He’s cold as Ice

© Zsolnay

„Sein letzter Trumpf“ ist der siebte, beim Zsolnay-Verlag erschienene Roman aus der Reihe um den leidenschaftslosen und eisenharten Berufsverbrecher Parker. Eine Figur, die für ein paar Jahre trotz (oder gerade wegen) seiner kriminellen Ader zu einem festen Bestandteil der deutschen Krimi-Szene geworden war – nur um mittlerweile leider wieder in der Versenkung zu verschwinden.

Ihr Schöpfer, der amerikanische Schriftsteller Donald E. Westlake, welcher die Parker-Bücher unter dem Pseudonym „Richard Stark“ veröffentlichte, weilt bereits seit dem Silvesterabend 2008 nicht mehr unter den Lebenden. Seit diesem Jahr versorgte Zsolnay die Leser hierzulande im chronologischen Rückwärtsgang mit neuen Episoden. „Sein letzter Trumpf“ wurde im amerikanischen Original bereits 1998 publiziert und von Stephen King als Einstieg in die Lektüre Richard Starks empfohlen. In diesem Fall ein gutgemeinter Rat, den man tatsächlich beherzigen sollte, ist doch dieser Titel nicht nur ohne jegliche Vorkenntnisse lesbar (anders als bei „Fragen sie den Papagei“ oder „Das Geld war schmutzig“), sondern gleichzeitig auch einer der besten aus Starks späterer Schaffensperiode.

Der letzte Raubüberfall ist, wenn auch mit personellen Verlusten, gerade über die Bühne gegangen, da lockt Parker bereits die Aussicht auf einen neuen Coup: Ein Casinoschiff, das den Hudson befährt und in drei Wochen den Betrieb aufnimmt, soll ausgeraubt werden. Keine einfache Aufgabe, da man unbemerkt Waffen an Bord bringen und irgendwann mit der Beute wieder runter vom Schiff muss. Parkers Auftraggeber, ein lokaler Politiker im Ruhestand, der bisher erfolglos gegen die Legalisierung des Glücksspiels gekämpft hat, will zwar brauchbare Pläne und alle sonstigen Details liefern, sich sonst jedoch komplett heraushalten. Das bedeutet mehr Profit, aber auch mehr Arbeit. Arbeit, die Parker alleine nicht leisten kann. Deshalb stellt er ein schlagkräftiges Team aus zuverlässigen Leuten zusammen: Dan Wycza, den Mann fürs Grobe. Mike Carlow, den Fahrer. Lou Sternberg, der einen arroganten Abgeordneten auf Kontrollbesuch mimen wird. Und Noelle Braselle, welche, im Rollstuhl mit installierter Bettpfanne sitzend, mit dem Geld das Schiff verlassen soll. Als es schließlich soweit ist, klappt anfangs alles wie am Schnürchen. Doch jeder Plan hat seine Schwachstellen. Und als eine Bikergruppe von ihrem Coup Wind bekommt und ein korrupter Polizist sich an seine Fersen heftet, muss Parker wieder mal zur Waffe greifen …

Richard Stark spielt auf seine Klaviatur auch in „Sein letzter Trumpf“ wieder mal explizit eine unterbewusste Schwäche der Krimileser an: Die Sympathie für den Bösewicht. Obwohl Parker, der raubt, lügt, betrügt und mordet, sich selbst wohl kaum als Böse bezeichnen würde, ist er doch nach allen Paragraphen des Gesetzes eigentlich zu verurteilen. Ein Mensch, dessen Bekanntschaft man eigentlich nicht machen, in dessen Visier man nicht geraten will. Und doch ertappt sich der Leser dabei ihn zu mögen. Er drückt die Daumen, hofft das der Plan gelingt, am Ende alles gut ausgeht. Wobei er eigentlich weiß, dass „gut“ in diesem Fall bedeutet: Der Verbrecher entkommt mit der Beute. Das dem letztlich immer so ist, weiß der Parker-Leser schon bevor er das Buch überhaupt aufgeklappt hat. Aber wieso sollte man es dann denn überhaupt lesen? Wie kann ein Roman, dessen Ausgang man bereits kennt, spannend sein?

Nun, hierin liegt die große Stärke von Richard Stark, dem mit Parker eine Figur gelungen ist, die einem, trotz ihrer zweifellos äußerst dunklen Seiten, Respekt und Bewunderung abnötigt. Dieser amoralische Held plant mit sparsam-kühler Effizienz, wartet geduldig, kennt keine Nervosität und räumt Hindernisse eiskalt aus dem Weg. Die Möglichkeit, das etwas schief geht, kalkuliert er von vornherein mit ein, weshalb ihn Rückschläge nicht aus der Bahn werfen. Kurzum: Parker ist ein Profi. Und als ein solcher kann man sich weder amourösen Verbindungen noch Freundschaften hingeben. So ist auch diesmal die Arbeit im Team dem Job geschuldet. Parker braucht die Hilfe seiner Kumpanen, um den Raub durchzuziehen. Es geht ums Geld. Und nur ums Geld. Für weitere moralische Verpflichtungen ist da kein Platz. Und weil sich das herumgesprochen hat, ist Parker inzwischen ein gefragter und auch bei anderen Verbrechern beliebter Mann. Er ist verlässlich, sein Wort gilt, seine Pläne versprechen Profit. Was natürlich nicht heißt, dass er immer Erfolg hat oder niemand versucht ihn übers Ohr zu hauen. Wenn Letzteres passiert, schlägt Parker gnadenlos zurück. Nie übertrieben brutal, aber meist zumindest so drastisch, dass jeder die Botschaft kapiert: Lege dich nie mit Parker an.

Mit dieser Kaltschnäuzigkeit, dieser bedingungslosen Zielgenauigkeit nimmt Stark den Leser früh für Parker ein, der dessen Planungen und Vorbereitungen verfolgt und gebannt beobachtet wie die Rädchen nach und nach ineinander greifen. Gleichzeitig wird die Geschichte um Handlungsstränge erweitert, die außerhalb der Kontrolle des eiskalten Berufskriminellen liegen. So droht unter anderem ein verdeckt recherchierender Journalist auf dem Casinoschiff die Tarnung auffliegen zu lassen, während ein skrupelloser Cop in aller Ruhe eine Falle aufbaut, welche bei Parkers Rückkehr vom erfolgreichen Beutezug zuschnappen soll. Diese und andere sich im weiteren Verlauf auftürmende Hindernisse gilt es aus dem Weg zu räumen. Und sie sind es auch, die aus einem simplen, problemlosen Raubüberfall eine höchst brenzlige und lebensgefährliche Angelegenheit machen, welche zur Improvisation zwingt und damit immer wieder für Spannung sorgt.

Und die kommt hier wahrlich nicht zu kurz. Auch weil Richard Starks sachliche und direkte Schreibe dem Leser jegliche langatmige Ausschweifungen erspart und kein einziges Wort zu viel verschwendet. Wo andere Krimiautoren heutzutage noch den kleinsten Manschettenknopf en detail beschreiben und Auskunft über die Verwandtschaftsgrade der Familie eines Ermittlers geben, da belässt es Stark bei dem, was der Handlung dienlich ist. Keine Schwenks, Kurven oder Kehren. Nur ein Gaspedal, das mit jeder weiteren Seite tiefer durchgetreten wird. Diese Geradlinigkeit und völlige Abstinenz überflüssigen Geschwätzes ist genauso Kennzeichen der Reihe, wie die Zurückhaltung des Autors bei der Zeichnung seiner Hauptfigur. Egal was alles im Laufe eines Coups passiert: Am Ende weiß man über Parker genauso viel wie am Anfang. Er bleibt ein Mann ohne Identität. Ein Mann, dessen Gedanken und Gefühle genauso im Verborgenen bleiben, wie sein nie genannter Vorname.

Sein letzter Trumpf“ hat neben all diesen üblichen Ingredienzien allerdings noch weit mehr zu bieten, da Stark sich diesmal auch in Punkto Setting ein paar zusätzliche Sternchen verdienen kann. Ob auf dem beleuchteten Casinoschiff in tiefer Nacht oder im triefenden Dreck einer Gaststättentoilette. Die Handlungsorte bieten Kopfkino vom Feinsten, machen Parkers Treiben noch zusätzlich lebendiger, der diesmal in allen Belangen zur Höchstform aufläuft. Wenn Parker mit gezücktem Colt Python im Dunklen an Häuserwänden vorbeischleicht oder einfach nur wortlos sein Gegenüber niederstarrt, hält man unwillkürlich den Atem an. Ein diabolisches und wissendes Grinsen im Gesicht. Bis zur letzten Silbe.

Der achtzehnte Parker ist atemberaubende und zuspitzende Spannung auf 283 Seiten, die mal so wirklich jeden Cent wahrlich wert sind und welche man am Ende nur äußerst ungern aus der Hand legt. Es bleibt zu hoffen, dass derart kompromisslose und gradlinige Kriminalliteratur auch weiterhin den Weg auf den deutschen Buchmarkt finden wird. Angesichts solcher Qualität sollte weiterhin auch die Neuauflage älterer Bände in Erwägung gezogen werden.

Wertung: 94  von 100 Treffern

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  • Autor: Richard Stark
  • Titel: Sein letzter Trumpf
  • Originaltitel: Backflash
  • Übersetzer: Rudolf Hermstein
  • Verlag: Zsolnay
  • Erschienen: 02.2011
  • Einband: Broschiertes Taschenbuch
  • Seiten: 283 Seiten
  • ISBN: 978-3552055360

Money makes the world go round

© Pulp Master

The Times they are a changin'“ – das gilt auch für die Welt des Verbrechens. Selbst ein ungewöhnlicher und findiger Dieb wie Garry Dishers Wyatt stößt an seine Grenzen. In jeder Hinsicht. Die menschliche Perfidie ist geblieben, aber die Technik entwickelt sich in jeder Hinsicht weiter und überrollt das Individuum. Jeder Beutezug wird zum Überlebenskampf.

Dem Buchtitel entsprechend begibt sich Wyatt diesmal in einen Sumpf. Den des Finanzbetrugs. Jack Tremayne hat nach dem „Ponzi-Schema“ Klienten abgezockt und steht kurz vor der Verhaftung. Seinen Partner hat es schon erwischt, doch Tremayne windet sich noch in Freiheit herum, wenige Vertraute und eine untreue Gattin im Schlepptau. Irgendwo hat er Fluchtgeld gebunkert, von dem Wyatt dank seines Knast-Informanten Sam Kramer erfährt. Er heftet sich an die Fersen Jack Tremaynes, bemerkt aber nicht, dass  der Kriegsveteran Nick Lazar, der Kramers verkorksten und nicht besonders hellen Sohn ausspioniert, ebenfalls auf die Fluchtkasse des windigen Finanzberaters aus ist. Gleichzeitig kommt ihm der hartnäckige Cop Muecke ziemlich nahe. Wyatt braucht mehr noch als Geschick Glück, um seinen Verfolgern zu entkommen.

Sam Kramer hingegen gerät im Gefängnis unter lebensbedrohlichen Druck, während Jack Tremayne seine gewinnorientierte, Menschenleben fordernde Killermentalität aktiviert. Am Ende ist das große Sterben angesagt, wer verwundet überlebt, befindet sich noch auf der Sonnenseite. Vom großen Reibach sind alle Beteiligten weit entfernt.

Wyatt begibt sich in die Gefilde von Finanzjongleuren und ins Visier eines militärisch ausgebildeten Killers. „Moder“ zerlegt den Edelgangster konsequent. Die Zeiten von Kriminellen wie Parker (Donald E. Westlake), Charlie Varrick (John Reese), Frank Logan (Max Allan Collins), Bernie Rhodenbarr (Lawrence Block) oder eben Wyatt scheinen vorbei zu sein. Er bewegt sich immer noch eloquent und elegant auf den Pfaden, die er anhand der von Sam Kramer entworfenen Pläne, entwirft. Doch seine Winkelzüge werden durchschaubarer, er selbst saturierter und unaufmerksamer. Davon abgesehen ist ihm Jack Tremayne an krimineller Energie deutlich überlegen. Tremayne plagt kein Gewissen, keine Verantwortlichkeit irgendwas oder -wem gegenüber. Muecke nutzt die umfassende Videoüberwachung, um Wyatts Bewegungsmuster auszukundschaften. Seine Tarnmaßnahmen funktionieren bei weitem nicht so wie Wyatt es sich wünscht und vorstellt.

Dass er zudem die Bestrebungen Nick Lazars nicht erkennt, ist fatal. Wyatt scheitert beinahe an seiner Selbstüberschätzung und den Tücken der durchtechnisierten Gegenwart. Darüber räsoniert er zwar, hat aber kaum Gegenmaßnahmen zu bieten. Tresore, Geldverstecke spielen nur noch eine untergeordnete Rolle und sind, falls doch existent, wesentlich effizienter gesichert als in der Vergangenheit. Krumme Transaktionen finden nicht mehr auf dunklen Parkplätzen oder Hinterhöfen statt, sondern in den Weiten des Darknets. Wyatts Tarnfähigkeiten versagen angesichts der nahezu lückenlosen Videoerfassung, er hinterlässt Spuren. Und braucht das Glück, dass Muecke ihm mehr Sympathie entgegenbringt als Lazar und Konsorten.

