Sherlock Holmes‘ letzte Verbeugung

© Insel

Schon der erste Blick auf das Cover der „Insel“-Ausgabe dürfte vielleicht den ein oder anderen interessierten Leser stutzig machen und irritieren, wird doch der legendäre Detektiv Sherlock Holmes in den meisten Medien, und dadurch auch im allgemeinen Verständnis, mit dem Viktorianischen Zeitalter in Verbindung gebracht – Droschken, Gaslichtlaternen, nasses Kopfsteinpflaster, der Gentleman in Frack und mit Zylinder auf dem Kopf. Es sind diese Bilder, welche unsere Erinnerungen an Sir Arthur Conan Doyles Helden beleben, weshalb das auf dem Deckblatt abgebildete Automobil für viele einen ungewohnten Stilbruch darstellt.

Fakt ist aber: Bei Veröffentlichung der Kurzgeschichtensammlung „Seine Abschiedsvorstellung“ im Jahr 1917 war die Regentschaft Königin Victorias schon lange beendet, befand sich das englische Empire in den Wirren des Ersten Weltkriegs verstrickt, welcher weiteren imperialen Bestrebungen einen Dämpfer verpasste und bis zum Kriegsende im November 1918 noch Millionen Menschen das Leben kosten sollte. Für viele bedeutete das Grauen an der Westfront nicht nur persönliches Leid, sondern auch ein Ende der Sicherheit. Trotz zahlreicher Konflikte, Missernten, Hungersnot und einer in Arm und Reich geteilten Gesellschaft – viele Zeitgenossen sahen das Viktorianische Zeitalter rückblickend als Ära des Reichtums und der Stabilität, als „gute alte Zeit“.

Für Sir Arthur Conan Doyle, der bereits 1893 entschied, das Leben seines Protagonisten Holmes zu beenden, da das regelmäßige Verfassen neuer Geschichten zu viel seiner Zeit in Anspruch nahm und er seine schriftstellerische Arbeit auf andere Werke konzentrieren wollte, war der von vielen geliebte Schnüffler mit der Lupe mittlerweile zu einem Mühlstein am Hals geworden, der lediglich aus finanziellen Gründen weitergetragen wurde. Der Ehrgeiz, der Fleiß und diese einstmals gewohnte komplette Hingabe – sie flossen längst vermehrt in andere Projekte (u.a. schuf er 1912 mit Professor Challenger eine zweite, sehr populäre Figur), was sich, wie auch der Tod von Doyles Sohn an der Front, in der Qualität der späteren Fälle niederschlug, welche heute, im Verbund mit dem letzten Sammelband „Sherlock Holmes‘ Buch der Fälle“, zu den am wenigsten bekannten und von Sherlockians auch am wenigsten geschätzten Geschichten zählen. Ein Grund sich ihnen erst gar nicht zu widmen? Mitnichten, denn auch wenn „Seine Abschiedsvorstellung“ nicht mehr die Klasse und die Brillanz der frühen Holmes-Fälle erreicht – ein Quäntchen des Flairs, der Stimmung und der Leichtigkeit konnte Doyle, der uns die deduktive Arbeitsweise einmal mehr mit überraschenden Wendungen kredenzt, in diese neue Zeit retten.

Folgende acht Kurzgeschichten sind in „Seine Abschiedsvorstellung“ enthalten:

  • Wisteria Lodge
  • Die Pappschachtel
  • Der rote Kreis
  • Die Bruce-Partington-Pläne
  • Der Detektiv auf dem Sterbebett
  • Das Verschwinden der Lady Frances Carfax
  • Der Teufelsfuß
  • Seine Abschiedsvorstellung

Bis auf die bereits 1893 geschriebene Geschichte „Die Pappschachtel“, welche vor allem in britischen Ausgaben des Kanons der Kurzgeschichtensammlung „Die Memoiren des Sherlock Holmes“ zugerechnet wird – amerikanische Verleger befanden die Geschichte damals aufgrund des Ehebruch-Themas als zu brisant und druckten sie erst später in der „Abschiedsvorstellung“ ab (die meisten deutschen Verleger haben diese Vorgehensweise übernommen) – sind alle weiteren Fälle zwischen 1908 und 1913 in unregelmäßigen Abständen im „Strand Magazine“ und später auch im „Collier’s Weekly“ veröffentlicht worden. Das damals enthaltene kurze Vorwort Doyles fehlt leider in der „Insel“-Ausgabe, wird aber durch die Anmerkungen im Anhang durchaus wettgemacht, welcher u.a. einzelne veraltete Begrifflichkeiten und Anspielungen erläutert, weshalb man auch gern während der Lektüre einer Geschichte darauf zurückgreift.

Die Zusammenstellung der Geschichten in dieser Anthologie ist – den großen Abständen in denen sie veröffentlicht worden geschuldet – bunt gemischt, wenngleich auffällig ist, dass sich Doyle vom ursprünglichen Ton entfernt, seine Figur Sherlock Holmes etwas massentauglicher gemacht hat. Zwar immer noch belehrend in seinen Ausführungen, fehlt hier doch zumeist diese gerade in frühen Geschichten und Romanen präsente emotionale Kälte und Distanz, welche den Detektiv nicht nur von allen anderen in seinem Umfeld (besonders Dr. Watson) unterscheidet, sondern ihn auch erst in die Lage versetzt, die Kunst der Deduktion bei der Lösung eines Falles anzuwenden. Das nun Holmes in „Seine Abschiedsvorstellung“ zeitweise sogar lächelt oder sich als mitfühlendes Wesen erweist, mutet dann schon fast seltsam an. Doyle hat anscheinend selbst gemerkt und versucht, dies in den Geschichten teilweise sogar zu erklären. Dennoch: Das Profil des früheren Kokain-süchtigen Holmes hat eindeutig an Ecken und Kanten verloren – und die Vermutung liegt nahe, dass man damit ein noch breiteres Publikum erreichen wollte.

Es entbehrt dann nicht einer gewissen Ironie, dass die zu lösenden Fälle selbst um einiges düsterer geraten sind. Geschichten wie „Der Teufelsfuß“ oder „Die Bruce-Partington-Pläne“ haben nur noch wenig mit dem rätselhaften Spaß eines „blauen Karfunkels“ gemeinsam – sie sind ernster, dunkler, dreckiger und, in der Beschreibung des ausgeübten Verbrechens, auch drastischer und unverblümter geraten. Der Trend, welcher mit „Der Hund der Baskervilles“ und „Das Tal der Angst“ begann, er wird hier fortgeführt, was der Stimmung und auch dem Spannungsgehalt sicherlich zuträglich ist, gleichzeitig aber auch nochmal betont, dass der gemütlich im Arbeitszimmer in der Baker Street ausdiskutierte Fall der Vergangenheit angehört. Für mich zählen die beiden obigen Kurzgeschichten dann auch zu den Höhepunkten dieser Sammlung. Insbesondere „Der Teufelsfuß“ gehört schon allein aufgrund der Wahl des atmosphärischen Schauplatzes (ein abgelegenes Hochmoor nahe der Steilküste) zu Doyles besten Werken, wiewohl die Auflösung und Perfidität des Verbrechens das Setting noch übertrifft. Genau die richtige Lektüre für den stürmisch-verregneten Herbstabend vor dem Kamin, wohingegen Holmes in „Die Bruce-Partington-Pläne“ stattdessen deduktiv nochmal zur Höchstform aufläuft.

Im direkten Vergleich können die anderen Fälle dann leider nicht alle überzeugen, was nicht zuletzt auch daran liegt, dass Doyle hier streckenweise ein bisschen bei sich selbst klaut. Besonders „Wisteria Lodge“ weckt in Aufbau und Verlauf gewisse Erinnerungen: Der alte Mann mit der dunklen Vergangenheit. Die Flucht in ein anderes Land. Der über viele Jahre gehegte Wunsch nach Rache. Hier ist schon die ein oder andere Parallele zu „Das Zeichen der Vier“ zu erkennen, was den Lesegenuss für Neueinsteiger zwar nicht schmälert, Kennern des Kanons aber allenfalls ein wissendes Lächeln abringt. Weit besser gelingt dann der Abschluss mit der titelgebenden Erzählung „Seine Abschiedsvorstellung“, in der Holmes, welcher sich inzwischen im Ruhestand befindlich der Bienenzucht widmet, am Tag des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs nochmal für seine Majestät aktiv wird und einem deutschen Agenten mit gewohnter Nonchalance das Handwerk legt. Ein herrlich kurzweiliges und auch ein wenig wehmütig stimmendes Finale vor dem letzten Akt, der abschließenden Anthologie „Sherlock Holmes‘ Buch der Fälle“.

Seine Abschiedsvorstellung“ ist Sherlock Holmes‘ letzte tiefe Verbeugung („Sherlock Holmes‘ Buch der Fälle“ habe ich immer als nachgereichten Fanservice verstanden) vor seinem wie immer erstaunten Publikum. Und auch wenn der Detektiv inzwischen in die Jahre gekommen ist – auch Doyles spätes Werk hat sich das Prädikat des immer noch lesenswerten Klassikers redlich verdient, was allein schon daran deutlich wird, dass sich aktuell immer wieder zahlreiche Autoren daran verheben, den lockeren Stil des Originals zu kopieren. Den echten, den richtigen Sherlock Holmes – ihn konnte nur sein Schöpfer, Sir Arthur Conan Doyle.

Wertung: 85 von 100 Treffern

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  • Autor: Sir Arthur Conan Doyle
  • Titel: Seine Abschiedsvorstellung
  • Originaltitel: His Last Bow
  • Übersetzer: Leslie Giger
  • Verlag: Insel
  • Erschienen: 11/2007
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 318 Seiten
  • ISBN: 978-3458350200

Nachtrag: Ich habe mich bei der Verlinkung des Titels bewusst für die ältere Insel-Ausgabe entschieden, da sie – leider gibt es den Haffmans Verlag ja in dieser Form nicht mehr und die Kein & Aber Ausgabe ist ebenfalls vergriffen – vor allem optisch der äußerst lieblosen Fischer-Version vorzuziehen ist. Ansonsten sollte vor allem bei antiquarischen Stücken darauf geachtet werden, dass es sich um die Übersetzungen von Gisbert Haefs, Hans Wolf etc. handelt. Von gekürzten Ausgaben oder gar solchen, wo Holmes und Watson sich duzen, ist abzuraten.

Das Mädchen mit dem langen grünen Herzen

© Rotbuch

Im September 2004 ging der Verlag „Hard Case Crime“ in den USA an den Start. Sein Programm: Das in den 60er Jahren für den schnellen Lektüre-Verbrauch konzipierte Genre der Pulp-Krimis durch längst verloren geglaubte Noir-Klassiker und die stärksten Werke zeitgenössischer Autoren neu zu beleben. Ein Konzept das aufging, denn die Reihe geht 2021 bereits in ihr siebzehntes Jahr.

Grund für den Erfolg ist neben der treffsicheren Autoren- und Titelauswahl sicherlich auch die herrliche klassische Cover-Gestaltung. Die hatte der Rotbuch-Verlag eins zu eins übernommen, welcher ab 2008 einige der „Hard Case Crime“-Werke dem deutschen Büchermarkt zugänglich machen konnte. Darunter unter anderem auch Lawrence Blocks „Abzocker“ (engl. „Grifters Game“), mit dem „Hard Case Crime“ in den USA einst begann. Mit Band zehn der Rotbuch-Reihe kehren wie nun zu Block zurück. „Falsches Herz“ (engl. „The Girl with the Long Green Heart“) ist einmal mehr ein Pulp-Krimi par excellence, der nicht nur bei den älteren Semestern unter den Lesern nostalgische Gefühle weckt, sondern dank eines sauber konstruierten Plots und knackig, flotter Sprache auch heute noch bestens unterhält.

John Hayden hat es geschafft. Nachdem er wegen Betrugs sieben Jahre lang im Gefängnis saß, konnte er letztlich doch mit seiner kriminellen Vergangenheit abschließen. Mit seiner Arbeit auf einer Bowlingbahn hält er sich über Wasser, Geld wird angespart, um sich irgendwann den Traum vom Neuanfang als Hotelier erfüllen zu können. Doch dieses irgendwann macht Hayden zunehmend zu schaffen. Er selbst wird nicht jünger und die Zeit scheint unerbittlich gegen ihn zu ticken. Genau in diesem Moment erscheint Douglas Rance auf der Bildfläche, ein Bekannter und ehemaliger Komplize, der seine Hilfe benötigt und ihn zu einem letzten großen Coup überreden will. Hayden zeigt sich störrisch, will von der Sache nichts wissen … und sagt schließlich doch seine Mitarbeit zu, denn Rances Plan ist trotz seiner Einfachheit äußerst genial.

