Der Lüge verpflichtet

© Piper

In der Retrospektive eine Besprechung zu einem Buch zu schreiben – vor allem wenn die Lektüre, wie hier in meinem Fall mehr als ein Jahr zurückliegt – ist in der Regel wenig zielführend, wenn das betreffende Werk nicht einen größeren und nachhaltigen Eindruck hinterlassen hat. Und genau das trifft leider auf Arne Molfenters Biografie „Garbo, der Spion“ zu, welche eigentlich alle Ingredienzien für ein kaptivierendes Leseerlebnis auf Basis wahrer Begebenheiten mit sich bringt, daraus letztlich aber meines Erachtens einfach zu wenig macht. Dennoch hätte ich wohl mit meiner Tradition (oder sollte ich es lieber monkschen Manie nennen?) gebrochen und bewusst auf eine Rezension verzichtet, um dem Autor nicht aufgrund starker Erinnerungslücken Unrecht zu tun – wären da nicht doch ein paar Notizen zum Buch zwischen meinen Stapeln aufgetaucht.

Am Fach Geschichte scheiden sich schon in der Schule oft die Geister, was natürlich zumeist am grundsätzlichen Interesse des Einzelnen liegt, nicht selten aber auch am Lehrer oder Dozenten und der Art und Weise, wie er den jeweiligen Stoff vermittelt. Als ehemaliger Student in genau diesem Fachbereich kann ich von diesem schmalen Grat zwischen verzauberten Bann und formvollendeter Narkose in einem Vorlesungssaal ein Liedchen singen. Und so ist es für mich bei historischen Sachbüchern entscheidend, welchen Ansatz der Autor wählt, um längst vergangene Ereignisse zum Leben zu erwecken und damit dem Leser zugänglich zu machen. Joan Pujol García ist dafür auf den ersten Blick in der Tat bestens geeignet, was vor allem an seiner zentralen Beteiligung an Operation Fortitude liegt. Einem groß angelegten Täuschungsmanöver, welches der Operation Overlord, der Landung der alliierten Streitkräfte in der Normandie am 6. Juni 1944, vorausging und die Deutschen hinsichtlich der geplanten Angriffsrichtung (vielleicht sogar kriegs-)entscheidend auf die falsche Fährte locken konnte. Doch first things first, denn noch interessanter als dieser Coup, ist tatsächlich wie García überhaupt in diese bedeutende Position gelangen konnte.

In den Wirren des spanischen Bürgerkriegs hat der 1912 geborene Hühnerzüchter Joan Pujol García die Gräuel des modernen Kriegs selbst kennengelernt und lebt seitdem in einem Land, das von Francos eiserner Faust hart regiert wird. Als sich im Jahre 1940 der Zweite Weltkrieg auch an die Westfront verlagert, aber Spanien weiterhin seine Neutralität aufrecht erhält, reift in ihm der Gedanke, selbst den Kampf gegen Hitler aufnehmen zu wollen. Einen guten Soldat, das weiß er, gibt er nicht ab und so nimmt er, inzwischen in Portugal lebend, mehrfach Kontakt mit britischen Diplomaten auf, um als Doppelagent oder zumindest Informant die alliierte Seite zu unterstützen. Seine Ansprechpartner halten ihn aber schlicht für einen Verrückten und gehen auf seine Angebote nicht näher ein, weshalb García, nun in der Rolle des fanatischen Franco-Anhängers, es kurzerhand bei der deutschen Gegenseite versucht. Auch hier stößt er zuerst auf verhaltene Begeisterung, bis er forsch erklärt, nach England auswandern zu wollen, um dort kriegswichtige Informationen einholen zu können. Nun beißen die Deutschen an.

Von da an gibt es nun regen Austausch zwischen García und seinen Kontaktleuten, welche anfangs noch aus einfachen Diplomaten, bald aber aus hochrangigen Vertretern des deutschen Geheimdienst-Apparats bestehen. In anderthalb Jahren versorgt „Arabel“ diese mit vielen brisanten militärischen Geheimnissen, gibt die Positionen von britischen Geleitzügen im Mittelmeer sowie deren Aktivitäten auf Malta preis. Was niemand in Deutschland trotz diverser Kontrollen ahnt – García hat die Iberische Halbinsel niemals verlassen. Und alle seine Informationen sind samt und sonders erfunden. Ausgeschmückt mit Inhalten aus öffentlich zugänglichen Quellen wie Reiseführern, Zeitungsausschnitten und sonstigen Nachrichten – und dennoch glaubhaft genug, um die deutsche Kriegstaktik vielerorts entscheidend zu beeinflussen. Als die Alliierten im Jahr 1941 Enigma entschlüsseln und dadurch auch „Arabels“ Nachrichten mitlesen können, werden sie erstmals auf García aufmerksam. Der ist bis dato nur deshalb nicht aufgeflogen, weil viele Geheimdienstler in deutschen Diensten bereits umgedreht worden sind und als „XX“-Doppelagenten selbst Falschinformationen weiterleiten – und dabei auch die Hand über „Arabel“ halten.

Nun suchen die Briten Kontakt zu García, der inzwischen mit seinen anhaltenden Märchengeschichten mehr Schaden auf deutscher Seite anrichtet, als die gesamte alliierte Gegenspionage. Mitsamt der Familie wird der offensichtlich geborene Schauspieler kurzerhand nach Großbritannien gebracht, wo man ihm den passenden Codenamen „Garbo“ verleiht. Von jetzt an operiert er direkt von London aus unter dem Befehl der Sektion „XX“, welches nun alle falschen Geheiminformationen koordiniert und so zusammensetzt, das daraus für die Deutschen ein noch glaubhafteres Netz aus Lügen und Halbwahrheiten entsteht. Gleichzeitig meldet „Arabel“ an die Abwehr unter Admiral Wilhelm Canaris immer neue Erfolge bei der Anwerbung von neuen Agenten für Nazi-Deutschland. Dieses verzweigte Netz, welches Hitler einen Vorteil im Kampf gegen England verschaffen soll, existiert jedoch nur auf dem Papier. García und seine Kollegen schicken in den kommenden zwei Jahren hunderte Briefe und Telegramme an fiktive Scheinadressen, um diesen Schwindel aufrecht zu erhalten. Er fliegt während des Krieges nie auf. „Arabel“ ist längst zu einer der wichtigsten Quellen in der deutschen Planung geworden. Doch die größte Herausforderung steht den Alliierten noch bevor: D-Day.

Um die Deutschen von ihrem eigentlichen Landungsziel in der Normandie abzulenken, starten die Alliierten die bereits erwähnte Operation Fortitude, in der García zu einem wichtigen Baustein wird. Er soll in seiner Rolle als „Arabel“ dem deutschen Geheimdienst glaubhaft machen, dass die Invasion an ganz anderer Stelle stattfinden wird. Dafür werden Berichte über falsche Truppenkonzentrationen weitergeleitet, Attrappen von Landungsbooten in Südost- und Ostengland platziert und in Schottland Funkverkehr simuliert, um auch die Möglichkeit der Stoßrichtung Norwegen weiterhin offen zu lassen. Derart verwirrt, sehen sich die Deutschen gezwungen, ihre Truppenverbände aufzuteilen. Als die ersten Soldaten an den Stränden der Normandie landen, hält García weiterhin die Täuschung aufrecht, dass eine zweite Welle am Pas de Calais erfolgen wird. Wenn er die deutsche Generalität nun auch lange genug davon überzeugen kann, würden gleich zwei von Hitler persönlich in Reserve gehaltene Panzerdivisionen, zu spät kommen, um den Erfolg der Operation Overlord zu verhindern …

Auf die weiteren Geschehnisse gehe ich bewusst nicht ein. Vielen militärhistorisch interessierten Lesern werden sie ohnehin bekannt sein. Alle anderen soll dies vor allem aus einem Grund nicht meinerseits gespoilert werden – denn „Garbo, der Spion“ bezieht als Werk seine Stärke fast ausschließlich aus diesen dramatischen geschichtlichen Ereignissen. Arne Molfenter hat für sein Buch offensichtlich sehr gewissenhaft recherchiert, auch noch die kleinsten Details aus Garciás schlicht unglaublichem Leben zu Tage gefördert – und äußerst wirkungsvoll in den historischen Kontext gesetzt. Daraus ergibt sich ein mehrjähriger, episodenhafter Tatsachenbericht, der wie prädestiniert für Hollywood zu sein scheint, derart außergewöhnlich die Rolle dieses eigentlich relativ farblosen Mannes, dessen Einfallsreichtum aber im Verbund mit seinem unterwürfigen Auftreten, einen herausragenden Doppelagenten aus ihm machten.

Doch worin genau lag eigentlich sein Erfolg? Wie schaffte es García, über Jahre ohne Zugang zu irgendwelchen sensiblen Informationen, die Deutschen so lange an der Nase herumzuführen? Und vor allem – was war seine eigentliche Motivation? Arno Molfenter verpasst leider die Gelegenheit auf diese und andere Fragen (Garcías mysteriöser Tod wird nur kurz behandelt) näher einzugehen, wie auch überhaupt dem Buch seinen ganz eigenen Stempel aufzudrücken. „Garbo, der Spion“ ist in erster Linie eine Aneinanderreihung von Fakten, Jahresdaten, Schauplätzen und Ereignissen, in der man eine größere Interaktion zwischen den einzelnen, wichtigen Charakteren schmerzlich vermisst. Stattdessen versinkt das Buch in einer stringenten Sachlichkeit, was dem Zugang zu den eigentlich durchaus spannenden geschichtlichen Entwicklungen gleich mehrfach erschwert. Molfenter versäumt auch, einen näheren Blick auf die deutsche Gegenseite zu werfen, welche nachweislich natürlich grobe Fehler im Umgang mit den Informationen begangen hat, auf ihrer Seite aber auch mit erheblichen Problemen zu kämpfen hatte. Canaris Rolle beim Widerstand gegen Hitler ist inzwischen bekannt. Und auch das fehlende Wissen um die Tatsache, dass die Alliierten Enigma geknackt hatten, darf bei allen erfolgreichen Operationen der vor allem britischen Gegenspionage nicht komplett (wie hier geschehen) außer Acht gelassen werden.

Joan Pujol Garcías Meisterstück, es wird zwar ausreichend gewürdigt, lässt aber meines Erachtens eine Komplexität vermissen, die über die reine Wiedergabe seiner Heldentaten hinausgeht. Am Ende ist alles vielleicht ein bisschen zu sehr auf eine Person konzentriert, was natürlich ein nicht ganz fairer Vorwurf an ein biographisches Buch ist. Dennoch hätte ich mir wesentlich mehr Informationen über die anderen Beteiligten gewünscht. Neben den Kollegen der „XX“-Sektion kommt hier wie bereits erwähnt besonders die deutsche Gegenseite viel zu kurz. Wer einen gesamtheitlichen Blick auf die „Operation Magnitude“ erwartet, wird daher ebenso enttäuscht sein, wie diejenigen unter den Lesern, die sich mehr Informationen über Garcías Beweggründe erhofft hatten. Molfenter, inzwischen Pressesprecher der Vereinten Nationen in Deutschland, lässt im wahrsten Sinne des Wortes Taten sprechen und hat dabei das Glück, selbst nicht viel beisteuern zu müssen – denn das Leben schreibt manchmal halt die besten Geschichten.

Wertung: 84 von 100 Treffern

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  • Autor: Arne Molfenter
  • Titel: Garbo, der Spion
  • Originaltitel:
  • Übersetzer: –
  • Verlag: Piper Verlag
  • Erschienen: 04.2014
  • Einband: Hardcover
  • Seiten: 288 Seiten
  • ISBN: 978-3492055833

Krieg der Lügen

© Kampa

Es gibt sie immer noch – diejenigen, welche als Grenzschützer die vermeintlichen Übergänge zwischen den Genres überwachen, peinlich genau darauf achten, dass sich das sogenannte Triviale nicht mit der Hochliteratur vermischt, bloß keine Brücken zwischen Niveau und Unterhaltung geschlagen werden.

Sie merken nicht, dass sie die Entwicklungen der letzten Jahre, ja Jahrzehnte vollkommen verschlafen haben, wir nicht mehr länger in diesen Kategorien urteilen und Maß nehmen können, da sich das einstmals Ausschließende inzwischen längst vereinigt hat – vorangetrieben von Autoren, die diese willkürlich gesetzten roten Linien einfach nicht als solche wahrgenommen oder mittels der künstlerischen Freiheit überwunden haben. Und während es einige Schriftsteller gab, wie zum Beispiel Graham Greene, wo dies bereits zu früheren Zeiten akzeptiert worden ist, muss sich der ein oder andere heute weiterhin zu diesem Eiertanz zwischen klassischer Belletristik und Spannungsroman auffordern lassen. Zu ihnen gehört auch William Boyd, dessen Roman „Ruhelos“ man vor einigen Jahren in den Buchhandlungen in verschiedenen Abteilungen finden, leider aber sich in keiner davon augenscheinlich einen dauerhaften Platz erobern konnte.

Das ist weiterhin bedauernswert, zumal gerade „Ruhelos“ bei der damaligen Veröffentlichung hierzulande größere Aufmerksamkeit bekommen hat, welche einen Durchbruch in Deutschland erhoffen ließ. Boyd aber bleibt bis heute, unverständlicherweise, ein Geheimtipp. Und während das Lebenswerk des kürzlichen verstorbenen John Le Carré allenthalben gefeiert und nochmal ins Scheinwerferlicht gerückt wird, muss daher wohl die kriminelle Gasse für den schottischen Autor, der aktuell wieder beim tollen Kampa-Verlag neu aufgelegt wird, Schützenhilfe leisten. Mit Freuden wohlgemerkt, denn Boyd ist hier ein Spionageroman klassischer Schule gelungen, der sowohl sprachlich als auch in seinem Aufbau zu überzeugen weiß und dem Leser nebenbei noch eine Geschichte kredenzt, die gleich mehrere Ebenen aufweist – und sich mitunter äußerst beklemmend liest.