Moder“ ist ein Abgesang. Auf den Profi-Gangster, der seinem Geschäft mit hoher Effizienz, aber ohne den Einsatz überflüssiger Gewalt nachgeht. Der Cleverness über Waffeneinsatz stellt. Der aber auch nicht den perfiden Methoden von skrupellosen Bänkern verfällt, die ihre Opfer nicht direkt ausrauben, stattdessen lieber freiwillige Einzahlungen entgegennehmen. Für die es keine Deckung gibt. Geringe Ausschüttungen werden über folgende Einzahlungen finanziert, sobald viele Kunden ihre Rendite oder gar Auszahlungen beanspruchen, implodiert das System. Die neoliberale Gier arbeitet für Ränkeschmiede wie Peter Tremayne. 

Gary Dishers Roman ist ein (leicht) wehmütiger Roman über das Verschwinden. Über skrupellose Menschen wie Peter Tremayne, die die Flucht ergreifen und nur Opfer hinterlassen, über Geld, das sich verflüchtigt, und über ein Relikt wie Wyatt, der sich abrackert und erkennen muss, dass der Raum für Professionals seiner Art immer weiter schrumpft. In einer Welt, in der Fiktionen verkauft und Milliarden verschoben werden, steht der „ehrenwerte“ Gangster  auf verlorenem Posten. Wyatt, Muecke, selbst Sam Kramer samt Familie, mit Ausnahme des tumben Sohnes, bewegen sich innerhalb moralischer Codices. Die zwar der Gesetzeslage nach irregulär sind, aber das kriminelle Geschäft am Laufen halten und Beziehungsgeflechte möglich machen. Psychopathen wie Lazar und Geldhaie wie Pete Tremayne gehen ethische Bedenken ab, sie arbeiten nach einem simplen Kosten- Nutzen-Plan. Und stehen somit stellvertretend für Vieles, was in der realen Welt falsch läuft.

Moder“ ist ein Roman von brodelnder Lakonik. Gary Disher beobachtet genau, lässt seine Akteure akribisch Pläne schmieden, die allesamt scheitern. Gelegenheiten, Topografie, Mitstreiter und Kontrahenten werden permanent abgetastet und sondiert. Ist auch nötig angesichts von Verrat, Hinterhalten, Überwachung sich ändernder Allianzen. Wyatt möchte sich inmitten des Chaos bereichern, doch seine eigentliche Rolle ist die eines Chronisten des Zerfalls. Gary Disher verzichtet dabei auf plakative Action oder ausführliche Mordsequenzen. Der Tod erfolgt geradezu beiläufig, und wirkt umso erschreckender, da es in „Moder“ nur ein „Vorher“ und ein „Nachher“ gibt, dazwischen aber eine dunkle Leerstelle existiert. Das wird bis zum letzten Satz konsequent betrieben, ein großer Showdown fällt aus. Was bleibt, ist Ernüchterung.  

Dishers Prosa ist klar und präzise, die Dialoge sind pointiert und kommen ohne überflüssigen Zierrat aus. Privates wird nur ausgebreitet, wenn es der Geschichte dient. So agiert Lazar meist aus dem Schatten heraus, seine Vergangenheit offenbart sich nur häppchenweise und rudimentär. Mitunter erscheint „Moder“ etwas spröde, aber angesichts der geschwätzigen Wortdurchfälle vieler aktueller Kriminalromane, ist Dishers kantige und effektive Schreibweise eine Wohltat.

Wertung: 84 von 100 Treffern

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  • Autor: Garry Disher
  • Titel: Moder
  • Originaltitel: Kill Shot
  • Übersetzer: Ango Laina, Angelika Müller
  • Verlag: Pulp Master
  • Erschienen: 09.2021
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 300 Seiten
  • ISBN: 978-3946582069

Das Vermächtnis von Queensberry House

© Goldmann

USA, kurz vor der Jahrtausendwende. Ian Rankin befindet sich gerade auf einer Lesereise für sein aktuelles Buch „Die Seelen der Toten“, als er in dem Bordmagazin einer Airline auf einen Bericht über Edinburgh stößt. Seine erste Vermutung, in diesem nicht viel Neues erfahren zu können, wird recht schnell widerlegt, denn während er sich in die Lektüre um die Sehenswürdigkeit Queensberry House vertieft, wird er auf eine ihn bis dato unbekannte, mysteriöse Geschichte aufmerksam.

Direkt am unteren Ende der Holyrood Road gelegen, liegt es nicht weit weg von der Residenz der Königin und gegenüber von dem Grundstück, auf dem zu diesem Zeitpunkt gerade das neue Verlagshaus der Zeitung Scotsman gebaut wird. Direkt neben dem Queensberry House soll zudem bald der Sitz des neuen schottischen Parlaments entstehen. Die früher vornehmste Wohngegend in Edinburgh war in den vergangenen Jahren nach und nach verfallen – nur das besagte Haus, in dem einst der Duke of Queensberry residierte, ist übriggeblieben. Er war mitverantwortlich für den Treaty of Union, den Einigungsvertrag, der aus Schottland und England das „Vereinigte Königreich“ machte.

So weit, so bekannt, doch was Rankin zudem erfährt, soll den Grundstein für den nächsten Rebus-Roman legen: Ein Mitglied der herzoglichen Familie hatte eines Nachts einen der Diener getötet, gekocht und verspeist. Den Bürgern Edinburghs erschien dies damals wie ein schlechtes Vorzeichen für die „Hochzeit“ mit England. Der Herzog wurde sogar durch die Straßen der Stadt gejagt. Im Hinblick auf das entstehende Parlament, mit welchem sich die Schotten nach drei Jahrhunderten Londoner Regierung nun ein gewisses Maß an Selbstverwaltung erkämpft hatten, schien dies Rankin eine spannende Ausgangsposition für einen Krimi zu sein, der an der Schwelle zum nächsten Millennium spielt und doch gleichzeitig mit den Nachwehen der britischen Geschichte zu kämpfen hat. Heraus kam „Der kalte Hauch der Nacht“ (engl. „Set in Darkness“).

Edinburgh, Ende der 90er Jahre. Detective Inspector John Rebus steht einmal mehr auf dem beruflichen Abstellgleis. Nach seinen letzten Querschüssen ist selbst beim geduldigen Detective Chief Superintendent Thomas „Farmer“ Watson die Geduldsgrenze überschritten, der den Quälgeist von der Mordkommission in das Polizei-Parlaments-Verbindungskomitee versetzt, welches mit der Koordination der bevorstehenden Autonomie Schottlands betraut wurde und unter der Leitung des jungen Karrieristen Derek Linford steht. So gehört auch Rebus dem Team an, welches die Baustelle des künftigen Parlamentsgebäudes besichtigen soll. Eine lästige und äußerst langatmige Angelegenheit, die jedoch in einer überraschenden Entdeckung endet. Im Queensberry House, das lange Jahre ein Krankenhaus beherbergt hat, wird während der Inspektion eine mumifizierte Leiche hinter einem Wandpanel entdeckt, wo sich einst der Kamin des Hauses befand. Bei der Obduktion stellt sich heraus, dass diese dort wohl bereits seit zwanzig Jahren liegt. Aufgrund des Fundortes wird dieser Vorfall weitestgehend vertraulich behandelt und ein junges Ermittler-Duo – die Inspektoren Grant Hood und Ellen Wylie – mit der Untersuchung beauftragt.

Doch schon bald mehren sich die schlechten Vorzeichen rund um das neue Parlament. Nur kurze Zeit später wird Roddy Grieve, Kandidat der Scottish Labour Party in eben jenem neuen Parlament, auf derselben Baustelle brutal ermordet aufgefunden. Nun schlagen die Wellen in der Öffentlichkeit hoch und Inspektor Derek Linford sieht seine Chance gekommen, im Rampenlicht der Presse zu glänzen, wobei ihm ausgerechnet John Rebus helfen soll. Der denkt erst gar nicht daran und stellt stattdessen seine eigenen Nachforschungen an, die ihn sehr schnell in den Kreis von Grieves Familie führen. Währenddessen hat Siobhan Clarke ihrerseits einen vertrackten Fall zu lösen. Ein Obdachloser hat sich von der North Bridge gestürzt. An sich nichts Ungewöhnliches in dieser Stadt mit vielen Selbstmorden, doch der Tote gibt allerlei Rätsel auf. So finden sich auf dessen 400.000 Pfund. Eingezahlt im Jahr 1979 und seitdem weitestgehend unberührt geblieben. Siobhans Interesse ist geweckt und schon bald kreuzen sich ihre Ermittlungen mit denen von John Rebus. Gibt es gar einen Zusammenhang zwischen ihren beiden Fällen? Rebus, der nicht nur Linfords Geduld zunehmend auf die Probe stellt, braucht Ergebnisse und zapft schließlich seine Kontakte in der Edinburgher Unterwelt an, wo eine böse Überraschung auf ihn wartet:

Morris Gerald „Big Ger“ Cafferty, einst Kopf der Unterwelt von Edinburgh und von Rebus nach langem Ringen hinter Gittern gebracht, ist wieder auf freiem Fuß. Vorzeitig aus der Haft entlassen, weil er angeblich an einer unheilbaren Krankheit leidet, sinnt er nun auf Rache … oder hat er gar ganz andere Pläne?

An „Der kalte Hauch der Nacht“ werden sich, nicht nur bei Fans der Reihe, sicherlich die Geister scheiden, denn Ian Rankin, der bis dato ohnehin nie für eine temporeiche Art des Erzählens bekannt war, lässt sich im vorliegenden Roman immens viel Zeit beim Aufbau seiner Handlung und der Ausarbeitung seiner Charaktere. Zu viel Zeit, wird sicher mancher konstatieren und damit nicht ganz unrecht haben, zumindest wenn man dieses Buch mit seinen Vorgängern vergleicht. Doch wer genau hinschaut, der kann hier auch einen gewissen Entwicklungsschritt, eine Evolution in der Herangehensweise von Rankin erkennen. So ist John Rebus diesmal nicht mehr allein das tragende Element des Plots, sondern teilt sich die Bühne mit Siobhan Clarke und Derek Linford, deren eigene Nachforschungen über längere Zeit ohne den bärbeißigen Schnüffler auskommen müssen. Das mag dem ein oder anderen missfallen, machte aber zum damaligen Zeitpunkt durchaus Sinn, da Rankins Hauptprotagonist inzwischen stramm auf die Mitte 50 zuging und damit das Rentenalter näher rückte (Wie wir inzwischen wissen, wurde diese Altersobergrenze später nochmal erhöht und hat Rebus, den Rankin ja in realer Zeit altern lässt, nochmal ein bisschen mehr Zeit im Dienst verschafft).

Dennoch sind die Kollegen bei der Polizei alles andere als Lückenfüller. Insbesondere Siobhan Clarke hat sich über die vergangenen Bücher hinweg zu einer äußerst interessanten Figur entwickelt, die laut Rankins Worten ihm nicht nur wesentlich ähnlicher ist als der anarchisch veranlagte Maverick Rebus, sondern auch weit offener für Veränderungen bzw. Neuerungen ist. John Rebus tut sich dagegen mit den Umwälzungen schwer. Das neue schottische Parlament beäugt er mit großer Skepsis, wie überhaupt sämtliche Autonomiebestrebungen der Schotten. Wie erfahren, dass er sich schon bei den ersten politischen Bewegungen in diese Richtung Ende der 70er bei der Wahl enthalten hat. Diese fast schon manische Angst vor einem Wandel des Gegenwärtigen erntet sogar den Spott durch „Big Ger“ Cafferty, der dem „Strohmann“ vorwirft, in der Vergangenheit zu leben. Für den Autor selbst ist diese charakterliche Eigenschaft aber ein vortrefflicher Wetzstein, an dem er seine Hauptfigur immer wieder schärfen kann, wenn sich dieser alle naselang mit den Größen aus Politik, Wirtschaft, Justiz und sogar der Unterwelt anlegt. Bestes Beispiel ist in diesem Fall ein Telefonat mit dem früheren Unterweltboss Edinburghs Bryce Callan, der inzwischen im sonnigen Spanien seinen Lebensabend verbringt und in allerbester Rebus‘ Manier bis hin zur Mordlust getrieben wird.

