Kraftwerk des Bösen

© Elsinor

John Buchans „Der Übermensch“, war da nicht mal was? Wer die deutsche Verlagsszene insbesondere im Bereich Kriminalroman in den letzten Jahren genauer verfolgt hat, dem wird nicht entgangen sein, dass dieser Titel bereits 2014 vom Elsinor Verlag veröffentlicht worden ist. Genau ist dabei allerdings das Stichwort, denn wie leider so oft bei kleineren Verlagshäusern, so blieb auch diesem Buch eine größere mediale Reichweite – und damit ein entsprechendes Lesepublikum – verwehrt. Und wenn es sich dann auch noch um einen Klassiker aus der Zeit des Ersten Weltkriegs handelt, scheinen die Chancen nicht selten umso geringer. Wieso also jetzt eine weitere Neuauflage?

Nun, einerseits feierte der klassische Spannungsroman zuletzt ein kleines Revival, wobei dies wohl weniger der großen Nachfrage geschuldet ist, als vielmehr dem Kostenfaktor. Anstatt Übersetzer, Lektoren und neue Lizenzen für großes Geld einzukaufen, bedient man sich bestehender Rechte und auch Übersetzungen, welche man allenfalls nochmal hier und da überarbeitet. Verlage wie zum Beispiel Kampa oder auch der Unionsverlag haben die finanziellen Vorteile in diesem Geschäftsmodell längst für sich entdeckt und entsprechend ihr Programm ausgerichtet. Andererseits gibt es weiterhin Menschen dort draußen, die nicht müde werden, sich für längst vergessene (oder auch bis dato unentdeckte) Krimi-Perlen einzusetzen. Und einer davon ist seit vielen Jahrzehnten Martin Compart – ehemaliger Herausgeber für u.a. so wegweisende Krimi-Reihen wie die „gelben Krimis“ bei Ullstein, die „Schwarze Serie“ von Bastei Lübbe oder die kurzlebige Kollektion DuMont Noir. Er ist es auch, der in der überarbeiteten Ausgabe von „Der Übermensch“ (engl. „The Power House“) wieder ein Nachwort besteuert, das sich am Informationsgehalt der oben genannten Reihen orientiert, fast allein den Kauf schon lohnt – und damit aber eigentlich auch in Inhalt und Umfang eine größere Besprechung des vorliegenden Romans fast gänzlich überflüssig macht.

Was soll ich da jetzt noch ergänzen oder aus dem Text herausholen? Das war so ziemlich mein erster, leicht verzweifelter Gedanke nach der Beendigung dieses Klassikers, welchen Compart – im Kontext der Bedeutung und der Entwicklung des Spionage-Romans (bis hin zum Ursprung des Begriffs Spion an sich) sowie auch mit Fokus auf den Lebenslauf John Buchans – im Anschluss an die eigentliche Geschichte über ganze dreißig Seiten (!!) analysiert. Nun, konzentriere Dich einfach auf den gelesenen Text, würde wohl mein alter Dozent zu mir sagen. Doch genau hier steht man relativ schnell vor dem nächsten Problem, denn „Der Übermensch“ ist eigentlich vom Umfang her weniger ein Roman, als vielmehr eine recht übersichtliche Novelle, welche zudem ohne wirkliche Aktion seitens des Hauptprotagonisten, Edward Leithen, auskommt.

Leithen ist stattdessen der Prototyp des „Clubland Heros“, der, selbst konfrontiert mit lebensbedrohlichen Problemen, diesen weitestgehend von seinem Schreibtisch aus begegnet, wodurch sich wiederum Buchans Geschichte deutlich von vielen zeitgenössischen Kollegen wie Eric Ambler oder W. Somerset Maugham, unterscheidet. Compart spricht hier von einem „romantisierenden Blick“ gegenüber dem eher realistischen Ansatz der genannten Autoren – und trifft damit den Nagel auf den Kopf. Genau diese stilistische Eigenheit des schottischen Schriftstellers lässt aber eben wenig Raum für eine Auseinandersetzung mit der eigentlichen Handlung – zumindest ohne im gleichen Zug die Essenz, Faszination und vor allem Spannung schon vorweg zu nehmen. Ich will es dennoch versuchen und dabei vermutlich scheitern:

Edward Leithen ist der exemplarische, ja fast schon klischeehaft konservative Vertreter der britischen Oberschicht nach dem Ende der viktorianischen Ära. Wohnhaft in der Metropole London, leistet er seinen Dienst am Empire als Abgeordneter der Tory-Partei im Parlament und ist nebenbei noch am örtlichen Gericht als Anwalt tätig. Sein Leben findet neben diesen beiden Schauplätzen größtenteils in diversen exklusiven Clubs statt, in welchen die erbitterten, aber stets sportlichen Konflikte aus den politischen Sälen Westminsters mit großer Begeisterung fortgesetzt werden. So ist es wenig überraschend, dass zwei seiner besten Freunde dem gegnerischen Lager der Labour-Partei entstammen. Während man sich vor den Augen der allgegenwärtigen Presse in den Auseinandersetzungen nichts schenkt, schätzt man sich privat umso mehr, wenngleich ein jeder darauf bedacht ist, den jeweils anderen mit seinen Leistungen oder Erlebnissen zu beeindrucken.

Während einer geselligen Zusammenkunft ist es dann an Edward Leithen von seinem bis dato größten Abenteuer zu erzählen. Dieses begann mit der urplötzlichen und mysteriösen Flucht eines Bekannten aus London. Sein Name: Charles Pitt-Heron. Schon immer mit dem Ruf eines Draufgänger versehen, sind dessen Freunde dennoch überrascht über die Art und Weise der Abreise. Von seinem Freund Tommy Deloraine erfährt Edward, dass Charles zuletzt in zwielichtigen Kreisen verkehrt hat und nun verzweifelt versucht, diesen zu entkommen. Tommy seinerseits möchte ihm nachreisen und beistehen, weswegen er seinen Freund damit beauftragt, die Ursprünge der unbekannten Gefahr näher zu erforschen. Edward, der einst Charles‘ Ehefrau Ethel sehr zugetan war, kommt nach und nach einer weltumspannenden Verschwörung namens „Das Kraftwerk“ (engl. „The Power House“) auf die Spur und sieht sich schließlich sogar dessen Kopf gegenüber. Als dieser ihm die mitunter nachvollziehbaren Gründe für sein kriminelles Wirken erläutert, steht er vor einer schwierigen Wahl: Soll er den Dingen seinen Lauf lassen oder sein eigenes Leben riskieren, um ein anderes zu retten? Edwards Entscheidung setzt schließlich eine Kette von Ereignissen in Gang, welche von London bis in das ferne Kaschmir ihren Widerhall finden …

John Buchan – ein Name, der heute hierzulande allenfalls Kennern des Genres in Begriff ist, wobei sich diese Kenntnis zumeist auf sein wohl bekanntes Werk, „Die neununddreißig Stufen“, potenziert, dessen Verfilmung durch den damals noch recht jungen Alfred Hitchcock zu den größten britischen Filmen aller Zeiten zählt. Hier, in Großbritannien, ist Buchans Buch auch seit seinem Erscheinen im Jahr 1915 durchgehend lieferbar. Im Verlauf der Jahre hat es wie sein Schöpfer viele Bewunderer gefunden, zu denen u.a. Persönlichkeiten wie der ehemalige amerikanische Theodore Roosevelt zählten. Auch Graham Greene orientierte sich in seiner Arbeit stark am Idol John Buchan, dessen abwechslungsreiches und fast übervolles Leben von Martin Compart in dieser Ausgabe hervorragend herausgearbeitet und gewürdigt wird. Obwohl er nur 64 Jahre alt wurde, tat er sich nicht nur als Schriftsteller und Journalist hervor, sondern war während des Ersten Weltkriegs auch Mitarbeiter im militärischen Geheimdienst und ab 1935 sogar Generalgouverneur von Kanada. Zu seinem umfangreichen Werk gehören neben zweiundvierzig Sachbüchern, vier Gedichtbänden und zehn Biographien auch achtundzwanzig Romane, von denen der erste, „The Half-Hearted“, bereits im Jahr 1900 das Licht der Öffentlichkeit erblickte.

In dieser bis heute unübersetzten klassischen Abenteuergeschichte verhindert der Held namens Lewis eine Invasion durch die Russen. Zehn Jahre später folgt der Leser Buchan in „Trommeln über Transvaal“ (engl. „Prester John“) nach Südafrika, wo sich ein junger Engländer einem verheerenden Aufstand der Schwarzen entgegenstellt. Letzterer ist zwar von der damaligen imperialistischen Ideologie und Doktrin beeinflusst, zeichnet gleichzeitig aber auch ein für diese Zeit überraschend verständnisvolles Bild der südafrikanischen Sichtweise. Aus heutiger Sicht könnte man „Trommeln über Transvaal“ wohlwollend als frühen Polit-Thriller bezeichnen.