Ihren Anfang nimmt sie im England des Jahres 1976, genauer gesagt im beschaulichen Oxford. Die Bevölkerung der Universitätsstadt leidet unter einem ungewöhnlich heißen Sommer. Unter ihnen auch die allein erziehende Sprachlehrerin Ruth Gilmartin mit ihrem Sohn Jochen, welche sich nicht nur aufgrund der Hitze zunehmend Sorgen um die Gesundheit ihrer alten Mutter Sally macht. Diese sitzt nach einem Hausunfall mittlerweile im Rollstuhl und sucht in letzter Zeit vermehrt und äußerst nervös den angrenzenden Waldrand mit dem Fernglas ab. Ihr Haus verlässt sie selbst kaum noch, Telefonanrufe nimmt sie nur nach einen vorher vereinbarten Klingelzeichen ab. Was Ruth anfangs für den Beginn von Altersdemenz hält, hat jedoch viel tiefer gehende Gründe. Und eines Tages kommt seitens Sally zu einer überraschenden Eröffnung: In Wirklichkeit heißt sie nicht Sally sondern Eva Delektorskaja und war früher für viele Jahre als Spionin für den britischen Geheimdienst tätig. Und genau deswegen, bangt sie nun um ihr Leben …

Was klingt wie mit ziemlich heißer Nadel gestrickt und anfangs noch vielleicht den oder anderen Zweifel aufgrund der Ausgangskonstellation beim Leser erweckt, entfaltet zwischen denn Buchdeckeln aber tatsächlich nach wenigen Seiten (wie so oft bei Boyd) eine schon fast unheimliche Sogwirkung, verlieren wir uns in den zeitgeschichtlichen Ereignissen, die vom Autor in zwei Handlungsstränge aufgeteilt werden, deren Auswirkungen wiederum bis in das Heute spürbar sind. Der Hauptstrang führt uns zurück in das Jahr 1939, genauer nach Paris, wo die russische Emigrantin Eva nach dem Tod ihres Bruders durch die Nazis, von dem mysteriösen Lucas Romer für den britischen Geheimdienst angeworben wird. Es folgt eine intensive Ausbildung in Schottland mit anschließenden Einsätzen in Belgien, England und vor allem in den USA. Das Ziel der geheimen Unterabteilung des British Secret Service: Falschmeldungen zu lancieren, welche die Vereinigten Staaten von Amerika zum Eintritt in den Krieg bewegen sollen. Und dafür ist den Engländern, die ab 1940 die letzte Bastion gegen Hitlers Armeen bilden und sich in einer verzweifelten Lage befinden, beinahe jedes zur Verfügung stehende Mittel recht.

Selbst wer sich grundsätzlich eher wenig für die militärhistorischen Konstellationen vor Pearl Harbour interessiert, wird sich dank Boyds zielsicherer, feinfühliger Schreibe, dem sich zuspitzenden Plot und der facettenreichen Figur Eva und ihren Erlebnissen nur schwerlich entziehen können. Der Autor profitiert dabei von seiner Besetzung, denn in einem Milieu der Geheimdienste, wo man mit erfundenen Geschichten, Falschmeldungen und bewusst konstruierten Fährten die Weltgeschichte in die jeweils gewünschte Richtung lenken will, fällt eine Lüge mehr oder weniger nicht auf, verschwimmen die sonst deutlicher getrennten zwischen Fiktion und historischer Realität. Es ist ein heikles Spiel, welches Boyd hier schildert und das vor allem von Taktik geprägt ist, weswegen sich „Ruhelos“, im Kontrast zum Titel, immer wieder Zeit nimmt, um ausführlich zu erzählen, was in Zeiten geradlinig durchkomponierter und mit Action vollgestopfter Thriller schnell auf Ungeduld stoßen dürfte. Gerade an die Geduld möchte ich aber appellieren, sind doch diese behäbigeren Passagen nur das Luftholen, nur der minutiös geplante Aufbau für eine ganze Reihe von Eröffnungen, die mehr als nur eine Überraschung in sich birgen.

Das einzige Manko: Bis dahin müssen wir auch immer wieder in die 70er Jahre zurückwechseln, wo sich die Ich-Erzählerin Ruth nicht nur mit wachsender Faszination durch die schriftlichen Dossiers ihrer Mutter arbeitet, sondern über Umwege auch noch in den Dunstkreis der Baader-Meinhof-Gruppe gerät. Wie und warum, das sei hier nicht näher geschildert, verkommt doch dieser nicht weiter ausgearbeitete Handlungsstrang zu einem Sturm im Wasserglas, nachdem man sich umso mehr auf Evas Erzählungen aus ihrem „ruhelosen“ Leben freut. Gerade das geschilderte Doppel- und Dreifachspiel der Agenten, die gezielten Seitenhiebe auf die Macht der Medien und der psychologische Unterbau samt der finalen Auflösung, sorgen dafür, dass man nicht nur hochklassig und kurzweilig unterhalten wird, sondern am Ende auch der festen Überzeugung ist, einen völlig neuen und anderen Einblick in das Leben dieser Epoche erhalten zu haben.

So ist „Ruhelos“ schließlich eine auf- und anregende Lektüre, die trotz einiger, unübersehbarer Schwächen den wehrlosen Leser in seinen Bann zu Ziehen vermag und nebenbei noch eine Lanze für das zuweilen abschätzig betrachte Genre des Spionage-Thrillers bricht. Ein Katz-und-Maus-Spiel zwischen feindlichen Agenten kann sehr wohl spannend, literarisch und tiefgründig zugleich sein. Dieses Buch beweist es.

Wertung: 92 von 100 Treffern

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  • Autor: William Boyd
  • Titel: Ruhelos
  • Originaltitel: Restless
  • Übersetzer: Chris Hirte
  • Verlag: Kampa
  • Erschienen: 03.2019
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 384 Seiten
  • ISBN: 978-3311100058

Nobody’s hands are clean

© Goldmann

Obwohl der amerikanische Autor Joseph Kanon bereits im Jahr 1998 mit dem Edgar Allan Poe Award für das beste Romandebüt ausgezeichnet wurde („Die Tage von Los Alamos“), einen größeren Namen konnte er sich hierzulande trotz diverser weiterer Veröffentlichungen (übrigens zumeist mit Bezug zu unserer Hauptstadt Berlin) nicht machen, was vielleicht aber auch dem damaligen Zeitgeist geschuldet sein könnte.

Inzwischen sind, vor allem dank solcher Schriftsteller wie Volker Kutscher, historische Kriminalromane mehr und mehr gefragt, scheint die Auswahl an Titeln – mal von mehr, mal von weniger Qualität – welche sich mit der Weimarer Republik, dem Dritten Reich, aber auch dem Beginn des Kalten Kriegs und dem Leben zwischen den Blöcken beschäftigen, jährlich in die Höhe zu schnellen. Ein Trend, von dem viele Newcomer profitieren und der jetzt auch zum Anlass genommen sei, um auch Kanon die wohlverdiente Aufmerksamkeit zuteil werden zu lassen – denn soviel sei vorab gesagt, im Vergleich zu einem Großteil der doch oft im Hinblick auf die geschichtliche Recherche äußerst oberflächlich zusammengeschusterten Werken der Konkurrenz, hat der jahrelange Leiter der Verlage Houghton Mifflin und E. P. Dutton seine Aufgaben äußerst beeindruckend gemacht. Bestes Beispiel dafür ist der vorliegende Roman „The Good German“ (verfilmt von Steven Soderbergh mit u.a. George Clooney und Cate Blanchett in den Hauptrollen), welches den Leser zurück in das vom Krieg versehrte Berlin des Jahres 1945, genauer gesagt die Monate Juli und August führt.

Berlin, Deutschland, wenige Wochen nach der Kapitulation. Die in vier Zonen aufgeteilte Stadt besteht vielerorts nur noch aus Ruinen, in den immer noch täglich Leichen geborgen werden und Trümmerfrauen damit beschäftigt sind, zumindest die Zugänge zu den Häuserresten und die Straßen frei zu räumen. Genau in diese Zeit fällt nun die Potsdamer Konferenz, anlässlich der auch der amerikanische Journalist Jake Geismar nach Berlin zurückreist, um genau darüber zu berichten. Was seine Auftraggeber nicht ahnen – die Konferenz ist für Geismar nur der offizielle Vorwand, denn in erster Linie gilt seine Rückkehr (er lebte schon zuvor einige Jahre in der Stadt) seiner damaligen Geliebten Lena Brandt, die er mitten im Krieg verlassen musste. Ihr Verbleib ist ihm seitdem unbekannt und er hofft sehnlichst auf ein Wiedersehen. Dafür nimmt er vor Ort angekommen auch gewisse Risiken im Kauf, sucht gar die Bereiche Berlins auf, die unter sowjetischer Kontrolle stehen und von deren Besuch ihm die Kollegen eindringlich abraten. Lena bleibt aber verschwunden. Stattdessen sieht sich Geismar aber bald mit einem anderen Rätsel konfrontiert.

Als er sich mittels eines Tricks beim ersten historischen Treffen der Siegermächte im Potsdamer Schloss Cecilienhof einschleusen kann, wird er unwillentlich Zeuge von der Entdeckung einer angespülten Leiche im Uferschlamm des Heiligen Sees. Bei dem Toten handelt es sich zu seiner Überraschung um einen jungen amerikanischen Soldaten. Wie kommt er soweit in die russische Besatzungszone? Wieso sind seine Taschen randvoll mit Besatzungsmark gefüllt? Und wieso ist er überhaupt getötet worden? Jakes Neugier ist geweckt und steigert sich noch zusätzlich, als sowohl Befehlsträger der US-Armee und auch der Sowjets nichts unversucht lassen, diesen Vorfall unter den Teppich zu kehren. Da hier eindeutig eine Story lauert, betreibt Jake Geismar auf eigene Faust weitere Nachforschungen, während er gleichzeitig weiterhin Ausschau nach Lena hält. Schon nach kurzer Zeit wird ihm klar, dass beide seine Ziele eine Verbindung haben – und seine Ermittlungen nicht nur sich, sondern vor allem auch seine große Liebe in Gefahr bringen …

Bereits der Klappentext (und auch das Cover der Filmausgabe) deutet an, dass die Liebesbeziehung zwischen Jake Geismar und Lena Brandt im Mittelpunkt dieser Geschichte steht. Und ja, Joseph Kanon legt tatsächlich ein besonderes Augenmerk auf das Schicksal der beiden, die sich den veränderten Gegebenheiten nur schwer anpassen und insbesondere bei dem Thema persönliche Schuld nicht auf einen gemeinsamen Standpunkt einigen können. Eine Frage, die direkt nach dem Krieg vor allem auf deutscher Seite eigentlich niemand näher erörtern und stattdessen meist ein jeder lieber die Vergangenheit vergessen will.

Keine einfache Aufgabe in einem Land, das selbst über den organisierten Massenmord in den Konzentrations- und Arbeitslagern wie Dora-Mittelbau pflichtbewusst Buch geführt hat. Unterlagen, die nun in den Händen der Alliierten sind und als Grundlage für die so genannte Entnazifizierung dienen sollen. Wohlgemerkt sollen, denn unter dem Eindruck des immer noch erbitterten Widerstands der Japaner an der Pazifikfront, haben auch vermehrt die Amerikaner mehr Interesse daran, das kostbare Wissen der deutschen Wissenschaftler für sich zu nutzen, als diesen den Prozess zu machen. Einer davon ist ausgerechnet Lena Brandts Mann Emil, der sich in die Riege derjenigen eingereiht hat, die nur „ihre Arbeit gemacht“ und „Befehle befolgt“ haben.

Joseph Kanon hat sich bei „The Good German“ immens viel vorgenommen, das weit über das hinausgeht, was man sonst von einem historischen Kriminalroman gewohnt ist, denn nicht nur ist die Geschichte in seinen verschlungenen Handlungsfäden enorm komplex – der Autor hat das Berlin von 1945 auch so im Detail zum Leben erweckt, das hier die Grenzen zwischen Fakten und Fiktion immer wieder verschwimmen. Und das allerdings mit erstaunlich viel Fingerspitzengefühl, da es an keiner Stelle so wirkt, als wollte hier jemand auf Teufel komm raus so viel erlesenes Wissen wie möglich platzieren. Stattdessen geht der Plot eine äußerst überzeugende Symbiose mit den tatsächlichen historischen Ereignisse ein, wovon die Atmosphäre immens profitiert. Auch wenn es sich Kanon (gottseidank) verkniffen hat, in den Dialogen noch Berliner Schnauze einzubauen, ist er dem realen Antlitz und Lebensgefühl der zerstörten Hauptstadt des untergegangen Nazi-Regimes doch wohl so nah wie möglich gekommen.