Doch so interessant das politische Geplänkel der Partei oder die skandalösen Familiengeheimnisse der Familie Grieve am Ende sind – den größten Reiz bezieht auch „Der kalte Hauch der Nacht“ wieder durch das Katz-und-Maus-Spiel zwischen John Rebus und seiner ewigen Nemesis Cafferty. Der überraschende Auftritt des Letzteren ist nur ein Gänsehautmoment von vielen in diesem Roman, der wieder mal Zeugnis davon gibt, welchen Gefallen der Autor Ian Rankin inzwischen an dem diabolischen Gegenspieler gefunden hat. Und natürlich gibt es auch noch einen weiteren Protagonisten, der erneut auf ganzer Linie zu überzeugen weiß: Die Stadt Edinburgh. Wer schon einmal die Canongate entlangspaziert ist, wird bestätigen können, wie lebendig Rankin dieses Viertel zum Leben erweckt, wenngleich sich natürlich seit dem Baubeginn des Parlaments bis heute auch einiges verändert hat. Und auch Rosslyn Chapel, die auch Dan Brown ein paare Jahre später für seinen Thriller „Sakrileg“ verwurstet hat, spielt eine kleine, wenn auch am Ende eher unwichtige Nebenrolle.

Authentizität ist inzwischen zu einem Markenzeichen von Rankins Romanen geworden, der selbst auf kleinste Details acht gibt und John Rebus neben seinem Stammlokal der Oxford Bar (hier treten einige reale Stammgäste auf) nun u.a. auch im ebenfalls realen Swany’s ein und ausgehen lässt. Hierzu gibt es übrigens eine äußerst witzige Hintergrundgeschichte: Rankin war nach zehnjähriger Abwesenheit nach Edinburgh zurückgekehrt, wo ihn ein Buchhändler schließlich ins Swany’s einführte. Beim ersten Besuch setzte er sich dabei mit ein paar von dessen Kumpels zusammen, darunter auch einem Gentleman namens Joe Rebus. Wie sich herausstellte, waren er und seine Angehörigen die einzigen Rebusse in ganz Schottland. Und um dem Ganzen noch die Krone aufzusetzen, wohnte dieser Joe sogar noch im Rankin Drive. Ein äußerst komischer, ja, beinahe schon unheimlicher Zufall, den Rankin natürlich im Buch verarbeiten musste.

Nein, letztlich sind solche Zutaten natürlich nicht wesentlich für den Spaß an einer Lektüre. In Kombination mit der aber einmal mehr äußerst komplexen, intelligenten und interessanterweise auch wieder in Schottland erschreckend aktuellen Thematik der Handlung, sorgen sie aber dafür, dass man als Leser peu à peu – und ohne große Gegenwehr – in dieses Gewirr aus Korruption, Missbrauch und Gewalt hineingezogen wird, zumal Rankin spätestens im letzten Drittel des Romans den Spannungsbogen mit viel Raffinesse in luftige Höhen katapultiert. Mehr noch: Das düstere und Gänsehaut erzeugende Finale gehört zu den absoluten Highlights der ganzen Serie und legt äußerst intensiv Zeugnis vom Können dieses Ausnahmeautors ab, der uns zwar in „Der kalte Hauch der Nacht“ ein gewisses Maß an Geduld und Aufmerksamkeit abverlangt, dafür aber auch nachhaltig zu beeindrucken weiß.

Wertung: 92 von 100 Treffern

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  • Autor: Ian Rankin
  • Titel: Der kalte Hauch der Nacht
  • Originaltitel: Set in Darkness
  • Übersetzer: Christian Quatmann
  • Verlag: Goldmann
  • Erschienen: 10.2002
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 544 Seiten
  • ISBN: 978-3442453870

Fedoras im Fernen Osten

© Heyne

Auch Tom Bradby reiht sich in die Gruppe der Autoren ein, welche ich im Mitte der 2000er Jahre noch lebendigen Forum der Krimi-Couch für mich entdecken durfte und seitdem nicht mehr von meinem persönlichen Radarschirm verschwunden sind, was insbesondere an dessen herausragenden Roman „Der Gott der Dunkelheit“ liegt (zu diesem Werk werde ich mich in der kriminellen Gasse nochmal detaillierter äußern), der im Sub-Genre des Agentenromans den Vergleich mit den ganz großen Namen nicht scheuen muss.

Zwei Jahre zuvor erschien im Original bereits „Der Herr des Regens“, mit dem Bradby nicht nur ebenfalls sein Faible für exotische Schauplätze vor einem historischen Kontext untermauert, sondern bereits andeutet, welch talentiertes Händchen er dafür besitzt, Geschichte vor den Augen des Lesers lebendig zu machen und damit die Grenzen zwischen dem Jetzt und dem Früher aufzuweichen. Ohne vorab zu viel verraten zu wollen, würde ich gar behaupten, dass es genau diese Fähigkeit ist, die den Autor nochmal aus der Masse heraushebt und letztlich seinen Werken auch jene ganz besondere Atmosphäre verleiht, an der sich viele andere Kollegen, trotz detailliertester Beschreibungen, regelmäßig verheben. Gleichzeitig sorgt dieses vor uns ausgebreitete, äußerst stimmungsvolle literarische Buffet dafür, dass wir nicht so genau auf die Simplizität des Rezepts achten, würde doch ein genauerer Blick genügen, um zu erkennen, dass sich Bradby hier nicht nur einiger Klischees bedient, sonder auch die Handlung das Rad ganz sicher nie neu erfindet. Diese sei hier kurz vorgestellt:

Shanghai im Jahre 1926. Die Stadt ist ein Schmelztiegel der verschiedensten Nationen. Chinesen, Engländer, Amerikaner, Russen und Franzosen leben eng an eng, in einzelne so genannte „Settlements“ unterteilt und arbeiten in einigen Behörden, wie der Polizei und dem Geheimdienst, sogar zusammen. Richard Field – ein junger Grünschnabel von der Polizeiakademie aus Yorkshire, der vor seiner eigenen Vergangenheit in den Fernen Osten geflüchtet ist, um neu anzufangen – wird bereits nach wenigen Tagen im Dienst mit einem äußerst heiklen Mordfall konfrontiert. Eine russische Prostituierte wurde brutal gefoltert und anschließend getötet. Alle Indizien weisen daraufhin, dass der Gangsterboss „Lu Huang“, Oberhaupt der mächtigen „Grünen Triade“, dabei seine Finger mit ihm Spiel hat. Von Eifer und Idealismus beseelt stürzt sich Field in die Ermittlungen, nur um schon bald zu erfahren, dass es in der fremdartigen und pulsierenden Metropole vor allem eine Regel gibt: Traue niemanden.

Hartnäckig treibt er dennoch seine Nachforschungen voran und gerät dabei immer tiefer in ein verstricktes Netz der Korruption und kriminellen Machenschaften, welche auch vor dem Geheimdienst selbst nicht halt macht. Vom Verrat und Widerstand in den eigenen Reihen desillusioniert, scheint die wunderschöne Natascha, eine weitere russische Prostituierte und Freundin der Ermordeten, das einzige Beständige. Doch kann er ihr vertrauen? Oder spielt auch sie ein falsches Spiel?

(…) „in keiner Stadt einen je einen solchen Eindruck von einem dichten Morast üppig verflochtenen Lebens wie hier“ (…)

Aldous Huxley über Shanghai

Weitestgehend unbeobachtet und ohne größere Aufmerksamkeit zu erzeugen, erschien zuletzt 2019 mit „Secret Service“ ein Titel von Tom Bradby auf dem deutschen Buchmarkt (den ich, zu meiner Schande, bisher auch selbst noch nicht gelesen habe), womit sich dann auch irgendwie ein Trend fortsetzt, denn der britische Autor hat es bis zum heutigen Tag nicht geschafft, sich hierzulande einen größeren Namen zu machen. Während ein Richard Harris mit ähnlicher Produktivität seit „Vaterland“ in Deutschland ein gewisses Lesepublikum fast sicher sein Eigen nennen kann, musste man schon für „Der Gott der Dunkelheit“ in der Vergangenheit kräftig die Trommel rühren. Insofern stellt diese Besprechung auch meinen zweiten Versuch da, Tom Bradby einer etwas größeren Leserschaft – oder zumindest meiner eigenen Blog-Klientel bekannt und auch schmackhaft zu machen. Dass dabei die Wahl zuerst auf „Der Herr des Regens“ fiel (und eben nicht auf das noch weit gelungenere „Der Gott der Dunkelheit“), ist auch ein wenig Clementine Skorpils (bereits von mir rezensierten) Roman „Gefallene Blüten“ geschuldet, der im gleichen Jahr vor gleicher Kulisse angesiedelt ist, aber sich auf einen anderen Aspekt der Geschichte Shanghais konzentriert – und damit mit Bradbys Buch ein kongeniales Duo bildet.

Denn Fakt ist: Einmal mehr gelingt es Tom Bradby beinahe traumwandlerisch sicher, aus einem historischen Schauplatz eine lebendige Bühne zu kreieren, welche, ein Jahr nachdem die britischen Truppen einen Studentenprotest niedergeschlagen haben, zunehmend den beginnenden Einfluss des Kommunismus zu spüren beginnt und die ohnehin aufgeheizte Stimmung in dem kosmopolitischen, äußerst dynamischen Moloch aus verschiedensten Kulturen zum Überkochen bringt. Wohlgemerkt noch weitestgehend unbemerkt von den Europäern, für die, insbesondere bei den Briten, Shanghai immer noch als Stadt der unbegrenzten Möglichkeiten gilt, in welcher der mutige Abenteuer nicht nur zu Reichtum kommen, sondern auch alle anderen niederen Gelüste hemmungslos befriedigen kann. In ausgerechnet diesem Morast der Versuchungen wagt der Hauptprotagonist Richard Field seinen Neuanfang. Und muss dabei schnell erkennen, dass Recht und Gerechtigkeit nicht immer dasselbe sind und auch nicht allen Polizeikräften daran gelegen ist, die Wahrheit ans Tageslicht zu fördern.

Der Herr des Regens“ ist nicht nur thematisch, sondern auch von der Tonalität her ein klassischer „Noir“ und Gangsterroman, dessen Zutaten allesamt höchsten Wiedererkennungswert bieten. Männer mit Fedoras. Langläufige Thompsons mit Trommelmagazin. Schwarze Limousinen mit verdunkelten Scheiben. Stinkende, regennasse Gassen. Verruchte und verrauchte Nachtclubs. Bradby konstruiert einen Sündenpfuhl aus Hass, Verrat und Gewalt, der beim Lesers nicht ohne Wirkung bleibt und sogar darüber hinwegtäuschen kann, dass der eigentliche Spannungsbogen sich nicht in allerhöchste Höhen schwingt, so düster, ja, und damit auch nachhaltig bedrückend das Setting. Der Plot, er lebt von dieser desillusionierten, beinahe nihilistischen Atmosphäre, dieser immer präsenten Gefahr, die wie ein Damoklesschwert bedrohlich über allen Beteiligten hängt. Nein, sonderlich innovativ ist das alles nicht (das Ende riecht arg nach Hollywood), aber wer Filme wie „Chinatown“ und „Die Unbestechlichen“ mag oder mit Ellroy schon das historische L.A. unsicher gemacht hat, der wird wohl auch hier voll auf seine Kosten kommen.

Tom Bradbys „Der Herr des Regens“ ist ein schillernder, wendungsreicher und für einen „Noir“ überraschend politischer Roman, der allen Fans klassischer Gangstergeschichten ans Herz gelegt sei, die jedoch aufgrund der mitunter ausschweifenden Erzählweise etwas Geduld und Einfühlungsvermögen mitbringen sollten.

Wertung: 86 von 100 Treffern

einschuss2
  • Autor: Tom Bradby
  • Titel: Der Herr des Regens
  • Originaltitel: The Master of Rain
  • Übersetzer: Ina Kleinod
  • Verlag: Heyne
  • Erschienen: 12/2005
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 576 Seiten
  • ISBN: 978-3453470224

Ein Pakt mit dem Teufel

© Zsolnay

Sommer 2008, ich befand mich inmitten meiner Ausbildung zum Buchhändler und durchlief (wenn mich meine Erinnerung nicht trügt) gerade die äußerst lehrreiche Zeit in der Reiseabteilung, als mir ein vom Zsolnay-Verlag ein Leseexemplar von Richards Starks „Fragen Sie den Papagei“ in die Hände fiel.

Obwohl nicht mehr für den Bereich der Belletristik eingeteilt, hatte ich seit meinem Beginn in der Buchhandlung bei der Gestaltung Krimi-Sparte durchgehend meine Finger im Spiel. Und wenn ich mal so bescheiden tönen darf – der Verkaufserfolg gab mir auch Recht. Dennoch war ich rückblickend betrachtet zu diesem Zeitpunkt allenfalls ein vielversprechender Laie mit gefährlichen Halbwissen, so dass ich Stark, der mit seinem richtigen Namen eigentlich Donald E. Westlake heißt, bis dato genauso wenig kannte, wie seine Kult-Figur Parker. Zu meiner Entschuldigung muss ich aber einwerfen: Richard Stark spielte damals bereits seit den 70er Jahren keine Rolle mehr auf dem hiesigen Buchmarkt. Und er selbst hatte seinen Anti-Helden seit dieser Zeit über zwanzig Jahre ruhen lassen.

