleicher Machart, die 1836 entdeckt wurden und für deren Bedeutung es mehrere Theorien gibt. Eine davon bezieht sich direkt auf die Zahl, denn das in Edinburghs Geschichte berüchtigte Duo Burke und Hare, beide in den 1820er Jahren als Leichenhändler tätig, hatte der Legende nach genau die gleiche Anzahl an Männern und Frauen getötet – und deren Körper anschließend an die Anatomie der Universität verkauft.
Gibt es hier vielleicht eine Verbindung? Während er gemeinsam mit einem kleinen Team geschichtliche Recherche betreibt, nimmt Siobahn per eMail Kontakt mit Philippas Questgeber auf. Der mysteriöse „Quizmaster“ stellt ihr mit steigendem Schwierigkeitsgrad immer kompliziertere Rätsel. Und im Versuch, sich auch ohne John Rebus an ihrer Seite bei einer Ermittlung beweisen zu können, wird Siobhan plötzlich unvorsichtig …
Vorab: Wer nach dem äußerst komplex aufgebauten und mit einer Vielzahl verschiedenster Figuren bevölkerten elften Band, „Der kalte Hauch der Nacht“ (das mir – siehe Rezi – hervorragend gefallen hat), ein ähnliches „Ungetüm“ befürchtet hat, den kann ich an dieser Stelle beruhigen. Sir Ian Rankin geht mit der Menge an Charakteren weit sparsamer um als im Vorgänger und fährt auch nicht annähernd so viele parallele Handlungen auf. Ob das gut oder schlecht ist – daran scheiden sich sicherlich die Geister. Ich habe in jeden Fall sowohl positive als auch negative Aspekte in dieser veränderten Strategie ausmachen können, wobei erstere – einmal mehr – überragen, denn auch „Puppenspiel“ legt wieder Zeugnis von der hochkarätigen Klasse dieses Ausnahme-Autors ab.
Rankin hat seine Perspektive über die Jahre von dem sehr engen narrativen Fokus auf den einsamen Wolf Rebus hin zu einem viel umfassenderen Weitwinkel erweitert, in dem auch anderen Protagonisten aus der Serie nun immer mehr Aufmerksamkeit zuteil wird. Das scheint jedoch weniger eine bewusste Entscheidung des Autors, als folgerichtige Entwicklung, hat doch der grimmige Einzelgänger zunehmend seine Schwierigkeiten mit dem Wandel der Zeit mitzuhalten. Rebus wird langsam aber sicher zu einem Auslaufmodell, das zwar immer noch mit unkonventionellen Methoden Erfolge verbuchen kann, dafür aber auch inzwischen auf die Mithilfe anderer angewiesen ist. Das Zeitalter der Informanten und kurzen Dienstwege neigt sich dem Ende zu. Modernste Techniken ersetzen diese antiquierten Methoden – und damit auch den ehemals scheinbar unvermeidlichen Gang in die verrauchten Gefilde der Pubs. Für Rebus ist alles rund um das Thema Computer unbekanntes Terrain. Eine Welt, in der er sich komplett verloren fühlt – und die er daher gerne Kollegen, wie eben Siobahn Clarke, überlässt.
Die hatte in der Vergangenheit allenfalls angedeutet, wozu sie fähig ist, erhält nun aber ihren „moment to shine“. Mit dem Vorwurf konfrontiert, zu einem Abbild ihres Mentors Rebus zu werden, hängt sie sich besonders herein, um zu beweisen, dass sie mit ihren ganz eigenen Fähigkeiten glänzen kann. „Puppenspiel“ ist nicht nur ihre endgültige Feuertaufe – es ist auch der Abschluss dieser oben erwähnten Entwicklung. Spätestens ab jetzt ist das nicht mehr allein eine Reihe um Detective Inspector John Rebus, der ihr in diese virtuelle Welt auch in Zukunft nur widerwillig folgen und sich lieber auf alte Stärken – und damit auf die Suche nach greifbaren, konkreten Indizien – besinnen und beschränken wird. Für den Leser ist das meines Erachtens eine absolute Win-Win-Situation, ist es doch sonst in vielen Krimis sehr oft der Fall, dass die Erzählung unter den regelmäßigen Perspektivwechseln leidet, ein Spannungsbogen unnötig in die Länge gezogen oder – noch schlimmer – das Spannungsmoment gänzlich verschleppt wird.