Einem Antlitz (und das hat dann später auch Regisseur Steven Soderbergh erkannt), das sich natürlich als Schauplatz für eine noireske Kriminalgeschichte bestens eignet, da mit der Niederlage des Dritten Reichs nicht notwendigerweise gleichzeitig auch der Beginn einer Normalität eingegangen ist. Berlin ist weiter im Ausnahmezustand, während die Soldaten der Besatzungsmächte zwischen Siegestaumel, Kriegsdepressionen und Rachegelüsten pendeln, ein jeder vor allem auf den eigenen Vorteil bedacht zu sein scheint. Die bedingungslose Unterstützung der Einwohner, welche man während der späteren Luftbrücke an den Tag legen wird – sie ist noch weit entfernt. Stattdessen blüht der Schwarzmarkt, werden die Witwen der deutschen Soldaten auf den Strich geschickt und schon bereits neue Feindbilder kultiviert. Das Verhältnis zwischen den Amerikanern und den Sowjets ist vielerorts angespannt, es kommt immer wieder zu Zwischenfällen. Und Jake Geismar, einst selbst ein Berliner, hat große Schwierigkeiten, seine Stadt in diesem Menetekel der Zerstörung wiederzuerkennen.

Gerade die ersten knapp zweihundert Seiten von „The Good German“ gehören mit Sicherheit zum Besten, was ich in diesem Sub-Genre bis jetzt genießen durfte – und lesen sich nebenbei bemerkt fast wie eine inoffizielle Fortsetzung des ebenfalls empfehlenswerten Romans „Wer übrig bleibt, hat recht“ (allerdings ein Jahr später erschienen) von Richard Birkefeld und Göran Hachmeister, das, im letzten Kriegsjahr spielend, ebenfalls in Berlin angesiedelt ist und bereits einige Themen aufgreift, die nun in Kanons Roman einen größeren Stellenwert bekommen. Wie er in diesem ersten Drittel minutiös die Spannung aufbaut, geschickt Hinweise, aber auch falsche Fährten platziert, das zeugt sowohl von großem schriftstellerischen Können, aber auch von ebenso großer Kenntnis um die Geschichte Berlins. Wirklich sehr selten begegnet uns Lesern in einem historischen Kriminalroman ein von Beginn an so authentischer Schauplatz, der umso lebendiger wirkt, da die ihn bevölkernden Figuren bei Kanon nicht rein zur Staffage verkommen.

Ganz im Gegenteil – sie sind fast allesamt ein wichtiges Triebmittel für die Handlung und bilden kaleidoskopartig die verschiedenen Interessensgruppen dieser Zeit ab. Von amerikanischen Abgeordneten aus dem Repräsentantenhaus, in dessen Wahlkreis die Industrie fest mit der IG-Farben verbunden ist bis hin zum jüdischstämmigen Militärjurist Bernie Teitel, der alle Hebel in Bewegung setzt, um die Verbrecher des Nazi-Regimes vor Gericht zu bringen – ein jeder hat andere Gründe in Berlin zu sein, um entweder politisches Kapital daraus zu schlagen, sich finanziell zu bereichern oder persönliche Rachegelüste zu befriedigen. Recht und Gerechtigkeit sind jetzt, direkt nach dem Krieg, ebenfalls nur leblose Ruinen und bröckelnde Fassaden – inhaltsleere Begriffe, die je nach Belieben von den Siegern ausgelegt werden können. Kanons größtes Verdienst ist es, dass er in diesem Gemengelage nie direkt Position bezieht und sich der Leser auch die entscheidende Frage des Buches am Ende selbst beantworten muss: Wer ist bzw. war der „Good German“?

Joseph Kanon ist mit „The Good German“ ein immersives, bildgewaltiges Katz-und-Maus-Spiel im Berlin der unmittelbaren Nachkriegszeit gelungen, das die Grenzen der Zeit vor den Augen des Lesers äußerst eindringlich überwindet und gleichzeitig auch das immer wieder hartnäckige Vorurteil widerlegt, US-Autoren könnten alles nur rein aus amerikanischer Sicht betrachten. Einziges Manko ist die doch etwas repetitive Einbindung der Liebesgeschichte, welche immer wieder unnötig das Tempo (und damit auch das Spannungsmoment) verschleppt und mitunter stark den Geduldsfaden strapaziert. Dennoch – eine Empfehlung für alle, die sich der eigenen Geschichte gerne im Gewand einer Kriminalgeschichte nähern.

Wertung: 90 von 100 Treffern

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  • Autor: Joseph Kanon
  • Titel: The Good German / In den Ruinen von Berlin
  • Originaltitel: The Good German
  • Übersetzer: Ulrike Wasel, Klaus Timmermann
  • Verlag: Goldmann
  • Erschienen: 02.2007
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 608 Seiten
  • ISBN: 978-3442464814

Totgesagte leben länger

© Elsinor

Wer ist John Mair? Wohl die ersten vier Wörter, welche mir während der Vorschausichtung und der Entdeckung dieser deutschen Erstübersetzung von Elsinor durch den Kopf gegangen sind – ein kleines, aber feines Verlagshaus, das ich seit der Veröffentlichung diverser Titel von Gilbert Keith Chesterton und John Buchan glücklicherweise nie ganz aus dem Auge verloren habe.

Nun also ein Agentenroman aus den frühen 40er Jahren, der selbst in seiner englischen Heimat gänzlich in Vergessenheit geraten ist, fast so als hätte Mair mit dem originalen Titel („Never come back“) einen Blick in die eigene literarische Zukunft seines einzigen Romans geworfen. Aber Geschichte wiederholt sich nicht nur stets und ständig, sie wird manchmal auch zielgerichtet zutage gefördert – so geschehen im Falle dieses Werks durch Julian Symons, der ihn erst Ende der 50er Jahre (für viele überraschend) in seine Liste der „100 Best Crime & Mystery Books“ in der Sunday Times und drei Jahrzehnte später nochmal in die „Oxford University Twentieth Century Classics“-Reihe aufnahm. Es folgten ein BBC-Hörspiel, eine dreiteilige TV-Adaption und eine äußerst frei interpretierte, eher mäßig gelungene Verfilmung. Und es war auch zu jener Zeit, wo Martin Compart, damals für eine Sendung des öffentlich-rechtlichen in London auf Recherche unterwegs, über genau dieses Buch durch Symons‘ Empfehlung stolperte.

Interessanterweise hat sich „Es gibt keine Wiederkehr“ seit dieser Zeit in Comparts Schublade befunden, der eine Herausgabe des Buches schon im Rahmen seiner (leider viel zu kurzlebigen) DuMont-Noir-Reihe geplant hatte, jedoch letztlich nicht mehr umsetzen konnte. Aber Hartnäckigkeit zahlt sich, in diesem Fall auch für den Leser, bekanntlich aus. Wenngleich aus erwartbarer Richtung des Kritikermilieus nur mit belustigtem Wohlwollen goutiert – der Name Compart fällt natürlich in diesem Zusammenhang nie, ja, wird gefühlt verzweifelt gemieden – halte ich hingegen Mairs Debütwerk (er starb bereits ein Jahr nach der Veröffentlichung während seiner Pilotenausbildung bei einem Flugzeugabsturz), soviel sei vorab gesagt, für tatsächlich zwingend empfehlenswert, da es nicht nur den klassischen Agentenroman der damaligen Zeit – verkörpert durch Namen wie Eric Ambler, Geoffrey Household oder eben John Buchan – um eine weit düstere Facette hinsichtlich seiner Hauptfigur erweitert, sondern den Leser, wohlgemerkt auf dem Höhepunkt der Luftschlacht von England und dem damit verbundenen Bombenkrieg, mit patriotischen Parolen oder dem naheliegenden Feindbild Nazi-Deutschland gänzlich verschont. Obwohl Mair stattdessen eine geheimnisvolle, mehrere Nationen umfassende Organisation aus dem Hut zaubert, ist die Einschätzung mancher, es handle sich hierbei um eine überzeichnete Parodie, kaum nachvollziehbar, was ich im weiteren Verlauf gerne erörtern möchte. Doch erst einmal kurz zur Handlung:

Zweiter Weltkrieg, London. Während die deutsche Luftwaffe jede Nacht Angriffe auf die Metropole fliegt und regelmäßiger Bombenalarm die Bevölkerung in Schutzkeller und U-Bahn-Stationen zwingt, hat der eitle Boulevard-Journalist Desmond Thane ganz andere Sorgen. Dem notorischen und – zumindest in seinen eigenen Augen – erfolgreichen Frauenheld hat es eine geheimnisvolle junge Frau namens Anna Raven angetan. Sie erweist sich nicht nur im Gespräch als hoch intelligent, sondern auch als überraschend stark und selbstbewusst. Für Thane eine Trophäe, die es unbedingt zu erobern, ja, zu besitzen gilt. Doch obwohl er zwar fast auf Anhieb bei ihr (und damit auch in ihrem Bett) landen kann, entwickelt sich diese merkwürdige Beziehung zunehmend zu seinem Missfallen. Entgegen seinen üblichen Erfahrungen macht Anna keinerlei Anstalten, sich ihm irgendwie zu unterwerfen. Ganz im Gegenteil: Sie dominiert jeglichen Aspekt ihrer Affäre, bestimmt wann sie sich treffen, gibt die Richtung vor – kurzum verfährt genauso mit ihm, wie er immer zuvor mit all seinen früheren Liebeleien. Ihre Dominanz beginnt ihn zu verunsichern, zu reizen, stachelt seinen Zorn auf sie mehr und mehr an.

Eines Abends bricht sich diese Wut schließlich Bahn. Desmond verabredet sich per Telegramm mit Anna, es kommt zum Streit und in einer undurchsichtigen Mischung aus Effekt und kaltblütiger Absicht tötet er seine Geliebte mit ihrer eigenen Waffe. Der kurzfristige Stolz auf diese Tat weicht bald einer um sich greifenden Panik, als ihm klar wird, dass er nichts über diese Frau weiß. Wer ist sie eigentlich? Wo und für wen arbeitet sie? Wer weiß von ihrem Verhältnis und könnte ihn identifizieren? Und noch viel wichtiger – wo ist sein Telegramm, das ihn als Beweismittel direkt belasten könnte? Ohne eine klare Antwort auf all diese Fragen, muss er ihr Apartment verlassen, noch nicht wissend, dass er den Weg mit einer Internationalen Geheimorganisation gekreuzt hat, in der Oppositionelle und politische Eiferer aus verschiedenen Ländern zusammenarbeiten, um in den Wirren des Krieges ihre jeweiligen nationalen Regierungen zu stürzen. Und deren auserwählter Ausputzer, der eiskalte Killer Mr. Foster, hat bereits Witterung aufgenommen und sich an Desmonds Fersen geheftet …

Wer sich ein bisschen mehr mit den Ursprüngen des Agentenromans, und vor allem mit den frühen Werken des bereits oben erwähnten Eric Amblers beschäftigt hat, wird in dieser Ausgangssituation natürlich einige bekannte Elemente wiederfinden, derer sich Autor John Mair wohl auch ganz bewusst bedient hat. Wie z.B. in „Ungewöhnliche Gefahr“, so beginnt der Leser gleichfalls hier seine Reise an der Seite eines Journalisten, der mehr oder weniger per unglücklichem Zufall zwischen die bisher im Verborgenen gelegenen Fronten gerät und bald um das eigene Leben fürchten muss. Nichts Neues also, das Symons besondere Würdigung dieses Titels rechtfertigen würde, möchte man auf den ersten Blick meinen, sollte aber dann unbedingt einen zweiten riskieren und insbesondere ein klein wenig Geduld mitbringen, denn gerade auf den ersten dreißig bis vierzig Seiten tut sich dieser Roman auffällig schwer.

Wenn auch stilistisch sehr geschliffen (was auch dank der hervorragenden Übersetzung durch Jakob Vandenberg zum Tragen kommt), so formuliert doch Mair zu Beginn äußerst umständlich, ja, neigt fast zur Schwafelei und verliert sich in der Skizzierung seines philosophisch veranlagten Hauptprotagonisten, welche aber durch die darauffolgenden Ereignisse und dessen Handeln letztlich eigentlich obsolet wird. Gründe sind eventuell in der langen Schaffensphase für dieses Buch zu finden. Mair begann mit der Arbeit an dem Buch bereits 1939, veröffentlicht wurde es erst zwei Jahre später. Hinweise finden sich darauf auch im Text selbst. So lässt er zu Beginn noch in einem Dialog erklären, wie gering die tödliche Wirkung von Bombenangriffen eigentlich sind (er bezieht sich dabei auf die bis dato bekannten Ereignisse in Shanghai und im Spanischen Bürgerkrieg), nur um später deren verheerende Wucht als Kulisse kurz vor dem Showdown zu nutzen. Hier wird der zeitliche Versatz bei der Niederschrift durchaus deutlich.

Das ist allerdings auch der einzige größere Kritikpunkt, den man bei der Beurteilung von „Es gibt keine Wiederkehr“ aufführen kann, denn spätestens mit dem Tod Annas nimmt die Handlung immens an Fahrt auf, gewinnt sowohl der Schreiber Mair als auch seine Figur Desmond Thane zunehmend an Sicherheit. Gejagt von einer gesichtslosen Organisation mit scheinbar grenzenlosen Ressourcen erweist sich Thanes spitze Zunge und Eloquenz recht bald als schärfste Waffe gegen seine Peiniger, denen er immer wieder ein Schnippchen schlägt, falsche Fährten auslegt oder in letzter Sekunde entkommt. Das mag mancher in dieser Häufung als Überzeichnung deuten, trübt aber in keinster Weise das Leseerlebnis oder holt uns aus dem Geschehen heraus. Ganz im Gegenteil: Es sind gerade dieses intellektuelle Katz-und-Maus-Spiel und Thanes mitunter überbordende Männlichkeit, die in diesen Passagen Erinnerungen an einen gewissen Spion mit der Lizenz zum Töten wecken und auch ähnlich zu faszinieren wissen. Mit dem Unterschied, dass – wie Martin Compart in seinem äußerst informativen (und viel zu ausführlichen, du lässt einem nicht viel für die Analyse übrig Martin) Nachwort treffend herausarbeitet – der vorliegende Anti-Held keinen Gedanken an seine Majestät oder England verschwendet, sondern ganz und gar auf den eigenen Vorteil bedacht ist.