Dennoch sollte es nochmal fünf weitere Jahre dauern, bis Buchans literarischer Fingerabdruck auch von einem größeren Publikum wahrgenommen wird. Beeinflusst von den desillusionierenden Eindrücken des Kriegsjahres 1915, begann er mit der Arbeit am bereits erwähnten „Schlüsselwerk“ seiner Schriftstellerkarriere – „Die neununddreißig Stufen“, das noch im gleichen Jahr in Druck ging und zu einem großen Erfolg für Buchan wurde. Ein Erfolg, von dem auch „Der Übermensch“ profitierte, der bereits 1913 als Fortsetzungsroman erschienen war, und drei Jahre später, die Gunst der Stunde nutzend, als gebundene Ausgabe erneut auf den Markt kam. Nach Ansicht von Martin Compart, handelt es sich hierbei um den ersten modernen Spionage-Roman. Und selbst wenn viele Buchan nachfolgende Autoren des Genres bis heute „Die neununddreißig Stufen“ als Blaupause hervorheben – ich bin nach genauer Überlegung durchaus eneigt Compart zuzustimmen.

Um seine Sichtweise zu teilen, bedarf es allerdings auch einer gewissen Erweiterung eben dieser, denn „Der Übermensch“ hat aus heutiger Sicht nur noch wenig mit dem gemeinsam, was wir, geprägt von Protagonisten wie George Smiley oder James Bond, mit diesem Sub-Genre verbinden. Anstatt uns wie später genreüblich an der Seite der fürs Gute streitenden Helden körperlicher Gefahr auszusetzen, entwickelt sich der Spannungsbogen von „Der Übermensch“ größtenteils zwischen den Papierstapeln des Schreibtischs, hinter denen Edward Leithen sitzt und Telegramme verschickt, um die eigentlich der Bedrohung ausgesetzten Akteure zu warnen und in Sicherheit zu bringen. Fast scheint es anfangs so, als hätte Buchan es bewusst vermieden, seine höchstwahrscheinlich eher elitäre Leserschaft direkt mit so primitiven Dingen wie Mord und Totschlag auseinanderzusetzen. Immer wenn sich daher die Häscher den durch die Berge Bucharars und Kaschmirs Charles Pitt-Heron und Tommy Deloraine nähern, sitzen wir Leser im warmen, behaglichen London – relativ unberührt von dem Ausmaß der kriminellen Verschwörung, die Edward bis hierhin relativ dank diverser Gespräche und Schlussfolgerungen unbehelligt aufdecken kann. Zumindest so lang, bis der Hauptprotagonist durch das Element des Zufalls dem Kopf dieses Syndikats gegenübersteht.

Bis zu diesem Zeitpunkt hat uns „Der Übermensch“ zwar relativ temporeich und gefällig, aber auch wenig überraschend oder gar begeisternd von Seite zu Seite zu tragen – nun ändert diese Begegnung in einem dunklen Salon eines alten Landhauses von jetzt auf gleich die ganze Tonalität. Hier, in den Schatten eines brennenden Kaminfeuers, offenbart sich der scheinbar wohlwollende Gastgeber als Drahtzieher des Bösen, als kultivierte und doch gefährliche Spinne im Zentrum eines gewaltigen Netzes. Martin Compart zieht in seinem Nachwort Vergleiche mit Hugo Drax und Ernst Stavro Blofeld, späteren Superverbrechern und Gegenspielern James Bonds, dessen Schöpfer Fleming sich ebenfalls als Autor in der Tradition John Buchans verstand. Und tatsächlich liegen die Parallelen deutlich auf der Hand, erinnert die Enthüllung des Bösewichts frappant an die Konfrontationen von 007 mit den übergroßen Schurken, welche durch die Verfilmungen in die moderne Kultur übergegangen sind. Für mich weckt dieser wortwörtliche Gänsehautmoment – der Dialog zwischen Leithen und dem Kopf des „Kraftwerks“ gehört meines Erachtens zum Besten, was dieses Genre hervorgebracht hat – allerdings Erinnerungen an jemand ganz anderen.

Wenn sich Leithen und sein Gegenüber ein philosophisches Wortduell über ihre gegensätzlichen Weltanschauungen liefern und unser Held dabei, ohne wirklich nachzugeben, in diesem Kräftemessen immer mehr an Boden verliert, verwandelt sich das düstere Zimmer vor meinen Augen in den tosenden Abgrund eines Wasserfalls – in den Schauplatz der unvermeidlichen und entscheidenden Auseinandersetzung zwischen dem Meisterdetektiv Sherlock Holmes und dem Napoleon des Verbrechens, Professor Moriarty. Und Letzterer ist es auch, der hier für mich in Gestalt des großen Gegenspielers eine einprägsame, weil zutiefst unheimliche Wiederauferstehung feiert. Mit dem gleichen diabolischen Genie versehen und ebenso entschlossen, arbeitetet auch das „Kraftwerk“ am Fall der bestehenden, so genannten Ordnung, deren Ineffizienz und Anfälligkeit sich die Organisation aber gleichzeitig zu Nutze macht, um überall ihre eigenen Leute für den vernichtenden Schlag zu positionieren. Wie alle Oberschurken nach ihm (und vor ihm eben ein Moriarty), so gewährt er Leithen – und damit auch uns – einen relativ freigiebigen Blick in seine Absichten. Doch wo heutzutage ein actionreiches Überraschungselement dieser Selbstherrlichkeit ein Ende setzen würde, bleibt in „Der Übermensch“ nur ein mulmiges Gefühl zurück. Zu sehr schneiden sich die Worte von Leithens Gegner durch unser vermeintliches Selbstverständnis. Zu ungewollt und dennoch deutlich, der aktuelle Bezug.

Haben Sie jemals darüber nachgedacht, wie brüchig diese Zivilisation eigentlich ist, auf die wir alle so stolz sind?

Bei Drohungen bleibt es im weiteren Verlauf dann auch nicht mehr. Leithen, der sich als aufrechter Patriot seiner Zeit nicht einschüchtern lassen will, wird damit endgültig zum Hauptziel des vollkommen skrupellosen und an menschlichen Ressourcen nicht armen „Kraftwerks“ und muss fortan alle eigenen Hebel in Bewegung setzen, um am Leben zu bleiben – und um schließlich zum Gegenschlag ausholen zu können. Unterstützt wird er dabei von dem heimlichen Star des Buchs, der in Form des schlagkräftigen „Volkstribuns“ Chapman für ein paar handfeste Momente und damit eine kurzfristige Auflockerung der zupackenden Suspense sorgt (Übrigens fühlte ich mich auch hier an eine weitere Figur aus der Feder Sir Arthur Conan Doyles erinnert: Den temperamentvollen Professor Challenger aus „Die verlorene Welt“). Auch diese zupackende Unterstützung kann letztlich aber nicht verhindern, dass Leithen am Ende in den Straßen Londons noch um sein Leben laufen muss – und damit einem weiteren Stilelement den Boden bereitet, das heute aus keinem Spionage-Thriller mehr wegzudenken ist: Die rasante und atemlose Verfolgungsjagd.

Der Übermensch“, Auftakt einer vierbändigen Reihe um Edward Leithen, ist aber auch abseits seiner Bedeutung für das heutige Sub-Genre des Kriminalromans ein kaptivierendes, unheimlich dichtes Stück Spannungsliteratur, dessen Lektüre immer noch lohnt. Es bleibt zu hoffen, dass Martin Compart und der Elsinor Verlag auch in Zukunft weitere Schätze dieser Qualität aus den Tiefen der Thriller-Geschichte heben können.

Wertung: 87 von 100 Treffern

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  • Autor: John Buchan
  • Titel: Der Übermensch
  • Originaltitel: The Power House
  • Übersetzer: Jakob Vandenberg
  • Verlag: Elsinor
  • Erschienen: 05.2022
  • Einband: Broschiertes Taschenbuch
  • Seiten: 160 Seiten
  • ISBN: 978-3942788670

Unterhalten wir uns über Angst …

© Lübbe

Maine, USA, in den späten 70er Jahren. Im Hause King herrscht Aufbruchstimmung. Nachdem er sich jahrelang mit diversen Nebenjobs nur notdürftig über Wasser halten konnte, bedeutet die Veröffentlichung von „Carrie“ für ihn den persönlichen Wendepunkt. Stephen King, der sich schon seit jeher immer in erster Linie als Schriftsteller verstanden hat, scheint nun endlich am Ziel seiner lang gehegten Träume angekommen.