Gemeinsam wollen sie Wallace Gundermann, einen Immobilienspekulanten aus der Kleinstadt Olean, ausnehmen. In den vergangenen Jahren hatte dieser in großem Stil billige Grundstücke und Land aufgekauft und es sich mit engelsgleicher Ruhe auf ihnen so lange bequem gemacht, bis anstehende Bauprojekte oder der Fund von Bodenschätzen die Preise in die Höhe getrieben hatten und er sie wiederum für teures Geld verkaufen konnte. Eine simple Vorgehensweise, durch die er steinreich geworden ist, allerdings auch eine herbe Schlappe einstecken musste. Betrüger hatten ihm eine wertlose „Elchweide“ in Kanada angedreht, die ihm bisher keinerlei Gewinn gebracht hat. Und Gundermann, ehrgeizig und ein schlechter Verlierer, will diese Scharte nun unbedingt wieder gut machen. Hier kommen John Hayden und Douglas Rance ins Spiel: Sie gründen im kanadischen Toronto ein Scheinfirma, die riesige Flächen von brachliegendem Waldland für wenig Geld aufkauft und treten schließlich selbst an ihr Opfer heran. Gundermann denkt nicht dran zu verkaufen, wird aber durch die Aktivität dieser Firma, die anscheinend mehr über das Land weiß als er, zunehmend neugieriger. Gibt es vielleicht dort ein geheimes Uranvorkommen?

Hayden und Rance setzen Gerüchte in die Welt und Gundermanns Sekretärin und Geliebte, die wunderschöne Evelyn Stone, tut ihr übriges dazu, um ihrem Chef Sand in die Augen zu streuen, da dieser sein Versprechen, sie zu ehelichen, augenscheinlich nicht zu halten pflegt und sie nun auf Rache aus ist. Alles scheint perfekt zu laufen, jedes Rädchen in das andere zu greifen, bis Hayden einen entscheidenden Fehler macht – er beginnt eine Affäre mit Eveyln und tut damit genau das, was ein Profi eben in so einer Situation besser nicht tun sollte … er vermischt das Geschäft mit der Liebe.

Falsches Herz“ beinhaltet alles, was ein guter Krimi-“Noir“ haben sollte. Gewiefte, aber glücklose Gangster, ein hilfloses Opfer sowie eine Femme Fatale, welche mit ihren verführerischen Fähigkeiten ordentlich Chaos verursacht und aus einem Routine-Betrug ein ganz heißes Eisen macht. Insofern zeigt bereits das Cover deutlich, was einen hier erwartet. Und der geneigte Block-Leser, weiß ohnehin was auf ihn zukommt, bleibt doch der Autor eigentlich immer seinem Erfolgsschema treu. Er lässt sich Zeit, um den bis ins Detail ausgeklügelten Betrug zu inszenieren, gönnt uns einen Blick in den zwar komplizierten, aber besonders in seiner Vorbereitung äußerst spannungsarmen kriminellen Coup, der bereits zu Beginn so seine Fehlerchen durchschimmern und wenig Gutes erwarten lässt. Haydens Traum vom eigenen Hotel steht im harten Kontrast zur Wirklichkeit. Ein echter Profi könnte sich derartiges nicht erlauben. Hayden ist alt geworden, schwach, anfällig. Seine sich selbst eingeredete Läuterung hat im Angesicht des langvermissten Kicks bei einem Betrug keinerlei Bestand mehr. Die Aussicht, jemanden nach Strich und Faden auszunehmen, lässt ihn alle Vorsicht über Bord werfen. Und die Schönheit von Evelyn Stone bringt ihn letztlich komplett vom Kurs ab. Wer das „Noir“-Genre kennt, weiß das so etwas nicht lange gut gehen kann.

Überhaupt liegt auf „Falsches Herz“, nicht nur aufgrund der ruhigen Schilderungen des Autors, dieser Hauch von Tragik und Melancholie. Das Buch liest sich wie der Abgesang eines zwar ausgeschlafenen, aber auch zu naiven Gauners, der seinen Zenit überschritten hat und der sein Feld für die viel gewissenlosere nächste Generation räumen muss. So gekonnt und detailliert wie Block das Betrugsunternehmen aufzieht, so sicher ist man sich auch, dass es scheitern muss. Und um es scheitern zu sehen, liest man weiter. Blocks Sprache ist dabei zwar ohne Höhepunkte, aber in ihrer Glanzlosigkeit auch irgendwie mitreißend. Die Handlungsorte werden sparsam bis überhaupt nicht beschrieben, auf die Darstellung der äußeren Umgebung kein Wert gelegt. Allein die hier benutzten Kommunikationsformen lassen erahnen, dass man sich in den 60ern befindet. Abgesehen davon könnte das Buch auch erst kürzlich auf dem Büchermarkt aufgeschlagen sein. Mit dem einzigen Haken, das in der Zeit von Handys, Fax und Notebooks dieser Coup wohl gar nicht mehr durchführbar wäre.

Das tut dem Lesevergnügen allerdings auch keinen Abbruch. „Falsches Herz“ sagt mit wenigen Worten zwar nicht alles, aber das nötigste. In Zeiten von ausschweifenden Persönlichkeitsanalysen und Forensik-Bla-Bla ist diese kühle, knappe Schreibe eine herzerfrischende Abwechslung. Und trotz dem wenig originellen und streckenweise offensichtlichen Aufbau der Geschichte, muss sich der Leser um die Spannung keine Sorgen machen. Das Seitenblättern geschieht automatisch, der Sog stellt sich sofort ein. Und Block gelingt es einmal mehr, gewieft mit unseren Erwartungen zu spielen und dank genialen Timings uns letztlich doch die ein oder andere Überraschung zu kredenzen.

Falsches Herz“ ist eine äußerst lesenswerte (leider bereits wieder vergriffene) Neuauflage aus der Hochzeit des pulpigen Noir, die zwar nicht ganz das Niveau des ersten Block-Bands dieser Reihe („Abzocker“) erreicht, aber dennoch jedem Freund von gut geplotteten Gaunergeschichten nur ans Herz gelegt werden kann. Ein Oldtimer, der kaum Staub angesetzt hat und uns auf weitere Werke der „Hard Case Crime“-Reihe, insbesondere von Block, freuen lässt.

Wertung: 85 von 100 Treffern

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  • Autor: Lawrence Block
  • Titel: Falsches Herz
  • Originaltitel: The Girl With the Long Green Heart
  • Übersetzer: Andreas C. Knigge
  • Verlag: Rotbuch
  • Erschienen: 02/2009
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 224 Seiten
  • ISBN: 978-3867890687

Totgesagte leben länger

© Elsinor

Wer ist John Mair? Wohl die ersten vier Wörter, welche mir während der Vorschausichtung und der Entdeckung dieser deutschen Erstübersetzung von Elsinor durch den Kopf gegangen sind – ein kleines, aber feines Verlagshaus, das ich seit der Veröffentlichung diverser Titel von Gilbert Keith Chesterton und John Buchan glücklicherweise nie ganz aus dem Auge verloren habe.

Nun also ein Agentenroman aus den frühen 40er Jahren, der selbst in seiner englischen Heimat gänzlich in Vergessenheit geraten ist, fast so als hätte Mair mit dem originalen Titel („Never come back“) einen Blick in die eigene literarische Zukunft seines einzigen Romans geworfen. Aber Geschichte wiederholt sich nicht nur stets und ständig, sie wird manchmal auch zielgerichtet zutage gefördert – so geschehen im Falle dieses Werks durch Julian Symons, der ihn erst Ende der 50er Jahre (für viele überraschend) in seine Liste der „100 Best Crime & Mystery Books“ in der Sunday Times und drei Jahrzehnte später nochmal in die „Oxford University Twentieth Century Classics“-Reihe aufnahm. Es folgten ein BBC-Hörspiel, eine dreiteilige TV-Adaption und eine äußerst frei interpretierte, eher mäßig gelungene Verfilmung. Und es war auch zu jener Zeit, wo Martin Compart, damals für eine Sendung des öffentlich-rechtlichen in London auf Recherche unterwegs, über genau dieses Buch durch Symons‘ Empfehlung stolperte.

Interessanterweise hat sich „Es gibt keine Wiederkehr“ seit dieser Zeit in Comparts Schublade befunden, der eine Herausgabe des Buches schon im Rahmen seiner (leider viel zu kurzlebigen) DuMont-Noir-Reihe geplant hatte, jedoch letztlich nicht mehr umsetzen konnte. Aber Hartnäckigkeit zahlt sich, in diesem Fall auch für den Leser, bekanntlich aus. Wenngleich aus erwartbarer Richtung des Kritikermilieus nur mit belustigtem Wohlwollen goutiert – der Name Compart fällt natürlich in diesem Zusammenhang nie, ja, wird gefühlt verzweifelt gemieden – halte ich hingegen Mairs Debütwerk (er starb bereits ein Jahr nach der Veröffentlichung während seiner Pilotenausbildung bei einem Flugzeugabsturz), soviel sei vorab gesagt, für tatsächlich zwingend empfehlenswert, da es nicht nur den klassischen Agentenroman der damaligen Zeit – verkörpert durch Namen wie Eric Ambler, Geoffrey Household oder eben John Buchan – um eine weit düstere Facette hinsichtlich seiner Hauptfigur erweitert, sondern den Leser, wohlgemerkt auf dem Höhepunkt der Luftschlacht von England und dem damit verbundenen Bombenkrieg, mit patriotischen Parolen oder dem naheliegenden Feindbild Nazi-Deutschland gänzlich verschont. Obwohl Mair stattdessen eine geheimnisvolle, mehrere Nationen umfassende Organisation aus dem Hut zaubert, ist die Einschätzung mancher, es handle sich hierbei um eine überzeichnete Parodie, kaum nachvollziehbar, was ich im weiteren Verlauf gerne erörtern möchte. Doch erst einmal kurz zur Handlung:

Zweiter Weltkrieg, London. Während die deutsche Luftwaffe jede Nacht Angriffe auf die Metropole fliegt und regelmäßiger Bombenalarm die Bevölkerung in Schutzkeller und U-Bahn-Stationen zwingt, hat der eitle Boulevard-Journalist Desmond Thane ganz andere Sorgen. Dem notorischen und – zumindest in seinen eigenen Augen – erfolgreichen Frauenheld hat es eine geheimnisvolle junge Frau namens Anna Raven angetan. Sie erweist sich nicht nur im Gespräch als hoch intelligent, sondern auch als überraschend stark und selbstbewusst. Für Thane eine Trophäe, die es unbedingt zu erobern, ja, zu besitzen gilt. Doch obwohl er zwar fast auf Anhieb bei ihr (und damit auch in ihrem Bett) landen kann, entwickelt sich diese merkwürdige Beziehung zunehmend zu seinem Missfallen. Entgegen seinen üblichen Erfahrungen macht Anna keinerlei Anstalten, sich ihm irgendwie zu unterwerfen. Ganz im Gegenteil: Sie dominiert jeglichen Aspekt ihrer Affäre, bestimmt wann sie sich treffen, gibt die Richtung vor – kurzum verfährt genauso mit ihm, wie er immer zuvor mit all seinen früheren Liebeleien. Ihre Dominanz beginnt ihn zu verunsichern, zu reizen, stachelt seinen Zorn auf sie mehr und mehr an.