Es ist Mairs größtes Verdienst, dass es ihm dennoch gelingt, gewisse Sympathien für Thane zu wecken, der für mich bis zum Schluss komplett unberechenbar geblieben ist. So geschehen in der Szene, in der er für kurze Zeit auf seiner Flucht Unterschlupf bei zwei Frauen sucht. Diese Passage wird vollkommenen von dem unter Adrenalin stehenden Hauptprotagonisten dominiert, dem man in dieser Situation einfach alles zutraut, um nicht entdeckt zu werden – also auch zwei weitere Morde (Der folgerichtige Gedanke an Highsmiths Tom Ripley dürfte an dieser Stelle nicht nur Martin Compart kommen). Wie Mair auf diesem schmalen Grad zum vollkommen gewissenlosen Soziopathen balanciert, das hinterlässt auf der Behaarung der Unter- und Oberarme genauso nachhaltig Eindruck, wie die unheimlich stimmungsvollen Beschreibungen von Thanes Gefangenschaft und dem anschließenden Entkommen. Eine klare, mondhelle Nacht. Ein verlassenes Haus. Ein vom Flakfeuer immer wieder beleuchteter Himmel. Dank Mairs feiner Feder ist gerade dieser Teil des Buches bestes Kopfkino, von dem man sich als Leser nur zu gern mitreißen lässt. Wohlgemerkt, wenn man sich dazu in der Lage sieht und die Lektüre nicht durchgängig mit dem scharfen Auge des Literaturchirurgen seziert.

Denn natürlich fällt Mair sprachlich gegenüber einem Eric Ambler ab. Und natürlich ist das Grundgerüst der Handlung an sich bei genauer Betrachtung nur wenig logisch und glaubwürdig – aber wen bitte schert das, wenn es dermaßen hervorragend unterhält? So sehe ich dann schlussendlich auch in „Es gibt keine Wiederkehr“ kein Genre persifliert, sondern den gelungenen Versuch, einen undurchschaubaren Zyniker, manchmal auch mit einem gewissen humoristischen Element, seine Gegner auf dem eigenen Schlachtfeld schlagen zu lassen. Desmond Thane wächst in diesem Roman an seiner ungewollt eingenommenen Rolle und kann – obwohl einem bis kurz vor dem Finale nicht klar ist, wie genau das möglich sein soll – letztlich dann sogar den Spieß noch umdrehen.

Keine holde Maid in Nöten, kein hehres Ziel – nur ein gewitztes, eingebildetes und opportunistisches Arschloch, das auf knapp 270 amüsanten, aber auch atmosphärisch wirkungsvollen und mitreißenden Seiten zur Höchstform aufläuft. Und mehr braucht es tatsächlich auch nicht, um diese Wiederentdeckung zu einer zwingenden Empfehlung meinerseits zu machen, denn wenngleich ich Mairs Roman ebenfalls nicht als Klassiker des Genres bezeichnen würde – am Ende hat der Autor dann irgendwie doch Unrecht behalten: Es GIBT eine Wiederkehr. Auch Dank dem Elsinor-Verlag und Martin Compart, denen ich für dieses Buch möglichst viele Leser wünsche.

Wertung: 85 von 100 Treffern

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  • Autor: John Mair
  • Titel: Es gibt keine Wiederkehr
  • Originaltitel: Never Come Back
  • Übersetzer: Jakob Vandenberg
  • Verlag: Elsinor
  • Erschienen: 06.2021
  • Einband: Broschiertes Taschenbuch
  • Seiten: 268 Seiten
  • ISBN: 978-3942788564

Lügen in Zeiten des Krieges

© Suhrkamp

Jurek Beckers Debütroman „Jakob, der Lügner“ hat, trotz seines Prädikats als Klassiker der Weltliteratur, lange Zeit ein verstaubtes Dasein in meinem Regal gefristet. Zum einem fasst man das Thema Holocaust nicht leichtfertig an, zum anderen haben die im Geschichtsunterricht gezeigten Archivbilder über die Befreiung von Auschwitz Spuren hinterlassen.

Sich diesem dunklen Kapitel unserer deutschen Vergangenheit auf literarischer Ebene nochmals zu stellen, hatte ich mich eine Zeitlang einfach nicht mehr gewagt. Letztlich ward es dann doch irgendwann von mir gelesen, was ich im Nachhinein auch nicht bereut habe, denn Beckers Auseinandersetzung mit den Grauen der Judenvernichtung während des Zweiten Weltkriegs ist über alle Maßen gelungen. Er schafft das scheinbar Unmögliche – mit Humor über den Holocaust zu schreiben und seine eigenen persönlichen Erfahrungen (Becker selbst wuchs im Ghetto von Lodz sowie in den Konzentrationslagern von Ravensbrück und Sachsenhausen auf und lebte später in Ostberlin, wo auch „Jakob, der Lügner“ entstand) einzuarbeiten, ohne den Roman zu sehr autobiographisch zu prägen.

Geschildert wird die Geschichte aus der Perspektive des einzigen Überlebenden eines polnischen Ghettos, der nicht über die Deportation seiner eigenen Familie und seiner Freunde sprechen mag, und dem Leser stattdessen von Jakob Heym berichtet. Dieser ist zur selben Zeit wie der Erzähler Bewohner des Ghettos. Und das „Leben“ dort bedeutet Verzicht auf alles. Bäume sind in dem abgeriegelten Bezirk von den Nazis verboten worden, genauso wie der Besitz von Ringen und sonstigen Wertgegenständen, die Haltung von Tieren oder der Aufenthalt auf der Straße nach acht Uhr. Besonders diese Sperrstunde macht dem begeisterten Spaziergänger Jakob zu schaffen. Und sie ist es auch, mit der diese Geschichte ihren Anfang nimmt. Jakob wird vorgeblich nach der festgelegten Ausgangssperre von einem Wachposten erwischt, der ihn in das Hauptquartier der örtlichen Polizei schickt. Jakob zittert vor Todesangst, doch er hat Glück im Unglück. Der guten Laune eines anwesenden Offiziers ist es zu verdanken, dass er nicht nur als erster Jude das deutsche Revier lebend verlässt und sich somit der Willkür eines wahrscheinlich nur gelangweilten Wachmanns entzieht, sondern auch noch eine aktuelle Frontlage aus einem Radiobericht belauschen kann. Die Russen sind auf dem Vormarsch. Sie kämpfen kurz vor einer nur 400 bis 500 km entfernten Stadt.

Als er diese Nachricht den Bewohnern des vollkommen von der Außenwelt abgeschnittenen Ghettos präsentiert, will ihm niemand Glauben schenken. Ausgerechnet jetzt will Jakob Frontberichte gehört zu haben? In der Höhle des Löwen, dem deutschen Revier? Ein Ort, den keiner verlässt? Jakob, der ein wenig Freude schenken wollte, wird nur müde belächelt. Um einem Freund aufzumuntern und die Nachricht glaubhafter zu machen, entwirft er eine Notlüge. Er behauptet ein Radio zu besitzen. Dies wird nun schnell zum Lebensgrund der Menschen. Die täglichen Neuigkeiten, die Jakob erfindet, wecken neuen Glauben bei den Ghettobewohnern. Plötzlich werden Pläne für nach dem Krieg geschmiedet, geben sich Paare der Liebe hin, hören die Selbstmorde auf. Aus „einem Gramm Nachrichten“ erschafft Jakob „eine Tonne Hoffnung“ und sieht sich damit einen großen Verantwortung ausgesetzt. Er zerbricht sich den Kopf bei der Erfindung neuer, glaubwürdiger Neuigkeiten, improvisiert sogar ein Interview mit dem englischen Premier Winston Churchill. Bald übersteigt das Lügen seine Kräfte. Doch als er die Wahrheit gestehen will, muss er erkennen, dass ein einfacher Rückzug nicht mehr möglich ist …

Puh, was für ein Buch. Mit einer beiläufigen, klaren und oft sehr humorvollen Sprache schildert Becker den hoffnungslosen und dramatischen Alltag der Bewohner eines Ghettos unter dem menschenverachtenden Naziregime, ohne dabei den moralischen Zeigefinger zu heben. Stattdessen verpackt er seine Kritik an der damaligen Zeit in der Geschichte selbst. Aufgrund des auktorialen Erzählers, der selbst im Ghetto lebt und die Grausamkeiten und Probleme durch seine Erzählweise (das Dokumentarische wird mit dem Erfundenen vermischt und durch Rückblicke unterbrochen) auflockert, wirkt der Plot von Beginn an authentisch, wird er vor unseren Augen lebendig. Während andere thematisch ähnliche Romane den Leser durch das deprimierende Leid und die Schuldzuweisungen erdrückt, liest sich „Jakob, der Lügner“ trotz eben dieses historischen Hintergrunds seltsam erfrischend, wenngleich die liebevolle Beleuchtung der Figuren dazu führt, dass man sich des drohenden Unheils stets bewusst ist. Unmöglich, das Buch einfach an die Seite zu legen, ohne sich Gedanken zu machen. Unmöglich, trotz des immer wieder aufkeimenden Glücks nicht todtraurig und den Tränen nahe zu sein. Beckers Erstlings hinterlässt tiefe Spuren beim Leser, da man sich unwillkürlich direkt angesprochen und sich zu einer Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte gezwungen fühlt.

Die heimliche Hochzeit von Mischa und Rosa, die Mütze Herschels, welche er nie absetzt oder die kleine Lina unter dem Dachboden. Gerade die kleinen Episoden, die das Geschehen immer wieder aus einem anderen Blickwinkel zeigen, füllen dieses gerade mal 283 Seiten lange Buch mit soviel Leben. „Jakob, der Lügner“ ist nicht die Anklage der Täter. Die Tragik des Romans liegt nicht in der Aufzählung von den Verbrechen an den Juden. Ghettoaufseher und Gestapopolizisten sind bis auf wenige Ausnahmen nur namenlose Vertreter des Antisemitismus, welche nur beiläufig erwähnt werden. Nein, es sind diese anrührenden Momente der aufflackernden Hoffnung, welche Jakob entfacht, die zu Herzen gehen.

Becker entlässt den Leser am Ende, wie angesichts der Geschichte nicht anders zu erwarten, ernüchtert und nachdenklich, aber auch mit der Erkenntnis, dass menschliche Freuden selbst unter den schlimmsten Umständen möglich sind. Ein Buch der leisen und bescheidenen Töne, dem jeglicher Hass gänzlich fehlt und das trotz düsterer Dramaturgie, die verschmitzte Heiterkeit des osteuropäischen Witzes einfängt.

Ein literarisches Ereignis und ein Klassiker, der einfach in jedes gut sortierte heimische Bücherregal gehört, aber auch ein Buch, für das man reif genug und bereit sein muss. Eins ist in jeden Fall klar: Vergessen wird man Jakob, den Lügner, wohl nie. Und vielleicht war eben das Beckers Absicht.

Wertung: 89  von 100 Treffern

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  • Autor: Jurek Becker
  • Titel: Jakob, der Lügner
  • Originaltitel: –
  • Übersetzer: –
  • Verlag: Suhrkamp
  • Erschienen: 04.1982
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 288 Seiten
  • ISBN: 978-3518372746

Journey into Fear

© Atlantik

In vielerlei Fällen übersteigt der Bekanntheitsgrad einer Verfilmung, den der literarischen Vorlage – und hier bildet auch „Von Agenten gejagt“ (Orig. „Journey into Fear“) keinerlei Ausnahme.

1943, mitten während des Zweiten Weltkriegs, kam diese Umsetzung von Eric Amblers gleichnamigem Thriller – der auf den Deutsch den Titel „Die Angst reist mit“ erhielt – in die Kinos und konnte, trotz der vergleichsweise übersichtlichen Spiellänge von gerade mal 68 Minuten, nicht zuletzt auch aufgrund der starken Besetzung sein Publikum überzeugen. So spielt hier unter anderem Orson Welles, der zwei Jahre zuvor mit „Citzen Kane“ von sich Reden machte, eine der tragenden Hauptrollen und teilte sich die Regie mit Norman Forster, welcher wiederum Krimi-Kennern als Regisseur der Charlie-Chan-Streifen ein Begriff sein dürfte. Doch verdient nun auch das Buch denselben Klassiker-Status wie die erste Leinwandversion (1975 erschien eine weitere, kanadische Produktion mit u.a. Donald Pleasance und Ian McShane)?

Diese Frage kann, soviel sei vorab schon mal gesagt, besten Gewissens mit einem kräftigen „Ja“ beantwortet werden, denn einmal mehr gelingt es dem englischen Autor scheinbar mühelos, aus einer vergleichsweise äußerst alltäglichen und unspektakulären Ausgangssituation ein unfassbar spannendes, intelligentes Kammerspiel zu skulptieren, das einen Großteil moderner Spionagekrimis mühelos hinter sich lässt und äußerst gekonnt die Brücke zum klassischen Whodunit schlägt. Gekonnt und wohlgemerkt gewollt, denn die Reminiszenzen an ein paar der ganz großen Vertreter des Golden Age of Crime sind mehr als offensichtlich, was dem Werk allerdings nicht nur ein größeres Publikum eröffnet, sondern auch unterstreicht, wie vielschichtig und vor allem genreübergreifend der Kriminalroman mit dem richtigen Schriftsteller an der Feder sein kann. Der bedient sich beim Aufbau seiner Handlung auch bei sich selbst und präsentiert dem Leser einen Protagonisten, der Ambler-Kennern in seinen Charakteristika vielleicht etwas bekannt sein dürfte.