Nicht nur, dass er finanziell von seinem Erstlingswerk profitiert (auch „Shining“ entwickelt sich, diesmal sogar gleich im Hardcover, als Riesenerfolg), es ermöglicht ihm im selben Zug, lang gehegte Ideen umsetzen, Manuskripte und Notizen weiter ausarbeiten zu können. Eine davon ist „The Stand – Das letzte Gefecht“, welches er später als sein persönliches Vietnam bezeichnen sollte, denn die Geschichte um einen todbringenden Virus schien auch den jungen Autor unheilbar zu infizieren, der sich stellenweise um Kopf und Kragen schrieb und schier kein Ende finden konnte. Eine Situation, welche sein Verlag Doubleday, der auf den Vertrag mit der Vorgabe eines Buchs pro Jahr pochte, zunehmend mit Sorgen betrachtete. King, der in naher Zukunft nicht mit der Fertigstellung seines Epos (bis heute ist es sein Roman mit den meisten Seiten) rechnete, schlug als „Entschädigung“ eine Sammlung seiner Kurzgeschichten vor. Einige davon waren bereits in der Vergangenheit in verschiedenen Magazinen (u.a. im „Penthouse“ und dem „Cavalier“) erschienen, andere hatte er gerade erst geschrieben. Ein Vorwort (das erste, von vielen die folgen sollten) sollte das Paket abrunden.

Der Vorschlag Kings stieß seitens des Verlags anfangs auf wenig Gegenliebe. Schon damals waren Kurzgeschichtensammlungen weit schwerer an den Mann zu bringen als Romane und so ganz schien mich man sich der Strahlkraft des Autors zudem noch nicht sicher. Am Ende willigte Doubleday doch ein, druckte eine kleine Auflage von ein bisschen mehr als 10.000 Exemplaren – und musste zügig nachsteuern, denn die Nachfrage war riesengroß. 1979 wurde die Sammlung in der Kategorie „Collection“ gar für den „World Fantasy Award“ nominiert. Das aus der Not geborene Experiment erwies sich letztlich als großer Erfolg – und King sollte dem Format der Kurzgeschichte auch in Zukunft (zum Glück für uns Leser) treu bleiben. Folgende Stories sind in „Nachtschicht“ enthalten:

  • Briefe aus Jerusalem

  • Spätschicht

  • Nächtliche Brandung

  • Ich bin das Tor

  • Der Wäschemangler

  • Das Schreckgespenst

  • Graue Materie

  • Schlachtfeld

  • Manchmal kommen sie wieder

  • Erdbeerfrühling

  • Der Mauervorsprung

  • Der Rasenmähermann

  • Quitters, Inc.

  • Ich weiß, was du brauchst

  • Kinder des Mais

  • Die letzte Sprosse

  • Der Mann, der Blumen liebte

  • Einen auf den Weg

  • Die Frau im Zimmer

In Angesicht des inzwischen so umfangreichen Werks von Stephen King wird sich jetzt vielleicht manch einer fragen, warum man sich unbedingt seine Kurzgeschichten aus den 70er Jahren zu Gemüte führen sollte. Eine Frage, die sich kurz und bündig beantworten lässt: Weil „Nachtschicht“ tatsächlich ein paar seiner besten Erzählungen beinhaltet, welche zudem noch vielfältigste Aspekte des Horros, aber auch anderer Genres bedienen. Den Anfang macht dabei „Briefe aus Jerusalem“, zu der ich an dieser Stelle nicht mehr viel schreiben möchte (meine Meinung lässt sich in der Rezension zur „Brennen muss Salem“-Ausgabe nachlesen). Dass es sich hierbei um eine Reminiszenz an die Werke Lovecrafts (und um eine Vorgeschichte von „Brennen muss Salem“) handelt, dürfte aber sowohl aufgrund des Schauplatzes und des zeitlichen Kontexts sowie der Erzählform (In Briefen wird von den Geschehnissen berichtet) klar erkennbar sein. Und auch das „De Vermis Mysteriis“, um das es in der Geschichte geht, wurde in der Vergangenheit bereits öfters von Lovecraft und anderen Autoren verwendet.

Einen starken, stilistischen Kontrast dazu stellt dann „Spätschicht“ dar, welche nicht nur zu den frühesten Werken Stephen Kings zählt, sondern sich fast als Archetyp des 70er Jahre Horrors präsentiert, wenn, ja wenn der Autor nicht auch unterschwellig die sozialen Missstände, insbesondere in Bezug auf die Arbeitsbedingungen, kritisieren würde. Die Aufräumarbeiten in einer alten Spinnerei müssen unter denkbar unwürdigsten Umständen stattfinden, was den autoritären Vorarbeiter aber nicht davon abhält, seine Untergebenen anzutreiben. „Spätschicht“ (1990 als „Nachtschicht“ mit u.a. Brad Dourif verfilmt) überzeugt vor allem durch seine unheimliche und klaustrophobische Atmosphäre, hinterlässt aber sonst keinen größeren Eindruck. Das gilt auch für „Nächtliche Brandung“, sozusagen ein Teaser zum kommenden „The Stand“, in der wir eine Gruppe von Jugendlichen zum Strand begleiten, wo einer ihrer Freunde als Menschenopfer verbrannt wird, um vermeintlich „Böse Geister“ zu besänftigen und deren Zorn von den Verbliebenen abzuwenden. Ein, wie wir wissen, nutzloses Unterfangen, denn gegen Captain Trips, das Supervirus A6, gibt es keine Heilung. So ist dann auch diese Geschichte wenig überraschend und bleibt entsprechend kurz im Gedächtnis.

Anders sieht das dann schon bei „Ich bin das Tor“ aus, in dem Stephen King Science-Fiction mit Horror verknüpft, wenn ein Astronaut, Rückkehrer einer Mission zur Venus, als Transportmittel für einen aggressiven Symbionten fungiert, der nach und nach die Kontrolle übernimmt. Eine gruselige, kompromisslose Geschichte, die etwaigen Hoffnungen bezüglich des Protagonisten ganz am Ende nochmal den Boden unter den Füßen wegzieht. Wer meint, damit schon den Höhepunkt in Punkto fehlendem Realismus gelesen zu haben, wird sich mit „Der Wäschemangler“ eines Besseren belehrt sehen, in der die titelgebende Maschine zum menschenfressenden Monster mutiert, dem sich nur zwei Menschen mutig mittels christlicher Teufelsaustreibung entgegenstellen. Wer in der Lage ist, sein Gehirn hier mal ein paar Minuten Ruhe zu gönnen, wird durchaus Spaß an dieser vollkommen absurden Geschichte haben, zu der Stephen King wohl seine eigene Vergangenheit (er arbeitete selbst eine Zeitlang als Bügler in einer Industriewäscherei in Bangor) maßgeblich inspiriert hat. Und für die King-Fans noch ein kleiner Hinweis bzw. eine weitere Verbindung: Auch „Carries“ Mutter und Barton Dawes („Sprengstoff“) haben in der Blue Ribbon Wäscherei ihre Finanzen aufgebessert.

Es folgen mit „Das Schreckgespenst“, „Graue Materie“ und „Schlachtfeld“ drei weitere äußerst kurzweilige und solide Geschichten, wobei erstere in gewisser Weise auch eine Blaupause für „Shining“ darstellen dürfte, dient doch auch hier der Vater als Parabolspiegel für das nicht greifbare Böse (in dessen Beschreibung fühlte ich mich an die Beschreibungen zu Beginn von „Cujo“ erinnert), wohingegen in „Graue Materie“ die Alkoholsucht zentrales Element der Erzählung ist und maßgeblichen Anteil an einer verhängnisvollen Verwandlung hat. Inwieweit Stephen King an dieser Stelle seine eigenen Dämonen beschrieben hat, kann nur erahnt werden. Es wird sicher eine Rolle gespielt haben. „Schlachtfeld“ kommt einmal mehr aus der Abteilung abstrus. Ein Profikiller sieht sich mit lebendig gewordenen und äußerst schießwütigen Spielzeugsoldaten konfrontiert. Erneut ein Beweis dafür, dass selbst eine völlig hanebüchene Ausgangssituation von einem King immer noch in ein spannendes und äußerst unterhaltsames Erlebnis umgeschmiedet werden kann.

Nach den Spielzeugsoldaten folgen nun die „Lastwagen“, welche gleich mehrere Menschen in einer Raststätte umzingelt haben und mit röhrenden Motoren darauf warten, die Fliehenden über den Haufen zu fahren. Bekloppt, oder? Mag sein, aber wieder für den Leser ein riesiger und bis zum (bitteren) Schluss äußerst mitreißender Spaß. Noch besser – und meines Erachtens eine der gelungensten Geschichten der Sammlung – ist „Manchmal kommen sie wieder“, in der ein High-School-Lehrer, der als Kind seinen Bruder an vier mörderische Jugendliche verloren hat, sich in der eigenen Klasse mit deren haargenauen Abbildern konfrontiert sieht. Und wieder beginnen die Morde und er muss sich den Albträumen seiner Vergangenheit stellen. Eine ganz starke Erzählung! Das gilt auch für „Erdbeerfrühling“, in der ein Serienmörder alle 7 bis 8 Jahre brutale Morde an der Universität begeht. Ein kurzer, aber äußerst gruseliger Horror-Trip, an dessen Ende eine gewisse Agatha Christie vielleicht ihre Freude gehabt hätte.