Eines Abends bricht sich diese Wut schließlich Bahn. Desmond verabredet sich per Telegramm mit Anna, es kommt zum Streit und in einer undurchsichtigen Mischung aus Effekt und kaltblütiger Absicht tötet er seine Geliebte mit ihrer eigenen Waffe. Der kurzfristige Stolz auf diese Tat weicht bald einer um sich greifenden Panik, als ihm klar wird, dass er nichts über diese Frau weiß. Wer ist sie eigentlich? Wo und für wen arbeitet sie? Wer weiß von ihrem Verhältnis und könnte ihn identifizieren? Und noch viel wichtiger – wo ist sein Telegramm, das ihn als Beweismittel direkt belasten könnte? Ohne eine klare Antwort auf all diese Fragen, muss er ihr Apartment verlassen, noch nicht wissend, dass er den Weg mit einer Internationalen Geheimorganisation gekreuzt hat, in der Oppositionelle und politische Eiferer aus verschiedenen Ländern zusammenarbeiten, um in den Wirren des Krieges ihre jeweiligen nationalen Regierungen zu stürzen. Und deren auserwählter Ausputzer, der eiskalte Killer Mr. Foster, hat bereits Witterung aufgenommen und sich an Desmonds Fersen geheftet …

Wer sich ein bisschen mehr mit den Ursprüngen des Agentenromans, und vor allem mit den frühen Werken des bereits oben erwähnten Eric Amblers beschäftigt hat, wird in dieser Ausgangssituation natürlich einige bekannte Elemente wiederfinden, derer sich Autor John Mair wohl auch ganz bewusst bedient hat. Wie z.B. in „Ungewöhnliche Gefahr“, so beginnt der Leser gleichfalls hier seine Reise an der Seite eines Journalisten, der mehr oder weniger per unglücklichem Zufall zwischen die bisher im Verborgenen gelegenen Fronten gerät und bald um das eigene Leben fürchten muss. Nichts Neues also, das Symons besondere Würdigung dieses Titels rechtfertigen würde, möchte man auf den ersten Blick meinen, sollte aber dann unbedingt einen zweiten riskieren und insbesondere ein klein wenig Geduld mitbringen, denn gerade auf den ersten dreißig bis vierzig Seiten tut sich dieser Roman auffällig schwer.

Wenn auch stilistisch sehr geschliffen (was auch dank der hervorragenden Übersetzung durch Jakob Vandenberg zum Tragen kommt), so formuliert doch Mair zu Beginn äußerst umständlich, ja, neigt fast zur Schwafelei und verliert sich in der Skizzierung seines philosophisch veranlagten Hauptprotagonisten, welche aber durch die darauffolgenden Ereignisse und dessen Handeln letztlich eigentlich obsolet wird. Gründe sind eventuell in der langen Schaffensphase für dieses Buch zu finden. Mair begann mit der Arbeit an dem Buch bereits 1939, veröffentlicht wurde es erst zwei Jahre später. Hinweise finden sich darauf auch im Text selbst. So lässt er zu Beginn noch in einem Dialog erklären, wie gering die tödliche Wirkung von Bombenangriffen eigentlich sind (er bezieht sich dabei auf die bis dato bekannten Ereignisse in Shanghai und im Spanischen Bürgerkrieg), nur um später deren verheerende Wucht als Kulisse kurz vor dem Showdown zu nutzen. Hier wird der zeitliche Versatz bei der Niederschrift durchaus deutlich.

Das ist allerdings auch der einzige größere Kritikpunkt, den man bei der Beurteilung von „Es gibt keine Wiederkehr“ aufführen kann, denn spätestens mit dem Tod Annas nimmt die Handlung immens an Fahrt auf, gewinnt sowohl der Schreiber Mair als auch seine Figur Desmond Thane zunehmend an Sicherheit. Gejagt von einer gesichtslosen Organisation mit scheinbar grenzenlosen Ressourcen erweist sich Thanes spitze Zunge und Eloquenz recht bald als schärfste Waffe gegen seine Peiniger, denen er immer wieder ein Schnippchen schlägt, falsche Fährten auslegt oder in letzter Sekunde entkommt. Das mag mancher in dieser Häufung als Überzeichnung deuten, trübt aber in keinster Weise das Leseerlebnis oder holt uns aus dem Geschehen heraus. Ganz im Gegenteil: Es sind gerade dieses intellektuelle Katz-und-Maus-Spiel und Thanes mitunter überbordende Männlichkeit, die in diesen Passagen Erinnerungen an einen gewissen Spion mit der Lizenz zum Töten wecken und auch ähnlich zu faszinieren wissen. Mit dem Unterschied, dass – wie Martin Compart in seinem äußerst informativen (und viel zu ausführlichen, du lässt einem nicht viel für die Analyse übrig Martin) Nachwort treffend herausarbeitet – der vorliegende Anti-Held keinen Gedanken an seine Majestät oder England verschwendet, sondern ganz und gar auf den eigenen Vorteil bedacht ist.

Es ist Mairs größtes Verdienst, dass es ihm dennoch gelingt, gewisse Sympathien für Thane zu wecken, der für mich bis zum Schluss komplett unberechenbar geblieben ist. So geschehen in der Szene, in der er für kurze Zeit auf seiner Flucht Unterschlupf bei zwei Frauen sucht. Diese Passage wird vollkommenen von dem unter Adrenalin stehenden Hauptprotagonisten dominiert, dem man in dieser Situation einfach alles zutraut, um nicht entdeckt zu werden – also auch zwei weitere Morde (Der folgerichtige Gedanke an Highsmiths Tom Ripley dürfte an dieser Stelle nicht nur Martin Compart kommen). Wie Mair auf diesem schmalen Grad zum vollkommen gewissenlosen Soziopathen balanciert, das hinterlässt auf der Behaarung der Unter- und Oberarme genauso nachhaltig Eindruck, wie die unheimlich stimmungsvollen Beschreibungen von Thanes Gefangenschaft und dem anschließenden Entkommen. Eine klare, mondhelle Nacht. Ein verlassenes Haus. Ein vom Flakfeuer immer wieder beleuchteter Himmel. Dank Mairs feiner Feder ist gerade dieser Teil des Buches bestes Kopfkino, von dem man sich als Leser nur zu gern mitreißen lässt. Wohlgemerkt, wenn man sich dazu in der Lage sieht und die Lektüre nicht durchgängig mit dem scharfen Auge des Literaturchirurgen seziert.

Denn natürlich fällt Mair sprachlich gegenüber einem Eric Ambler ab. Und natürlich ist das Grundgerüst der Handlung an sich bei genauer Betrachtung nur wenig logisch und glaubwürdig – aber wen bitte schert das, wenn es dermaßen hervorragend unterhält? So sehe ich dann schlussendlich auch in „Es gibt keine Wiederkehr“ kein Genre persifliert, sondern den gelungenen Versuch, einen undurchschaubaren Zyniker, manchmal auch mit einem gewissen humoristischen Element, seine Gegner auf dem eigenen Schlachtfeld schlagen zu lassen. Desmond Thane wächst in diesem Roman an seiner ungewollt eingenommenen Rolle und kann – obwohl einem bis kurz vor dem Finale nicht klar ist, wie genau das möglich sein soll – letztlich dann sogar den Spieß noch umdrehen.

Keine holde Maid in Nöten, kein hehres Ziel – nur ein gewitztes, eingebildetes und opportunistisches Arschloch, das auf knapp 270 amüsanten, aber auch atmosphärisch wirkungsvollen und mitreißenden Seiten zur Höchstform aufläuft. Und mehr braucht es tatsächlich auch nicht, um diese Wiederentdeckung zu einer zwingenden Empfehlung meinerseits zu machen, denn wenngleich ich Mairs Roman ebenfalls nicht als Klassiker des Genres bezeichnen würde – am Ende hat der Autor dann irgendwie doch Unrecht behalten: Es GIBT eine Wiederkehr. Auch Dank dem Elsinor-Verlag und Martin Compart, denen ich für dieses Buch möglichst viele Leser wünsche.

Wertung: 85 von 100 Treffern

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  • Autor: John Mair
  • Titel: Es gibt keine Wiederkehr
  • Originaltitel: Never Come Back
  • Übersetzer: Jakob Vandenberg
  • Verlag: Elsinor
  • Erschienen: 06.2021
  • Einband: Broschiertes Taschenbuch
  • Seiten: 268 Seiten
  • ISBN: 978-3942788564

Hey, hier kommt Alex!

© Heyne

„In einer Welt, in der man nur noch lebt,
Damit man täglich roboten geht,
Ist die größte Aufregung, die es noch gibt,
Das allabendliche Fernsehbild.

Jeder Mensch lebt wie ein Uhrwerk,
Wie ein Computer programmiert.
Es gibt keinen, der sich dagegen wehrt,
Nur ein paar Jugendliche sind frustriert.

Wenn am Himmel die Sonne untergeht,
Beginnt für die Droogs der Tag.
In kleinen Banden sammeln sie sich,
Gehn gemeinsam auf die Jagd.

Hey, hier kommt Alex!
Vorhang auf für seine Horrorschau.
Hey, hier kommt Alex!
Vorhang auf für ein kleines bisschen Horrorschau.“

Wer hat sie nicht schon lauthals mitgebrüllt, diese Strophen aus dem ersten großen Song der Toten Hosen von 1988? „Hier kommt Alex“ war, nicht zuletzt aufgrund des damals scharf diskutierten Texts, der Durchbruch für die Düsseldorfer Band. Bis dato nur in Insiderkreisen bekannt, wurden sie nun auch außerhalb der Punkszene als anspruchsvolle Rockmusiker wahrgenommen. Doch viele (mir ist selbst erst vor knapp 10 Jahren der Zusammenhang aufgegangen) wissen nicht um die Ursprünge dieses Lieds, dessen Titel sich direkt auf einen bestimmten Alex bezieht.

Gemeint ist Alex Delarge, der Protagonist des düsteren Zukunftsroman-Klassikers „Clockwork Orange“, den Autor Anthony Burgess 1962 veröffentlichte und welcher bis heute, nicht nur unter Punks, absoluten Kultstatus genießt. Wer also wissen will, warum der Song mit Beethovens 9. Sinfonie beginnt, was mit „roboten“ und „Horrorschau“ gemeint ist und wer diese „Droogs“ sind, von denen Campino singt, sollte mal einen näheren Blick auf dieses Werk werfen. – Und auch diejenigen, die mit den Hosen so gar nichts anfangen können, sei zur Lektüre geraten, ist doch die Problematik der grundlos randalierenden, Gewalt ausübenden Jugend heute leider genauso aktuell wie vor fünfzig Jahren.

Im Mittelpunkt der Geschichte steht wie erwähnt der 15-jährige Alex Delarge, der mit seiner Bande, den „Droogs“, des Nachts ziellos durch die Gassen London zieht. Eine Stadt, welche in dem totalitär regierten Land längst nicht mehr sicher ist und vor allem bei Dunkelheit zum Spielplatz der Jugendlichen wird. So stehlen, foltern, vergewaltigen und töten die „Droogs“, immer auf der Suche nach dem noch größeren Kick, noch mehr Spaß. Alex sieht sich dabei als Anführer. Er gibt den Ton an, erstickt jede mögliche Rebellion seiner „Freunde“ im Keim. Als sie eines Tages bei einer alten Dame einbrechen, wendet sich jedoch das Blatt. Alex wird von den „Droogs“ an die Polizei verraten. Und weil die Frau ihren schweren Verletzungen erliegt, wandert er, den die Justiz schon lange im Auge hatte, für 14 Jahre ins Gefängnis.

An seinem Verhalten ändert dies jedoch nichts. Im Gegenteil: Der Gewalt im Knast begegnet er mit noch größerer Brutalität und gerät damit ins Visier des Direktors. Dieser bietet ihm vorzeitige Haftentlassung an, wenn er als Testobjekt am neuen Resozialisierungsprogramm, der Ludovico-Technik, teilnimmt. Alex willigt ein. In den folgenden zwei Wochen wird ihm tagtäglich ein Serum verabreicht, unter dessen Einfluss er stundenlang schlimmste Gewaltdarstellungen auf einer Kinoleinwand betrachten muss. Mit jedem weiteren Film, jeder weiteren Minute, wird Alex‘ Persönlichkeit umprogrammiert, bis er schließlich wie ein Uhrwerk funktioniert und schon beim geringsten Gedanken an Gewalt von grausamen Schmerzen und Übelkeit übermannt wird. Wieder auf freiem Fuß, ist er nun ein friedliebender Bürger – doch zu welchem Preis?