Frühjahr 1940, Istanbul. Während die Truppen des Dritten Reichs erbarmungslos ihre Macht über das bereits eroberte Polen festigen und hinter den Kulissen die Planungen für die Eroberung der Benelux-Staaten („Fall Gelb“) und von Frankreich („Fall Rot“) laufen, rüsten sich die Alliierten ihrerseits für den erwarteten Angriff. Unter ihnen ist auch die noch relativ junge türkische Republik, die zwar bis zum August 1944 außenpolitisch ihre Neutralität bewahren sollte, der aber dennoch daran gelegen war, militärisch auf Abschreckung zu setzen. Aus diesem Grund reist der englische Ingenieur Graham von der Rüstungsfirma Cator & Bliss (schon bekannt aus Amblers Erstling „Der dunkle Grenzbezirk“ und „Anlass zur Unruhe“) in die Stadt am Bosporus. Er soll die notwendigen Daten sammeln, um die Kriegsschiffe der türkischen Marine mit neuen Geschützen ausstatten zu können und mit diesen Informationen nach England zurückkehren. Ein Routineauftrag für Graham, der vor seiner Abreise noch die Gastfreundschaft der Türken genießt und, von einem mysteriösen Beobachter in einem Nachtclub mal abgesehen, einen schönen letzten Abend in der Metropole verbringt. Doch dieser soll jäh enden.

Als Graham in sein Hotelzimmer zurückkehrt, wird direkt auf ihn geschossen. Er überlebt nur knapp, zeigt sich typisch englisch empört und glaubt in seiner Naivität lediglich einen Einbrecher überrascht zu haben. Doch als sein türkischer Verbindungsmann Kopeikin ihn ins Bild setzt, eröffnet sich ihm die ganze Ernsthaftigkeit der Situation. Der versuchte Raubüberfall war in Wirklichkeit ein fehlgeschlagenes Attentat auf ihn. Oberst Haki vom türkischen Geheimdienst setzt ihn in Kenntnis, dass bereits zuvor ein Anschlag auf ihn vereitelt wurde und die deutschen Agenten mit aller Macht verhindern wollen, dass Graham zeitnah England erreicht und damit die Aufrüstung der Türken vorantreibt. Obwohl sich der schrullige Ingenieur noch weiterhin gegen die ihn so absurde Vorstellung wehrt, Beteiligter in einem Spionage-Katz-und-Maus-Spiel zu sein, muss er dennoch tatenlos zusehen, wie seine Fahrt mit dem Orient-Express verhindert und er stattdessen an Bord eines Dampfschiffs gebracht wird, das ihn über die griechischen und italienischen Häfen bis nach Südfrankreich transportieren soll.

Die kurze Planänderung gelingt und Graham erreicht das Schiff. Er ist in Sicherheit, so scheint es. Oder haben seine Verfolger diesen Schritt vielleicht auch vorausgesehen? Arbeitet gar einer der anderen Passagiere auch für die Deutschen? Für den Engländer beginnt eine „Journey into Fear“ …

Die Angst reist mit“ kann natürlich in gewisser Weise als Verbeugung Eric Amblers vor der großen Agatha Christie verstanden werden, welche im Jahrzehnt zuvor mit Werken wie „Mord im Orient-Express“ (1934) und „Tod auf dem Nil“ (1937) den „Closed-Room-Mystery“-Roman John Dickson Carrs aus dem klassischen englischen Landhaus erfolgreich in einen neuen, beweglichen Schauplatz transportiert hatte. Und so erinnert gerade die Konstellation auf der Fähre stark an diese Vorbilder, zumal sich dem Leser ein ähnlich diverses Ensemble an möglichen Verdächtigen präsentiert. Recht schnell ist klar – irgendjemand an Bord spielt ein falsches Spiel und versucht Graham noch vor dem Erreichen seines Ziels zu töten. Doch bloß wer? Neben Josette, der aufdringlichen und anhänglichen Kabarett-Tänzerin, welche der Ingenieur bereits in Istanbul kennengelernt hatte, sind dies unter anderem ihr reizbarer Geschäftspartner (Zuhälter wäre wohl passender) Josè, der türkische Tabakhändler Kuventli, der vom Kommunismus begeisterte, französische Geschäftsmann Monsieur Mathis und seine Frau sowie der alte, deutsche Archäologe Dr. Fritz Haller samt dessen Gattin.

Insbesondere die Anwesenheit des Letzteren trägt maßgeblich zu der angespannten Stimmung zwischen den Schiffsreisenden bei, die Hallers Mitfahrt inmitten des Krieges als Affront ansehen und dessen Nähe demonstrativ meiden. Sehr zum Missfallen Grahams, der den einzigen freien Platz ausgerechnet am Tisch des Deutschen in Anspruch nehmen muss. Eric Ambler erweist sich hier – einmal mehr – als ausgezeichneter Beobachter und Charakterzeichner, vermenschlicht den kriegerischen Konflikt in Person der unterschiedlichen Figuren, welche, abseits üblicher Nationalitätenklischees, die politischen und gesellschaftlichen Zustände ihrer jeweiligen Heimatländer widerspiegeln. Das hier insbesondere, verkörpert durch Graham selbst, das britische Empire auch nicht ungeschont davon kommt, spricht für das ehrliche Ansinnen des Autors. Für England ist der Krieg, trotz des Überfalls der Deutschen auf Polen und dem damit ersichtlichen Irrtums Chamberlains nach der Konferenz in München, scheinbar immer noch weit weg und eine allenfalls abstrakte Gefahr. Eine geistige Maginot-Linie scheint jeden Gedanken daran abzuwehren, auch die westlichen Länder könnten nun in naher Zukunft ins Visier von Hitlers Expansionsplänen geraten. Und überhaupt, Mord? Ein dreckiges Geschäft und doch nichts für europäische Gentlemen.

Es ist nicht das erste Mal, dass Ambler einen vollkommen naiven, gutgläubigen Menschen mit den Gefahren der politischen Verwerfungen in Mitteleuropa konfrontiert – aber noch nie zuvor hat sich der Autor so viel Zeit genommen, diese Konfrontation mit der Wirklichkeit in der Gefühlslage seines Protagonisten abzubilden. „Die Angst reist mit“ ist ein mehr als passender Titel, denn mit jeder Meile, die das Schiff zwischen sich und Istanbul bringt, passiert genau das Gegenteil von dem, was sich Graham erhofft hat. Anstatt sich sicherer zu fühlen, droht ihn zunehmend die Panik zu überwältigen, beobachtet er die anderen Passagiere mit steigender Skepsis – und eben Angst. Und genau diese überträgt Ambler äußerst geschickt auf den Leser, der sich mit diesem Jedermann und dessen aufsteigender Furcht und den quälenden Gedanken relativ leicht identifizieren kann. Graham ist kein Profi, ist nicht abgeklärt und hat entsprechend auch keinerlei Kontrolle über diese Situation, woraus wiederum der Plot, trotz dem viele Seiten nichts passiert und vor allem die Dialoge zwischen den Passagieren in Mittelpunkt stehen, seine zunehmend beklemmende Suspense bezieht.

Hinzu kommt Amblers feine Feder bei der literarischen Illustration seiner Schauplätze. Ob das lärmende, nie stillstehende Istanbul oder der glutheiße Hafen von Saloniki – hier sind wir erneut mittendrin statt nur dabei, entsteht vor unseren Augen die Mittelmeerregion der 40er Jahre und das damalige Lebensgefühl wieder auf. Und mit ihnen die letzte Ausgelassenheit vor einem weltumspannenden Krieg, der in wenigen Monaten auch die Etappenziele dieser Schiffsreise mit in den Konflikt hineinziehen wird. Wie Ambler diese scheinbare unvermeidbare Abfolge der Ereignisse durch einen Monolog des Monsieur Mathis wieder auf den Punkt bringt – das ist von beklemmender, unbehaglicher Brillanz. Grandios auf welch intelligentem Niveau dieser fantastische Schriftsteller auch in seinem sechsten Roman unterhält, er am Ende nochmal in bester Bond-Manier (Herr Fleming scheint Ambler wohl auch aufmerksam gelesen zu haben) die Handlung verdichtet.

Die Angst reist mit“ gehört vollkommen unbestritten zu den besten Titeln aus dem an herausragenden Romanen nicht armen Lebenswerk Eric Amblers. Ein atmosphärisch unheimlich stimmiger, den blinden Nationalismus erneut entblößender Thriller, der es tatsächlich schafften dürfte, sowohl Freunde von Agatha Christie als auch Anhänger von John Le Carré gleichsam zu begeistern. Ein Spagat, den so wohl nur auch dieser Ausnahmeschriftsteller hinzulegen imstande war. Ich möchte weniger für eine Wiederentdeckung plädieren, als vielmehr dafür, diesen Autor endlich die ihm gebührende Präsenz im Buchhandel einzuräumen, welcher er seit jeher eigentlich verdient.

Nachtrag: Eric Ambler wird inzwischen vom Atlantik-Verlag neu aufgelegt.

Wertung: 92 von 100 Trefferneinschuss2

  • Autor: Eric Ambler
  • Titel: Die Angst reist mit
  • Originaltitel: Journey into Fear
  • Übersetzer: Matthias Fienbork
  • Verlag: Atlantik
  • Erschienen: 07/2017
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 320
  • ISBN: 978-3455651126

Are they both mad or am I going mad? Or is it the sun?

© Anaconda

Ein segelnder Greifvogel vor der brennenden Sonne. Eine Kamera, welche langsam über das Blätterdach eines scheinbar undurchdringlichen Dschungels kreist. Und eine am Anfang leise, dann immer lauter ertönende gepfiffene Melodie, die sich schließlich als „Colonel Bogey March“ herausstellt.

Schon die ersten Minuten von David Leans cineastischer Umsetzung des Romans „Die Brücke am Kwai“ reichen jedes Mal aufs Neue aus, um die bei mir sonst inzwischen eher seltene gewordene Gänsehaut hervorzurufen, gehört doch dieser Leinwandhit aus dem Jahre 1957 zu den Klassikern der Kino-Geschichte, die trotz ihres Alters nichts von ihrer Faszination verloren haben. Mehr noch: „Die Brücke am Kwai“ ist und bleibt für mich bis heute DER Antikriegsfilm schlechthin, weil er die unbedingte militärische Pflichterfüllung mittels Zynismus und Ironie ab absurdum und den Wahnsinn des gewaltsamen Konflikts auf menschliche Art und Weise vor Augen führt. Getragen von so großartigen Darstellern wie Jack Hawkins, William Holden oder den hier alles überstrahlenden Alec Guinness in der Rolle des prinzipientreuen Colonel Nicholson (für die Rolle erhielt er einen Oscar als bester Hauptdarsteller), die sich im wahrsten Sinne des Wortes die Seele aus dem Leib schauspielern und den gebannten Zuschauer für die Dauer von 156 Minuten in die brütende Schwüle Südostasiens katapultiert.

Als begeisterter Leser brachte mich dieses Meisterwerk natürlich irgendwann auf eine Frage: „Wenn der Film bereits schon derart großartig ist, um wieviel besser wird dann wohl die literarische Vorlage sein?“ Die Antwort darauf fiel vielschichtiger als erwartet aus, zumal es auch nicht immer ratsam ist, Buch und Film eins zu eins miteinander zu vergleichen, da beiden Medien verschiedene Mittel zur Verfügung stehen und sich das ebenfalls von Pierre Boulle (der einen großen Teil seiner eigenen Kriegserfahrungen verarbeitet hat) verfasste Drehbuch in vielen Dingen in erheblichen Maße vom eigentlichen Roman unterscheidet. Dennoch sei die Story an dieser Stelle kurz angerissen, da es – so scheint es zumindest mir – im deutschen Fernsehen nur noch selten zur Ausstrahlung des epischen Streifens kommt und Boulles Buch ebenfalls längere Zeit vergriffen war:

Thailand 1942. Auch dort tobt der Zweite Weltkrieg. Während der japanischen Offensive geraten britische Kolonialtruppen in japanische Gefangenschaft. Sie werden mit holländischen, australischen und amerikanischen Leidensgenossen in den Dschungel von Thailand und Burma verschleppt. Ihre Aufgabe ist es, eine Eisenbahnstrecke zu bauen, um den Golf von Bengalen und Singapur zu verbinden. 500 Briten unter der Führung ihres Obersten Nicholson geraten dabei in die Fänge des unberechenbaren, brutalen und alkoholabhängigen japanischen Offiziers Saito. Sie sollen eine der wichtigsten Brücken der Zugstrecke über den wilden Fluss Kwai errichten. Bei schlechter Ernährung, geplagt von Malaria und Cholera, werden sie von den Japanern zu unmenschlichen Anstrengungen gezwungen. Auch die Offiziere sollen, wie die einfachen Soldaten, Sklavenarbeit verrichten. Als sie sich weigern, greift Saito hart durch. Doch ihm gelingt es auch mit unmenschlicher Folter nicht, den eisernen Willen des in britischen Traditionen erzogenen Nicholson zu brechen, während die Soldaten mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln den Bau der Brücke sabotieren.