Freunde des „Hardboiled“ und „Noir“ dürften wiederum bei „Der Mauervorsprung“ bestens unterhalten werden, das vollkommen ohne übersinnliche Elemente auskommt. Das Gefahrenelement – ein nur wenige Zentimeter breiter Vorsprung im 43. Stockwerk eines Hochhauses. Die Art Lektüre, bei der man das Buch unwillkürlich fester packt – um es dann bei „Der Rasenmähermann“ am liebsten an die Seite zu legen. Selbst für King-Verhältnisse war mir dieses benzingetränkte Gebrumme dann doch eine Spur zu albern und zu grotesk. Ja, auch hier gibt es einen verborgenen Subplot, den man mit etwas Aufmerksamkeit entdecken kann. Das ändert aber nichts daran, das mir diese Geschichte nicht wirklich positiv in Erinnerung geblieben ist. Ganz anders verhält es sich dann wieder mit „Quitters, Inc.“, welche insbesondere den Rauchern unter den Lesern ans Herz gelegt sei. Ob die danach noch zur Zigarette greifen werden, darf aber immerhin bezweifelt werden. Grandiose Geschichte!

Bei „Ich weiß, was du brauchst“ vermischt King Voodoo mit einem Schuss Romantik – oder ist es doch andersherum – kann mich dabei aber nicht überzeugen. Voll in seinen Fängen hat er mich dann dafür wieder in „Kinder des Mais“, an dessen Verfilmung sich vielleicht mal N. Night Shyamalan versuchen sollte, der sich im Aufbau einer sich immer mehr anspannenden Atmosphäre ja trefflich auskennt. Diese atemlose, gehetzte Flucht durch scheinbar undurchdringliche Maisfelder wird mir jedenfalls noch lange in Erinnerung bleiben. Hier ist man wirklich traurig, das es so schnell vorbei ist.

Jede Sekunde und Zeile auskosten sollte man bei der Lektüre von „Die letzte Sprosse“, in der Stephen King seine meines Erachtens – mit großem Abstand – beste Leistung in der ganzen Sammlung abliefert. All diejenigen, die ihn immer, wider besseren Wissens, als Unterhaltungsautor müde belächeln, sollten sie lesen, um zu erkennen, welch begnadeter, aber auch einfühlsamer Schriftsteller er in Wirklichkeit ist. Ein trauriges, melancholisches, tief berührendes Juwel, nach dessen Beendigung es automatisch einer längeren Pause braucht, um die nächsten Geschichten in Angriff zu nehmen. Diese sind alle ebenfalls von guter bis sehr guter Qualität.

Zu einen auf den Weg“ habe ich mich ebenfalls schon bei „Brennen muss Salem“ geäußert. In „Der Mann, der Blumen liebte“ wird der Leser geschickt auf die falsche Fährte geführt. Und in „Die Frau im Zimmer“ verarbeitete Stephen King den Tod seiner eigenen Mutter und setzt sich zugleich mit dem Thema Sterbehilfe auseinander.

Wenn man so nach oben hochscrollt, erscheinen mir das ziemlich viele Worte für eine schon so alte Kurzgeschichten-Sammlung, welche die meisten King-Fans wohl ohnehin schon kennen werden und die jüngeren vielleicht gar nicht mehr lesen mögen. Letzteres wäre aber, und soviel sollte hoffentlich deutlich geworden sein, ein Fehler, denn bereits in diesen frühen Erzählungen läuft der Meister des Horror, trotz ein paar Durchhängern, zur Höchstform auf. Sein Talent für die Kurzform, es hat diese Würdigung und eine Wiederentdeckung sicher verdient.

Wertung: 87 von 100 Treffern

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  • Autor: Stephen King
  • Titel: Nachtschicht
  • Originaltitel: Night Shift
  • Übersetzer: verschiedene
  • Verlag: Lübbe
  • Erschienen: 10.2010
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 448 Seiten
  • ISBN: 978-3404131600

Die Zukunft ist ein offenes Buch

© Goldmann

Es ist dann doch mehr der Gewohnheit als einem wirklichen Nutzen geschuldet, dass ich mir auch im Fall von „Die seltsame Welt des Mr. Jones“ die Mühe gemacht habe, eine Rezension zu schreiben. Wenig Nutzen nicht unbedingt, weil ich die allgemeine Kritik am Frühwerk von Philip K. Dick in Gänze teile, sondern eher aufgrund der Tatsache, dass die letzte deutsche Ausgabe bereits aus den 70er Jahren stammt und mit einer Neuauflage wahrscheinlich nicht allzu bald zu rechnen ist (Oder etwa doch, lieber Fischer Verlag?).

Selbst wenn also jemand da draußen sich von dieser Besprechung zum Kauf versucht fühlen sollte, muss er sein Augenmerk auf Antiquariate und Flohmärkte richten. Eine Mühe, welche sich heute wohl nur die wenigsten machen dürften. Dennoch hat dieser Monksche‘ Zwang meinerseits dann auch vielleicht seine guten Seiten, erlaubt dieser 1956 veröffentlichte Roman Dicks doch einen Blick auf die Anfänge eines der wichtigsten und einflussreichsten Literaten des 20. Jahrhunderts und gibt gleichzeitig Einblick in die Welt und das Denken dieser Zeitepoche. Dass es dem Autor zudem gelingt, in vielerlei Elementen äußerst visionär und beinahe hellseherisch (z.B. Fernsehschirme in der Rücklehne von Autositzen) in die Zukunft zu blicken, verleiht dem kurzen Büchlein zusätzlich Charme. Und der Unfähigkeit der Menschen, aus der Geschichte zu lernen, ist es dann letztlich auch zu verdanken, dass – betrachtet man die Diskussion um den geschiedenen Präsidenten Donald Trump sowie das Verhalten einiger Mitbürger (nicht erst seit der Flüchtlingskrise) – auch der Personenkult um Mr. Jones nicht wirklich an Aktualität verloren hat.

Doch First things first und daher mal ein kurzer Einblick in den Inhalt:

Wir schreiben das Jahr 2002. Die Erde ist nach einem langjährigen Atom-Krieg schwer gezeichnet und die Menschheit erhebt sich nur langsam aus den post-apokalyptischen Trümmern. Viele amerikanische Städte sind komplett vernichtet, Staaten wie die Republik China und die Sowjetunion sind als Folge des gewaltreichen Konflikts der Ideologien gänzlich kollabiert. An ihrer Statt wurde deshalb die Bundesweltenregierung (Bureg) installiert, deren politische Leitlinie, der Relativismus, als moralische und ethische Philosophie festlegt, dass es jedem Bürger frei steht, an das zu glauben, was er möchte, so lange er niemand anderen dazu bringt, diesem Glauben oder Prinzip zu folgen. Unbewiesene absolute Behauptungen sind strikt verboten. Widerständler und Dissidenten des sankrosanten Relativismus werden von der Geheimpolizei festgenommen und in Arbeitslager verfrachtet. Einer ihrer Agenten ist Doug Cussick, den man soeben zu der Bewachung einer speziellen Schutzkuppel abgestellt hat, in der mutierte Menschen für ein geheimes Projekt gezüchtet werden. Die Bewachung ist notwendig, da Jones‘ Anhänger inzwischen immer mehr Zulauf bekommen und der Rückhalt der derzeitigen Regierung zunehmend bröckelt. Während ihm Dr. Rafferty die Einzelheiten seiner medizinischen Forschung darlegt, erinnert sich Cussick an das erste Mal zurück, als er Jones begegnet ist:

April 1995. Cussick ist erst seit kurzer Zeit Mitglied bei der Geheimpolizei und nutzt einen freien Tag, um sich die Attraktionen auf dem örtlichen Jahrmarkt näher anzuschauen. Dabei fällt sein Blick auf einen unscheinbaren Mann, dessen vereinsamter Stand mit dem Schild „Keine persönliche Wahrsagung“ wenig erfolgreich Werbung macht. Cussicks Interesse ist dennoch geweckt und er beginnt ein Gespräch mit dem Mann namens Jones. Der erklärt ihm, dass er in der Lage ist, genau ein Jahr in die Zukunft zu sehen und unterrichtet ihn von der baldigen Ankunft einer außerplanetarischen Spezies, den so genannten „Driftern“. Anfangs noch skeptisch, macht Cussick dennoch Bericht bei seinen Vorgesetzten, welche Jones in Folge dessen im Auge behalten. In den nächsten Jahren treten alle von ihm angekündigten Ereignisse ein. Doch als die Bureg schließlich die Gefahr erkennt, welche von Jones ausgeht, ist es schon zu spät. Alle Zeichen der Zeit deuten erneut auf Krieg. Und alle fragen sich … was weiß Jones?