Während also viele Kenner des Genres diese Wiederentdeckung mit der gebührenden Würdigung priesen, trafen Titel, Aufmachung und Kurzbeschreibung meinerseits auf ein gewisses skeptisches Unverständnis. Die Lektüre des Buches erfolgte zwischen Tür und Angel und aus reiner Höflichkeit – entsprechend mäßig fiel mein abschließendes Fazit aus. Es bedurfte einer erneuten Auseinandersetzung ein paar Jahre später – durch meine Tätigkeit auf der Krimi-Couch und die dortige Unterstützung vieler langjähriger Genre-Spezialisten inzwischen dem Novizentum entwachsen und mit einem erweiterten Horizont ausgestattet, was den Spannungsroman grundsätzlich betrifft – um auch für mich selbst die Faszination dieser Serie zu begreifen, wenngleich ich nach wie vor der Meinung bin, das „Fragen Sie den Papagei“ nicht zu den stärksten Werken aus (Achtung, Wortspiel) Starks Feder gehört und auch aus anderen Gründen nicht die beste Wahl war, um eine Renaissance des äußerst produktiven Schriftstellers einzuleiten. So bildet das vorliegende Buch nämlich den Mittelteil einer, durch eine geschlossene Handlung verbundenen Trilogie innerhalb der Reihe, die mit „Keiner rennt für immer“ beginnt und mit „Das Geld war schmutzig“, dem letzten Parker-Roman, abschließt. Beide Titel erschienen allerdings erst später bei Zsolnay bzw. dtv.

Dies ist insofern wichtig, da der Leser zwar per se bei Stark immer ohne Warnung in eine Handlung geworfen wird – im Stile der klassischen Samstagnachmittagsserien des US-Fernsehens springt man direkt ins Geschehen – man hier aber besonders mit den offenen Fragen hadert, wie und warum die Protagonisten in die von uns vorgefundene Situation gekommen sind. Und die stellt sich wie folgt dar:

Irgendwo in der tiefsten Provinz des US-Staats New York. Parker (seinen Vornamen erfahren wir nie) befindet sich nach einem misslungen Bankraub (siehe „Keiner rennt für immer“) auf der Flucht vor der Polizei und wird von Hunden, auf seine Fersen angesetzt, quer durch die Wälder gehetzt. Der Vorsprung schwindet mit jeder Minute, die Lage scheint ausweglos. Doch Parker hat Glück im Unglück und trifft auf den alten Einsiedler Tom Lindahl, der ihn sofort als den flüchtigen Bankräuber aus den Nachrichten erkennt und kurzerhand beschließt, diesem zu helfen. Doch seine Tat ist nicht uneigennützig, sieht er das Zusammentreffen doch vor allem als Chance sich einen langjährigen Traum zu erfüllen. Unter der Einsamkeit leidend, plant er seit langem einen Raubzug gegen die alte Pferderennbahn, in der er bis zu seinem Rentenantritt gearbeitet hat, bis man ihn schließlich fristlos kündigte. Allein der Mut, dies in die Tat umzusetzen, er hat ihm bis dato gefehlt. Nun, mit Parker an seiner Seite, sieht er sich in der Lage diese oft verworfenen Gedankenspiele in die Tat umzusetzen. Der wiederum braucht das Geld für die Fortsetzung seiner Flucht und willigt kurzerhand ein. Schon bald wird Lindahl klar, dass er einen Pakt mit einem äußerst gerissenen und vor allem eiskalten Teufel geschlossen hat …

Wenn ich mich heute so auf meinem Sofa umdrehe und dort die Vielzahl der bei Zsolnay veröffentlichten Stark-Titel erblicke, bin ich doch etwas verwundert, dass eine solche Art Krimi in den heutigen Zeiten tatsächlich noch augenscheinlich einen so lohnenswerten Absatz generiert hat, wartet doch die Parker-Reihe auf den ersten Blick mit nur äußerst wenig von den auf, was der durchschnittliche Freund von Spannungsliteratur so gemeinhin unter Krimi versteht. Mord, Serientäter, Leiche, Polizist und allenfalls noch Privatdetektiv – so ziehen viele Leser inzwischen nicht nur ihre persönlichen Grenzen des Genres, sondern legen damit auch gleichzeitig die benötigten Zutaten für „fesselnde und packende Unterhaltung“ fest. Und nun kommt da ein solcher Roman daher, der ohne moralisch korrekten Sympathieträger aufwartet und in der Art des Storytellings auch kurzerhand den Weg zum Ziel deklariert. Was manch einer jedoch für eine Revolution hält, ist schlichtweg nichts geringeren als die Renaissance des klassischen „Noir“, wie ihn auch schon James M. Cain einst geschrieben – und der sich seitdem nicht groß weiterentwickelt hat. Und warum sollte er auch, wo doch „Fragen Sie den Papagei“ ein treffliches Beispiel dafür ist, dass man nichts reparieren muss, was nicht kaputt ist.

Richard Stark hat seinem Gauner Parker für lange Zeit den Rücken gekehrt und ihn jetzt genauso aus der Schublade herausgeholt, wie er ihn einst reingelegt hat. Soll heißen: Die Zugeständnisse des Autors an die modernen Anforderungen an einem Krimi kann man nicht nur an einem Finger abzählen, sie verwässern auch nicht ein Jota das ursprüngliche Grundrezept. Gottseidank, möchte man rufen, hat doch diese Serie schon immer von der kühlen Planung des absoluten Profis Parker und dessen noch größerer Befähigung zur Improvisation gelebt. Und sowohl im einen wie auch im anderen läuft der alte Kämpe mal wieder zur Höchstform auf, vorangetrieben von einer messerscharfen, knappen Sprache, die sich jegliche Umschweife und Ausschmückungen versagt und – ähnlich wie Elmore Leonard – kein Wort zu viel verliert. Tempo heißt das Stichwort und so klemmt Stark seinen Plot von Beginn an unter das herunter gedrückte Gaspedal, welches den roten Faden wie die Mittelspur eines geraden Highways Seite für Seite mit Vollgas schluckt. Allerdings nicht ohne dabei einen paar Schikanen, äußerst scharfe Kurven und Wendungen einzubauen.

Und genau hieraus ergibt sich die Faszination dieser Serie, setzte Stark mit seiner Figur Maßstäbe, an denen sich heute auch noch Autoren wie Gary Disher oder Wallace Stroby messen lassen müssen. Ein Mann ohne Gewissen, stets irgendwie Herr selbst der ausweglosesten Lage und ein Meister darin, seine Umgebung geschickt und äußerst elegant für die eigenen Zwecke zu manipulieren und einzuspannen, weil ihm keine Schwäche verborgen bleibt, jede offene Flanke notiert und als potenzielles Angriffsziel auserkoren wird. Eine oftmals bittere Lektion für seine Mitstreiter, in diesem Fall Tom Lindahl, der relativ schnell feststellen muss, dass Planung und Ausführung eines Verbrechens zwei verschiedene paar Schuhe – und insbesondere die letzteren ihm ein paar Nummern zu groß sind. Ihm fehlt schlicht dieser letzter Schuss Skrupellosigkeit für diesen Job. Eine Tatsache, welche natürlich auch Parker nicht entgeht, dem es am Ende nur auf eins ankommt – seinen Schnitt zu machen. Und das ist notwendig, denn obwohl Profi, so muss auch der Verbrecher aus Berufung immer wieder Rückschläge verkraften und, um seine eigene Haut zu retten, selbst die Beute mal am Tatort zurücklassen.

Was es Näheres mit dem Titel auf sich hat? Nun, das ward an dieser Stelle nicht verraten. Nur soviel sei gesagt: Er ist gut gewählt für diesen äußerst kurzweiligen Vertreter des „Noir“, der vor allem durch seine kahle, aber unheimlich pointierte und wortwitzige Sprache zu überzeugen weiß und dessen offenes Ende den Leser fast schon zwingt, zum Nachfolger „Das Geld war schmutzig“ zu greifen. Denn er macht auch deutlich – der Krimi kann soviel mehr als nur Mord und Leichen.

Wertung: 82  von 100 Treffern

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  • Autor: Richard Stark
  • Titel: Fragen Sie den Papagei
  • Originaltitel: Ask the Parrot
  • Übersetzer: Dirk van Gunsteren
  • Verlag: Zsolnay
  • Erschienen: 06.2010
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 256 Seiten
  • ISBN: 978-3552054462

Dirty Harry from Glasgow

© Heyne Hardcore

Einen langen, nicht immer ganz geradlinigen Weg hat der „Tartan Noir“ seit Alexander McArthurs „No Mean City“ (vielen Dank für den Tipp, lieber Jochen König) und William McIlvanneys referentieller „Laidlaw“-Reihe genommen. Anfangs noch allenfalls ein die beschriebenen Großstädte betreffendes, regionales Literatur-Phänomen, hat sich dieses Sub-Genre des Spannungsromans inzwischen auch international etabliert – mehr noch, die Schar der Autoren, welche den schottischen Noir beleben, wächst beständig, was wiederum dazu führt, dass wir auch hierzulande inzwischen aus einer ganzen Reihe von Namen wählen können.

Neben alteingesessenen Schriftstellern wie Ian Rankin, Louise Welsh, Denise Mina, Val McDermid oder Stuart MacBride haben es ganz besonders Neueinsteiger aber nicht immer leicht, was sich auch im Falle von Alan Parks bemerkbar macht, der einen Großteil seines Lebens als Creative Director bei London Records und später bei Warner Music tätig und dort unter anderem für so bekannte Acts wie New Order, All Saints, The Streets oder Gnarls Barkley zuständig war. Nach über dreißig Jahren im Musikbusiness wählt er jetzt einen neuen Berufsweg und legt in einem vergleichsweise fortgeschrittenen Alter seinen Debütroman „Blutiger Januar“ vor – und hat dabei so die ein oder anderen Schwierigkeiten.

Obwohl selbst in Paisley aufgewachsen und später in London wohnhaft, empfindet Parks Glasgow, wo er auch Philosophie studierte, als seine eigentliche Heimatstadt. Und er ist bei seiner Rückkehr in die Metropole im Norden Großbritanniens nicht nur durchaus beeindruckt über deren gewandeltes Äußeres, sondern auch über die strukturellen Veränderungen, welche die Stadt seit den frühen 70ern durchlaufen hat. So beeindruckt, dass er sich intensiver mit der Geschichte Glasgows im 20. Jahrhundert zu beschäftigen beginnt und darüber die Idee entwickelt, im Gewand eines Kriminalromans genau diese historische Entwicklung abzubilden.

Ein interessantes Ansinnen, diese Zeitreise, welche zudem eine Epoche beleuchtet, in der gerade diese Stadt wirtschaftlich vollkommen am Boden lag und die Kriminalität einen historischen Höchststand erreichte. Also eigentlich beste Voraussetzungen und literarisch fruchtbarer Boden für einen harten, toughen Cop, der sich dieses verbrecherischen Gesindels annimmt und nach bester, alter Noir-Schule mit sturem Dickkopf jegliche Hindernisse durchbricht. Und genau hier offenbaren sich die bereits erwähnten Probleme, denn nicht nur das Anti-Held Harry McCoy jegliche Stereotype fast eins zu eins verkörpert – Parks beherzigt die Maxime „Show, don’t tell“ einfach zu selten, was insbesondere den Einstieg in die Lektüre nicht immer ganz einfach macht.

Diese nimmt ihren Anfang am Neujahrstag 1973 in eben besagten Glasgow. Eine vom Kohleruß und hässlichen Betonblockbauten gezeichnete Stadt, in welcher die Abwanderung ganzer Industriezweige zu einer immer höher steigenden Arbeitslosigkeit geführt und diese allgegenwärtige Depression wiederum viele in die Schattenwelt der Gesetzlosigkeit getrieben hat. Korruption, Drogenkonsum und -handel, Prostitution – die Wege der Armut oder einfach nur der bedrückenden Realität zu entfliehen sind mannigfaltig und die hiesigen Gesetzeshüter sind nicht selten an dem ein oder anderem illegalen Geschäftszweig selbst beteiligt. Kein einfaches Pflaster also, um Recht und Ordnung zum Sieg zu verhelfen. Schon gar nicht für Detective Harry McCoy, erst dreißig Jahre alt und doch Hoffnungsträger im hiesigen Polizeirevier, hat er doch bereits einige schwierige Fälle lösen können. Was viele jedoch nicht wissen: McCoy hat eine äußerst harte Jugend hinter sich, darunter mehrere Jahre in einem Kinderheim, wo er sich fortwährender Gewalt ausgesetzt sah und ausgerechnet in Stevie Cooper seinen einzigen Freund und Beschützer fand. Der ist inzwischen zum inoffiziellen König der Unterwelt aufgestiegen, welche er mit soziopathisch-brutaler, immer schlimmer ausufernder Gewalt kontrolliert. Und wann immer es seiner Sache dienlich ist, fordert er von McCoy einen Gefallen ein.