Letztlich triumphiert die ungeheure Disziplin des Briten. Er zwingt Saito zum Einlenken und macht nun den Brückenbau zu seiner Sache. Nicholson gelingt es, seine Leute neu zu motivieren und die Brücke, seine kühne Konstruktion, wird sein ganzer Stolz.

Zur gleichen Zeit startet in Kalkutta ein britisches Sprengkommando, zusammengesetzt aus Idealisten und Fanatikern. Ihre Aufgabe ist es, die strategisch wichtige Brücke zu sprengen …

Bis hierhin sind Buch und Film in der Tat beinahe deckungsgleich, sieht man von William Holdens Rolle als Commander Shears ab, welcher in der Vorlage von vorneherein an den Planungen des Unternehmens zur Sprengung beteiligt ist und nicht erst, wie letztlich in der Leinwandversion, nach seiner gelungenen Flucht aus dem Gefangenenlager als Kenner des Gebiets für die Aufgabe hinzugezogen wird. Dazu muss man allerdings sagen: Dieses Zugeständnis an eine gewisse benötigte Dramatik und Würdigung Holdens als zweiten Hauptdarsteller, funktioniert im Film tatsächlich sehr gut und hätte vielleicht auch dem Buch, in dem es der Figur Shears irgendwie an Kanten mangelt, nicht schlecht zu Gesicht gestanden. Vom Humor Holdens mal ganz abgesehen. Während dieser den leichtfertigen Aufschneider und Frauenheld gibt, ist Boulles Shears ein ernster und eiskalter Taktiker, der seine Mission in höchstem Maße plant und in der Erfüllung seiner Pflicht selbst noch das größte Opfer begehen würde. Hauptprotagonist ist aber eindeutig Colonel bzw. der Oberste Nicholson.

Ein Offizier, der inmitten der Wildnis des Dschungels die Zivilisation in allen Belangen aufrechterhalten und die Überlegenheit der anglosächsischen Rasse gegenüber den „wilden Japanern“ unter Beweis stellen will. Mit Sturheit und Prinzipientreue wird er zum Stolperstein von Lagerkommandant Saito, der im psychologischen Kräftemessen stets den Kürzeren zieht. Schließlich muss er ganz einlenken, um den Bau der Kwai-Brücke zu gewährleisten bzw. den engen Zeitplan einzuhalten. Doch Nicholsons Sieg ist ein trügerischer, den Boulle mit ebenso satirischer Feder karikiert wie den militärischen Formalismus der anderen Offiziere, die sich vollkommen in den Planungen der Brücke vergessen und die Fragwürdigkeit ihres Tuns dabei bald nicht mehr sehen. Die Kollaboration mit dem Feind wird als Notwendigkeit begründet, um die Moral der Truppe aufrechtzuerhalten. Der übersteigerte Ehrgeiz beim Bau mit dem Anspruch des britischen Empire entschuldigt, das sich allen anderen Völkern überlegen fühlt. Das ironisierende Element wird von Boulle geschickt innerhalb der Dialoge versteckt. Und diese Fassade beginnt erst nach und nach zu bröckeln, bis sich schließlich hinter Pflicht, Ehre und Disziplin der Wahnsinn zeigt – der Wahnsinn des Krieges in all seinen Ausprägungen.

Spätestens wenn Nicholson schwerkranke Mitgefangene zur Arbeit abkommandiert, beginnt nicht nur der die Vorgänge im Lager beobachtende Dr. Clipton zu ahnen, dass die gutmeinenden Pläne des Obersten sich am Ende verselbstständigen. Unbändiger Ehrgeiz lässt die menschlichen Züge des loyalen Offiziers zunehmend in den Hintergrund treten. Und unwillkürlich stellt man sich die Frage: Wer ist eigentlich grausamer? Saito oder Nicholson? Boulle zeigt mit scharfer und zynischer Feder den schmalen Grat zwischen gutem Willen und bösen Absichten auf, ohne dabei eine der Parteien zu übervorteilen. Und das ist wohl auch das größte Verdienst dieses Romans, der sich flüssig lesen lässt, aber nie diesen epischen Tiefgang erreicht wie Leans Verfilmung. Gleichzeitig hebt die Lektüre des Romans Alec Guinness‘ Leistung nochmal ungewollt hervor, welcher der ohnehin schon präsenten Figur weitere Facetten abgewinnt und so die Vorlage übertrumpft.

Den Vergleich Buch mit Film entscheidet Leans Meisterwerk so also am Ende klar für sich, was jedoch nicht impliziert, dass Pierre Boulles Roman, der übrigens 1952 veröffentlicht worden ist, keine lohnenswerte Lektüre ist. „Die Brücke am Kwai“ überzeugt im Kleinen, in den geschickt platzierten Details und durch das drastische, äußerst trockene Finale, das weniger spektakulär daherkommt, aber mindestens genauso nachhaltig beeindruckt.

Wertung: 83 von 100 Treffern

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  • Autor: Pierre Boulle
  • Titel: Die Brücke am Kwai
  • Originaltitel: Le pont de la rivière Kwai
  • Übersetzer: Gottfried Beutel
  • Verlag: Anaconda
  • Erschienen: 03/2014
  • Einband: Hardcover
  • Seiten: 222 Seiten
  • ISBN: 978-3730600726

Die ewige Wiederkehr des Gleichen

© Goldmann

Nach sechs Jahren in Frankreich zog Ian Rankin im Herbst 1996 mit seiner Familie zurück nach Edinburgh – und damit zurück in das Land, welches er zehn Jahre zuvor, damals frisch von der Uni abgegangen und gerade erst verheiratet, verlassen hatte. Inzwischen war er zweifacher Familienvater und, dank dem Erfolg seines letzten Romans „Das Souvenir des Mörders“ (engl. „Black and Blue“), endgültig auch ein finanziell erfolgreicher Krimischriftsteller, der die Phase des Ausprobierens hinter sich gelassen und seinem Platz im Genre für sich gefunden hatte.

Gewichtige moralische Themen im Gewand des Spannungsromans, den Zustand der Welt und die menschliche Natur, Schuld und Sühne – sie waren zu Rankins Steckenpferd geworden, wodurch der Autor unbewusst Anteil an einer Entwicklung nahm, welche die zuvor von vielen Akademikern und Feuilletonisten belächelte literarische Form des Krimis in zunehmend ernstere Gefilde rückte, in denen die reine Aufklärung eines Verbrechens längst nicht mehr im Mittelpunkt stand. Auch Rankins jüngstes Projekt sollte diese Entwicklung fortführen und vorantreiben. Die Keimzelle dafür war ein Tagesausflug nach Oradour gewesen – ein Dorf, das im wahrsten Sinne des Wortes „tot“ war.

Niemand weiß genau, wie viele Menschen dort an jenem Tag starben, als im Juni 1944 die 3. Kompanie des SS-Panzerregiments „Der Führer“ einmarschierte und die Einwohner zusammentrieb. Nicht viel weniger als tausend, nimmt man allgemein an, dessen Leichen verbrannt oder in Brunnen geworfen wurden. Männer, Frauen, Kinder – kaum jemand entkam dem Massaker. Bis heute ist das Dorf unverändert geblieben, zeugen ausgebrannte Autos, verrostete Straßenbahnen, ausgebombte Häuser und Einschusslöcher in den Wänden von den Gräueltaten der Nazis. In dem kleinen Museum von Oradour sind heute unscheinbare Exponate wie Haarbürsten oder Brillen zu sehen … Erinnerungen an die Toten. Doch was nicht nur die Franzosen bis heute am meisten bewegt und mitnimmt, ist die Tatsache, dass der Verantwortliche – der General, der das Massaker angeordnet hatte – zwar von den Alliierten gefangen genommen, später aber nach Deutschland zurückgeschickt worden war, wo er den Rest seines Lebens in Frieden und Wohlstand verbringen durfte. Wo war da die Gerechtigkeit? Und welche Gründe gab es für seine Freilassung? Geheime Informationen? Diplomatische Gründe?

Rankin stieß bei seinen Recherchen auf ein Netzwerk, das als „Rattenlinie“ bezeichnet wurde – und hatte urplötzlich die Idee für einen neuen Krimi. „Die ewige Wiederkehr des Gleichen“, erkenntlich in den grausamen Bildern aus dem damaligen Konflikt im ehemaligen Jugoslawien. Und die Frage: Was würde Rebus tun, wenn er im Fall eines angeblichen Nazi-Kriegsverbrechers ermitteln müsste? Sie lieferte die Grundlage für „Die Sünden der Väter“ (engl. „The Hanging Garden“), dessen Inhalt hier kurz angerissen sei:

Chief Super „Farmer“ Watson hat die Nase voll von seinem umtriebigen Untergebenen Detective Inspector John Rebus, dessen vorheriger Alleingang (siehe „Das Souvenir des Mörders“) zwar zur Auflösung eines Drogenrings beigetragen, aber auch gleichzeitig für viel Ärger gesorgt hat. Kurzerhand beauftragt er ihn mit der wenig aussichtsreichen Ermittlung gegen den alten Professor Joseph Lintz, welcher im Verdacht steht, als Angehöriger der Waffen-SS maßgeblich an einem Massaker in Frankreich beteiligt gewesen zu sein, was dieser rigoros bestreitet. Rebus muss schnell feststellen, dass sein Gegenüber ihm rhetorisch mindestens ebenbürtig ist und keinerlei Anstalten macht, auch nur ein wenig Licht auf seine Vergangenheit werfen zu lassen. Schuldig oder nicht schuldig? In dieser Frage kommt Rebus scheinbar einfach nicht voran. Als Ablenkung aus dieser Sackgasse sucht er stattdessen die Kreise des Scottish Crime Squad auf, einer Sondereinheit, der inzwischen auch seine Ex-Kollegin Detective Constable Siobhan Clarke angehört, und die mitten in einer verdeckten Operation steckt. Ihr Ziel: Tommy Telford, der neue Stern am Verbrecherhimmel, welcher sich anschickt den bisherigen Alleinherrscher der Edinburgher Unterwelt, den inhaftierten Gangsterboss Morris Gerald „Big Ger“ Cafferty, vom Thron zu stoßen.

Während Rebus, Siobhan und ihr Kollege Ormiston dessen Nachtklub observieren, kommt es zu einem Zwischenfall. Ein Mann, augenscheinlich aus Telfords Truppe, wird schwer blutend auf den Bürgersteig geworfen. Das Auto entkommt den Verfolgern der Polizei und der Verletzte – inzwischen ins Krankenhaus gebracht – schweigt sich aus. Rebus wittert dennoch die Chance, die Zähne in Telfords Organisation zu schlagen und will sich schon voller Elan in die Arbeit stürzen, als sein Blick in eins der Nebenzimmer fällt, wo Ärzte gerade um das Leben seiner schwer verletzten Tochter Samantha kämpfen, die kurz zuvor angefahren wurde.

Doch war das wirklich ein Unfall? Oder geschah es im Auftrag von Telford, der glaubt, dass Rebus und Cafferty unter einer Decke stecken? Um eine Antwort und Gerechtigkeit zu bekommen, muss er einen Pakt mit dem Teufel schließen. Aber ist es letztlich wirklich Gerechtigkeit, die er sucht oder ist es Rache? Als der Bandenkrieg seinen Höhepunkt erreicht, befindet sich Rebus mitten im Auge des Sturms …

Ich muss gestehen, dass ich mich nach der Lektüre des Klappentexts gefragt habe, ob sich Ian Rankin da diesmal nicht etwas zu viel vorgenommen hat. Nazi-Kriegsverbrecher, angefahrene Tochter, eine Prostituierte auf der Flucht, ein Bandenkrieg. Komplexe und ambitionierte Handlungsstränge sind zwar ein Markenzeichen dieses Autors, aber irgendwann kann sich ja selbst der beste Schriftsteller mal in seinem fein gestrickten Plot verheddern, sich an der schieren Größe verheben. Nun, natürlich hätte ich es inzwischen besser wissen müssen: Woran andere scheitern, das meistert Ian Rankin auch hier wieder mit Bravour, denn obwohl er seinen Protagonisten John Rebus mehr als zuvor vor Herausforderungen stellt und mit Schicksalsschlägen konfrontiert, kommt an keiner Stelle das Gefühl auf, dass die Geschichte den Kontakt zum Boden verliert. Im Gegenteil: Die verschiedenen Handlungsstränge in „Die Sünden der Väter“ dienen nicht allein dem Spannungsaufbau, sondern unterstreichen gleichzeitig auch die Komplexität des Problems, mit dem sich John Rebus konfrontiert sieht – die eigene Machtlosigkeit. Aber auch mit der Machtlosigkeit des Justizapparats, dem die Gegner immer wieder einen Schritt voraus sind und denen mit legalen Mitteln augenscheinlich nicht beizukommen ist, weshalb Rebus an dieser Stelle erstmals eine für ihn bis dahin sakrosante Grenze übertritt.

Getrieben vom Wunsch, den Verantwortlichen von Samanthas Zustand zu fassen – und auch angestachelt von seinem schlechten Gewissen, ihr nie ein richtiger Vater gewesen zu sein bzw. seine Familie zu oft enttäuscht zu haben – geht Rebus ausgerechnet ein Bündnis mit dem Mann ein, der seit jeher sein Todfeind ist: „Big Ger“ Cafferty. Ihre jahrelange Beziehung läutet hier ein ganz neues Kapitel ein, das Ian Rankin gleichzeitig als Aufhänger dient, um den Wandel der verbrecherischen Syndikate in Edinburgh und Großbritannien allgemein zu skizzieren. Rankin, der nie einen Hehl daraus gemacht hat, dass das Dr.Jekyll-und-Mr.Hyde-Element ihrer Feindschaft, die charakterliche Ähnlichkeit der beiden bewusst gewollt ist, deutet in „Die Sünden der Väter“ eine weitere Gemeinsamkeit an.