Prophezeiungen, Blicke in die Zukunft, Vorhersagen. Es scheint dieses Thema zu sein, welches Dick recht früh gepackt und vielleicht auch nie so recht losgelassen hat (siehe z.B. „Der Minderheiten-Bericht“). Bereits „Hauptgewinn: Die Erde“ führte mit den Te-Pe’s eine neue Menschengattung mit präkognitiven Fähigkeiten ein, deren telepathische Begabung die Herrschaft des Quizmeisters sicherten. Nun also Jones. Hierbei ist auffällig, dass Dick die Geschichte des titelgebenden Wahrsagers/Predigers von hinten aufrollt und der Erzählstrang um die eingesperrten Mutanten in ihrer Kuppel quasi den Beginn des Endes markiert, welches man schließlich in der Rückblende abschließend erreicht. Ein merkwürdiger, aber auch sehr wirksamer Schachzug vom Autor, der die Identität der Mutanten sowie ihren Zweck damit verschleiert und gleichzeitig die totalitären Züge des Bureg-Systems durch die Geschichte um den Aufstieg von Jones‘ näher ergründet, der ironischerweise noch anfänglich von der gesetzlichen Toleranzvorschrift gegenüber allen Lebensformen (u.a. bizarre Mutanten wie Hermaphroditen) profitiert. Er ist der Dreh- und Angelpunkt in der Geschichte und bleibt doch in seinen Wirken und Intentionen für den Leser über einen langen Zeitraum eine mysteriöse Figur.

Ganz anders Doug Cussick, der stellvertretend für die Bureg steht, deren Berechtigung er erst in Frage stellt, als seine Frau diesem System dem Rücken kehrt und sich den Anhängern von Jones anschließt. Er gewährt dem Leser auf persönlicher Ebene einen Einblick in den Aufbau der Gesellschaft, welche, wie ihre Umwelt, vor allem dystopische Züge aufweist und in seinen Beschreibungen mitunter nur schwer erträglich ist. Besonders Cussicks Besuch eines Nachtclubs, in dem sich zwei Hermaphroditen auf der Bühne vor einer weitestgehend unbewegten Menge mehrmals verwandeln und dabei lieben, ist mir nachträglich und eindringlich in Erinnerung geblieben. Als Folge des Relativismus kann zwar jeder tun und lassen was er will – der Preis den er aber dafür zahlt, ist die Gleichgültigkeit. Die Menschen sind abgestumpft, taub, ohne Glauben und Ziel. Sie leben eine Existenz ohne tieferen Sinn. Setzen Kinder in die Welt, ohne ihnen Werte vorgeben oder gar ungeteilte Aufmerksamkeit schenken zu können. Toleranz wird zunehmend mehr als Desinteresse und Aufgabe, und in diesem Zusammenhang Jones als Heilsbringer empfunden. Er ist der dauerhafte Ausnahmezustand, das richtungsweisende Element, das alleinige Wissen, dem man folgen kann.

Philip K. Dicks Roman ist ein verstörender Blick in eine (leider auch heutzutage) nicht gänzlich unmögliche und vor allem düstere Zukunft, der die Risiken von einer gleichgültigen Toleranzgesellschaft ebenso beleuchtet, wie die Auswirkungen eines Personenkults, dessen absolutes Wissen wertlos wird, wenn es nicht für die richtigen Zwecke eingesetzt wird. Selbstbestimmung und Schicksal – zwei Dinge, welche nicht nur im Buch selbst, sondern wohl auch im Geiste des Lesers gegeneinander abgewogen werden müssen. Und ein jeder kommt hier vielleicht zu unterschiedlichen Ergebnissen.

Warum kommt der Roman dann also bei den Kritikern („hasty and disappointing“, Anthony Boucher) derart schlecht weg? Ein Grund dafür könnte in der Tat der hastige Stil sein, der sich und uns keinerlei Atempausen gönnt, aber auch keine gönnen kann, da Dick gleich soviel Themen in diesem doch äußerst kurzen Novelle unterbringen will. Mutierte und gezüchtete Menschen, außerirdische Eindringlinge und Leben auf anderen Planeten, um nur ein paar davon zu nennen. Insbesondere der geschichtliche Wurmfortsatz am Ende, der zudem äußerst kunterbunt und fröhlich – und damit konträr zum Rest des Romans – daherkommt, wirkt unnötig und deplatziert. Hier hat der Autor für mich den richtigen Zeitpunkt zum Schluss machen verpasst.

Dennoch: „Die seltsame Welt des Mr. Jones“ hat mich gut und vor allem anregend unterhalten, bisweilen aber mein Gemüt durch diese doch wirklich hoffnungslose, triste Zukunftsvision auch arg getrübt. Ein Roman, mit vielen intelligenten Ansätzen, dem man den Frühwerk-Charakter zwar anmerkt, der aber im selben Zug auch immer wieder die Klasse des späteren Philip K. Dick andeutet. Wem das schmale Büchlein also wider Erwarten doch in die Hände fällt, sollte eine Lektüre unbedingt in Erwägung ziehen. Aller Kritiken zum Trotz – es lohnt.

Wertung: 87 von 100 Treffern

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  • Autor: Philip K. Dick
  • Titel: Die seltsame Welt des Mr. Jones
  • Originaltitel: The World Jones Made
  • Übersetzer: Tony Westermayr
  • Verlag: Goldmann
  • Erschienen: 1971
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 190 Seiten
  • ISBN: 978-3442231263

“It’s a queer world, God knows, but the best we have to be going on with.”

© Kiepenheuer & Witsch

Auch wenn ich jetzt bereits seit vielen Jahren nicht mehr als Buchhändler tätig bin – der Beruf selbst, war und bleibt für mich immer eine Berufung und auch die Ausbildung, insbesondere die schulische an der Buchhändlerschule in Seckbach, Frankfurt (mittlerweile umbenannt in Mediencampus), welche wir in einem mehrwöchigen Blockunterricht absolviert haben, weiß ich bis heute zu schätzen.

Warum ist das für diese Besprechung relevant? Nun, schon immer interessiert an einem breit gefächerten Spektrum der Belletristik hat mir diese Zeit unter unheimlich belesenen Dozenten, direkt am Puls des Mediums Buch, den Blick noch einmal geschärft, meine Entdeckerfreude kanalisiert und mich damit in eine Welt eingeführt, die ich so vielleicht sonst nie entdeckt hätte. Zu dieser Welt gehört, dank eines von mir belegten Kurses, auch insbesondere die irische Literatur.

Seit jeher neugierig auf die ereignisreiche irische Geschichte und die keltische Kultur der grünen Insel, waren mir zum damaligen Zeitpunkt zwar die großen Namen wie James Joyce, Samuel Beckett oder Edna O’Brien durchaus geläufig, viele andere Schriftsteller/innen aber bis dato unbekannt. Zu diesen gehörte unter anderem auch Brendan Behan, der Zeit seines Lebens zwar international besonders als Dramatiker von sich Reden machte, in unserem Kurs aber vor allem im Zusammenhang mit seinem autobiografischen Roman „Borstal Boy“ diskutiert wurde – und mit diesem die Ursprünge des Nordirlandkonflikts bis hin zu den so genannten „Troubles“ und dem Karfreitagsabkommen. Kurzum: Ein ganzes Themengebiet tat sich für mich rund um dieses Werk auf, das sich rückblickend als persönliche Initialzündung herausgestellt hat, sich als Protestant näher mit der jahrzehntelangen Unterdrückung der Katholiken zu befassen. Ein Thema, welches mich bis heute nicht loslässt und das im Hinblick auf den in wenigen Tagen drohenden „harten Brexit“ möglicherweise wieder auf erschreckende Art und Weise an Aktualität gewinnen wird. Das Wiederaufflammen der Feindseligkeiten in Nordirland, eine Eskalation der Gewalt – diese Sorgen sind aufgrund der immer noch nicht gänzlich geklärten Fragen rund um die irisch-nordirische Grenze mehr als berechtigt. Und damit auch eine Lektüre dieses bald siebzig Jahre alten Klassikers?

Um diese Frage beantworten zu können, lohnt eine etwas genauere Auseinandersetzung mit der persönlichen Biographie Brendan Behans und der Geschichte rund um die Entstehung von „Borstal Boy“. Geboren am 9. Februar 1923 als Sohn des Anstreichers und Gewerkschaftsaktivisten Stephen Behan und dessen Frau Kathleen Kearney schien der Weg von Beginn an vorgezeichnet. Bereits bei seiner Geburt saß sein Vater eine Gefängnisstrafe ab, weil er sich an Aktivitäten der verbotenen IRA beteiligt hatte. Und auch die anderen Mitglieder der Familie, alle ansässig in den ärmsten Slums von Dublin, waren zu der damaligen Zeitpunkt auf irgendeine Art und Weise in die irische Unabhängigkeitsbewegung involviert. Behans Onkel Peadar Kearney schrieb 1907 gar den Text der späteren irischen Nationalhymne. Obwohl vorwiegend in Armut lebend, wuchs Brendan Behan aber in einem durchaus gebildeten Umfeld und dadurch von früh an mit der irischen Literatur auf, was ihn aber nicht davon abhielt, sich immer wieder aufs Neue in Schwierigkeiten zu bringen.