Gefangen zwischen seinem Diensteid und der Loyalität zu Cooper flüchtet sich McCoy ebenso regelmäßig in Alkohol und Drogen, wie er die lokalen Bordelle besucht. Eine Abwärtsspirale, die scheinbar kein Ende kennt und an der auch die Gegenwart seines neuen Partners „Wattie“ Watson wenig ändert, der ihm zur Seite gestellt wurde, um einen besonders mysteriösen Mordfall zu lösen: Der wegen Mordes verurteilte Häftling Nairn hatte McCoy um einen Besuch im Gefängnis gebeten und ihm dort verraten, dass eine junge Frau namens Lorna am nächsten Tag getötet werden soll. Obwohl er diese Warnung durchaus ernst nimmt, kann der Detective dieses angekündigte Verbrechen nicht verhindern. Ein achtzehnjähriger erschießt Lorna vor seinen Augen auf offener Straße, um anschließend sich selbst zu richten. Das Motiv, unbekannt. Während man seitens der Polizei den Fall schnell abschließen und zu den Akten legen will, treibt McCoy die Nachforschungen unerbittlich voran, stöbert im Dreck und entdeckt bald eine Spur, welche ihn direkt in die Kreise der besseren Gesellschaft führt …

Alan Parks‘ Auftakt zur inzwischen drei Bände umfassenden Reihe (der vierte erscheint dieses Jahr) zu beurteilen, ist wahrlich keine einfache Aufgabe, gibt es doch hier sowohl viel Licht, als auch viel Schatten. Beginnen wir einfach mal mit den negativen Aspekten dieses Romans, welche zwar alle für sich genommen durchaus im Rahmen eines typischen Erstlingswerks bleiben, in ihrer Häufigkeit aber besonders zur Mitte hin immer wieder störend ins Auge fallen, zumal – und das wäre einer der Kritikpunkte – Parks bei der Ausarbeitung der Handlung, also dem Plotting an sich, noch eine gewisse Sicherheit vermissen lässt. Nicht nur, dass die Geschichte selbst so bereits mehrfach erzählt worden ist (u.a. zu Ian Rankins Werk „Ehrensache“ sind einige äußerst deutliche Parallelen zu erkennen), sie leidet auch zu oft unter den mäandernden Nebenschauplätzen und verliert, auf Kosten des Spannungsbogens, den eigentlichen roten Faden aus den Augen. So führt die Spur auf dem Weg zu der betuchten Familie Dunlop nicht nur in schöner Regelmäßigkeit in diverse Sackgassen – das eigentliche Verbrechen zu Beginn gerät dabei zudem viel zu schnell in den Hintergrund, fast so, als ob Parks das Ende bereits lange vorher zu Papier gebracht hätte und nur einen Aufhänger gesucht hat, um mit Harry McCoy dort hinzu gelangen.

Womit wir beim nächsten Kritikpunkt angelangt wären, den Figuren – allen voran Hauptprotagonist Harry McCoy. Dass es sich bei ihm, entsprechend den Gesetzen des Genres, ganz und gar nicht um einen ausgewiesenen Sympathieträger handelt, wiegt weniger schwer, als dessen inkonsequente Zeichnung – fragt man sich doch, woher dessen guter Ruf, insbesondere bei seinem Vorgesetzten Murray, rührt. Natürlich hat ihm die Unterstützung Coopers in der Vergangenheit zu dem ein oder anderen Erfolg in den Reihen der Unterwelt verholfen. Dies wiederum erklärt aber nicht, wie es jemand, dem es so augenscheinlich an jeglichem Rüstzeug zu einem guten Ermittler mangelt, überhaupt so lange in dem Beruf bestehen konnte.

Drogen- und Alkoholabhängig ist er den Großteil des Tages vor allem mit sich selbst beschäftigt, kann den Anblick von Leichen, geschweige denn deren Obduktion nicht ertragen und sich auch körperlich im Zweikampf nicht durchsetzen. Hinzu kommen die Traumata aus der Zeit im Kinderheim, welche ihn zusätzlich in der Ausübung seiner Pflicht behindern. Zusammengenommen ergeben sie das Bild eines ziemlichen Schwächlings, der es zwar, unter anderem in Anwesenheit der Dunlops, an einer großen Klappe nicht fehlen lässt, im entscheidenden Moment aber in den seltensten Fällen irgendeine Form von Rückgrat zeigt. Möglich, dass wir hier erst den Beginn einer Entwicklung sehen, die Parks in den kommenden Bänden weiterverfolgen wird – es ändert aber nichts daran, dass man besonders zu Anfang nur schwer Zugang zu McCoy findet. (Joseph Knox hat dies z.B, mit Aidan Waits, der auffällig viele Gemeinsamkeiten mit dem Glasgower Cop hat, weit besser hinbekommen)

Grund für diese Dysfunktionalität McCoys ist dabei vor allem dessen Überzeichnung. Eine etwas lästige Unart von Alan Parks, welche sich nicht nur in den ausufernden Gewaltdarstellungen widerspiegelt, sondern auch alle anderen Charaktere betrifft, wodurch vor allem die gestelzten Dialoge manchmal am Rande der Lächerlichkeit vorbeischrammen bzw. ungewollt komisch daherkommen (Der tollen Übersetzerin Conny Lösch ist hier explizit kein Vorwurf zu machen). Stevie Cooper ist tatsächlich der einzige, der von dieser exaggerierenden Feder profitiert und als vollkommenen von der Kette gelassener Psychopath durchaus zu überzeugen und für nachhaltig wirkende Momente zu sorgen weiß. Überhaupt macht es den Anschein, dass sich Parks in den düsteren Abgründen der Stadt weitaus sicherer bewegt, als im Umfeld der Polizeibehörde, womit wir nun auch zur größten, ja herausragenden Stärke des Romans kommen: Dem Glasgow der frühen 70er Jahre.

Eine Zeit auch der äußerlichen Veränderungen für Glasgow, in der die alten Gebäude der so genannten Gorbals durch Hochhausbebauungen ersetzt wurden, welche durch ihre vorspringenden Balkone von den Bewohnern äußerst zynisch als „Die hängenden Gärten“ bezeichnet wurden. Als Vorbild dienten hier die auf Stelzen stehenden Bauten aus Marseille, allerdings erwies sich der Beton als dem Wetter in Glasgow nicht gewachsen. Inmitten der Wirtschaftskrise konnte die Glasgower Stadtverwaltung die Kosten für eine Instandhaltung nicht aufbringen, was einen relativ schnellen Verfall der Gebäude zur Folge hatte. Aus den „hängenden Gärten“ wurde „Alcatraz“ – Heimat für viele tausend Migranten aus Asien und, wenn dann irgendwann verlassen und leerstehend, auch für die ebenso große Zahl an Obdachlosen. Dieses schmutzige, dunkle und unter dem Winterschnee erstarrte Glasgow erweckt Alan Parks wirklich vortrefflich und stimmungsvoll zum Leben. Mitunter so plastisch, das man sich selbst dabei ertappt, wie man sich tiefer in den Lesesessel drückt, weil einen die Kälte – sowohl die witterungsbedingte als auch die gesellschaftliche – so zwischen den Seiten in ihren Fängen hat. In der Kombination mit den typischen Merkmalen der 70er und einem feinen Gespür für die Musik dieser Zeit (David Bowie hat einen kurzen Cameo-Auftritt), besetzt Glasgow die für mich (noch) vakante Stelle der Hauptfigur – und rettet damit letztendlich den Roman.

Blutiger Januar“ ist am Ende vor allem eins – ein typisches Debütwerk, das enorm viel Potenzial andeutet, aber noch nicht immer zielgerichtet nutzt, mit gleich mehreren offenen Fragen (z.B. welches Spiel spielt Murray?) und dank des so atmosphärischen Settings aber durchaus Lust auf eine Fortsetzung macht – in der Hoffnung, dass Parks sich in dieser ein bisschen weniger auf die Gewaltexzesse selbst, als vielmehr auf deren Ursachen konzentriert.

Wertung: 81 von 100 Treffern

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  • Autor: Alan Parks
  • Titel: Blutiger Januar
  • Originaltitel: Bloody January
  • Übersetzer: Conny Lösch
  • Verlag: Heyne Hardcore
  • Erschienen: 09/2018
  • Einband: Broschiertes Taschenbuch
  • Seiten: 400 Seiten
  • ISBN: 978-3453271883

Die ewige Wiederkehr des Gleichen

© Goldmann

Nach sechs Jahren in Frankreich zog Ian Rankin im Herbst 1996 mit seiner Familie zurück nach Edinburgh – und damit zurück in das Land, welches er zehn Jahre zuvor, damals frisch von der Uni abgegangen und gerade erst verheiratet, verlassen hatte. Inzwischen war er zweifacher Familienvater und, dank dem Erfolg seines letzten Romans „Das Souvenir des Mörders“ (engl. „Black and Blue“), endgültig auch ein finanziell erfolgreicher Krimischriftsteller, der die Phase des Ausprobierens hinter sich gelassen und seinem Platz im Genre für sich gefunden hatte.

Gewichtige moralische Themen im Gewand des Spannungsromans, den Zustand der Welt und die menschliche Natur, Schuld und Sühne – sie waren zu Rankins Steckenpferd geworden, wodurch der Autor unbewusst Anteil an einer Entwicklung nahm, welche die zuvor von vielen Akademikern und Feuilletonisten belächelte literarische Form des Krimis in zunehmend ernstere Gefilde rückte, in denen die reine Aufklärung eines Verbrechens längst nicht mehr im Mittelpunkt stand. Auch Rankins jüngstes Projekt sollte diese Entwicklung fortführen und vorantreiben. Die Keimzelle dafür war ein Tagesausflug nach Oradour gewesen – ein Dorf, das im wahrsten Sinne des Wortes „tot“ war.

Niemand weiß genau, wie viele Menschen dort an jenem Tag starben, als im Juni 1944 die 3. Kompanie des SS-Panzerregiments „Der Führer“ einmarschierte und die Einwohner zusammentrieb. Nicht viel weniger als tausend, nimmt man allgemein an, dessen Leichen verbrannt oder in Brunnen geworfen wurden. Männer, Frauen, Kinder – kaum jemand entkam dem Massaker. Bis heute ist das Dorf unverändert geblieben, zeugen ausgebrannte Autos, verrostete Straßenbahnen, ausgebombte Häuser und Einschusslöcher in den Wänden von den Gräueltaten der Nazis. In dem kleinen Museum von Oradour sind heute unscheinbare Exponate wie Haarbürsten oder Brillen zu sehen … Erinnerungen an die Toten. Doch was nicht nur die Franzosen bis heute am meisten bewegt und mitnimmt, ist die Tatsache, dass der Verantwortliche – der General, der das Massaker angeordnet hatte – zwar von den Alliierten gefangen genommen, später aber nach Deutschland zurückgeschickt worden war, wo er den Rest seines Lebens in Frieden und Wohlstand verbringen durfte. Wo war da die Gerechtigkeit? Und welche Gründe gab es für seine Freilassung? Geheime Informationen? Diplomatische Gründe?

Rankin stieß bei seinen Recherchen auf ein Netzwerk, das als „Rattenlinie“ bezeichnet wurde – und hatte urplötzlich die Idee für einen neuen Krimi. „Die ewige Wiederkehr des Gleichen“, erkenntlich in den grausamen Bildern aus dem damaligen Konflikt im ehemaligen Jugoslawien. Und die Frage: Was würde Rebus tun, wenn er im Fall eines angeblichen Nazi-Kriegsverbrechers ermitteln müsste? Sie lieferte die Grundlage für „Die Sünden der Väter“ (engl. „The Hanging Garden“), dessen Inhalt hier kurz angerissen sei:

Chief Super „Farmer“ Watson hat die Nase voll von seinem umtriebigen Untergebenen Detective Inspector John Rebus, dessen vorheriger Alleingang (siehe „Das Souvenir des Mörders“) zwar zur Auflösung eines Drogenrings beigetragen, aber auch gleichzeitig für viel Ärger gesorgt hat. Kurzerhand beauftragt er ihn mit der wenig aussichtsreichen Ermittlung gegen den alten Professor Joseph Lintz, welcher im Verdacht steht, als Angehöriger der Waffen-SS maßgeblich an einem Massaker in Frankreich beteiligt gewesen zu sein, was dieser rigoros bestreitet. Rebus muss schnell feststellen, dass sein Gegenüber ihm rhetorisch mindestens ebenbürtig ist und keinerlei Anstalten macht, auch nur ein wenig Licht auf seine Vergangenheit werfen zu lassen. Schuldig oder nicht schuldig? In dieser Frage kommt Rebus scheinbar einfach nicht voran. Als Ablenkung aus dieser Sackgasse sucht er stattdessen die Kreise des Scottish Crime Squad auf, einer Sondereinheit, der inzwischen auch seine Ex-Kollegin Detective Constable Siobhan Clarke angehört, und die mitten in einer verdeckten Operation steckt. Ihr Ziel: Tommy Telford, der neue Stern am Verbrecherhimmel, welcher sich anschickt den bisherigen Alleinherrscher der Edinburgher Unterwelt, den inhaftierten Gangsterboss Morris Gerald „Big Ger“ Cafferty, vom Thron zu stoßen.