Sowohl Rebus und auch Cafferty drohen aufs Abstellgleis geschoben und von den modernen Entwicklungen, dem so genannten Fortschritt überholt zu werden. Der eine gilt im Gefüge der Polizei immer mehr als Dinosaurier, als Ermittler der alten, nicht mehr zeitgemäßen Schule. Der andere als zu weich und mit zu vielen Skrupeln behaftet, um die Unterwelt seiner Stadt zu kontrollieren. Es bleibt jedoch bei der Andeutung (spätere Fälle der Reihe werden dies viel expliziter ausführen), da Rebus und Cafferty, gemäß dem Motto „Der Feind meines Feindes ist mein Freund“, ihre vergangenen Differenzen kurzfristig begraben und an einem Strang ziehen. So scheint es zumindest, stellt man sich als Leser doch auch die Frage: Was ist wenn Cafferty hinter allem steckt?

Rebus‘ Einsatz ist in jedem Fall so hoch wie nie. Oder um es im Pokerlatein zu sagen. Er geht „All in“. Er weiß, dass er ein Spiel spielt, dass er nicht gewinnen kann, setzt alles auf eine Karte, jedoch nicht ohne sich dabei noch ein kleines Hintertürchen offenzuhalten, mit dem er im günstigsten Fall vielleicht gleich alle Fliegen mit einer Klappe schlagen kann. Und von denen wimmelt es in „Die Sünden der Väter“ nur so. Neben Telfords aufstrebenden Imperium zeigen auch andere Syndikate hier ihr hässliches Antlitz. So mischt unter anderem die Yakuza, das japanische Pendant der Mafia, in der Aufteilung von Edinburghs Unterwelt mächtig mit, will das durch Caffertys Verhaftung entstandene Machtvakuum nutzen, um neues Terrain zu besetzen und ihre illegalen Aktivitäten auszuweiten. Im Angesicht dieser Übermacht, konfrontiert mit gleich mehreren Feinden und Gegnern, greift Rebus auf die Hilfe eines engen Freundes zurück, was letztlich fatale und dramatische Folgen hat. Nebenbei bemerkt: Für mich gehört diese Szene zu einem der bisherigen Highlights der Reihe.

Wer sich jetzt fragt, wie die Thematik Lintz dort hineinpasst, dem sei nur soviel gesagt: Querbeziehungen zwischen den einzelnen Strängen legen nach und nach die Zusammenhänge offen, wobei es sich Rankin vorbehält, die Fäden auf unterschiedliche Art und Weise enden zu lassen. Wie er das tut – nun das ist von unnachahmlicher, aber auch eindringlicher und bedrückender Qualität. Nur wenige Schriftsteller dieses Genres haben ihr eigenes „Krimi-Universum“, die Biographien ihrer Figuren und deren Schauplatz (der inzwischen schon weit mehr ist als nur das) so im Griff, schaffen es auf einem derart hohen Niveau aktuelle Geschehnisse mit der Fiktion zu verknüpfen, um daraus ein realistisches, nachvollziehbares Lese-Erlebnis zu schmieden.

Die Sünden der Väter“ ist zwar von weniger epischer Tiefe als sein Vorgänger, dafür aber unheimlich temporeich und von einer Ernsthaftigkeit durchdrungen, welche nicht nur der Figur John Rebus neue Facetten abringt – großartig, wie Rankin hier nochmal auf dessen Vergangenheit beim Militär in Belfast eingeht – sondern auch eben jene „ewige Wiederkehr des Gleichen“ fast schon melancholisch unterstreicht. Am Ende bleibt nämlich die Erkenntnis: Ein Mensch mag aus seinen Fehlern lernen, die Menschheit vermag es nicht.

Wertung: 91 von 100 Treffern

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  • Autor: Ian Rankin
  • Titel: Die Sünden der Väter
  • Originaltitel: The Hanging Garden
  • Übersetzer: Giovanni Bandini, Ditte Bandini
  • Verlag: Goldmann
  • Erschienen: 01.2006
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 480 Seiten
  • ISBN: 978-3442454297

Einmal vor Unerbittlichem stehen …

© Pendragon

Wer, so wie ich, zu den langjährigen treuen Lesern der Bücher aus dem Hause Pendragon gehört, wird sich vielleicht etwas gewundert haben, als im Herbstprogramm des Jahres 2020 mit Kevin Majors „Caribou“ ein Titel aufgetaucht ist, den man thematisch im Bielefelder Verlagshaus eher nicht verortet hätte.

Zwar sind innerhalb der verlagsinternen Reihe „Geschichte erleben mit Spannung“ bereits einige Werke veröffentlicht worden, welche sich mit der Zeit des Dritten Reichs – und dessen lang geworfenen Schatten – beschäftigen, aber erstens handelt es sich beim hier vorliegenden Roman nicht um einen klassischen Spannungsroman und zweitens konzentriert sich dieser tatsächlich expliziter auf den militärischen Konflikt selbst. Genauer gesagt auf den U-Boot-Krieg im Nordatlantik während des Zweiten Weltkriegs. Das weckte, zumindest bei mir, Erinnerungen an die drastischen und klaustrophobischen Schilderungen von Lothar-Günther Buchheim in „Das Boot“, der vor allem in barrierefreier Nahaufnahme das Leiden des einfachen Marine-Soldaten wohl eindringlicher zur Papier gebracht hat, als jeder Autor vor und nach ihm. Wohlgemerkt ohne dabei mit den hurrapatriotischen Machwerken anderer U-Boot-Fahrer zu fraternisieren. Umso überraschender ist es nun, auf einen kanadischen Autor zu stoßen, der sich desselben Themas angenommen, allerdings – über weite Strecken des Buchs – einen Schauplatz direkt vor seiner Haustür ausgewählt hat.

Caribou“ erzählt die Geschichte der letzten Fahrt des gleichnamigen Dampfschiffs, das, Mitte der 20er Jahre in den Niederlanden gebaut, während des Zweiten Weltkriegs als Fähre in der Cabot-Straße eingesetzt wurde, um sowohl zivile Personen als auch Militärangehörige von North Sydney in Nova Scotia nach Port aux Basques auf Neufundland und zurück zu transportieren. Vor allem nach dem Eintritt der Vereinigten Staaten in den Krieg wurde aus dieser vergleichsweise kurzen Überfahrt mehr und mehr ein riskantes Wagnis, weitete doch die deutsche Kriegsmarine – und hier insbesondere die U-Boote – ihr Einsatzgebiet immer weit bis zur Ostküste Nordamerikas aus, um allein fahrende Schiffe zu versenken oder sich im sogenannten „Wolfsrudel“ auf die großen Konvois zu stürzen, die beständig Nachschub an Material und Soldaten nach Großbritannien überführten. Ein tödliches Katz-und-Maus-Spiel, für U-Boote wie Schiffe gleichermaßen, zwischen denen sich das Kräfteverhältnis unter anderem durch technische Weiterentwicklungen oder Entschlüsselungen von deutschen Geheimcodes (Stichwort „Enigma“) immer wieder ändern sollte, um in den letzten Jahren des Krieges endgültig auf Seiten der Alliierten Streitkräfte zu kippen.

1942 hatte die deutsche Kriegsmarine nicht nur einen Höchststand an einsatzfähigen deutschen U-Booten erreicht, sondern auch fast so viele Millionen BRT Schiffsraum versenkt, wie zusammengerechnet in den zwei Jahren zuvor. Die US-amerikanische und die kanadische Küstenverteidigung sah sich lange Zeit diesen Angriffen weitestgehend wehrlos ausgesetzt, so dass auch an diesem speziellen Abend des 13. Oktobers nur ein umgebauter Minenräumer der Royal Canadian Navy, die „HMCS Grandmére“, als Begleitschutz für die „Caribou“ zur Verfügung stand. Nur weniger als sechs Stunden nach der Abfahrt wurden die beiden Schiffe von dem deutschen U-Boot U 69 unter dem Kommando von Kapitänleutnant Ulrich Gräf entdeckt, der sich zu diesem Zeitpunkt auf seiner bereits neunten Feindfahrt befand. Aufmerksam wurde die Besatzung aufgrund des großen Rauchausstoßes der „Caribou“. Dennoch hätte Gräf vielleicht sogar von einem Angriff abgesehen, wäre die Fähre in dieser Nacht nicht ohne Beleuchtung gefahren, was sie verdächtig und damit zu einem augenscheinlich legitimen Ziel machte. Der Kaleun, der sie damit als Frachter und Zerstörer identifizierte, schoss um etwa 3:30 Uhr einen Torpedo ab, welcher auf der Steuerbordseite im Maschinenraum einschlug, alle anwesenden Maschinisten sofort tötete und durch die Wucht der Detonation das Schiff fast komplett in zwei Hälften riss. Die zuvor meist schlafenden Passagiere mussten sich im Dunkeln zu den Rettungsbooten auf der Backbordseite kämpfen, die aber voll Wasser liefen und kenterten. Die „Caribou“ begann schnell zu sinken. Wenige Minuten später war die Fähre in den eisigen Tiefen der Cabot-Straße verschwunden.

Die „Grandmére“, welche versuchte, das U-Boot zu rammen und aufzuspüren, musste sich im Anschluss erst davon überzeugen, dass keine Gefahr mehr bestand, um dann die Suche nach Überlenden zu starten. 100 Überlebende, darunter mit einem 15 Monate alten Jungen das einzige Kind, konnten gerettet werden. 137 weitere Menschen kamen bei der Versenkung ums Leben. Es ist das bisher schwerste Schiffsunglück in dieser Region und eine der größten Katastrophen Neufundlands im Zweiten Weltkrieg.

Wer nun die Befürchtung hegt, sich mit dieser Zusammenfassung eine Lektüre sparen zu können, der kann an dieser Stelle beruhigt werden, ist doch das Schicksal der „Caribou“ nur der Aufhänger für Kevin Majors Roman, welcher sich im weiteren Verlauf in erster Linie mit den Folgen dieses Unglücks beschäftigt und dafür augenscheinlich intensiv (und für uns lohnend) Recherche betrieben hat. Neben der Sichtung von Archivmaterialien verarbeitete er auch Zeitzeugenberichte von Überlebenden der „Caribou“ sowie – und dies bildet eigentlich das Rückgrat und Fundament der Erzählung – das offizielle Kriegstagebuch des U-Boot-Kommandanten Ulrich Gräf. Dieser historische Person ist einer der beiden Protagonisten. Bei dem anderen handelt es sich um das fiktive Besatzungsmitglied John Gilbert, der als Steward auf der „Caribou“ dient, bei der Versenkung verletzt wird und im Anschluss in die Navy eintritt, um das Geschehene irgendwie für sich verarbeiten zu können. Wie in einem Spielfilm wechselt Major zwischen ihren beiden Perspektiven und bedient sich dabei eines äußerst nüchternen und fast reportagehaften Stils, der bereits von dem ein oder anderen Leser kritisiert wurde, für mich persönlich aber gerade zu den Stärken dieses Romans zählt.

Kevin Major blickt vollkommen wertneutral auf diesen kriegerischen Konflikt, hält sich eng an belegte historische Fakten aus dem Atlantikkrieg des Winters 1942/1943 und vermeidet zudem jegliche Gewichtung zwischen den beiden Protagonisten. Kurzum: Er schaut auf das Grauen des Krieges an sich, dem zumeist die übliche, oft auch von eigenen Erfahrungen beeinflusste Darstellung von Freund und Feind genauso wenig gerecht werden kann, wie ein mit Theatralik und Dramatik künstlich aufgeladenes Literatur-Machwerk. Majors Sachlichkeit ist ein Segen und gleichzeitig der Ruhepol dieser Erzählung, die uns als Leser gerade deswegen umso stärker berührt, als es jegliche Überzeichnung könnte. Auch weil sich der Autor gerade zu Beginn viel Zeit nimmt, um die einzelnen Charaktere in alle Ruhe einzuführen (ohne dabei die üblichen Klischees zu bedienen!) – selbst auf die Gefahr hin, hier diejenigen zu verlieren, welche bereits dem schicksalshaften Torpedo-Einschlag entgegenfiebern. Doch er legt mehr Wert darauf, die menschlichen Tragödien zu zeichnen, die wichtigen Fragen hinter diesem ganzen Wahnsinn zu stellen. Was hat die Versenkung dieses Schiffes jetzt bezweckt? Welche Einfluss kann ein Mann auf den Kriegsverlauf haben? Was bedeutet schon Mut im Angesicht eines Grauen, das sich nicht abwenden lässt?