Im Alter von dreizehn Jahren verließ er ganz die Schule, drei Jahre später trat er der IRA bei, um in England mehrere Sprengstoffanschläge zu begehen. Bevor er jedoch auch nur einen der Anschläge ausführen konnte, wurde er 1939 schon mitten während der Planung in Liverpool gefasst und zu drei Jahren Jugendhaft verurteilt, von welche er zwei im Hollesley Bay Borstal, einer so genannten Besserungsanstalt für Jugendliche in Suffolk, absaß. Es sollte zwar nicht sein letzter Aufenthalt hinter Gitter bleiben (u.a. fuhr er 1942 noch wegen seiner Verwicklung in einem versuchten Mord an zwei Polizisten ein), aber es sind genau diese zwei ihn prägenden Jahre, die er später in dem vorliegenden autobiografischen Roman verarbeiten sollte. Behan betonte rückblickend immer wieder, dass er sich trotz seiner diversen Aktivitäten für die IRA nie als wichtiges Mitglied angesehen hat.

Ich bin kein Krieger. Ich bin eine absolute Null. Die IRA hatte genügend militärischen Sachverstand, mich zu nichts anderem als zu Botengängen einzusetzen.

Das hielt die staatliche Zensurbehörde dennoch nicht davon ab, „Borstal Boy“ umgehend nach seiner Veröffentlichung, ohne Angabe von Gründen, zu verbieten. Es darf aber davon ausgegangen werden, dass, neben der ausführlichen Schilderung von Homosexualität, vor allem seine sich durch das Buch ziehende Kritik an der katholischen Kirche dafür ausschlaggebend gewesen sind. Behans Werk, dessen Fertigstellung sich über Jahre hinzog und in dieser Zeit zunehmend unter seiner ausschweifenden Trunksucht litt (zwischenzeitlich musste er deswegen sogar ins Krankenhaus), sollte dennoch nicht allein auf diese Elemente reduziert werden, überzeugt seine autobiografische Schilderung des Lebens von „Paddy“ (Spitzname für die Iren in England) aus der Ich-Perspektive doch neben diesen zornigen Anklagen vor allem durch herrlich-spottenden, zynischen Wortwitz und ein gehöriges Maß beißender Ironie. So offen Behan dabei in Gestalt von Paddy den englischen Imperialismus kritisiert, schimmert hinter dem stoischen, irischen Nationalstolz doch immer seine Einsamkeit und Angst hindurch, die wiederum uns als Leser fast ungefiltert erreicht.

Borstal Boy“ reiht sich damit in die Riege der großen Gefängnisromane wie „Papillon“ ein, welche uns unmittelbar denselben widrigen und klaustrophobischen Umständen aussetzen, uns hineinziehen in die einsamen Zellen, die in ihrer Kälte sowohl Menschlichkeit also auch Unmenschlichkeit offenlegen und das Beste und Schlechteste von uns entblößen. Paddy gelingt es schnell sich diesem Umfeld anzupassen, weiß wann er seine Fäuste und wann er sein loses Mundwerk gebrauchen muss, um eine Situation zu entschärfen. Mit dieser offenen Art schafft er sich sowohl Feinde als auch Freunde unter den Mithäftlingen, wobei Behan es klugerweise vermeidet die Figuren nach irgendwelchen Stereotypen zu zeichnen. Ganz im Gegenteil: Hier scheint tatsächlich ein großes Maß eigener Beobachtung eingeflossen zu sein, arbeitet der Autor die Vielschichtigkeit der Zellennachbarn, Gefängniswärter, Polizisten und Priester doch stets mit Respekt für ihre Eigenheiten und gleichzeitig ungezügelter Deutlichkeit heraus. Was wirklich real passiert ist, was für die Fiktion hinzugedichtet wurde – das vermag man nicht zu unterscheiden. Fakt ist jedenfalls: Paddys Courage und unbeugsame, ja widerspenstige Lebensfreude, sie steht im starken Kontrast zu dem, was man sonst von diesem Sub-Genre gewohnt ist.

So ist bei all der politischen Überzeugung und Botschaft in „Borstal Boy“ dieses Buch vor allem ein Rückblick mit positiver Perspektive. Behan – Zeit seines Lebens ein Mann des Feierns, der Musik, aber auch der Alkoholsucht („I only drink on two occasions – when I’m thirsty and when I’m not“) und des Medikamentenmissbrauchs (an deren Folge er bereits mit 41 Jahren starb) – vertritt den eigenen Standpunkt in seiner Prosa mit unverminderter Vehemenz, aber auch mit einem optimistischen, lebensbejahenden Blick nach vorne. Die Missstände, die Missverständnisse – Paddys Umgang mit seiner Situation sind auch ein Beleg dafür, dass man eben diese überwinden kann. Genau aus diesem Grund gilt der Roman vollkommen zurecht bis heute als Klassiker der Gefängnisliteratur und Kult-Roman der grünen Insel. Womit die Frage von oben beantwortet sein dürfte: Ja, eine Lektüre lohnt auch heute noch unbedingt.

Wertung: 87 von 100 Treffern

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  • Autor: Brendan Behan
  • Titel: Borstal
  • Originaltitel: Borstal Boy
  • Übersetzer: Curt Meyer-Clason
  • Verlag: Kiepenheuer & Witsch
  • Erschienen: 01/2019
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 496 Seiten
  • ISBN: 978-3462051889

Einmal vor Unerbittlichem stehen …

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Wer, so wie ich, zu den langjährigen treuen Lesern der Bücher aus dem Hause Pendragon gehört, wird sich vielleicht etwas gewundert haben, als im Herbstprogramm des Jahres 2020 mit Kevin Majors „Caribou“ ein Titel aufgetaucht ist, den man thematisch im Bielefelder Verlagshaus eher nicht verortet hätte.

Zwar sind innerhalb der verlagsinternen Reihe „Geschichte erleben mit Spannung“ bereits einige Werke veröffentlicht worden, welche sich mit der Zeit des Dritten Reichs – und dessen lang geworfenen Schatten – beschäftigen, aber erstens handelt es sich beim hier vorliegenden Roman nicht um einen klassischen Spannungsroman und zweitens konzentriert sich dieser tatsächlich expliziter auf den militärischen Konflikt selbst. Genauer gesagt auf den U-Boot-Krieg im Nordatlantik während des Zweiten Weltkriegs. Das weckte, zumindest bei mir, Erinnerungen an die drastischen und klaustrophobischen Schilderungen von Lothar-Günther Buchheim in „Das Boot“, der vor allem in barrierefreier Nahaufnahme das Leiden des einfachen Marine-Soldaten wohl eindringlicher zur Papier gebracht hat, als jeder Autor vor und nach ihm. Wohlgemerkt ohne dabei mit den hurrapatriotischen Machwerken anderer U-Boot-Fahrer zu fraternisieren. Umso überraschender ist es nun, auf einen kanadischen Autor zu stoßen, der sich desselben Themas angenommen, allerdings – über weite Strecken des Buchs – einen Schauplatz direkt vor seiner Haustür ausgewählt hat.

Caribou“ erzählt die Geschichte der letzten Fahrt des gleichnamigen Dampfschiffs, das, Mitte der 20er Jahre in den Niederlanden gebaut, während des Zweiten Weltkriegs als Fähre in der Cabot-Straße eingesetzt wurde, um sowohl zivile Personen als auch Militärangehörige von North Sydney in Nova Scotia nach Port aux Basques auf Neufundland und zurück zu transportieren. Vor allem nach dem Eintritt der Vereinigten Staaten in den Krieg wurde aus dieser vergleichsweise kurzen Überfahrt mehr und mehr ein riskantes Wagnis, weitete doch die deutsche Kriegsmarine – und hier insbesondere die U-Boote – ihr Einsatzgebiet immer weit bis zur Ostküste Nordamerikas aus, um allein fahrende Schiffe zu versenken oder sich im sogenannten „Wolfsrudel“ auf die großen Konvois zu stürzen, die beständig Nachschub an Material und Soldaten nach Großbritannien überführten. Ein tödliches Katz-und-Maus-Spiel, für U-Boote wie Schiffe gleichermaßen, zwischen denen sich das Kräfteverhältnis unter anderem durch technische Weiterentwicklungen oder Entschlüsselungen von deutschen Geheimcodes (Stichwort „Enigma“) immer wieder ändern sollte, um in den letzten Jahren des Krieges endgültig auf Seiten der Alliierten Streitkräfte zu kippen.