Während Rebus, Siobhan und ihr Kollege Ormiston dessen Nachtklub observieren, kommt es zu einem Zwischenfall. Ein Mann, augenscheinlich aus Telfords Truppe, wird schwer blutend auf den Bürgersteig geworfen. Das Auto entkommt den Verfolgern der Polizei und der Verletzte – inzwischen ins Krankenhaus gebracht – schweigt sich aus. Rebus wittert dennoch die Chance, die Zähne in Telfords Organisation zu schlagen und will sich schon voller Elan in die Arbeit stürzen, als sein Blick in eins der Nebenzimmer fällt, wo Ärzte gerade um das Leben seiner schwer verletzten Tochter Samantha kämpfen, die kurz zuvor angefahren wurde.

Doch war das wirklich ein Unfall? Oder geschah es im Auftrag von Telford, der glaubt, dass Rebus und Cafferty unter einer Decke stecken? Um eine Antwort und Gerechtigkeit zu bekommen, muss er einen Pakt mit dem Teufel schließen. Aber ist es letztlich wirklich Gerechtigkeit, die er sucht oder ist es Rache? Als der Bandenkrieg seinen Höhepunkt erreicht, befindet sich Rebus mitten im Auge des Sturms …

Ich muss gestehen, dass ich mich nach der Lektüre des Klappentexts gefragt habe, ob sich Ian Rankin da diesmal nicht etwas zu viel vorgenommen hat. Nazi-Kriegsverbrecher, angefahrene Tochter, eine Prostituierte auf der Flucht, ein Bandenkrieg. Komplexe und ambitionierte Handlungsstränge sind zwar ein Markenzeichen dieses Autors, aber irgendwann kann sich ja selbst der beste Schriftsteller mal in seinem fein gestrickten Plot verheddern, sich an der schieren Größe verheben. Nun, natürlich hätte ich es inzwischen besser wissen müssen: Woran andere scheitern, das meistert Ian Rankin auch hier wieder mit Bravour, denn obwohl er seinen Protagonisten John Rebus mehr als zuvor vor Herausforderungen stellt und mit Schicksalsschlägen konfrontiert, kommt an keiner Stelle das Gefühl auf, dass die Geschichte den Kontakt zum Boden verliert. Im Gegenteil: Die verschiedenen Handlungsstränge in „Die Sünden der Väter“ dienen nicht allein dem Spannungsaufbau, sondern unterstreichen gleichzeitig auch die Komplexität des Problems, mit dem sich John Rebus konfrontiert sieht – die eigene Machtlosigkeit. Aber auch mit der Machtlosigkeit des Justizapparats, dem die Gegner immer wieder einen Schritt voraus sind und denen mit legalen Mitteln augenscheinlich nicht beizukommen ist, weshalb Rebus an dieser Stelle erstmals eine für ihn bis dahin sakrosante Grenze übertritt.

Getrieben vom Wunsch, den Verantwortlichen von Samanthas Zustand zu fassen – und auch angestachelt von seinem schlechten Gewissen, ihr nie ein richtiger Vater gewesen zu sein bzw. seine Familie zu oft enttäuscht zu haben – geht Rebus ausgerechnet ein Bündnis mit dem Mann ein, der seit jeher sein Todfeind ist: „Big Ger“ Cafferty. Ihre jahrelange Beziehung läutet hier ein ganz neues Kapitel ein, das Ian Rankin gleichzeitig als Aufhänger dient, um den Wandel der verbrecherischen Syndikate in Edinburgh und Großbritannien allgemein zu skizzieren. Rankin, der nie einen Hehl daraus gemacht hat, dass das Dr.Jekyll-und-Mr.Hyde-Element ihrer Feindschaft, die charakterliche Ähnlichkeit der beiden bewusst gewollt ist, deutet in „Die Sünden der Väter“ eine weitere Gemeinsamkeit an.

Sowohl Rebus und auch Cafferty drohen aufs Abstellgleis geschoben und von den modernen Entwicklungen, dem so genannten Fortschritt überholt zu werden. Der eine gilt im Gefüge der Polizei immer mehr als Dinosaurier, als Ermittler der alten, nicht mehr zeitgemäßen Schule. Der andere als zu weich und mit zu vielen Skrupeln behaftet, um die Unterwelt seiner Stadt zu kontrollieren. Es bleibt jedoch bei der Andeutung (spätere Fälle der Reihe werden dies viel expliziter ausführen), da Rebus und Cafferty, gemäß dem Motto „Der Feind meines Feindes ist mein Freund“, ihre vergangenen Differenzen kurzfristig begraben und an einem Strang ziehen. So scheint es zumindest, stellt man sich als Leser doch auch die Frage: Was ist wenn Cafferty hinter allem steckt?

Rebus‘ Einsatz ist in jedem Fall so hoch wie nie. Oder um es im Pokerlatein zu sagen. Er geht „All in“. Er weiß, dass er ein Spiel spielt, dass er nicht gewinnen kann, setzt alles auf eine Karte, jedoch nicht ohne sich dabei noch ein kleines Hintertürchen offenzuhalten, mit dem er im günstigsten Fall vielleicht gleich alle Fliegen mit einer Klappe schlagen kann. Und von denen wimmelt es in „Die Sünden der Väter“ nur so. Neben Telfords aufstrebenden Imperium zeigen auch andere Syndikate hier ihr hässliches Antlitz. So mischt unter anderem die Yakuza, das japanische Pendant der Mafia, in der Aufteilung von Edinburghs Unterwelt mächtig mit, will das durch Caffertys Verhaftung entstandene Machtvakuum nutzen, um neues Terrain zu besetzen und ihre illegalen Aktivitäten auszuweiten. Im Angesicht dieser Übermacht, konfrontiert mit gleich mehreren Feinden und Gegnern, greift Rebus auf die Hilfe eines engen Freundes zurück, was letztlich fatale und dramatische Folgen hat. Nebenbei bemerkt: Für mich gehört diese Szene zu einem der bisherigen Highlights der Reihe.

Wer sich jetzt fragt, wie die Thematik Lintz dort hineinpasst, dem sei nur soviel gesagt: Querbeziehungen zwischen den einzelnen Strängen legen nach und nach die Zusammenhänge offen, wobei es sich Rankin vorbehält, die Fäden auf unterschiedliche Art und Weise enden zu lassen. Wie er das tut – nun das ist von unnachahmlicher, aber auch eindringlicher und bedrückender Qualität. Nur wenige Schriftsteller dieses Genres haben ihr eigenes „Krimi-Universum“, die Biographien ihrer Figuren und deren Schauplatz (der inzwischen schon weit mehr ist als nur das) so im Griff, schaffen es auf einem derart hohen Niveau aktuelle Geschehnisse mit der Fiktion zu verknüpfen, um daraus ein realistisches, nachvollziehbares Lese-Erlebnis zu schmieden.

Die Sünden der Väter“ ist zwar von weniger epischer Tiefe als sein Vorgänger, dafür aber unheimlich temporeich und von einer Ernsthaftigkeit durchdrungen, welche nicht nur der Figur John Rebus neue Facetten abringt – großartig, wie Rankin hier nochmal auf dessen Vergangenheit beim Militär in Belfast eingeht – sondern auch eben jene „ewige Wiederkehr des Gleichen“ fast schon melancholisch unterstreicht. Am Ende bleibt nämlich die Erkenntnis: Ein Mensch mag aus seinen Fehlern lernen, die Menschheit vermag es nicht.

Wertung: 91 von 100 Treffern

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  • Autor: Ian Rankin
  • Titel: Die Sünden der Väter
  • Originaltitel: The Hanging Garden
  • Übersetzer: Giovanni Bandini, Ditte Bandini
  • Verlag: Goldmann
  • Erschienen: 01.2006
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 480 Seiten
  • ISBN: 978-3442454297

Schwarzes Gold und schwarze Seelen

© Goldmann

Ende Dezember 1996. Nach sechs Jahren in Frankreich kehrte Ian Rankin mit seiner Familie wieder nach Edinburgh zurück und zog in ein angemietetes Haus, dessen Besitzer den größten Teil des Jahres in London lebten, es allerdings über Weihnachten selbst brauchten. Um das Fest der Liebe nicht unter freiem Himmel verbringen zu müssen, kamen die Rankins über die Feiertage bei der Verwandtschaft in Belfast und Lincolnshire, später bei Freunden in der Nähe von York unter. Und genau hier las der Autor in der „Times“ die Vorankündigung einer Buchbesprechung, welche in etwa wie folgt lautete: „Der beste Krimi des Jahres 1997 ist bereits erschienen – nächste Woche verraten wir, wie er heißt!“

Rankins damals neuestes Buch, „Das Souvenir des Mörders“ (engl. „Black and Blue“), sollte Ende Januar ausgeliefert werden. Intensives Daumendrücken begann, welches letztlich belohnt wurde: Der achte Roman um Inspector John Rebus wurde tatsächlich von der „Times“ gekürt und im folgenden November gar als bester Krimi des Jahres 1997 mit dem „Gold Dagger Award“ ausgezeichnet. Darauf folgte die Nominierung für den Edgar Allan Poe-Award, welcher jedoch am Ende an James Lee Burke ging. Doch ein Stein war ins Rollen gebracht, Rankins Name schlagartig auch über die Grenzen Großbritanniens bekannt geworden, was im Nachhinein die Frage aufwirft, was zum Teufel an „Black and Blue“ so anders war als an den früheren Büchern des schottischen Autors? Ein Blick auf den Umfang des Buches und in die Kurzbeschreibung der Handlung lassen da bereits einige Rückschlüsse zu:

Für Detective Inspector John Rebus kommt es wieder mal dicke. Nach seinen letzten Alleingängen, bei denen er auch einigen hohen Herren auf die Zehen getreten hat, ist der schroffe Einzelgänger vom „heimatlichen“ Revier St. Leonard’s nach Craigmillar versetzt worden, welches die hier tätigen Beamten nur „Fort Apache“ nennen. Ein Abstellgleis für unbequeme Cops wie Rebus, der zwischen all den Problemfällen entweder weitestgehend gemieden oder mit Häme überschüttet wird. Und als ob das noch nicht genug wäre, steht die Presse tagein tagaus vor seinem Haus, um ihn mit einem alten Fall aus dem Jahr 1977 zu konfrontieren. Damals, Rebus war noch Constable unter seinem Vorgesetzten Detective Inspector Lawson Geddes, war er an der Festnahme von Leonard Spaven beteiligt, der später, als Mörder verurteilt, im Gefängnis eine Schriftstellerkarriere hingelegt und eines Tages schließlich Suizid begangen hat. Bis zu seinem Tod beteuerte er seine Unschuld. Und mehr noch: Er klagte Geddes und Rebus an, ihn in eine Falle gelockt zu haben. Nachdem nun auch Geddes per Selbstmord aus dem Leben geschieden ist, soll nun Letzterer vor der Kamera Stellung nehmen. Ist der Tod seines ehemaligen Vorgesetzten ein Schuldeingeständnis? Hatte Geddes, besessen von der Vorstellung Spaven zu überführen, Beweise gefälscht?

Rebus, der in der Vergangenheit bereits Zweifel hatte, verweigert jegliche Aussage und setzt insgeheim seinen Kollegen Detective Sergeant Brian Holmes auf den alten Fall an, um diesen aufzurollen und endlich Klarheit zu gewinnen. Er selbst hat alle Hände mit einem aktuellen Mord zu tun.