Die Art und Weise wie er sich dieser Fragen annimmt, ohne dabei zu relativieren oder Gefahr zu laufen, insbesondere das Schicksal der deutschen U-Boot-Fahrer mit der falschen Gewichtung zu betonen – das zeugt von großer Klasse. Auch weil Major es schafft zu berühren, ohne sich in großen blumigen Ausschweifungen zu ergehen oder emotional mit der Tür ins Haus zu fallen. Nein, ganz nebenbei, Seite für Seite, schleicht sich eine stille Melancholie zwischen die Zeilen, eine unterschwellige Angst – übertragen von den Protagonisten, die sich vor allem fürchten, ihr eigenes Leben zu verlieren und doch im Mühlwerk des Krieges gefangen sind. Selbst wenn Gräf der Front für kurze Zeit den Rücken kehrt und mit seiner großen Liebe Elise wertvolle Zeit verbringt oder seine Eltern in Dresden besucht – dieses Gefühl der Ausweglosigkeit liegt schwer wie Blei über allem. Großartig mit wie wenig Aufwand Major nur durch ein Gespräch am Tisch zwischen Gräf, seinem Vater und seiner Mutter die gesamte Situation an der Heimatfront zusammenfasst – die ständige Furcht, etwas falsches zu sagen, zu tun oder in die falsche Richtung zu schauen. Es ist sein distanzierter und doch einfühlsamer Blick, der unerwartet viel von der Seele aller Beteiligten entblößt. Ihre Wünsche und ihre Hoffnungen, aber zugleich auch das unerträgliche Leid, das alle in mehr oder weniger großen Ausmaß erleiden müssen.

Fernab von jeglichem aufgesetzten Heroismus hat Kevin Major mit „Caribou“ einen Roman vorgelegt, der dem U-Boot-Krieg und vor allem dessen Folgen neue Facetten abgewinnt, dabei aber stets in seinen Blickwinkeln die Balance behält. Dass wir am Ende an Gräfs Schicksal genauso Anteil nehmen, wie an den Opfern des Angriffs auf die „Caribou“ legt Zeugnis über die Fähigkeiten des Autors ab und steht zudem sinnbildlich für den Irrsinn des Kriegsführens.

Komplettiert wird die deutsche Ausgabe des Pendragon-Verlags noch um ein informatives und politisch erstaunlich offensives Nachwort von Christian Adam sowie einige Fotos von u.a. der „Caribou“ und von U69. Auch aufgrund dieser liebevollen Ausstattung bleibt daher zu hoffen, dass dieses tolle Buch möglichst viele Leser findet.

Wertung: 87 von 100 Treffern

einschuss2
  • Autor: Kevin Major
  • Titel: Caribou
  • Originaltitel: Land Beyond the Sea
  • Übersetzer: Bernd Gockel
  • Verlag: Pendragon
  • Erschienen: 08/2020
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 344 Seiten
  • ISBN: 978-3865326836

Recht oder Gerechtigkeit?

© Grafit

Goldfasan – so nannte man im Nationalsozialismus spöttisch die Amtsträger der NSDAP, insbesondere die politischen Leiter aufgrund ihr goldbraunen Uniformen mit goldfarbenen Knöpfen. Und es ist ein mehr als passender Titel für den zweiten Band von Jan Zweyers Trilogie um den Bochumer Polizeihauptkommissar Peter Goldstein, der sich, zwanzig Jahre nach dem in der Weimarer Republik spielenden „Franzosenliebchen“, in den Wirren des Alliierten Bombenkriegs mit einem ganz brisanten Mordfall konfrontiert sieht.

Es ist allerdings nur auf den ersten Blick alles Gold, was glänzt, denn in der „goldenen Stadt“ Herne – so genannt wegen der im Vergleich zu anderen Ruhrgebietsstädten geringen Zerstörungen und Verlusten – hat sich Goldstein längst seines ursprünglichen Namens entledigt und, dem Zeitgeist entsprechend, in Golsten unbenannt. Eine äußerst folgerichtige Entscheidung, wenn man die Ereignisse des Vorgängers kennt (was unbedingt empfehlenswert ist, um viele der Zusammenhänge und Anspielungen zu verstehen), in denen sich der Ermittler, bei aller Gewitztheit, vor allem als ziemlicher Opportunist erwies. Zweyer greift diesen Faden äußerst gekonnt auf und vermittelt ein Bild davon, wie einfach man – ohne die Ideologie des Nazi-Regimes zu verinnerlichen – Teil dieses verbrecherischen Kreislaufs werden konnte, der im vorliegenden Roman aus dem „einen Volk“ mit dem „einen Führer“ längst eine zerrüttete und zerbrochene Gesellschaft gemacht hat, in der jeder den anderen bespitzelt und verrät, um die eigene Haustür vom Fußtritt der Gestapo zu verschonen. Und damit genauer zum Plot von „Goldfasan“:

Herne, 22. März 1943. Die Schlacht von Stalingrad ist vorbei und obwohl Goebbels alle propagandistischen Hebel in Bewegung setzt, um die Deutschen vom glorreichen Endsieg zu überzeugen, ahnen selbst hochrangige Nationalsozialisten, dass nicht nur dieses Gefecht, sondern auch der Krieg verloren ist. Während der skrupellose Geschäftsmann Wieland Trasse seine Beziehungen spielen lässt, um vor der endgültigen Niederlage noch so viel wie möglich von den „konfiszierten“ Reichtümern der polnischen Bevölkerung abzuschöpfen, meldet seine Tochter, inzwischen verheiratet mit dem stellvertretenden Kreisleiter der NSDAP in Herne, Walter Munder (eben jener Goldfasan), das Verschwinden ihrer Haushaltsgehilfin Martina Slowacki – ebenfalls eine Zwangsarbeiterin aus Polen. Eine pikante Angelegenheit, die normalerweise eine harte Strafe für denjenigen zur Folge hat, der seiner „Aufsichtspflicht“ nicht nachgekommen ist. Doch Munder hat Beziehungen und so kann er Kriminalrat Saborski überzeugen, diesen Fall mit der nötigen Diskretion zu behandeln.

Dieser beauftragt wiederum niemand geringeren als Peter Golsten, Hauptkommissar der Herner Polizei. der zugunsten seiner Karriere inzwischen längst auch der SS beigetreten ist und diese Entscheidung vor sich selbst damit legitimiert, lediglich seinem Land und dessen Gesetzen zu dienen – weshalb die Uniform des SS-Hauptsturmführers auch zumeist im Schrank hängen bleibt. Saborski sieht daher in dem prinzipientreuen und verlässlichen Golsten die perfekte Wahl, der zu Beginn tatsächlich in erster Linie Arbeit nach Vorschrift abliefert, um dieses unangenehme Vorkommnis möglichst schnell zu den Akten legen zu können. Doch schon bald überschlagen sich die Ereignisse, denn kurze Zeit hintereinander werden zwei Leichen entdeckt. Der Körper einer Frau, angespült an der örtlichen Schleuse des Rhein-Herne-Kanals. Die andere, die eines Säuglings, aufgefunden im Unterholz des Gysenberger Waldes. Golsten vermutet gleich einen Zusammenhang und weitet, entgegen seiner Anweisungen, die Ermittlungen rund um die Familie Munder aus und stößt dabei auf einige Widersprüche.

Während er sich immer tiefer in den Nachforschungen verstrickt, droht gleichzeitig an anderer Stelle Gefahr. Sein Schwiegervater, ein erklärter Gegner des Nazi-Systems, gewährt seit einigen Tagen dem kommunistischen Juden Heinz Rosen in seinem Kaninchenstall Zuflucht. Als Golsten davon erfährt, sieht er sich endgültig mit den Folgen seines beruflichen Tuns konfrontiert und wird zu einer Entscheidung gezwungen …

Bereits im Auftakt der Trilogie gelang es Jan Zweyer äußerst nachdrücklich ein geschichtlich authentisches Bild des Kohlepotts während der Ruhrbesetzung im Jahr 1923 zu zeichnen und dabei subtil kommende Ereignisse anzudeuten. „Franzosenliebchen“ brillierte daher vor allem durch seine regionale Verankerung sowie die glaubwürdige Schilderung eines Milieus, das so wirklich existiert – und letztlich auch den Boden für den Aufstieg der Nationalsozialismus bereitet hat. Beim Spannungsbogen musste der Leser jedoch noch ein paar Abstriche machen, da Peter Goldstein zwar durchweg beharrlich, aber wenig kreativ auf Spurensuche ging und man das Ermittlungsziel letztlich aufgrund der vielen interessanten Details auf dem Weg dorthin gerne mal aus den Augen verlor. In „Goldfasan“ kann Jan Zweyer hier weitere Punkte gut machen. Nicht nur dass wir hier Schulter an Schulter mit SS und Gestapo die Türen so genannter „Volksverräter“ eintreten und jedem Leser guten Herzens angesichts des gezeigten mit jeder Seite unbehaglicher wird – auch der weitverzweigte, stimmig erzählte Mordfall überzeugt mit einer irritierend klaustrophobischen Suspense, welche vor dem Hintergrund aktueller Geschehnisse wie dem schrecklichen Attentat in Halle die übliche Distanz zur Fiktion mühelos durchbricht.

Über eine Länge von etwa 350 Seiten vergessen wir schlichtweg die Tatsache, dass es sich bei „Goldfasan“ um einen Kriminalroman handelt, so plastisch, so nah werden die Ereignisse rund um das Verschwinden von Martina Slowacki an uns herangetragen. Und während vergleichbare Bücher uns dann doch sehr oft den moralisch standhaften Gegner inmitten des bösen Nazi-Regimes präsentieren, erlaubt sich Zweyer auch in diesem Punkt keinerlei künstlerische Freiheiten. Peter Golsten ist ein Polizist, wie er so sicherlich existiert haben kann und wird. Jemand welcher zugunsten der eigenen Karriere schon recht früh über all die Begleiterscheinungen von Hitlers Machtergreifung hinweggesehen hat – und dies, so weit wie möglich, selbst im Deutschland des totalen Kriegs (kurz zuvor ausgerufen durch Joseph Goebbels im Sportpalast) immer noch tut. Während täglich alliierte Bomberverbände Herne überfliegen, die Bevölkerung in einem routinierten Ablauf in die Schutzbunker hastet und die letzten Kommunisten, Juden und Edelweißpiraten aus ihren Häusern gezerrt werden, ist Golsten immer noch der festen Überzeugung, mit seiner Arbeit der Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen. Dass es diese im Rechtssystem des Dritten Reichs schon lange nicht mehr gibt, das weigert er sich beharrlich so lange wie möglich zu sehen.

Beispielhaft steht hier eine Szene in der (inzwischen übrigens unter Denkmalschutz stehenden) Teutoburgia-Siedlung in Herne, wo Golsten an der Spitze eines Gestapo-Trupps eine von ihm angeordnete „korrekte Hausdurchsuchung“ bei guten Bekannten durchführt, an dessen Ende sowohl Großvater als auch der jüngste Spross der Familie in Haft genommen werden, weil nicht nur der Feind-Sender BBC gehört wurde, sondern eine schriftliche Nachricht samt Waffe auch auf eine Unterstützung der hiesigen Edelweißpiraten hindeutet. Während um ihn herum alles auf den Kopf gestellt wird, verfolgt Golsten das Verhalten seiner Kollegen zwar mit Abscheu, rührt aber letztlich keinen Finger, um sie davon abzuhalten. Nein, als Sympathieträger taugt diese Figur wirklich nicht und doch ist sie letztlich der logische Schlüssel zu der Handlung, die sich eins zu eins in ein leider allzu reales Stück deutscher Geschichte einbettet. Zweyer zeigt uns eine Welt, in der Opportunismus und Kollaboration längst reflexartige Ausprägungen geworden sind, in der man ohne Scheuklappen keinen Fuß mehr vor die Tür setzt und seinen moralischen Kompass so kalibriert hat, das er stets in die gewünschte Richtung zeigt. Peter Goldstein ist weder Widerständler noch glühender Nationalsozialist – er ist die gefährliche Verkörperung dessen, was auch heute wieder die Gesellschaft bedroht: Ein Pragmat, der das Beste für sich und seine Familie will und schlichtweg in Kauf nimmt, dass dafür die „anderen“ über die Klinge springen müssen.

Je näher sich Goldstein der Wahrheit in diesem Fall nähert, desto mehr setzt sich das verbrecherische System in Bewegung, um diese zu vertuschen und stattdessen die üblichen Sündenböcke zu präsentieren, weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Verbrechen im Nationalsozialismus von einem Nationalsozialisten begangen – so etwas gibt es nicht. Und so bleibt Goldstein schließlich auch tatenlos, als der vermeintliche Täter unter den üblichen Verdächtigen gesucht, gefunden und verurteilt wird. Obwohl Goldstein an dieser Stelle schließlich Tränen der Scham über die Wangen laufen, so können sie uns doch nicht davon überzeugen, dass Goldstein dieses Spiel nicht bis zum bitteren Ende des Krieges weiter mitspielen wird. Was, auf „Franzosenliebchen“ zurückblickend, auch nur konsequent ist. Trasse, Saborski und Goldstein – sie alle machen sich mehr oder weniger zum Helfershelfer dieses korrupten Regimes und führen den Begriff Gerechtigkeit letztlich gänzlich ad absurdum. Nicht Justitia ist es, die im Dritten Reich blind ist.

Die Lektüre von „Goldfasan“ – ich habe sie mit zitternden Fingern und einem ganz dicken Kloß im Hals beendet, was schon allein für die Qualität dieses wirklich ausgezeichneten und klugen Kriminalromans spricht, der, als kleines, aber unheimlich intensives, lokales Kammerspiel inszeniert, die ganz großen Themen auf eine Weise schriftlich entlarvt und verbildlicht hat, dass diese noch lange im Gedächtnis haften bleiben.

Und wie erschreckend ist es, dass wir im Jahre 2019 tatsächlich wieder über diese Themen in einem aktuellen Zusammenhang sprechen müssen.

Wertung: 90 von 100 Trefferneinschuss2

  • Autor: Jan Zweyer
  • Titel: Goldfasan
  • Originaltitel:
  • Übersetzer:
  • Verlag: Grafit
  • Erschienen: 10.2009
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 352
  • ISBN: 978-3894256050