Alex ist unfähig sich zu wehren. Und seine Opfer, wie auch die „alten Freunde“, warten bereits auf ihn…

Vorneweg: Um Burgess‘ „Clockwork Orange“ erfassen (von „genießen“ will ich in diesem Fall lieber nicht sprechen) zu können, braucht es zu Beginn vor allem eins: Geduld. Der im Stil eines Berichts und in „Nadsat“, ein auf Basis der russischen Sprache konstruierter Jugendslang, vorgetragene Roman, macht den Einstieg alles andere als leicht. Stil und Wortwahl sind vom Fleck weg scharf, kantig, unverdaulich. Nur dank des Glossars am Ende des Buches, in dem man die Bedeutung der einzelnen Begriffe nachschlagen kann, kommt man überhaupt über die ersten Seiten. Hat man die jedoch schließlich im wahrsten Sinne des Wortes überstanden, stellt sich recht bald ein Leserhythmus ein. Und mehr noch: Burgess‘ Gebrauch des Nadsat verfremdet nicht nur nur die beschriebenen Gewaltdarstellungen – er verleiht dem Erzählten zugleich dieses Quäntchen mehr Authentizität, welches es uns ermöglicht, die Welt von „Clockwork Orange“ besser zu begreifen. In gewissem Sinne ist hier also eher die Sprache als letztlich der Inhalt Informationsträger, weshalb sich wohl der Autor auch eine längere Einleitung gespart hat.

Neben der anfänglichen Geduld verlangt Burgess dem Leser zudem ein gewisses dickes Fell ab, da Alex und seine „Droogs“ Gewalt nicht einfach nur ausüben, sondern diese mit voller Freude und Euphorie zelebrieren. Brutal und grausam werden Frauen vergewaltigt, Wehrlose bis zur Bewusstlosigkeit und darüber hinaus geprügelt. Je mehr Angst das Opfer hat, je mehr Schmerzen es leidet, um so mehr ergötzen sich die Täter an ihrem Spiel. Zartbesaitete werden hier bereits recht früh ausgesiebt und das Buch wohl an die Seite legen. Doch Burgess‘ detaillierte Schilderungen des Zerstörungsrausches sind mehr als nur ein zweckfreies Stilmittel. Besonders im Hinblick auf die zweite Hälfte des Romans gewinnen die von Alex‘ verübten Gewalttaten eine tiefere Bedeutung.

Zentrale Frage ist nämlich schließlich, was schlechter ist: Den Menschen zum Gutsein zu konditionieren oder ihm die Freiheit lassen, selbst zu entscheiden, ob er gut oder böse sein will. Wie weit sollte und darf ein Staat überhaupt gehen, um die asozialen, nicht zu integrierenden Elemente in der Gesellschaft so weit medizinisch zu behandeln, damit sie keine Bedrohung mehr darstellen? Und wenn die Würde des Menschen unantastbar ist – gilt dies nicht auch für den Täter? Im Anschluss an Alex‘ „Heilung“ muss sich der Leser diesen Fragen unausweichlich stellen. Und es ist der Genialität des Autors zu verdanken, dass es ihm gelingt, trotz Alex‘ vorangegangener Taten, Mitleid für diesen zu erwecken. Plötzlich begreift man, nicht zuletzt auch durch die Handlungen der Eltern, dass er auch schon vor dem medizinischen Eingriff ebenfalls in gewisser Art und Weise ein Opfer war. Ihm nun seine Entscheidungsfähigkeit zu nehmen, sogar die Freude an der Musik, stellt somit letztlich genauso ein Verbrechen dar. Nur halt diesmal verübt vom Staat.

Burgess geizt in seinem Roman aber sowieso mit moralischen Leitlinien. Alle Figuren (vielleicht mit Ausnahme des frommen Geistlichen im Gefängnis) bilden hassenswerte Charakterzüge aus. Niemand handelt wirklich selbstlos. Ein jeder hat Hintergedanken oder Ängste, die ihn schließlich gegen seine eigenen moralischen Grundsätze handeln lassen. Keiner dabei, der wirklich die Sympathien des Lesers genießt. Das wiederum macht eine Verurteilung einzelner Figuren schwer. Auch weil die von Burgess geschilderte Welt der heutigen erschreckend ähnlich ist. Ein Blick in die Fußballstadien oder gewisse Bezirke deutscher Großstädte ermöglicht den Blick auf viele Menschen wie Alex. Und sowohl der Lösung, als auch noch viel wichtiger der Ursache des Problems, ist man auch nach einem halben Jahrhundert nicht wirklich näher gekommen.

Bei all der drastischen Gewalt, den brutalen Schilderungen, der erbarmungslosen Härte – „Clockwork Orange“ ist, besonders gegen Ende hin, ein Roman, welcher zur Reflexion anregt, nachdenklich stimmt. Ein in seinen Mitteln vielleicht ungewöhnlicher und sperriger, aber in der Wirkung äußerst treffsicherer Klassiker, dessen Vision in großen Teilen bereits ernüchternde Wirklichkeit ist.

Nachtrag: „Clockwork Orange“ wird inzwischen von Klett Cotta in neuer Übersetzung verlegt.

Wertung: 85 von 100 Treffern

einschuss2
  • Autor: Anthony Burgess
  • Titel: Clockwork Orange
  • Originaltitel: A Clockwork Orange
  • Übersetzer: Wolfgang Krege
  • Verlag: Heyne
  • Erschienen: 11/1997
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 224 Seiten
  • ISBN: 978-3453130791

Ist dies schon Tollheit, hat es doch Methode!

© Piper

Wollen Sie mal in ihrem belesenen Freundeskreis bewundernde Blicke ernten? Dann erzählen Sie einfach, dass sie gerade ein Buch über Johann Wolfgang von Goethe, Heinrich von Kleist, August Wilhelm Schlegel, Ludwig Tieck und Madame de Staël lesen – ein anerkennendes Nicken wird Ihnen bestimmt sicher sein.

Und es muss ja keiner wissen, dass es sich dabei um den neuesten Roman aus der Feder von Robert Löhr handelt. Wobei – eigentlich sollten Sie es ruhig schon erwähnen, ist doch auch die Fortsetzung von „Das Erlkönig-Manöver“ einmal mehr eine äußerst kurzweilige und empfehlenswerte Lektüre, welche einen wichtigen Abschnitt der deutschen Literaturgeschichte mal auf eine ganz andere Art und Weise näher beleuchtet. Ein Hauch Abenteuerroman, eine Prise Schelmenspiel, eine Fingerspitze Roadmovie – fertig ist „Das Hamlet-Komplott“.

Musste im Vorgänger noch der rechtmäßige französische König aus den Klauen Napoleons gerettet werden, so sitzt diesmal Heinrich von Kleist in eben dieser Bredouille, weshalb sich die oben genannten historischen Lichtgestalten auf den Weg machen, um diesen zu befreien. Eine Unternehmung, welche sich bald als überflüssig erweist, ist doch Kleist seinen Häschern bereits entkommen, um mit einem wertvollen Gut – der Krone des heiligen römischen Reiches deutscher Nationen – die Flucht zur Memel anzutreten. Dort soll sie den zermürbten preußischen Truppen neuen Mut einflößen und die Waagschale des Krieges zu ihren Gunsten kippen. Allesamt Verfechter der deutschen Sache oder zumindest verschworene Feinde Napoleons, schließt sich der Rest der Gruppe Kleist kurzerhand an. Verkleidet als Wanderschauspieler beginnt für sie eine turbulente Reise durch den französischtreuen Süden Deutschlands. Stets verfolgt von Napoleons Schergen, die ihrerseits alles versuchen, die Reichskrone in ihre Finger zu bekommen …

Robert Löhrs Werke findet man gewöhnlich in Buchhandlungen in der Sparte für historische Romane. Inhaltlich und zeitlich ist das sicherlich richtig eingeordnet. Wirft man jedoch einen näheren Blick auf seiner Bücher, mutet es schon seltsam an, dass ein Mann dieses Talents sich das Regalbrett mit Sarah Lark und Iny Lorentz teilen muss. Vielleicht ist das ein Grund, warum Löhr ein größerer Bekanntheitsgrad bisher versagt geblieben ist. Qualitativ spielt er jedenfalls schon jetzt in einer anderen Liga, was er auch mit „Das Hamlet-Komplott“ einmal mehr eindrucksvoll unter Beweis stellt. Sein zweiter Roman um Goethe, Kleist und Co. tritt dabei ein ziemlich schweres Erbe an. „Das Erlkönig-Manöver“ wurde nicht nur im Feuilleton hoch gelobt, sondern gehört auch zu meinen absoluten Lieblingsbüchern. Diesen hohen Level erneut zu erreichen, ist aber Löhr, dessen Fortsetzung nun mal am Vorgänger gemessen werden muss, nicht gelungen. Ob Wortwitz, Tempo, Spannungsbogen oder dramatische Elemente – „Das Hamlet-Komplott“ muss sich in all diesen Punkten dem Vorgänger geschlagen geben. Lesenswert ist es jedoch trotzdem. Und zwar deswegen:

Robert Löhr ist eine schriftstellerische Leichtigkeit zu Eigen, die man in den Kreisen deutscher Autoren leider viel zu oft vergeblich sucht. Seine Werke sind, trotz ihres Anspruchs, der haargenauen Recherche und dem tiefen Respekt für die literaturgeschichtlichen Vorbilder, durchgehend unterhaltsam. Löhr kickt die Klassik in die Moderne, pustet den Staub von der Romantik, ohne dabei Gefahr zu laufen, zur billigen Groteske zu verkommen. Die Idee, die großen Persönlichkeiten der deutschen Literatur als fehlerbehaftete Menschen zu zeigen ist ebenso einfach wie genial. Auch weil die vielen Zitate und Anspielungen, welche in „Das Hamlet-Komplott“ nicht ganz so sehr funktionieren wollen wie im Erstling, die Neugier auf diese Epoche wecken und viele vielleicht dadurch sogar erstmals Lust bekommen, einen näheren Blick auf die „öden, alten Klassiker“ zu werfen. Und selbst wenn nicht: Auch Goethes zweiter Auftritt als Napoleons Gegenspieler ist einfach ein großer, oftmals herrlich absurder Spaß. Langatmige Passagen sind die Ausnahme. Hinter jeder Ecke wartet eine neue Überraschung auf den Leser, den Löhr immer wieder trefflich aufs Glatteis führt. Seinem Ideenreichtum und das Können, diese Ideen mit der Historie zu verbinden, gebührt abermals höchstes Lob.

So ist es letztlich zu verkraften, dass „Das Hamlet-Komplott“ das Niveau des Vorgängers nicht halten kann, diese schon traumwandlerische Leichtigkeit nicht erneut erreicht. Denn – und das müssen auch die Helden in diesem Roman erkennen – nicht immer klappt alles so, wie man sich das erhofft hat. Und selbst die ganz Großen straucheln irgendwann mal.

Das Hamlet-Komplott“ ist ein kurzweiliges, anekdotenreiches Mantel-und-Degen-Abenteuer, an dem nicht nur Shakespeare-Liebhaber ihre Freude haben dürften. Erfrischend anders und nicht selten beeindruckend intelligent. Und damit ein Farbtupfer im Meer der spröden historischen Unterhaltungsliteratur, dem man seine Fehler gern verzeiht. Eine am Ende in Aussicht gestellte weitere Fortsetzung werde ich jedenfalls gerne wieder lesen.

Wertung: 85 von 100 Treffern

einschuss2
  • Autor: Robert Löhr
  • Titel: Das Hamlet-Komplott
  • Originaltitel: –
  • Übersetzer: –                               
  • Verlag: Piper
  • Erschienen: 08.2011
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 368 Seiten
  • ISBN: 978-3492272087

Vom König der Deutschen

© Lübbe

So schön das Dasein als Vielleser und bibliophiler Sammler auch ist – es hat auch seine Schattenseiten. Im Wust der zahlreichen vielversprechend tönenden Novitäten schaffen es irgendwann nur noch wenige Titel, den Puls der Erwartung etwas höher schlagen zu lassen und uns den Veröffentlichungstermin als lang herbeigesehntes Ereignis zu kredenzen. Dies liegt nicht unbedingt am satten Leser, sondern an der so großen Menge hervorragender Bücher. (Ob es mehr sind als früher, ist fraglich. Wahrscheinlich haben sich einfach die Möglichkeiten, sie zu entdecken, verbessert) Und die werden, statt wie früher geduldig mit der Angel gefischt, inzwischen von mir in Schleppnetzen nach Hause gebracht, wo sie in Stapeln getürmt um meine knapp bemessene Lesezeit buhlen. Das hat zur Folge, dass nur wenige Novitäten sogleich gelesen werden.

Aber es gibt Ausnahmen. Und die Romane aus der Feder der deutschen Schriftstellerin Rebecca Gablé gehören in diese Kategorie. Als sich mir also an meinem Geburtstag in der Geschenktüte „Das Haupt der Welt“ entgegen reckte, ward mal wieder jegliche Leseplanung über den Haufen geworfen, ist doch ein Ausflug in Gablés Geschichten in der Vergangenheit stets ein lohnenswerter gewesen. Aber auch diesmal?