Ein Erdölarbeiter ist gefesselt aus einem hoch gelegenen Fenster gestürzt und die Spuren am Tatort lassen die Mittäterschaft von Andrew „Tony El“ Kane vermuten. Ein sadistischer, unberechenbarer Schläger, der bisher für Joseph „Uncle Joe“ Toal, die Nummer eins der Gangsterbosse in Glasgow, gearbeitet hat. Will dieser jetzt seine „Geschäfte“ nach Edinburgh ausweiten? Rebus beißt in den sauren Apfel und nimmt Kontakt zum Gangster „Big Ger“ Cafferty auf – sein alter, endlich hinter Schloss und Riegel sitzender Erzfeind, der ihm tatsächlich zu einem Treffen mit „Uncle Joe“ verhilft. Der streitet jedoch jede Kenntnis von dem Mord an dem Erdölarbeiter ab. Mehr noch: Tony El soll angeblich inzwischen selbstständig und in Aberdeen arbeiten. Für Rebus die Gelegenheit zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: Seinem herrischen Vorgesetzten Ancram gen Norden zu entfliehen und nebenbei seine eigene kleine Privatermittlung voranzutreiben, denn wie früher bei Geddes, so ist auch für ihn ein ungelöster Fall zu seiner persönlichen Muße geworden:

Seit einiger Zeit treibt ein Bibel zitierender Serienmörder namens „Johnny Bible“ sein Unwesen in Schottland. Sein Tatmuster: Frauen auflauern, sie vergewaltigen und anschließend erdrosseln. Eines der Opfer war John Rebus bekannt. Doch was noch merkwürdiger ist: Bereits Ende der 1960er Jahre hat es schon einmal einen Mehrfachkiller gegeben, der drei Opfer in Glasgow auf identische Art und Weise umbrachte. Die Presse nannte ihn damals „Bible John“. Ist dieser nun nach all den Jahren wieder aktiv geworden? Oder hat er einen Nachfolger gefunden? Und wenn ja und der echte „Bible John“ noch lebt – wie wird er auf diesen Nachahmer reagieren? Für den Lowländer Rebus werden die Nachforschungen in den Highlands des Nordostens zu einem Wettrennen gegen die Zeit …

Edinburgh. Glasgow. Aberdeen. Die Shetland-Inseln. Eine Bohrinsel hunderte von Meilen draußen in der rauen Nordsee – mit „Das Souvenir des Mörders“ setzt Ian Rankin den bereits in „Ein eisiger Tod“ begonnenen Trend fort und erweitert den Aktionsradius seines Detectives um ein vielfaches. Und nicht nur hinsichtlich der Schauplätze stößt Rankin mit seiner Rebus-Saga in neue Dimensionen vor. Auch die Art und Weise wie der Schriftsteller die verschiedenen Handlungsstränge miteinander verknüpft und entwickelt, das Blickfeld seines Ermittlers erweitert, macht deutlich, dass die Lehrzeit endgültig abgeschlossen und der Ton für künftige Romane gefunden ist. Beschränkten sich die ersten Bände noch im klassischen Muster auf einen einzigen zentralen Kriminalfall, den es zu lösen galt, sind die Grenzen zwischen Gut und Böse in „Das Souvenir des Mörders“ nun aufgelöst oder verschwommen. Den einen Mörder, ihn gibt es so nicht mehr. Stattdessen hat sich die Welt, hat sich das Verbrechen globalisiert, ist weit weniger greifbarer geworden. Da arbeitet die Politik Hand in Hand mit den Großkonzernen, schmieren gut organisierte Banden einen korrupten Justizapparat, lässt sich die Presse vor den Karren ihrer freigiebigen Gönner aus der High Society spannen. Und mittendrin John Rebus, der hier nochmal an Statur gewinnt, weil sein Ruf, seine berufliche Zukunft und letztlich sogar sein Leben vom Autor aufs Spiel gesetzt werden.

Ein Kniff, mit dem Ian Rankin der Serie nicht nur neues Leben einhaucht und den negativen Begleiterscheinungen der Routine entgegenwirkt, sondern auch gleichzeitig den epischen Charakter seiner Romane unterstreicht, welche sich, ganz im Stil des großen Vorbilds James Ellroy, nunmehr eher wie eine schottische Chronik denn wie klassische Krimis lesen. Natürlich ist mit dieser Ausrichtung auch eine gewisse Gefahr verbunden, da vielleicht eben gerade Liebhaber des typischen britischen Spannungsromans den zentralen roten Faden vermissen, über die vielen Querverbindungen stolpern oder die flachere Kurve des Spannungsbogens bemängeln. In meinen Augen übertreffen die Vorteile dieser Entscheidung aber bei weitem die Nachteile – auch weil uns Ian Rankin trotz anderer Herangehensweise die elementaren Zutaten nicht vorenthält und seine Handlung mit vielen überraschenden Wendungen spickt, ohne sich dabei künstlicher Effekte bedienen zu müssen.

Im Gegenteil: Reales Tagesgeschehen und fiktive Geschichte werden in genau der richtigen Dosierung vermischt und sorgen im Verbund mit der ökonomischen Schreibweise für den gewohnt authentischen Grundanstrich. Wo andere Krimi-Schriftsteller in jedem ihrer Bücher neue Kaninchen aus dem Hut zaubern müssen, da legt Ian Rankin Wert auf Konstanz. Figuren wie Jack Morton, Brian Holmes, Gill Templer oder Siobhan Clarke sind mehr als nur Füllmaterial – ihre Biographien werden sorgsam gepflegt und ebenso sorgfältig erweitert, wodurch aus einer schlichten Besetzung vertraute Personen werden, an deren Schicksal man ebenso Anteil nehmen kann, wie an dem des Hauptprotagonisten.

Wenngleich eine solche Verwendung des Stammpersonals im Krimi-Kreisen nicht gänzlich unüblich ist (siehe z.B. Michael Connelly), so ist ein anderer Trick Rankins jedoch umso gewagter: Mit Bible John gibt erstmals eine real-existierende Figur, und dann auch noch ein bis heute nicht gefasster Serienmörder, ihr Stelldichein in der Serie, deren Beschreibung sich, von der fiktiven Identität mal abgesehen, eins zu eins mit dem echten Vorbild deckt. Dieses hat tatsächlich zwischen Februar 1968 und Oktober 1969 drei Frauen getötet, um danach von der Bildfläche zu verschwinden. All diese Elemente heben „Das Souvenir des Mörders“ zwar von seinen Vorgängern ab, begründen aber meiner Meinung nach letztlich nicht den Erfolg dieses Kriminalromans, dem ohne eine letzte fehlende Zutat wohl möglich weniger Aufmerksamkeit zuteil geworden wäre. Und diese Zutat lautet „Wut“.

Rankins Sohn Kit war im Juli 1994 auf die Welt gekommen und in den kommenden Monaten darauf schwer krank geworden. Längere Autofahrten zur Kinderklinik nach Bordeaux wurden zur Regel, der Autor aufgrund der schleppenden Genesung seines Sohns zunehmend ungeduldiger. Hinzu kam sein schlechtes Französisch, mit dem er sich bei den Ärzten schlecht verständlich machen konnte, weshalb er oft mit mehr als Fragen als Antworten von diesen Fahrten zurückkam. Rankin zog sich auf den Dachboden des alten Bauernhauses zurück, der außer einem Computer, ein paar Stadtplänen und Fotos von Edinburgh komplett leer war – und plötzlich hatte er wieder die Kontrolle, wenn auch nur über ein fiktives Universum. Hier konnte er Gott spielen. Hier beherrschte er die Sprache. Und er benutzte Rebus als Sandsack, ließ physische und psychische Schläge auf ihn einhämmern. In Folge dessen wurde „Das Souvenir des Mörders“ sein bis hierhin dunkelster und härtester Roman. Der achte Auftritt von John Rebus – er war Ian Rankins persönliches Ventil.

Rankins Gefühle finden ihren Widerhall in John Rebus‘ Welt, der angezählt Treffer kassiert, einen K.O. wegsteckt, um sich dann doch wieder wie ein lästiger Terrier in die Arbeit zu stürzen und dort Resultate erzielt, wo andere längst aufgegeben hätten. Es ist diese Menschlichkeit, diese Mischung aus innerer Verletzlichkeit und schottischem Starrsinn, welche die üblichen Barrikaden zwischen Leser und Geschichte überwindet und das Gelesene so nachhaltig auf uns wirken lässt.

Das Souvenir des Mörders“ ist Ian Rankins bis hierhin bester und in allen Belangen größter Roman – ein schulmeisterliches Beispiel, wie eine schlüssige und packende Krimi-Lektüre auszusehen hat. Fernab jeglicher „Highlander“-Romantik. Schroff. Kantig. Zynisch. Menschlich. Tragisch. Traurig. Schon vorher, aber jetzt endgültig: Rankin ist eine Klasse für sich!

Wertung: 93 von 100 Treffern

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  • Autor: Ian Rankin
  • Titel: Das Souvenir des Mörders
  • Originaltitel: Black and Blue
  • Übersetzer: Giovanni Bandini, Ditte Bandini
  • Verlag: Goldmann
  • Erschienen: 05.2005
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 608 Seiten
  • ISBN: 978-3442446049

Ich liebe es, wenn ein Plan (nicht) funktioniert …

© Zsolnay

Die Wiederentdeckung von Richard Starks „Parker“-Serie durch den Zsolnay-Verlag gehört für mich persönlich zu den positivsten Überraschungen in der Kriminalliteraturszene, war doch der unter anderem mit drei Edgar Awards ausgezeichnete und durch die Mystery Writers of America sogar zum „Grand Master“ ernannte Autor auf dem deutschen Buchmarkt viel zu lange in der Versenkung verschwunden.

Zsolnays Verdienst wird dabei allerdings ein wenig durch die zeitliche Abfolge der Veröffentlichungen geschmälert, was insbesondere die letzten drei Bände der Reihe um den Berufsverbrecher Parker betrifft, die gemeinsam eine lose Trilogie um den Überfall auf einen Geldtransport bilden. „Keiner rennt für immer“ stellt dabei den Auftakt dar, wurde aber auf Deutsch nach „Fragen Sie den Papagei“, dem mittleren Part, veröffentlicht. Ein Wahl, die wohl vor allem dem Inhalt geschuldet ist, kommt doch letztgenannter Titel wesentlich actionreicher und kurzweiliger daher, was den Neueinsteig für Leser natürlich erleichtert. Doch so „handlungsarm“ „Keiner rennt für immer“ in Anführungsstrichen auch ist – gerade die Planung des Coups und die sich im weiteren Verlauf ergebenden Schwierigkeiten bieten Parker beste Möglichkeiten, seine Stärken in Gänze auszuspielen, weshalb ich diesen Band auch für den gelungensten, weil homogensten der drei halte. Und auch zum besseren Verständnis sei jedem geraten, mit „Keiner rennt für immer“ die letzten Auftritte von Parker in Angriff zu nehmen.

Kurz zur Story: Das kleine Kaff Rutherford im US-Staat Massachusetts. Mit Sicherheit kein Ort, dem der Stadtmensch Parker unter normalen Umständen einen zweiten Blick gönnen würde. Doch die Umstände sind nicht normal, denn das Geld wird langsam knapp, so dass plötzlich eine im Rahmen einer Fusionierung aufgelöste Bank schon ein lohnenswertes Ziel darstellt. Kein Kapitalverbrechen des üblichen Kalibers für Parker und seine Komplizen Nick Dalesia und Nelson McWhitney, aber dennoch selbst für die Profis eine Herausforderung, da die Geldeinlagen mit gepanzerten Transportwagen abtransportiert werden. Und drei Mann reichen dafür einfach nicht aus. Parker wäre jedoch nicht Parker, hätte er nicht auch dafür bereits vorgesorgt. Über Elaine Langen, unglückliche Gattin des Bankchefs, und den ehemaligen Polizist Jake Beckham, der in der Bank tätig war, bis man ihn feuerte, kommt er in den Besitz der nötigen Informationen für den geplanten Coup. Abgesichert wird das Ganze schließlich durch den Arzt Dr. Myron Madchen, der Beckham, welcher nach Beendigung des Überfalls zu den Hauptverdächtigen zählen würde, ein Alibi verschaffen soll. So weit, so gut. Doch wann ist jemals schon etwas nach Plan gelaufen?

Schon recht bald erweisen sich einige der Beteiligten als Risikofaktoren, denn der Druck auf jeden einzelnen in dieser kriminellen Unternehmung wächst. Insbesondere Langen und Madchen beginnen Nerven zu zeigen, was wiederum die Neugier der äußerst tüchtigen Polizistin Gwen Reversa anfacht, die sich sogleich des Falls annimmt. Und als ob das noch nicht genug wäre, haben sich auch zwei Kopfgeldjäger an Parkers Fersen geheftet, welche sich ihrerseits Profit vom Überfall versprechen und zudem noch ein Hühnchen mit einem früheren Komplizen zu rupfen haben. Parker muss schließlich all seine Improvisationskünste ausspielen, um die vielen Amateure auf Kurs zu halten und den Raub durchzuziehen – doch auch er kann nicht überall zugleich sein …

Sie mögen Filme wie „Oceans Eleven“, wo am Ende die coolen Diebe mit blitzender Sonnenbrille aus dem Casino schlendern, während die Bullen an anderer Stelle ahnungslos die Hände in die Hüfte stemmen? Oder sie favorisieren Bücher, wo letztlich alles wie geschmiert läuft und der „Held“ schon vierzig Seiten vorher weiß, was am Ende wie, wo, wann und auf welche Weise passieren wird? Wenn dem so ist, dann lassen sie mal schön ihre Patschehändchen von Richard Starks „Parker“-Romanen, in denen sich der Autor so ziemlich jeden künstlichen Effekt verkneift und die knallharte Realität billiger Effekthascherei vorzieht. Das heißt wiederum: Auch wenn dem Leser detaillierte Einblicke in die Vorbereitungen des Verbrechens gewährt werden, impliziert dies noch lange nicht deren reibungslose Ausführung – im Gegenteil. Schon recht früh wird uns gewahr, dass Parkers Überfall scheitern muss, sind doch einfach zu viele Variablen im Spiel, um diese unter Kontrolle zu halten. Fans der Serie wird dies kaum überraschen, da in jedem Auftritt des Berufsverbrechers irgendwann irgendetwas schief geht. Und gerade hiervon lebt die Figur „Parker“, der immer dann aufblüht, wenn ihm die Polizei schon ganz nah im Nacken sitzt und der frustrierte Beobachter die Flinte ins Korn werfen will.

