„The Times they are a changin'“ – das gilt auch für die Welt des Verbrechens. Selbst ein ungewöhnlicher und findiger Dieb wie Garry Dishers Wyatt stößt an seine Grenzen. In jeder Hinsicht. Die menschliche Perfidie ist geblieben, aber die Technik entwickelt sich in jeder Hinsicht weiter und überrollt das Individuum. Jeder Beutezug wird zum Überlebenskampf.
Dem Buchtitel entsprechend begibt sich Wyatt diesmal in einen Sumpf. Den des Finanzbetrugs. Jack Tremayne hat nach dem „Ponzi-Schema“ Klienten abgezockt und steht kurz vor der Verhaftung. Seinen Partner hat es schon erwischt, doch Tremayne windet sich noch in Freiheit herum, wenige Vertraute und eine untreue Gattin im Schlepptau. Irgendwo hat er Fluchtgeld gebunkert, von dem Wyatt dank seines Knast-Informanten Sam Kramer erfährt. Er heftet sich an die Fersen Jack Tremaynes, bemerkt aber nicht, dass der Kriegsveteran Nick Lazar, der Kramers verkorksten und nicht besonders hellen Sohn ausspioniert, ebenfalls auf die Fluchtkasse des windigen Finanzberaters aus ist. Gleichzeitig kommt ihm der hartnäckige Cop Muecke ziemlich nahe. Wyatt braucht mehr noch als Geschick Glück, um seinen Verfolgern zu entkommen.
Sam Kramer hingegen gerät im Gefängnis unter lebensbedrohlichen Druck, während Jack Tremayne seine gewinnorientierte, Menschenleben fordernde Killermentalität aktiviert. Am Ende ist das große Sterben angesagt, wer verwundet überlebt, befindet sich noch auf der Sonnenseite. Vom großen Reibach sind alle Beteiligten weit entfernt.
Wyatt begibt sich in die Gefilde von Finanzjongleuren und ins Visier eines militärisch ausgebildeten Killers. „Moder“ zerlegt den Edelgangster konsequent. Die Zeiten von Kriminellen wie Parker (Donald E. Westlake), Charlie Varrick (John Reese), Frank Logan (Max Allan Collins), Bernie Rhodenbarr (Lawrence Block) oder eben Wyatt scheinen vorbei zu sein. Er bewegt sich immer noch eloquent und elegant auf den Pfaden, die er anhand der von Sam Kramer entworfenen Pläne, entwirft. Doch seine Winkelzüge werden durchschaubarer, er selbst saturierter und unaufmerksamer. Davon abgesehen ist ihm Jack Tremayne an krimineller Energie deutlich überlegen. Tremayne plagt kein Gewissen, keine Verantwortlichkeit irgendwas oder -wem gegenüber. Muecke nutzt die umfassende Videoüberwachung, um Wyatts Bewegungsmuster auszukundschaften. Seine Tarnmaßnahmen funktionieren bei weitem nicht so wie Wyatt es sich wünscht und vorstellt.
Dass er zudem die Bestrebungen Nick Lazars nicht erkennt, ist fatal. Wyatt scheitert beinahe an seiner Selbstüberschätzung und den Tücken der durchtechnisierten Gegenwart. Darüber räsoniert er zwar, hat aber kaum Gegenmaßnahmen zu bieten. Tresore, Geldverstecke spielen nur noch eine untergeordnete Rolle und sind, falls doch existent, wesentlich effizienter gesichert als in der Vergangenheit. Krumme Transaktionen finden nicht mehr auf dunklen Parkplätzen oder Hinterhöfen statt, sondern in den Weiten des Darknets. Wyatts Tarnfähigkeiten versagen angesichts der nahezu lückenlosen Videoerfassung, er hinterlässt Spuren. Und braucht das Glück, dass Muecke ihm mehr Sympathie entgegenbringt als Lazar und Konsorten.
„Moder“ ist ein Abgesang. Auf den Profi-Gangster, der seinem Geschäft mit hoher Effizienz, aber ohne den Einsatz überflüssiger Gewalt nachgeht. Der Cleverness über Waffeneinsatz stellt. Der aber auch nicht den perfiden Methoden von skrupellosen Bänkern verfällt, die ihre Opfer nicht direkt ausrauben, stattdessen lieber freiwillige Einzahlungen entgegennehmen. Für die es keine Deckung gibt. Geringe Ausschüttungen werden über folgende Einzahlungen finanziert, sobald viele Kunden ihre Rendite oder gar Auszahlungen beanspruchen, implodiert das System. Die neoliberale Gier arbeitet für Ränkeschmiede wie Peter Tremayne.
Gary Dishers Roman ist ein (leicht) wehmütiger Roman über das Verschwinden. Über skrupellose Menschen wie Peter Tremayne, die die Flucht ergreifen und nur Opfer hinterlassen, über Geld, das sich verflüchtigt, und über ein Relikt wie Wyatt, der sich abrackert und erkennen muss, dass der Raum für Professionals seiner Art immer weiter schrumpft. In einer Welt, in der Fiktionen verkauft und Milliarden verschoben werden, steht der „ehrenwerte“ Gangster auf verlorenem Posten. Wyatt, Muecke, selbst Sam Kramer samt Familie, mit Ausnahme des tumben Sohnes, bewegen sich innerhalb moralischer Codices. Die zwar der Gesetzeslage nach irregulär sind, aber das kriminelle Geschäft am Laufen halten und Beziehungsgeflechte möglich machen. Psychopathen wie Lazar und Geldhaie wie Pete Tremayne gehen ethische Bedenken ab, sie arbeiten nach einem simplen Kosten- Nutzen-Plan. Und stehen somit stellvertretend für Vieles, was in der realen Welt falsch läuft.
„Moder“ ist ein Roman von brodelnder Lakonik. Gary Disher beobachtet genau, lässt seine Akteure akribisch Pläne schmieden, die allesamt scheitern. Gelegenheiten, Topografie, Mitstreiter und Kontrahenten werden permanent abgetastet und sondiert. Ist auch nötig angesichts von Verrat, Hinterhalten, Überwachung sich ändernder Allianzen. Wyatt möchte sich inmitten des Chaos bereichern, doch seine eigentliche Rolle ist die eines Chronisten des Zerfalls. Gary Disher verzichtet dabei auf plakative Action oder ausführliche Mordsequenzen. Der Tod erfolgt geradezu beiläufig, und wirkt umso erschreckender, da es in „Moder“ nur ein „Vorher“ und ein „Nachher“ gibt, dazwischen aber eine dunkle Leerstelle existiert. Das wird bis zum letzten Satz konsequent betrieben, ein großer Showdown fällt aus. Was bleibt, ist Ernüchterung.
Dishers Prosa ist klar und präzise, die Dialoge sind pointiert und kommen ohne überflüssigen Zierrat aus. Privates wird nur ausgebreitet, wenn es der Geschichte dient. So agiert Lazar meist aus dem Schatten heraus, seine Vergangenheit offenbart sich nur häppchenweise und rudimentär. Mitunter erscheint „Moder“ etwas spröde, aber angesichts der geschwätzigen Wortdurchfälle vieler aktueller Kriminalromane, ist Dishers kantige und effektive Schreibweise eine Wohltat.
Wertung: 84 von 100 Treffern
- Autor: Garry Disher
- Titel: Moder
- Originaltitel: Kill Shot
- Übersetzer: Ango Laina, Angelika Müller
- Verlag: Pulp Master
- Erschienen: 09.2021
- Einband: Taschenbuch
- Seiten: 300 Seiten
- ISBN: 978-3946582069