In „Puppenspiel“ haben beide – Rebus und Clarke – gleich viel „Screentime“. Es ist ebenso sehr Siobhans wie Rebus‘ Buch. Und von dieser Gleichberechtigung profitiert der Roman in besonderem Maß, zumal beide neben den beruflichen, eben auch mit privaten Themen zu kämpfen haben. Während Siobhan sich der Avancen ihres Kollegen Detective Grant erwehren muss, mit dem sie gemeinsam die Rätsel zu lösen versucht, ist Rebus erneut im Clinch mit den eigenen Dämonen und Geistern der Vergangenheit. Nicht zum ersten Mal hinterfragt er, angesichts all der gebrachten Opfer, den Sinn seiner Arbeit. Gute Freunde sind tot (hier gelingt Ian Rankin im Buch eine der stärksten Momente der Serie), seine Tochter ihm weiterhin fern und fremd – und auf eine richtige Beziehung kann und will er sich auch nicht einlassen. Und das obwohl er durchaus Gefühle für Dr. Jean Burchill entwickelt, die zudem noch erwidert werden. Aber wie soll er ihr seinen inneren Konflikt erklären? Wie soll er ihr verständlich machen, dass allein sein Beruf ihn definiert und es so etwas wie Feierabend, für ihn nicht gibt?
(…) „Was für eine herrliche Stadt“, sagte sie. Rebus gab sich Mühe, ebenso zu empfinden. Die Schönheiten der Stadt fielen ihm kaum mehr ins Auge. Für ihn war Edinburgh eine Art Gemütszustand: ein Herumjonglieren mit den Beweggründen krimineller Machenschaften und mit den niederen Instinkten anderer Leute. Er mochte die kompakte Bauweise ihrer Stadt und ihre Größe. Und er mochte ihre Bars. Doch ihr äußeres Erscheinungsbild beeindruckte ihn schon lange nicht mehr. Jean kuschelte sich etwas enger in ihren Mantel. „Wohin man auch schaut, überall Geschichten und historische Reminiszenzen.“ Sie sah ihn an, und er nickte zustimmend. Doch in Wahrheit dachte er nur an die zahllosen Selbstmorde, mit denen er zu tun gehabt hatte, an die Leute, die von der North Bridge gesprungen waren, weil es ihnen offenbar nicht gelungen war, dieselbe Stadt zu sehen wie jetzt Jean.
„Ich kann mich an diesem Ausblick einfach nicht satt sehen.“, sagte sie und ging dann weiter Richtung Auto. Wieder nickte er, nicht ganz aufrichtig. Denn für ihn handelte es sich nicht um einen Ausblick, sondern vielmehr um eine Ansammlung potenzieller Tatorte. (…)
Rankin investiert diesmal viel Zeit in die Ausarbeitung und Erweiterung seiner Charaktere, macht deutlich, dass auch ein John Rebus den Zahn der Zeit zu spüren beginnt und er nicht in einer künstlichen Blase lebt, die in kommenden Bänden unangetastet bleiben wird. Dieser Mut zur Veränderung hebt den Schotten von einer Vielzahl seiner Konkurrenten ab, die jedes Jahr aufs Neue ein und denselben Stereotyp aus ihrer Schublade ziehen und allein den Schauplatz und die restliche Besetzung etwas variieren. Bestes Beispiel dafür ist Rebus‘ Gedanke, seine Wohnung in der Arden Street endgültig zu verlassen. Das Wohngebiet ist längst komplett in der Hand von Studenten, keinen seiner Nachbarn kennt er noch persönlich. Warum er diese Entscheidung am Ende des Buches dann doch nochmal ändert, ist ein weiteres Highlight des Buchs.
Das ist wiederum – Rankin-typisch – kein Pageturner im klassischen Sinne, entwickelt aber eine immense Sogkraft, welche den Leser immer tiefer in die Handlung und die Gassen der Stadt Edinburgh hineinzieht. So kann ich sogar verschmerzen, dass die Auflösung selbst mich nicht mehr wirklich überrascht hat. Auch weil bei Rankin seit jeher das „Warum?“ Vorrang vor dem Genre-typischen „Wer?“ hat. Und in dieser Hinsicht macht er wieder einen fantastischen Job.
Wer es an der Länge meiner (vollkommen ausgeuferten) Besprechung noch nicht hergeleitet hat, dem sei also nochmal zusammenfassend gesagt: „Puppenspiel“ ist ein düsterer, melancholischer, aber auch immer wieder äußerst schwarzhumoriger Police-Procedural (den „Tartan Noir“ hat er für mich hiermit hinter sich gelassen) über die Brüchigkeit bürgerlicher Fassaden, der ein paar der besten Dialog- und Monologzeilen der gesamten Serie beinhaltet und für viele Stunden auf höchstem Niveau unterhält. Da verzeiht man dem Autor sogar, dass er Gerald Cafferty, Rebus‘ Nemesis, diesmal auf der Ersatzbank gelassen hat. Unbedingte Leseempfehlung!
Wertung: 91 von 100 Treffern
- Autor: Ian Rankin
- Titel: Puppenspiel
- Originaltitel: The Falls
- Übersetzer: Christian Quatmann
- Verlag: Goldmann
- Erschienen: 03/2004
- Einband: Taschenbuch
- Seiten: 640 Seiten
- ISBN: 978-3442456369