Das Haupt der Welt“ ist insofern schon ein bemerkenswerter Roman, da Rebecca Gablé erstmals ihrem üblichen Betätigungsfeld, dem englischen Mittelalter, den Rücken gekehrt hat, um sich stattdessen der deutschen Geschichte zuzuwenden. Dies ist, auch wenn viele Leser dies bereits länger gefordert haben, sicherlich ein Wagnis seitens der Autorin, welche die „Sicherheit“ des Schauplatzes Englands für eine Epoche preisgibt, die, und das ist eigentlich das merkwürdige, den meisten deutschen Lesern vielleicht sogar weit weniger bekannt ist. Im Mittelpunkt des wieder einmal in Umfang und Erzählung epischen Romans steht nämlich Otto I., später genannt „der Große“, der in vielen Geschichtsbüchern als Begründer des Deutschen Reiches angesehen wird. Eine Rolle, die er, auch von den Nationalsozialisten für ihre Propaganda missbraucht, so nie verkörperte, denn wie Gablé im Nachwort treffend bemerkt: Eine nationale Identität in dem Sinne hat es zu diesem Zeitpunkt in keinster Weise gegeben. Das einzig „Deutsche“ am riesigen Reich Ottos war die Sprache. Und selbst hier hatten und haben bis heute die Bewohner, je nach Herkunft, so ihre Probleme einander zu verstehen.

Nichtsdestotrotz: Otto I. ist eine interessante Figur und eine noch interessantere Wahl für einen Roman, zumal sich Frau Gablé auf die ersten Jahre seiner Regentschaft konzentriert, was die Möglichkeiten in der Erzählung der Geschichte etwas limitiert. Ein Grund, weshalb auch hier wieder jemand anders die Rolle des Hauptprotagonisten verkörpert, der jedoch, uns das ist neu für Gablé, diesmal keine fiktive Figur ist, sondern wirklich gelebt haben soll.

Die Brandenburg im kalten Winter 929. Tugomir, slawischer Fürstensohn der Heveller, steht kurz vor dem Ende seiner Ausbildung zum Tempel-Priester, als die Belagerung durch den deutschen König Heinrich I. und dessen Sohn Otto ein blutiges Ende findet. Die Festung an der Havel fällt, und Prinz Tugomir und seine Schwester Dragomira werden als Geiseln nach Magdeburg verschleppt. Während sich letztere schnell an die Sachsen gewöhnt und sogar bald ein Kind von Otto erwartet, leidet Tugomir unter dem Verlust von Freiheit und Heimat. So rettet er zwar Otto – widerwillig – das Leben und macht sich einen Namen als Heiler am Hof, doch er bleibt gefangen zwischen zwei Welten. Ein Umstand, der sich noch verschlimmert, als er sich in die Tochter seines größten Feindes verliebt und fortan seines Lebens nicht mehr sicher ist. Geschützt wird Tugomir dabei zumeist von Ottos Halbbruder Thankmar, mit dem ihm eine ungewöhnliche Freundschaft verbindet. Doch die Zeiten unter Ottos Regentschaft sind stürmisch und das Reich von allen Seiten bedroht. Und auch in der eigenen Familie gibt es Widerstand gegen den König der Ostfranken.

Als sich Ottos Gegner schließlich für seinen geplanten Sturz formieren, wendet sich dieser mit einer ungewöhnlichen Bitte an Tugomir – den Mann, der Freund und Feind zugleich ist und dem sich jetzt die einmalige Chance bietet: Das deutsche Reich, den großen Widersacher der slawischen Völker, zu Fall zu bringen. Wie wird er sich entscheiden?

So verheißungsvoll für eine gut erzählte Geschichte diese Ausgangslage auch ist – Gablé kopiert sich hier dennoch ein bisschen selbst, sind doch die Erfahrungen und der Lebenslauf des Hauptprotagonisten Cædmon in „Das zweite Königreich“ denen Tugomirs nicht unähnlich. Beide sind weitestgehend allein unter Feinden, beide fernab der eigentlichen Heimat. Und beide werden irgendwann vor die Wahl zwischen eben dieser und dem neu gefundenen Zuhause gestellt. Der einzige Unterschied dabei: Tugomir tut sich wesentlich schwerer, das sächsische Exil zu ertragen und weigert sich beharrlich Freundschaften mit den sächsischen Feinden zu schließen. Eine durchaus nachvollziehbare Einstellung angesichts dessen, was mit dem Rest seines Volkes nach Einnahme der Brandenburg passiert ist. Dennoch ist es gerade diese Zurückhaltung und der (vor allem zu Beginn) gänzliche Mangel an Freundlichkeit, welcher es dem Leser schwer macht, Sympathie für den slawischen Prinz zu entwickeln, der partout jeder ihm dargebotenen Hand entgegenspuckt.

Überhaupt hat Gablé hier einige Schwierigkeiten damit, einen schnellen Einstieg in die Geschichte zu gewährleisten und eine Brücke zwischen dem Jetzt und dem frühen Mittelalter zu bauen. Ungewöhnlich für eine Autorin, welche mich sonst bereits nach wenigen Seiten vollkommen in den Bann gezogen hat. Ob Robin of Waringham oder eben der bereits genannte Cædmon, die Lebendigkeit der Figuren, ihr Freud und ihr Leid, nahm sogleich automatisch gefangen. „Das Haupt der Welt“ kommt da wesentlich schwerer und schleppender in Fahrt und besonders Tugomir bleibt dem Leser seltsam fremd. Ob das dem ungewohnten Setting zuzuschreiben ist oder vielleicht gar der Tatsache, dass Gablé selbst nicht so wirklich mit ihrem „Helden“ warum geworden ist, vermag ich nicht zu sagen. Fakt ist jedenfalls: Der Roman lässt bereits an dieser Stelle das gewisse und vor allem gewohnte Herzblut vermissen, das die Vorgänger zu solchen Pageturnern hat werden lassen.

Dabei lässt sich der Autorin sonst nicht wirklich viel vorwerfen. Der bildgewaltige Erzählstil überzeugt einmal mehr und der historische Hintergrund, wieder sorgfältig recherchiert, regt zur Auseinandersetzung mit dieser Epoche der deutschen Geschichte an. So werde ich als gebürtiger Westfale dem ein oder anderen Ort meiner Heimat nun sicherlich mehr Aufmerksamkeit schenken bzw. diesen auch aus einem anderen Blickwinkel betrachten. Aber das alles, nun ja, reicht mir irgendwie nicht. Vielleicht auch weil Rebecca Gablé die Messlatte durch ihr bisheriges Werk derart hoch gelegt hat, dass damit halt eine gewisse Erwartungshaltung einhergeht. „Das Haupt der Welt“ kommt zu schwer in Gang, die Figuren sehr hölzern daher. Gerade ihr Geschick, die historischen Persönlichkeiten mit Ecken, Kanten und vor allem mit Charisma zu füllen, habe ich doch schmerzlich vermisst. Die meisten, wie z.B. Ottos jüngerer Bruder Henning, genannt „Hasenfuß“, wirken unausgearbeitet, eindimensional. Einziger Lichtblick ist da Halbbruder Thankmar, der mich in seinen Ausschweifungen und dem hitzigen Temperament an Raymond of Waringham erinnert hat und welcher der Handlung, die sonst eher gemächlich dahinschreitet, ordentlich Feuer verleiht.

Woran es letztlich haargenau im Einzelnen liegt, warum der Funke nicht richtig übergesprungen ist – ich vermag es nicht zu sagen. Möglicherweise würde ich diesen Roman, wäre er der Feder eines bis dahin nicht bekannten Autors entsprungen, auch nicht derart pingelig beurteilen. So fehlt halt einfach das gewisse Etwas, dieser typische Schuss Gablé, der die meisten anderen ihrer Werke zu so großartigen und vor allem bewegenden Leseerlebnissen gemacht hat. Fast scheint es so, als hätte Gablé dies selbst gemerkt und versucht durch neue Elemente wettzumachen, womit sie aber gerade das Gegenteil erreicht. Waren sonst die Liebesgeschichten immer durchaus stilvoll mit der Geschichte verzahnt, wandelt hier die Autorin nun auf Folletts Spuren. Explizite Beschreibungen von Bettszenen verstören mich zwar genauso wenig wie ich sie grundsätzlich in jeglicher Literatur ablehne, so lange es passt – aber ein Gablé-Roman hatte das einfach nie nötig. Warum also jetzt die ständigen Einblicke in den menschlichen Genitalbereich?

Bevor ich Gefahr laufe, allzu kritisch zu erscheinen: „Das Haupt der Welt“ ist immer noch ein richtig guter historischer Roman, der in vielen Bereichen der Konkurrenz auch weiterhin davonläuft. Doch diese Liebe zum Detail, diese Leidenschaft für jede noch so kleine Figur im großen Konstrukt der Handlung, sie wird doch schmerzlich vermisst. Wo mich sonst z.B. Tode unheimlich bewegt und gerührt haben, verfolgte ich in diesem Roman die Schicksale eher aus der Distanz. Das Ableben wird nicht als Verlust empfunden, nur mit einem Nicken zur Kenntnis genommen. Auch weil die Schwarz-Weiß gezeichneten Protagonisten selbst kaum der richtigen Trauer fähig sind und man dadurch das Gefühl bekommt, dass einfach keine Zeit da ist, dass die Geschichte schnell ihrem Ende entgegen getrieben werden muss. Und gerade das Verweilen im Mittelalter, das alltägliche Leben, die kleinen Dinge am Rand des Weges, haben die Gablé-Bücher immer so hervorragend gemacht.

Müsste ich „Das Haupt der Welt“ mit einem Wort beschreiben, es wäre wohl „mühselig“. Bezogen nicht auf die Lektüre selbst, sondern auf den Prozess der Entstehung, da ich das Gefühl nicht loswerde, dass Rebecca Gablé hier einfach nicht richtig mit ganzem Herzen dabei bzw. auf einem ihr noch etwas unbekannten Terrain unterwegs gewesen war. Dennoch freue ich mich auf die Fortsetzung „Die fremde Königin„, ändert mein Jammern auf hohem Niveau doch nichts an der Tatsache, dass diese Autorin im Genre weiterhin ihresgleichen sucht.

Wertung: 85 von 100 Trefferneinschuss2

  • Autor: Rebecca Gablé
  • Titel: Das Haupt der Welt
  • Originaltitel:
  • Übersetzer:
  • Verlag: Bastei Lübbe (Ehrenwirth Verlag)
  • Erschienen: 10.2013
  • Einband: Hardcover
  • Seiten: 864
  • ISBN: 978-3431038835

„Somebody stepped inside your soul – Little by little, they robbed and stole“

© Goldmann

Knapp anderthalb Jahre waren (obwohl ich stets mit neugierigen Blicken an der Ian-Rankin-Ecke meines Bücherregals vorbei gelaufen bin und durchaus Lust auf ein neues Abenteuer aus Edinburgh hatte) seit der Lektüre von „Verschlüsselte Wahrheit“, dem Vorgänger des nun gelesenen John-Rebus-Falls „Blutschuld“, vergangen. Aber wie das Leben so spielt: Immer wieder kamen andere Titel dazwischen, verhinderte ein unser Wohnzimmer sprengender SUB eine weitere Beschäftigung mit meinem schottischen Lieblingsautor. Sicherlich ein Fehler, denn nach Beendigung des sechsten Bands aus der Reihe um Inspector John Rebus zeigt sich einmal mehr, dass man nicht in die Ferne schweifen sollte, wenn das Gute doch so nah liegt.

Und richtig gut ist auch wieder „Blutschuld“, welcher im englischen Original bereits im Jahre 1993 unter dem Titel „Mortal Causes“ erschienen ist und uns zurück in eine Zeit führt, in welcher die politische Situation in Nordirland wesentlich brisanter war, als dies heute der Fall ist. Rankin ist es nicht nur gelungen, die verhärteten Fronten zu skizzieren, welche jahrelang einen Frieden auf der grünen Insel verhindert haben. Er zeigt auch die Auswirkungen dieses Konflikts auf Schottland, das sich trotz der Mitgliedschaft in „Großbritannien“ keineswegs als gleichberechtigter Partner der Engländer fühlt und in dessen Bevölkerung einige militante Gruppen, auf protestantischer und katholischer Seite, diesen ewig währenden Bürgerkrieg zu ihren jeweiligen Gunsten zu beeinflussen versuchen.