Wo andere Thriller der Moderne sich fleißig Twists und Turns bedienen, um letztlich eine Überraschung zu präsentieren, die man doch dann irgendwie hätte erahnen können, beziehen Starks Romane ihr Spannungselement aus den Fehlern seiner Protagonisten. Und dass diese weit unberechenbarer sind, als z.B. die Genialität eines Meisterdetektivs im Stile Lincoln Rhymes, erklärt vielleicht auch die fast fünfzig Jahre andauernde Erfolgsgeschichte von Starks Serienfigur. Ob im Zeitalter von Telefonzellen oder I-Phones, ob mit dem Notizblock oder dem Notebook. Parker ist ein zeitloses Phänomen, das heute noch genauso funktioniert wie Anfang der 60er Jahre und das nichts von seiner Faszination verloren hat. Ein eiskalter Profi, bei dem zwar selten alles reibungslos abläuft, der aber dennoch auch stets ein Ass im Ärmel hat bzw. einen Ausweg findet, um der ihn verfolgenden Justiz eine lange Nase zu drehen.

Moral, Skrupel, Gewissensbisse – sie sind dabei wie Freundschaft oder Liebe Schwächen, die sich Parker weder leisten kann noch will. Und er verzichtet selten darauf, seine jeweiligen Komplizen, für die er zumeist eine unberechenbare Größe bleibt, daran zu erinnern. Von diesem beständigen Gefahrenmoment lebt auch „Keiner rennt für immer“, da Parker, dessen Vornamen wir in keinem der vielen Bände erfahren haben, genauso wenig einzuschätzen ist, wie der letztliche Verlauf der Handlung. Und die kredenzt uns Richard Stark mal wieder auf unnachahmliche Art und Weise. Knapp, kurz, prägnant werden dem Leser die Sätze um die Ohren gehauen, spart sich der Autor jegliche Ausschweifungen und Nebenschauplätze. Hier bleibt kein Raum für Interpretationsansätze, sondern nur ein geradliniger, scharf geschnittener roter Faden, der sich, trotz etwas längerer Vorbereitungen und Planungen zu Beginn, kontinuierlich durch den Plot fräst, um am offenen Ende in einem actionreichen Paukenschlag zu münden. An dieser Stelle fällt der Vorhang, ist die Folge vorbei, wird der Leser quasi genötigt zu „Fragen sie den Papagei“ zu greifen, der inhaltlich direkt an das Finale dieses Buches anknüpft. Und wer darauf keine Lust hat – nun, dem kann ich auch nicht mehr helfen.

Für mich ist „Keiner rennt für immer“ ein Highlight in der langjährigen Reihe. Düster, diabolisch, lakonisch und eiskalt hat Stark hier noch einmal sämtliche Register gezogen. Ein „Hardboiled“-Vertreter im besten Sinne des Wortes mit einem Parker in Hochform. Kaufen – aufschlagen – lesen!

Wertung: 90  von 100 Treffern

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  • Autor: Richard Stark
  • Titel: Keiner rennt für immer
  • Originaltitel: Nobody runs forever
  • Übersetzer: Nikolaus Stingl
  • Verlag: dtv
  • Erschienen: 02.2011
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 288 Seiten
  • ISBN: 978-3552054639

Keine Ehre unter Dieben

© Pendragon

„Aufhören, wenn es am schönsten ist“, so sagt der Volksmund. Und gerade im Bezug auf die Kriminalliteratur ist an diesem Sprichwort durchaus etwas dran, gibt es doch genügend Beispiele in der langen Geschichte dieses Genres, welche von Autoren künden, die eben jenen Zeitpunkt verpasst, das Pulver verschossen und ihren Serienhelden/ihre Serienheldin zu Tode geritten haben.

Ob getrieben durch stets aufeinanderfolgende Verträge mit dem Verleger, durch die schlichte Geldnot oder weil das Stammpublikum es nachdrücklich immer wieder fordert – oft bedeuten kommerziell erfolgreiche Krimi-Reihen für manchen Schriftsteller die kreative Sackgasse, aus der dieser gar nicht oder nur mit Mühe wieder herauskommt. Wallace Stroby, so scheint es, hat diese mögliche Gefahr nicht nur elegant umschifft, sondern parallel auch seine Protagonistin, die Berufsganovin Crissa Stone, mit einem ganz ähnlichen Problem konfrontiert. Im vierten Band muss sie in Bezug auf ihre persönliche Vergangenheit eine Entscheidung treffen und sich darüber klar werden, inwieweit sie das gegenwärtige Leben noch nachhaltig erfolgreich – und vor allem unversehrt – weiterführen kann. Oder ob nicht doch der Zeitpunkt gekommen ist, einen Schlussstrich zu ziehen. Eine Entwicklung, welche der Leser mit einem lachenden und einem weinenden Auge verfolgt, denn selbst wenn Stroby ein durchaus stimmiger und versöhnlicher Abschluss gelingt, so schleicht sich in diesen Abschied auch ein großes Maß an Wehmut, verlieren wir mit „der Roten“ doch einen der letzten Anti-Helden aus der Tradition von Richard Starks Parker oder Gary Disher Wyatt. Und manchmal verlangt es den Krimi-Freund eben genau nach diesen amoralischen Charakteren, flüstert uns eine verführerische Stimme leise ins Ohr: „Der Teufel will mehr“.

Hin und wieder erliegt auch Crissa Stone diesem Reiz des Bösen, diesem Gefühl von Aufregung und diesem anhaltenden Rausch, wenn ein Coup erst minutiös geplant und dann Schritt für Schritt ausgeführt wird. Und so ist es dann meist weniger das Geld, das sie lockt, als die Herausforderung der Tat an sich, wenngleich sie sich inzwischen eingestehen muss, dass längst nicht mehr alle nach den Regeln spielen und das Gefahrenpotenzial mittlerweile ein weit höheres ist als zum Beginn ihrer kriminellen Karriere. Dennoch zögert sie nur kurz, als der wohlhabende Kunstsammler Emile Cota über einen Kontaktmann mit ihr Verbindung aufnimmt und sie mit einem ganz besonderen Diebstahl beauftragt:

Cota konnte in der Vergangenheit illegal mehrere wertvolle Kunstschätze aus dem Irak erwerben und sieht sich nun von der neu eingesetzten Regierung des Landes – und damit den rechtmäßigen Besitzern – gezwungen, diese zurück in ihr Heimatland zurückzuführen. Der Multimillionär ist not amused. Er denkt gar nicht daran, auf diesen besonderen Teil seiner Sammlung einfach so zu verzichten und plant stattdessen, die Ware auf dem Weg zur Rückführung stehlen zu lassen, um die Versicherungssumme zu kassieren und die Antiquitäten direkt wieder an interessierte Käufer zu veräußern. Crissas Interesse ist geweckt, denn den Truck-Konvoi zu stoppen und inmitten der Einöde der Wüste nahe Las Vegas umzuladen, scheint nicht nur machbar, sondern sollte erfahrungsgemäß relativ lautlos und ohne Waffengewalt vonstatten gehen. Insbesondere letzteres ist der Diebin wichtig, welche Schusswaffen als ein notwendiges Übel erachtet, das aber bei richtigen Profis nicht zum Einsatz kommt. Das birgt wiederum in diesem Fall Konfliktpotenzial, denn ihr Partner bei dieser Unternehmung – der frühere Marine-Infanterist Randall Hicks – übernimmt nicht nur große Teile der Planung, sondern holt mit seinem ehemaligen Kameraden Sandoval auch einen unberechenbaren Heißsporn mit an Bord.

Während Crissa ihrerseits ein Team zusammenstellt, zu dem u.a. der eigentlich bereits im Ruhestand befindliche Fahrer Chance gehört, und gleichzeitig nach und nach die Tatsache akzeptieren muss, dass ihre große Liebe Wayne das Gefängnis wohl so schnell nicht mehr verlassen wird, rückt der Tag des Raubzugs immer näher. Über den zunehmenden Verlust der Kontrolle besorgt, rechnet Crissa insgeheim schon mit einem Scheitern, doch zum besagten Zeitpunkt scheint alles gut zu gehen. Bis plötzlich Schüsse fallen und sich damit eine verhängnisvolle Kette von Ereignissen in Gang setzt, in deren weiteren Verlauf sich die Rote einmal mehr ihrer Haut erwehren muss …

Mehr sei an dieser Stelle nicht verraten, wenngleich dies eher aus reiner Höflichkeit, denn aus Vorsicht geschieht, denn schon nach wenigen Seiten sollte der geneigte Krimi-Leser bereits erahnen können, welche Richtung dieser Plot einschlagen wird, erfindet Wallace Stroby hier doch das Genre wahrlich nicht neu, sondern bedient sich stattdessen altbekannter logischer Abfolgen des Noir. Natürlich kommt es zum Verrat und zu einem Zerwürfnis der Beteiligten, natürlich will jeder für sich allein mit dem Gewinn in den Sonnenuntergang reiten – und natürlich erweist sich Crissa Stone wieder als äußerst findig, wenn es darum geht, ihren Widersachern nicht zu viel von sich zu verraten. Und doch gewinnt dieses Element der Offensichtlichkeit erstaunlicherweise nicht an übermäßig Gewicht, denn Stroby gelingt es scheinbar mühelos, den Spannungsbogen hochzuhalten, was vor allem daran liegt, dass Crissa in „Der Teufel will mehr“ letztendlich mehr um ihr eigenes Leben, als um die Beute kämpft. Der für sie ungewohnte Kontrollverlust macht sie, trotz ihrer Erfahrung, zu einer Gejagten, die lange nur reagieren kann und fast hilflos beobachten muss, wie langjährige Konstanten ihres Lebens und ihrer Profession nun in Gefahr geraten.

Vermeintlich feste Stützen, wie der Auftragsvermittler Sladden brechen jetzt auf einmal weg und entblößen das fragile Fundament, auf dem sich Crissa Stone seit der Festnahme von Wayne ihr Leben aufgebaut hat. Und derart aus dem Gleichgewicht gebracht, braucht es eine gewisse Zeit, bis sie die Zügel wieder in die Hand nehmen kann, was den Leser, der sich vom hohen Tempo mitreißen lässt, auf der anderen Seite allerdings entgegenkommt, und der – derart in Beschlag genommen – nur sporadisch registriert, mit welch heißer Nadel die Handlung mitunter gestrickt wurde. Stroby vermag es erneut exzellent, die übersichtliche Menge der genreüblichen Werkzeuge so einzusetzen, dass wir ganz in diesem düsteren Katz-und-Maus-Spiel aufgehen und von der stets fast greifbaren Suspense durch das Buch gezogen werden. Die hohe Kunst, das Gefahrenmoment auch für die Serienfigur wirksam werden, uns um sie bangen zu lassen – er meistert sie scheinbar mühelos. Und das verleiht der Geschichte einen unheimlichen Drive, dem man sich schwer entziehen kann – und vor allem gar nicht entziehen will.

Crissa Stone derart am Scheideweg zu erleben, derart in ihrer Existenz bedroht zu sehen – das reicht schlicht und ergreifend einfach, um für 320 Seiten die Wirklichkeit außerhalb der Buchdeckel auszublenden und der eigenen Fantasie im Kopf den Rest der „Arbeit“ übernehmen zu lassen. Mehr noch: Dieses vorgezogene Requiem auf eine Verbrecherin geht uns trotz aller Simplizität wieder gehörig unter die Haut, wirkt nach – und hinterlässt uns durchgehend zufrieden und in dem Gefühl, was Besonderes in den Fingern gehalten zu haben.

Kommt also das Beste wie immer zum Schluss? Wenn ich ganz ehrlich zu mir selbst bin, muss ich diese Frage mit Nein beantworten, ist der Plot dafür doch viel zu geradlinig und durchsichtig, bedient sich Stroby im letzten Halali von Crissa Stone ein bisschen zu oft bereits bekannter Elemente und Gesetzmäßigkeiten. Allein – es kann den Gesamteindruck einmal mehr kaum trüben, denn auch der finale Auftritt liest sich wieder wie aus einem Guss, überzeugt durch äußerst elegante und stilistisch manchmal fast grazile Sicherheit, die selbst der Routine einen Glanz abringt, welcher einem Großteil der Konkurrenz verborgen bleibt. Wie schon ein Robert B. Parker vor ihm, so hat auch Stroby die Kunst auf kleinstem Raum gemeistert und trotzt einer doch schon so oft erzählten Geschichte auch dank der pointierten Dialoge neue faszinierende Facetten ab. Ein schönes, ein gutes Ende. Oder um es mit Bogarts Worten und vielleicht auch etwas Hoffnung in der Stimme zu sagen:

„Uns bleibt immer noch Paris.“

Wertung: 90 von 100 Treffern

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  • Autor: Wallace Stroby
  • Titel: Der Teufel will mehr
  • Originaltitel: The Devil’s Share
  • Übersetzer: Alf Mayer
  • Verlag: Pendragon
  • Erschienen: 02.2019
  • Einband: Klappenbroschur
  • Seiten: 320 Seiten
  • ISBN: 978-3865326461