1942 hatte die deutsche Kriegsmarine nicht nur einen Höchststand an einsatzfähigen deutschen U-Booten erreicht, sondern auch fast so viele Millionen BRT Schiffsraum versenkt, wie zusammengerechnet in den zwei Jahren zuvor. Die US-amerikanische und die kanadische Küstenverteidigung sah sich lange Zeit diesen Angriffen weitestgehend wehrlos ausgesetzt, so dass auch an diesem speziellen Abend des 13. Oktobers nur ein umgebauter Minenräumer der Royal Canadian Navy, die „HMCS Grandmére“, als Begleitschutz für die „Caribou“ zur Verfügung stand. Nur weniger als sechs Stunden nach der Abfahrt wurden die beiden Schiffe von dem deutschen U-Boot U 69 unter dem Kommando von Kapitänleutnant Ulrich Gräf entdeckt, der sich zu diesem Zeitpunkt auf seiner bereits neunten Feindfahrt befand. Aufmerksam wurde die Besatzung aufgrund des großen Rauchausstoßes der „Caribou“. Dennoch hätte Gräf vielleicht sogar von einem Angriff abgesehen, wäre die Fähre in dieser Nacht nicht ohne Beleuchtung gefahren, was sie verdächtig und damit zu einem augenscheinlich legitimen Ziel machte. Der Kaleun, der sie damit als Frachter und Zerstörer identifizierte, schoss um etwa 3:30 Uhr einen Torpedo ab, welcher auf der Steuerbordseite im Maschinenraum einschlug, alle anwesenden Maschinisten sofort tötete und durch die Wucht der Detonation das Schiff fast komplett in zwei Hälften riss. Die zuvor meist schlafenden Passagiere mussten sich im Dunkeln zu den Rettungsbooten auf der Backbordseite kämpfen, die aber voll Wasser liefen und kenterten. Die „Caribou“ begann schnell zu sinken. Wenige Minuten später war die Fähre in den eisigen Tiefen der Cabot-Straße verschwunden.

Die „Grandmére“, welche versuchte, das U-Boot zu rammen und aufzuspüren, musste sich im Anschluss erst davon überzeugen, dass keine Gefahr mehr bestand, um dann die Suche nach Überlenden zu starten. 100 Überlebende, darunter mit einem 15 Monate alten Jungen das einzige Kind, konnten gerettet werden. 137 weitere Menschen kamen bei der Versenkung ums Leben. Es ist das bisher schwerste Schiffsunglück in dieser Region und eine der größten Katastrophen Neufundlands im Zweiten Weltkrieg.

Wer nun die Befürchtung hegt, sich mit dieser Zusammenfassung eine Lektüre sparen zu können, der kann an dieser Stelle beruhigt werden, ist doch das Schicksal der „Caribou“ nur der Aufhänger für Kevin Majors Roman, welcher sich im weiteren Verlauf in erster Linie mit den Folgen dieses Unglücks beschäftigt und dafür augenscheinlich intensiv (und für uns lohnend) Recherche betrieben hat. Neben der Sichtung von Archivmaterialien verarbeitete er auch Zeitzeugenberichte von Überlebenden der „Caribou“ sowie – und dies bildet eigentlich das Rückgrat und Fundament der Erzählung – das offizielle Kriegstagebuch des U-Boot-Kommandanten Ulrich Gräf. Dieser historische Person ist einer der beiden Protagonisten. Bei dem anderen handelt es sich um das fiktive Besatzungsmitglied John Gilbert, der als Steward auf der „Caribou“ dient, bei der Versenkung verletzt wird und im Anschluss in die Navy eintritt, um das Geschehene irgendwie für sich verarbeiten zu können. Wie in einem Spielfilm wechselt Major zwischen ihren beiden Perspektiven und bedient sich dabei eines äußerst nüchternen und fast reportagehaften Stils, der bereits von dem ein oder anderen Leser kritisiert wurde, für mich persönlich aber gerade zu den Stärken dieses Romans zählt.

Kevin Major blickt vollkommen wertneutral auf diesen kriegerischen Konflikt, hält sich eng an belegte historische Fakten aus dem Atlantikkrieg des Winters 1942/1943 und vermeidet zudem jegliche Gewichtung zwischen den beiden Protagonisten. Kurzum: Er schaut auf das Grauen des Krieges an sich, dem zumeist die übliche, oft auch von eigenen Erfahrungen beeinflusste Darstellung von Freund und Feind genauso wenig gerecht werden kann, wie ein mit Theatralik und Dramatik künstlich aufgeladenes Literatur-Machwerk. Majors Sachlichkeit ist ein Segen und gleichzeitig der Ruhepol dieser Erzählung, die uns als Leser gerade deswegen umso stärker berührt, als es jegliche Überzeichnung könnte. Auch weil sich der Autor gerade zu Beginn viel Zeit nimmt, um die einzelnen Charaktere in alle Ruhe einzuführen (ohne dabei die üblichen Klischees zu bedienen!) – selbst auf die Gefahr hin, hier diejenigen zu verlieren, welche bereits dem schicksalshaften Torpedo-Einschlag entgegenfiebern. Doch er legt mehr Wert darauf, die menschlichen Tragödien zu zeichnen, die wichtigen Fragen hinter diesem ganzen Wahnsinn zu stellen. Was hat die Versenkung dieses Schiffes jetzt bezweckt? Welche Einfluss kann ein Mann auf den Kriegsverlauf haben? Was bedeutet schon Mut im Angesicht eines Grauen, das sich nicht abwenden lässt?

Die Art und Weise wie er sich dieser Fragen annimmt, ohne dabei zu relativieren oder Gefahr zu laufen, insbesondere das Schicksal der deutschen U-Boot-Fahrer mit der falschen Gewichtung zu betonen – das zeugt von großer Klasse. Auch weil Major es schafft zu berühren, ohne sich in großen blumigen Ausschweifungen zu ergehen oder emotional mit der Tür ins Haus zu fallen. Nein, ganz nebenbei, Seite für Seite, schleicht sich eine stille Melancholie zwischen die Zeilen, eine unterschwellige Angst – übertragen von den Protagonisten, die sich vor allem fürchten, ihr eigenes Leben zu verlieren und doch im Mühlwerk des Krieges gefangen sind. Selbst wenn Gräf der Front für kurze Zeit den Rücken kehrt und mit seiner großen Liebe Elise wertvolle Zeit verbringt oder seine Eltern in Dresden besucht – dieses Gefühl der Ausweglosigkeit liegt schwer wie Blei über allem. Großartig mit wie wenig Aufwand Major nur durch ein Gespräch am Tisch zwischen Gräf, seinem Vater und seiner Mutter die gesamte Situation an der Heimatfront zusammenfasst – die ständige Furcht, etwas falsches zu sagen, zu tun oder in die falsche Richtung zu schauen. Es ist sein distanzierter und doch einfühlsamer Blick, der unerwartet viel von der Seele aller Beteiligten entblößt. Ihre Wünsche und ihre Hoffnungen, aber zugleich auch das unerträgliche Leid, das alle in mehr oder weniger großen Ausmaß erleiden müssen.

Fernab von jeglichem aufgesetzten Heroismus hat Kevin Major mit „Caribou“ einen Roman vorgelegt, der dem U-Boot-Krieg und vor allem dessen Folgen neue Facetten abgewinnt, dabei aber stets in seinen Blickwinkeln die Balance behält. Dass wir am Ende an Gräfs Schicksal genauso Anteil nehmen, wie an den Opfern des Angriffs auf die „Caribou“ legt Zeugnis über die Fähigkeiten des Autors ab und steht zudem sinnbildlich für den Irrsinn des Kriegsführens.

Komplettiert wird die deutsche Ausgabe des Pendragon-Verlags noch um ein informatives und politisch erstaunlich offensives Nachwort von Christian Adam sowie einige Fotos von u.a. der „Caribou“ und von U69. Auch aufgrund dieser liebevollen Ausstattung bleibt daher zu hoffen, dass dieses tolle Buch möglichst viele Leser findet.

Wertung: 87 von 100 Treffern

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  • Autor: Kevin Major
  • Titel: Caribou
  • Originaltitel: Land Beyond the Sea
  • Übersetzer: Bernd Gockel
  • Verlag: Pendragon
  • Erschienen: 08/2020
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 344 Seiten
  • ISBN: 978-3865326836

Der Schatten der Königin

© Lübbe

Knapp vier Jahre nach dem Auftakt zur Reihe um Otto, den Großen lässt Rebecca Gablé mit „Die fremde Königin“ eine Fortsetzung folgen, die ungefähr dreizehn Jahre nach „Das Haupt der Welt“ ansetzt und den Leser damit zurück in eine Epoche führt, in welcher der ostfränkische König und Herzog von Sachsen sein Herrschaftsgebiet auf Italien auszudehnen versucht. Ein, wie wir aus heutiger Sicht wissen, entscheidender Zeitraum in seiner Regentschaft und damit beste Voraussetzung für einen weiteren großen historischen Roman aus der Feder der deutschen Bestseller-Autorin. Doch wird Gablé diesen Erwartungen diesmal auch gerecht?