Edinburgh, im August 1993. Wie immer beginnt auch diesmal alles mit einer Leiche. Während in der Innenstadt das berühmte Edinburgh Festival Fringe im Gange ist und Tausende von Touristen durch die engen Gassen strömen, wird in den alten unterirdischen Gemäuern von Mary King’s Close, einem im 17. Jahrhundert errichteten und in späterer Zeit überbauten Straßenzug, die grausam verstümmelte Leiche eines jungen Mannes gefunden. Offensichtlich wurde er vor seinem Tod lange gefoltert, bis man ihm schließlich einen „Six-Pack“ verpasst hat. Eine in Nordirland übliche Strafmaßnahme, bei der dem Opfer systematisch Arme und Beine zerschossen werden. Inspector John Rebus wird an den Tatort gerufen und soll den Fall, nicht zuletzt weil er selbst als junger Soldat in Belfast gedient und Erfahrungen mit der IRA gemacht hat, übernehmen. Die üblichen Nachforschungen werden angestellt, Klinken geputzt und Zeugen befragt, bis bald die Identität des Toten feststeht und die Ermittlungen für John Rebus einen bitteren Beigeschmack bekommen. Bei dem Opfer handelt es sich um niemand geringeren als den Sohn von „Big Ger“ Cafferty. Ein Gangsterboss, der einen Großteil des organisierten Verbrechens in Edinburgh kontrolliert und mit dem sich Rebus in der Vergangenheit bereits mehr als einmal messen musste. Zuletzt hat er ihn sogar hinter Gitter geschickt (siehe „Verschlüsselte Wahrheit“), was „Big Ger“ aber nicht davon abhält, weiterhin seine Ränke zu schmieden und Rache zu fordern. Die soll ihm nun ausgerechnet Rebus verschaffen, den er mit Druck und Drohungen dazu „ermuntert“, den Mörder seines Sohnes zu finden.

Keine einfache Situation für den eigensinnigen Polizisten, der im Zusammenhang mit dem Mord zu einer Sondereinheit, dem Scotish Crime Squad, abkommandiert worden ist, um die möglichen Verflechtungen mit paramilitärischen Organisationen zu überprüfen und der dabei von seinen neuen Kollegen nicht gerade enthusiastisch empfangen wird. Doch Rebus, der hinter vorgehaltener Hand den Ruf eines „Terriers“ genießt, beißt sich fest und setzt alles auf eine Karte, um zwischen Geheimdienstlern, Gangstern, „Freiheitskämpfern“ und jugendlichen Aufrührern der richtigen Spur zu folgen … und diese scheint ihn bald immer näher in die Kreise der Polizei zu führen. Hat sich Rebus diesmal übernommen?

Ian Rankin, in einem kleinen Bergarbeiterort in Fife aufgewachsen, und damit weit weg von den „Unruhen“ in Nordirland, hat bereits seit frühester Jugend Erfahrungen mit der protestantisch-katholischen Feindschaft in Schottland gemacht, welche oft eine Straße, in manchen Fällen ganze Familien getrennt hat. Die eigentliche „Seele“ des Konflikts blieb für ihn jedoch für Jahre, trotz einiger Besuche in Belfast, wo seine Frau Miranda groß geworden ist, schwer fassbar. „Blutschuld“ ist somit als Versuch zu verstehen, die Sektiererei und religiöse Spaltung in Schottland innerhalb der Reihe in Angriff zu nehmen und neben den touristischen Attraktionen, welche Rankin im Umfeld des Edinburgher Festivals hervorhebt, auch die hässlicheren Seiten der Gesellschaft zu zeigen. Herausgekommen ist eine Mischung aus Police-Procedural-Krimi und Politthriller, der die fatalen Konsequenzen der so genannten „Troubles“ im Zusammenhang mit einer spannenden Mordermittlung verdeutlicht und selbst dem nicht-britischen Publikum plastisch vor Augen führt, wie schnell auch perspektivlose Jugendliche in diese Spirale der Gewalt hereingezogen werden können. Dennoch ist „Blutschuld“ keinesfalls ein Mahnmal mit wedelndem Moral-Zeigefinger. Ganz im Gegenteil:

Rankin lässt seine Botschaft dicht unter der Oberfläche fließen und überlässt es dem Leser, seine eigenen Schlüsse zu ziehen. Wie auch schon in den Vorgängern, so hält Rankin auch hier nichts von Schwarz-Weiß-Zeichnungen. Nichts ist eindeutig gut, nichts eindeutig böse. Und selbst die Kriminalität kann man nicht mehr derart in Sparten aufteilen, wie dies früher der Fall gewesen ist. Terroristen und Gangster arbeiten zunehmend Hand in Hand, die eine wäscht die andere. Bei all den hochgesteckten Idealen scheint der Profit noch das Wichtigste zu sein. Der Kampf für die Freiheit dient lediglich als Aufhänger, um Investoren aus den USA für die Finanzierung zu gewinnen. Das hat mich, aus aktuellem Anlass, (hatte dieses Buch kurz zuvor gelesen) an „Die Schatten von Belfast“ erinnert, in dem Autor Stuart Neville die fließenden Übergänge in einem ähnlichen Rahmen thematisiert.

„Big Ger“ Cafferty ist in „Blutschuld“ die Verkörperung dieser Anpassung an das neue Zeitalter. Sein Charakter ist schwer zu fassen, seine Motive undurchdringlich, sein krimineller Charme erschreckend überzeugend. Obwohl er durch und durch Böse ist, erwischt man sich dabei, Sympathie für ihn zu empfinden. Nicht zuletzt deshalb, weil er John Rebus auf eine schizophrene Art und Weise gleicht. Die Idee für diese komplexe Beziehung zwischen dem Polizisten und dem Edinburgher Obergangster ist, laut Rankin, durch die Matt-Scudder-Romane vom New Yorker Autor Lawrence Block inspiriert worden. Block hat das Verhältnis Scudders zu dem knallharten Gangster Mick Ballou ähnlich beschrieben:

Beide scheinen sich zu verstehen, womöglich sogar zu respektieren. Aber wären sie einander ins Gehege gekommen, hätte nur einer die Begegnung überlebt.

Das unsichtbare Kräftemessen zwischen Rebus und Cafferty verleiht „Blutschuld“ eine untergründige Spannung, welche sich erst am Ende entlädt, das, soviel darf verraten werden, das Verhältnis zwischen den beiden Kontrahenten für den weiteren Verlauf der Reihe entscheidend verändert. Ansonsten überzeugt „Blutschuld“ wieder mit der farbenfrohen Schilderung Edinburghs, die sich neben Mary King’s Close, ein Mahnmal für die Vergänglichkeit und Erinnerung an die kriminellen Strömungen der Vergangenheit, vor allem auf das fiktive Viertel Garibaldi Estate („Gar-B“) konzentriert. Dieser heruntergekommene Stadtteil ist ein Sammelbecken für die „Verlierer“ der Gesellschaft. Und gerade hier fallen extremistische oder revolutionäre Ideen auf besonders fruchtbaren Boden. Selbst die Polizei traut sich in diese Problemviertel nur in Hundertschaften und schwer bewaffnet. (Ich hatte in diesen Passagen mehrmals den Film „Harry Brown“ vor Augen) Warum das so ist, muss auch Rebus schnell feststellen. Wie so oft ist gerade an dieser Stelle die Realität erschreckender als die Fiktion.

Neben all diesen gesellschaftlichen Themen, welche heute wohl nicht weniger aktuell sind, als Mitte der 90er, sind es besonders die kleinen Nebengeschichten, die „Blutschuld“ wieder so erfrischend authentisch machen und zum Schluss dann sogar Relevanz für die Auflösung besitzen. Sie droht man im Eifer der Leselust gerne mal zu überspringen, nur um letztlich festzustellen, dass man anhand dieser Details, dem Täter viel früher auf die Spur hätte kommen können. Ich muss allerdings auch gestehen, dass ich lieber Rebus über die Schulter schaue, der weitestgehend im Alleingang (Brian Holmes und Siobhan Clarke haben diesmal eher wenig zu tun) die Steine ins Rollen bringt und den Kampf zu seinen Feinden trägt. Anstatt seinem Protagonisten Neues anzudichten, was bei vielen anderen Autoren deren Ideenarmut bloßstellt, greift Rankin hier wieder auf Rebus‘ Vergangenheit in der Armee zurück, die unter anderem der Grund dafür ist, warum er diesmal in die Spezialeinheit versetzt wird. Das „Blutschuld“ dann am Schluss nicht zu den besten Titeln der Reihe gehört, liegt vor allem am sehr zähen Beginn, der aufgrund vieler Verflechtungen und Anspielungen auf den Nordirland-Konflikt manchmal schwer zu verfolgen ist und anfangs nur wenig Spannung aufkommen lässt. Freunde von actionreichen Thrillern werden da ganz sicher an die Grenzen ihrer Geduld getrieben. Mich hat das, nicht zuletzt wegen dem herrlich lakonischen Rebus, mal wieder nur wenig gestört.

Am Ende bleibt Ian Rankin auch mit „Blutschuld“ ein Garant für ziselierte Spannung und intelligente Unterhaltung, ohne dabei der Versuchung zu erliegen, sich in irgendeiner Art und Weise zu wiederholen. Düster, dreckig, mürrisch und bitter. Ein echter Rebus halt. Genauso wie er sein sollte.

Wertung: 85 von 100 Treffern

einschuss2
  • Autor: Ian Rankin
  • Titel: Blutschuld
  • Originaltitel: Mortal Causes
  • Übersetzer: Giovanni Bandini
  • Verlag: Goldmann
  • Erschienen: 05.2003
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 384 Seiten
  • ISBN: 978-3442450169

Ein Agent wider Willen

Unbenannt

© Heyne

Nach dem Erfolg seines Debütromans „Jagd auf Roter Oktober“ (1984 veröffentlicht) war es eigentlich nur eine Frage der Zeit, bis Autor Tom Clancy eine Fortsetzung folgen ließ – als diese schließlich 1987 erschien, waren nicht wenige überrascht, spielt doch „Die Stunden der Patrioten“ (engl. „Patriot Games“) etwa drei Jahre vor den Ereignissen um das sowjetische Atom-U-Boot von Kapitän Ramius.

Ob diese Herangehensweise der Tatsache geschuldet ist, dass Clancy die Idee zu dem Roman bereits vor seinem Erstlingswerk in der Schublade hatte oder die damalige politische Lage ihn inspirierte, ist – soweit mir bekannt – sein Geheimnis geblieben. Fakt ist jedenfalls: Mit Jack Ryans zweitem Auftritt festigte der US-amerikanische Schriftsteller seinen Ruf als Begründer des Techno-Thrillers – ein Genre, das Elemente des klassischen Polit-Thrillers mit exakter militärisch-technischer Recherche verbindet. Und das obwohl besonders letztere in „Die Stunde der Patrioten“ weniger zum Tragen kommen, hält sich doch Ryans chronologisch erster richtiger Einsatz im Dienst der CIA hinsichtlich fachlicher Begrifflichkeiten und militärischer Genauigkeit noch (vor allem für Nicht-Amerikaner wohltuend) zurück. Stattdessen konzentriert sich das Buch in erster Linie auf die Ausarbeitung der Figur, welche in späteren Werken sich auch das Rampenlicht mit weit mehr Personen teilen muss. Die Story sei kurz angerissen:

John Patrick „Jack“ Ryan, Professor für Militärgeschichte an der U.S. Naval Academy in Annapolis, Maryland, hält sich für historische Recherchearbeiten in London auf und will dort die freie Zeit mit seiner Familie nutzen. Während er sich gemeinsam mit Frau Cathy und Tochter Sally nach einem Vortrag trifft, wird er plötzlich Zeuge eines Anschlags vermummter Terroristen auf einen Rolls-Royce. Ryan handelt instinktiv, ergreift die Initiative und schafft es dank des Überraschungseffekts einen der Angreifer zu töten und einen weiteren schwer zu verletzen, bevor er selber angeschossen zu Boden geht. Als er im Krankenhaus wieder das Bewusstsein erlangt, ist die einstmals heile und ruhige Welt aus den Fugen geraten. Bei den Insassen des Royce handelte es sich um niemand geringeren als den Prinzen und die Prinzessin von Wales, die nun einem Amerikaner und ehemaligen US-Marine ihr Leben verdanken. Ganz England feiert den Helden aus den USA, wohingegen die verbliebenen Terroristen – ein Ableger der IRA namens ULA (Ulster Liberation Army) – ihre Wunden lecken und auf Rache sinnen.

Von seinen Verletzungen einigermaßen genesen, kehrt Jack Ryan einige Wochen später in die USA zurück. Sicher, dass ihm hier keine Gefahr droht, da die IRA bisher noch kein einziges Mal in Amerika aktiv geworden ist, um die dortige finanzielle Unterstützung nicht zu gefährden. Er kann noch nicht ahnen, dass die ULA mit dem provisorischen Flügel der IRA und ihren Brigaden auf dem Kriegsfuß steht. Für sie sind Ryan und seine Familie nicht nur ein legitimes Ziel, sondern auch die Gelegenheit zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: Die Unterstützung der IRA zum versiegen zu bringen und gleichzeitig selber Stärke zu demonstrieren. Als Jack Ryan ins Visier der Terroristen gerät, sucht er Kontakt zu Admiral James Greer, dem Direktor der Central Intelligence Agency – kurz C.I.A. Der hatte vor gut einem Jahr Ryan als Berater hinzugezogen und schon damals keinen Hehl daraus gemacht, ihn zum Agenten ausbilden zu wollen. Ein Angebot, welches dieser, vor allem aus Rücksicht auf seine Familie, noch ausgeschlagen hatte. Nun braucht er die Fähigkeiten der Agency, um eben diese vor der ULA zu schützen. Doch ist es dafür vielleicht schon zu spät?

Wem diese kurze Inhaltsbeschreibung bekannt vorkommt, wird sich höchstwahrscheinlich an die Ereignisse der gleichnamigen Verfilmung erinnern, in der Harrison Ford Jack Ryan verkörpert, allerdings „nur“ einen eng mit der Königsfamilie verwandten Lord rettet und nicht das echte Thronfolgerpaar. Auch sonst gibt es den ein oder anderen Unterschied zwischen Roman und Film. Insbesondere das Ende ist in der literarischen Vorlage weit weniger dramatisch. Das aber nur kurz zur Information, möchte ich doch Clancys Werk eigenständig beurteilen, wobei dies bereits das zweite Mal ist, habe ich doch „Die Stunde der Patrioten“ vor elf Jahren schon einmal gelesen. Und ich muss gestehen: Im Laufe der Jahre hat sich nicht nur mein Geschmack doch arg gewandelt, sondern auch die Perspektive ein wenig verschoben, weshalb ich Clancys Romane nun in einem etwas anderen und manchmal auch weniger günstigem Licht betrachte. So ist mir das patriotische Element diesmal, vielleicht auch naturgemäß, viel stärker ins Auge gefallen, als damals, wo in erster Linie noch die Spannung zählte.

Auf die Gefahr hin, zu negativ zu klingen, sei aber hier gleich gesagt: „Die Stunde der Patrioten“ ist beileibe kein schlechtes Buch, zählt sogar zu den Besten des US-Autors. Dem Leser sollte allerdings klar sein, dass der Titel auch gleichzeitig den Ton vorgibt. Wer mit Lobpreisungen auf stolze Marines, gewiefte FBIler und eiskalte CIA-Agenten so gar nichts anfangen kann (hier auch besonders „schön“ die Szene, in der sich ein irischer Pubbesitzer in den USA erst nach Aufklärung durch einen FBI-Agent über die IRA entrüstet und, als guter Amerikaner, einen Repräsentanten der Terrororganisation sogleich vor die Tür setzt), sollte von diesem und allen anderen Büchern aus Clancys Feder die Finger lassen.

Inwiefern dieser Verzicht ein Versäumnis darstellt, ist schwer und nur Buch für Buch zu beurteilen. „Die Stunde der Patrioten“ hat inzwischen nicht nur aufgrund der politischen Thematik Staub angesetzt, sondern ist auch sonst etwas in die Jahre gekommen. Durch eMails, Smartphones und allgegenwärtige Computer haben sich die Möglichkeiten der Kommunikation ebenso geändert, wie die der elektronischen Kriegsführung. Im Jahr 1987 war ein militärischer Schlag, der von einem Satelliten beobachtet und aus einem tausende Kilometer entfernten Büro koordiniert wird, ein mehr als beeindruckendes Szenario. Lange vor „Desert Storm“ geht Clancy hier auf militärische Details ein, welche sonst allenfalls den Geheimdiensten der Länder, aber nicht unbedingt der breiten Bevölkerung bekannt waren. Und damit sprechen wir genau die Punkte an, mit denen der US-Autor seit jeher seine Leser zu begeistern wusste: Militärische Insider-Informationen. Hochaktuelle Themen von politischer Brisanz. Erschreckend visionäre Vorausblicke.

Jack Ryan, Familienvater und Agent wider Willen, dient dabei als Verbindungsglied zwischen dem Leser und der Handlung, macht die doch nicht selten äußerst technischen und bürokratischen Vorgänge für die Allgemeinheit verständlich und soll gleichzeitig als Sympathieträger den guten, aufrechten Amerikaner verkörpern. Das funktioniert mitunter so gut, dass ich mich selbst heute noch von Clancy einlullen lasse, ihm seine handwerklichen Mängel und den wenig kunstvollen Stil nachsehe, weil der Plot, auf mehrere Schauplätze verteilt und zwischen diesen stets wechselnd, den Spannungsbogen stetig nach oben schraubt. Und auch das Element „Coolness“ muss berücksichtigt werden, denn Clancy spricht mit seinen Motiven (z.B. Tapferkeit und Kameradschaft im Angesicht der Gefahr) geschickt die ureigensten Triebe an. Wie ein Bernard Cornwell im Bereich des historischen Romans, so ist auch sein amerikanischer Kollege unnachahmlich, wenn es darum geht, das Blut zum Kochen, die Gefühle des Lesers in Wallung zu bringen. Eine Schwäche, derer man sich letztendlich sicher schämt, aber eben dann doch auch ein wenig für das Gespür des Schriftstellers spricht, der es trefflich versteht, uns zu manipulieren.

Die Stunde der Patrioten“ ringt dem Nordirland-Konflikt keine neue Facetten ab, vermeidet jedoch auch jegliche Schwarz-Weiß-Malerei. Das sei insofern hervorgehoben, da Tom Clancy besonders in späteren Jahren gerade dadurch Schiffbruch erleidet und jenseits des Atlantiks bzw. Pazifiks nur noch auf wenig Gegenliebe stößt bzw. fast gänzlich unlesbar wird. 1987 allerdings ist Clancy auf dem Höhepunkt seines Schaffens, weshalb unterm Strich eine Empfehlung ausgesprochen werden muss.

Ein eher waffen- als sprachgewaltiger Polit-Thriller über die Arbeit der US-Geheimdienste Mitte der 80er. Kurzweilig, spannend, intensiv und aufgrund vieler Ereignisse (u.a. wird am Ende des Buches Jack Ryan junior geboren – Hauptfigur späterer Bände) ein Muss für all diejenigen, welche Jack Ryans Karriere chronologisch verfolgen möchten.

Wertung: 85 von 100 Trefferneinschuss2

  • Autor: Tom Clancy
  • Titel: Die Stunde der Patrioten
  • Originaltitel: Patriot Games
  • Übersetzer: Jürgen Abel
  • Verlag: Heyne
  • Erschienen: 07.2012
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 496
  • ISBN: 978-3453436732

Mord ist (s)ein Hobby

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© Wunderlich

Sie ist eine der „British Crime Ladies“ und gehört zu den bekanntesten Schriftstellerinnen des „Golden Age“, dem Goldenen Zeitalter des klassischen Kriminalromans: Dorothy Leigh Sayers. Obwohl mittlerweile etwas angestaubt, erfreuen sich ihre Bücher mit dem Amateurdetektiv Lord Peter Wimsey bis heute großer Beliebtheit. Neben Agatha Christie ist es sie, die nicht nur der Gattung des Whodunits, sondern auch dem „Detection Club“, ihren Stempel aufgedrückt hat. Letzterer wurde im Jahre 1928 aus der Taufe gehoben, mit Sayers als eins der Gründungsmitglieder, welche wie alle anderen, einen Eid auf die „Zehn Regeln für einen fairen Kriminalroman“ schwor.

Fairness bezog sich in diesem Fall auf den Leser, dem alle Hinweise zur Hand gegeben werden sollten, um das jeweilige im Buch beschriebene Verbrechen selbst lösen zu können. Im Gegensatz zu manch anderem Mitglied, so z.B. Gilbert Keith Chesterton oder Agatha Christie, sollte Sayers, die dem Club von 1949 bis 1957 als Präsidentin leitete, diese Regeln in ihrer schriftstellerischen Karriere nie brechen. Auch ihr Erstling, „Ein Toter zu wenig“, stellt hier keine Ausnahme dar. Der Inhalt dieses Buches sei zum besseren Verständnis an dieser Stelle kurz angerissen:

Mr. Thipps staunt nicht schlecht, als er am Morgen sein Badezimmer betritt und in der Badewanne den Körper eines toten Mannes vorfindet. Von einem kleinen Zwicker auf der Nase abgesehen, genauso wie Gott ihn geschaffen hat – also komplett nackt. Wie ist er dorthin gekommen? Die Badezimmertür war verschlossen, das Dachfenster nur über die darunter liegenden Dächer der Nachbarhäuser erreichbar. Händeringend und in Panik, alarmiert er die Polizei, bei der er sich mit nervösem Gestammel und widersprüchlichen Aussagen gleich selbst zum Hauptverdächtigen macht. Inspector Sugg, dem ermittelnden Beamten von Scotland-Yard, ist das nur allzu recht, ähnelt die nackte Leiche doch in vielerlei Dingen dem bekannten und verschwundenen jüdischen Börsenmakler Reuben Levy. Warum also nicht zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen und eine weitere Stufe auf der Karriereleiter erklimmen? Er hat allerdings nicht mit der Herzoginwitwe von Denver gerechnet, welche, als alte Freundin von Mr. Thipps, ihren zweiten Sohn, Lord Peter Wimsey, von dem Fall in Kenntnis setzt. Dieser freut sich über die erfrischende Abwechslung einer Morduntersuchung und macht sich gemeinsam mit Detective Inspector Parker daran, Thipps zu entlasten und den wahren Täter zu stellen. Doch im Zuge der Ermittlungen wird Lord Peters Enthusiasmus arg ins Wanken gebracht, als er erkennt, welche Auswirkungen es haben kann, der Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen…

Eine Leiche zu viel und ein Lebendiger zu wenig. Das fasst im Groben und Ganzen das zu lösende Problem zusammen, vor dem Lord Peter Wimsey, und damit auch der Leser, vor Beginn der Ermittlungen stehen. Dorothy L. Sayers‘ im Jahre 1923 erschienenes Debütwerk „Ein Toter zu wenig“ (auf dt. auch unter dem Titel „Der Tote in der Badewanne“ veröffentlicht) trägt nicht nur alle typischen Elemente des klassischen Whodunits in sich, sondern wartet auch mit einer Art von Detektiv auf, welcher in seiner Charakterisierung dem großen Sherlock Holmes in vielen Dingen nahe kommt. Auch Lord Peter Wimsey ist von sich und seinen Fähigkeiten mehr als überzeugt. Seine Betätigung als freischaffender Detektiv wird ihm durch Titel, Einfluss und Vermögen erheblich erleichtert, was wiederum erklärt, weshalb er den staatlichen Justizbeamten immer wieder dazwischenfunken kann. Zudem genießt er hohe Anerkennung in den Reihen des Scotland Yard, allen voran bei Charles Parker, mit dem er die Abneigung gegenüber Inspector Sugg teilt. Doch besonders beim ersten Auftritt werden gewisse Unterschiede in der Arbeitsauffassung zwischen Parker und Lord Peter deutlich. Für letzteren nämlich bedeutet die Mördersuche in erster Linie eine erfrischende Abwechslung vom tristen Alltag. Lässig, ja schon beinahe arrogant, begibt man sich an die Arbeit. Stets darauf bedacht die Form zu wahren und, typisch englisch, Fairness walten zu lassen.

(…)
„Bunter!“
„Bitte sehr, Mylord.“
„Ihre Durchlaucht erzählte mir, dass ein ehrbarer Architekt in Battersea einen Toten in seiner Badewanne entdeckt hat.“
„Wirklich, Mylord? Das ist sehr erfreulich.“
(…)

Lord Peter Wimsey, Freund von klassischer Musik, Sammler seltener Bücher und redegewandter, charmanter Lebemann, ist Sayers unterschwellige Abrechnung mit dem britischen Adel, den sie mit ihrer Hauptfigur in gewisser Weise persifliert. Sicherlich in vielerlei Dingen überzeichnet, spiegelt dessen Charakterisierung aber auch die Lebenseinstellung der Goldenen Zwanziger Jahre wieder, in denen man sich trotz drohender Wirtschaftskrise, dem Spaß und Müßiggang hingab, was hier nicht zuletzt selbst der verklemmte Mr. Thipps erfahren muss. Unter der oberflächlichen Korrektheit aller lauert der Wunsch, aus den Zwängen der Gesellschaft auszubrechen und während Lord Peter Wimsey, dessen „Hobby“ von seinem eigenen Bruder abfällig betrachtet wird, die Detektivarbeit als Ventil gewählt hat, suchen andere stattdessen ihre Zuflucht im Verbrechen. Das diese Gefahr die Existenz von ganzen Familien bedrohen kann, erkennt der adlige Detektiv nur nach und nach. Seine Wandlung vom Dandy zum mitleidenden Menschen, ist das Bemerkenswerte dieses Buches und verleiht der Geschichte eine vorher nicht zu erwartende psychologische Tiefe.

(…)
„Für mich ist es ein Steckenpferd, verstehen Sie. Ich begann es zu reiten, als mir das Leben schal vorkam, weil es eine so spannende Beschäftigung ist, und diese Spannung genieße ich bis zu einem gewissen Grade. Wenn alles auf dem Papier stünde, würde ich sie ganz auskosten. Ich liebe den Anfang einer Aufgabe – wenn man noch keine Ahnung hat und alles nur aufregend und unterhaltend ist. Aber wenn es soweit ist, dass man einen lebendigen Menschen überführt hat und der arme Kerl nun gehängt oder eingesperrt werden soll, dann scheint es mir keine Entschuldigung für meine Einmischung zu geben, da ich davon meinen Lebensunterhalt nicht zu bestreiten brauche. Und ich habe das Gefühl, dass ich es nie mehr unterhaltend finden würde. … Aber das ist es dann doch wieder.“
(…)

Geschickt beginnt Sayers oberflächlich, um nach und nach die Schichten der Figuren abzublättern und ihr Innerstes freizulegen. In Lord Peters Fall sind das dessen traumatische Erlebnisse aus dem ersten Weltkrieg, die immer noch ihren Nachhall im Alltag finden und denen er mit jeder möglichen Beschäftigung zu entfliehen versucht. Während Agatha Christie in ihren Geschichten das zu lösende Verbrechen in den Mittelpunkt gestellt hat, sind es hier die gesellschaftlichen Hintergründe und Motive, die im Vordergrund stehen. Was macht den Mensch zum Mörder? Welche sozialen Umstände führen dazu, dass jemand ein Verbrechen begeht? Sayers hat sich damit äußerst intensiv befasst, auch um dem Genre des Detektivromans eine literarische Bedeutung zu geben und von der reinen Unterhaltungslektüre weg zuführen. Dieser erfolgreiche Versuch des Realismus ist ihr großes Verdienst und vielleicht gleichzeitig der Grund, warum viele Leser ihre Werke als zu langatmig und trocken erachten. Tatsache aber bleibt: Die detaillierten und liebevollen Beschreibungen und Charakterisierungen sind es, welche Sayers Bücher von anderen abheben und besonders machen. Wo vorher zwischen Krimi und Gesellschaftsroman große Schluchten klafften, hat sie sehr beeindruckend eine Brücke geschlagen.

Am Ende ist „Ein Toter zu wenig“ ein unterhaltsamer, vielschichtiger erster Auftritt einer Figur, welche sich im späteren Verlauf der Reihe ihren Platz in der großen Weltliteratur verdient hat. Allen Freunden des klassischen Kriminalromans sei dieser wortgewandte Whodunit, der am Ende erstaunend logisch alle Fäden zu einem verblüffenden Ganzen zusammenführt, ans Herz gelegt.

Wertung: 85 von 100 Treffern

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  • Autor: Dorothy Leigh Sayers
  • Titel: Ein Toter zu wenig
  • Originaltitel: Whose Body?
  • Übersetzer: Otto Bayer
  • Verlag: Wunderlich
  • Erschienen: 03/2020
  • Einband: Hardcover
  • Seiten: 272 Seiten
  • ISBN: 978-3805200585

Kampf gegen die Ungewissheit

© Piper

Direkt im Kielwasser von Larssons „Millennium“-Trilogie auf Deutsch erschienen, gehört „Öland“ hierzulande zu den erfolgreichsten skandinavischen Spannungsromanen, dessen Stellenwert Autor Johan Theorin mit den nachfolgenden Titeln „Nebelsturm“ und „Blutstein“ in der früheren Vergangenheit noch zementierte. Gemeinsam mit dem vierten Band „Inselgrab“ bilden sie das so genannte „Jahreszeiten“-Quartett, welches, stets auf der schwedischen Insel Öland spielend, den üblichen Reißerelementen heutiger Krimis zuwiderläuft und sich stattdessen gänzlich auf die atmosphärische Beschreibung des Schauplatzes sowie das Zusammenspiel und die Innerlichkeit der Protagonisten konzentriert.

Ein Ansatz, den Theorin äußerst rigide verfolgt, der aber auch gleichzeitig dem Aufbau eines wirklichen Spannungsbogens nicht immer zuträglich ist. Daher gleich vorneweg: Wer temporeiche Action, Verfolgungsjagden, zerstückelte Leichen und Forensik-Blabla als unabdingbare Zutaten für eine gelungene Lektüre ansieht, sollte von „Öland“ und seinen Nachfolgern besser die Finger lassen. Bereits der Erstling widersetzt sich jeglichem Versuch des Pageturnings, bietet dafür aber ein düster-stimmungsvolles Ambiente. Und eine mit Bedacht, Ruhe und Einfühlungsvermögen vorgetragene Handlung, deren Stille lauter hallt als so manch blutrünstiger Thriller der noch höher gejubelten Konkurrenz.

Schweden, Mitte der 90er Jahre. Die Vergangenheit hat ihre Spuren bei Julia Davidsson hinterlassen. Seit mehr als zwanzig Jahren befindet sie sich im Ungewissen über den Verbleib ihres Sohnes Jens, der als damals Fünfjähriger unbeobachtet das Haus seines Großvaters auf Öland verließ und danach nie wieder gesehen wurde. Ein Verlust, den sie bis zum heutigen Tage nicht überwinden kann. Ebenso wenig wie sie die Erklärung der Polizei akzeptiert, welche das Verschwinden des Jungen als Unfall mit Todesfolge im Meer zu den Akten gelegt hat. Von ihrer Familie lebt Julia fast gänzlich isoliert. Besonders das Verhältnis zu ihrem Vater Gerlof, dem sie insgeheim die Schuld für den unglückseligen Verlauf der Ereignisse (er war vor dem Haus eingeschlafen) gibt, ist belastet. Das jahrelange vergebliche Hoffen erträgt sie inzwischen allein mithilfe von Alkohol und Anti-Depressiva. Umso schockierter ist sie, als sie eines Tages einen Anruf von Gerlof erhält. Ihm wurde anonym per Post eine Sandale zugeschickt. Jens‘ Sandale.

Die Nachricht reißt Julia aus ihrer Lethargie. Sie fährt nach Öland zu ihrem Vater, der dort gemeinsam mit seinem Freund Ernst Adolfsson schon seit längerer Zeit Nachforschungen angestellt und eine Theorie bezüglich Jens‘ Verschwinden hat. Die beiden Senioren glauben, dass Nils Kant den Jungen umgebracht haben könnte. Er galt schon immer als schwarzes Schaf der Insel, war aber zum Zeitpunkt des Unglücks schon viele Jahre tot. Oder hatte er es damals tatsächlich geschafft, seinen Tod vorzutäuschen? Ernst verspricht diesbezüglich einige neue Informationen. Doch als Julia und Gerlof ihn an seinem Arbeitsplatz, dem Steinbruch, treffen wollen, finden sie nur noch seine Leiche vor. Er wurde von einer seiner eigenen Skulpturen erschlagen. Aber war es überhaupt ein Unfall?

Dass die nordischen Kriminalromane in den seltensten Fällen ein Ausbund der heiteren Fröhlichkeit sind, ist mitunter bekannt – dennoch habe ich schon lange nicht mehr eine solch schwermütige, tieftraurige Geschichte gelesen, die, in einer scheinbar aussichtslosen Situation beginnend, im weiteren Verlauf immer wieder die Hoffnungen des Lesers torpediert, am Ende der Lektüre zumindest so etwas ähnliches wie ein Happyend vorzufinden. Tristesse ist die Grundstimmung „Ölands“, dessen titelgebender Schauplatz aber auch eben gerade dieses melancholische Element innewohnt. Geprägt vom rauen Klima und der schroffen, unwirtlichen Fauna ist die Insel seit jeher ein Ort, der es seinen Bewohnern schwer macht, welche ihr nur mit härtester Arbeit einen Ertrag abringen können. Bestes Beispiel dafür ist die Große Alvar, eine mit Gras und Büschen bewucherte Kalksteppe, die weite Teile des inneren Ölands bedeckt und in den kälteren Jahreszeiten für Ortsunkundige zur tödlichen Falle werden kann. Theorin, der selbst für einige Monate im Jahr die schwedische Insel bewohnt, erweckt diese Landschaft nicht nur äußerst eindringlich zum Leben, sondern nutzt auch ihre Eigenheiten, um die Geheimnisse im Fall von Jens‘ Verschwinden immer wieder zu verschleiern.

Dafür nimmt sich der Autor viel, manchmal zu viel Zeit. Fakt ist jedenfalls: Der Roman gewinnt seine Sogkraft in erster Linie durch diese bildreichen Beschreibungen, zumal Theorin sich den häufigen Fehler verkneift, einen halben Reiseführer aus seinem Werk zu machen. Dies wäre hier umso schwerwiegender gewesen, da die Protagonisten, allen voran die ewig suchende Mutter Julia, mich persönlich nicht so recht zu überzeugen wussten. Das mag vor allem daran liegen, dass deren Schicksalsschlag, so grauenvoll und einschneidend er ist, mir ein wenig zu häufig thematisiert wird und nach der Hälfte des Buches ein wenig den mitleidigen Charakter verliert. Stattdessen beginnt das dauernde Gejammer, besonders im Angesicht der Bemühungen ihres Vaters, an den Nerven des Lesers zu nagen. Gerlof andererseits ist der heimliche Gewinner des Romans. Auch weil Theorin uns mit ihm einen gänzlich neuen „Ermittler“ vorsetzt, der durch seine nautische Vergangenheit zu faszinieren weiß und zudem die Verbindung zwischen den parallel laufenden Handlungssträngen darstellt. Während der eine das Sandalen-Geheimnis näher verfolgt, führt uns der andere zurück bis in die späten 30er Jahre, wo wir, beginnend mit seinen ersten Untaten, einen jungen Nils Kant begleiten.

Die Polizei und andere Justizkräfte sind über weite Strecken des Romans außen vor, was der Handlung wiederum einen noch persönlicheren Charakter verleiht. So liest sich „Öland“ dann auch weniger wie ein klassischer Krimi, als vielmehr wie ein tragischer Familienroman, in dem es vor allem um die Verarbeitung eines möglichen Verbrechens geht – und nicht unbedingt um deren lückenlose Aufklärung. Das wird, wie die träge Erzählweise des Autors, sicher nicht jedermanns Sache sein. Ebenso wenig wie die Auflösung, die für mich persönlich jetzt nicht all zu viele Überraschungen bereit gehalten hat. Ein im Ganzen positives Fazit verhindert dies jedoch nicht.

Öland“ ist ein feinsinniger, gefühlvoller, aber auch sehr trauriger Spannungsroman, dessen zentrales Thema, der Kampf gegen die Ungewissheit, auch über das Ende der Lektüre hinaus beschäftigt. Ein wirklich gelungener Erstling.

Wertung: 85 von 100 Treffern

einschuss2
  • Autor: Johan Theorin
  • Titel: Öland
  • Originaltitel: Öland / Skumtimmen
  • Übersetzer: Kerstin Schöps
  • Verlag: Piper
  • Erschienen: 03/2009
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 448 Seiten
  • ISBN: 978-3492253680