Fakt ist: „Das Haupt der Welt“ war einmal mehr eine durchgehend kurzweilige und gewissenhaft recherchierte Lektüre, ließ aber das gewisse Etwas, diesen speziellen, ansteckenden Funken ihrer vergangenen Werke über weite Strecken vermissen und überraschte stattdessen durch für Gablé untypische, unnötig ausgewalzte und en detail beschriebene Romanzen, was ihr meiner Ansicht nach nicht nur ein Alleinstellungsmerkmal geraubt, sondern auch den qualitativen Abstand zur Genre üblichen, femininen Schmuse-Literatur verringert hat. Hinzu kam mit Tugomir leider noch ein farbloser Protagonist, der keiner der Figuren aus ihrer Waringham-Saga auch nur ansatzweise das Wasser reichen und mit dem man sich entsprechend wenig identifizieren konnte. So überwiegt vor Beginn der Fortsetzung also tatsächlich die Skepsis. Und diese ist, so viel darf ich vorab verraten, letztendlich dann auch nicht ganz unberechtigt.

Garda, Norditalien 951 n. Chr. Nach dem Tod ihres Gemahls Lothar, dem ehemals mächtigsten Mann der Lombardei, darbt dessen Witwe Adelheid im Turmverlies der mächtigen Burg, unter Druck gesetzt vom unbarmherzigen Markgraf Berengar von Ivrea, der es auf ihre rechtmäßige Krone abgesehen hat und sie zu diesem Zweck mit seinem Sohn vermählen will. Die Chancen sich ihm zu widersetzen schwinden mit jedem weiteren Tag, denn Berengar schreckt auch nicht davor zurück, das Leben ihrer Tochter Emma zu bedrohen. Sie beschließt die Initiative zu übernehmen und findet tatsächlich einen Ausweg aus ihrem Gefängnis, durch den ihr letztlich sogar die Flucht gelingt. Was sie zu diesem Zeitpunkt nicht weiß: Auch König Otto I. ist aus ganz persönlichen Gründen an ihrer Rettung gelegen und hat einen seiner besten Panzerreiter, den jungen Bastard Gaidemar ausgesandt, um sie zu befreien. Gemeinsam entkommen sie knapp ihren Häschern und erreichen die Burg von Canossa, von wo mit Graf Atto einer der wenigen Verbündeten des Königs in Italien regiert. Während Otto in Adelheid vor allem die Eintrittskarte für Italien sieht, hat Gaidemar weit tiefere Gefühle für die leidenschaftliche Frau, was diese schließlich dennoch nicht davon abhält, den charismatischen Herzog von Sachsen zu heiraten.

Daheim an dessen Hof in Magdeburg hat Adelheid nicht nur aufgrund der kalten Temperaturen so ihre Anpassungsprobleme, kann aber dennoch nach und nach das Volk für sich gewinnen. Sehr zum Missfallen von Ottos Sohn Liudolf, der die mangelnde Unterstützung seines Vaters beklagt und mit steigender Wut beobachtet, wie ihm sein Onkel, Herzog Heinrich von Bayern, immer wieder vorgezogen wird – ungeachtet dessen vieler Verfehlungen in der Vergangenheit. Während Gaidemar nach und nach in den Rängen der Panzerreiter aufsteigt und als „Schatten der Königin“ für deren Schutz sorgt, rumort es zunehmend mehr unter den Adligen des Reichs. Als es zum Aufstand kommt muss sich Gaidemar zwischen seiner Freundschaft zu Liudolf und der Loyalität zur Königin entscheiden. Doch ein weit größere Gefahr setzt den Konflikten in Ottos Herrschaftsgebiet ein jähes Ende: In Bayern und Schwaben sind die Ungarn eingefallen. Und anders als in der Vergangenheit machen sie diesmal keinerlei Anstalten, sich wieder zurückzuziehen. Otto sieht sich gezwungen, die Heere mehrerer Länder unter seiner Führung zu vereinen, um dem Feind die Stirn bieten zu können. Auf dem Lechfeld nahe Augsburg kommt es für alle schließlich zur Schlacht, welche das Schicksal der deutschen Herzogtümer – und damit der Deutschen an sich – entscheiden soll …

Vielleicht kann man es schon Beginn zwischen den Zeilen herauslesen, aber diese Rezension wollte irgendwie nicht so flüssig zu „Papier gebracht“ werden, wie ich das gewohnt bin, da ich mich äußerst schwer damit getan habe, die einzelnen positiven und negativen Aspekte mit Augenmaß zu gewichten. So darf ich zwar nachdrücklich konstatieren, dass sich Gablé mit „Die fremde Königin“ gegenüber dem Vorgänger wieder verbessert hat, zuletzt auffällige Schwächen sich aber auch durch diesen Roman ziehen. Ja, wenn man die nostalgische Verklärung außen vor lässt, so waren auch die frühen Werke der Autorin in ihrer Charakterisierung immer etwas modern geraten und nie wirklich dem mittelalterlichen Setting verpflichtet. Dennoch waren es gerade die historischen Figuren und ihre Zeichnung, welche die Barrieren der Geschichte bei der Lektüre so schnell zu Fall brachten und dafür gesorgt haben, dass man sich nach wenigen Seiten widerstandslos der geistigen Zeitreise hingab. Diesen Widerstand zu überwinden, gelang Gablé zuletzt leider seltener und hier macht sie auch beim vorliegenden Titel nur kleine Fortschritte, denn mit Ausnahme von Liudolf sind mir nach Beendigung des Buches keine weiteren der realen Persönlichkeiten in Erinnerung geblieben. Das ist insofern hervorzuheben, da es gerade ein William, der Eroberer oder ein John of Gaunt war, der mit seiner Präsenz die Helmsby bzw. Waringham-Titel getragen und nachhaltig beeindruckt hat. Überhaupt gibt es meines Erachtens einfach zu wenig Otto in diesem historischen Epos über eben jenen Herrscher. Und wenn er die Bühne mal für sich beanspruchen kann, wird er uns als naiver, unsicherer und extrem wankelmütiger König präsentiert, den die Power-Frau Adelheid nach Belieben zu lenken weiß.

Während Gablé hier also wenig Fortschritte macht, ist ihr dafür mit der Hauptfigur, dem Bastard Gaidemar wieder ein echter Volltreffer gelungen. Der harsche, verschlossene und unerbittliche Panzerreiter ist nicht nur eine Söldnerseele nach meinem Geschmack, sondern auch mit hoher Wahrscheinlichkeit – an den historischen Gegebenheit gemessen – am ehesten akkurat gezeichnet und wartet zusätzlich mit einer interessanten Hintergrundgeschichte auf, die sich nur nach und nach entblättert. In vielen seiner Charakterzüge erinnert er (nicht grundlos) an Ottos Bruder Thankmar aus „Das Haupt der Welt“ und sorgt mit seiner schroffen Natur für die dringend benötigte Reibung in diesem über weite Strecken äußerst „bequemen“ Roman. Und mit bequem beziehe ich mich auf die Situation in der sich die Protagonisten größtenteils befinden, denn es fehlt einfach an Dramatik und an Gefahrenpotenzial – und vor allem an einem hinreichend ernst zunehmenden Antagonisten, um überhaupt so etwas ähnliches wie ein Gefühl der Sorge beim Leser zu wecken. Ob auf der Schlacht auf dem Lechfeld – welche Gablé übrigens fantastisch in Szene gesetzt hat, ein Highlight dieses Buches – oder beim Aufstand und dem mysteriösen Tod Liudolfs (den die Autorin ruhig größer in die Handlung hätte einbauen können), es will sich kein richtiges Spannungsmoment aufbauen, das zumindest zwischenzeitlich mal Zweifel am Erfolg der Beteiligten nährt. Gerade hier hat Gablé in der Vergangenheit ihre Stärken gezeigt und uns selbst um Charaktere bangen lassen, deren historischen Lebenslauf man ja eigentlich bereits kennt.

So negativ der Tenor nun insgesamt klingen mag, „Die fremde Königin“ ist einmal mehr ein lesenswertes Buch. Rebecca Gablé erweckt diesen Zeitabschnitt der frühen deutschen Geschichte farbenfroh und atmosphärisch zum Leben, kann die mitunter komplizierten Familienverhältnisse und politischen Bündnisse erfrischend kurzweilig übermitteln und vermag Ottos Weg zur Kaiserkrone dank ihrer profunden Kenntnis akkurat zu Papier bringen. Dieser Weg ist allerdings weit linearer als ich mir das gewünscht hätte und – ja, ich muss sie nochmal lobend erwähnen – von ihren frühen Waringham-Romanen gewohnt bin. Mehr Komplexität, mehr Mut zur Tiefe und weniger massentaugliche Zugänglichkeit hätten diesem zweiten Band des Zyklus sicher gut zu Gesicht gestanden.

Wertung: 87 von 100 Trefferneinschuss2

  • Autor: Rebecca Gablé
  • Titel: Die fremde Königin
  • Originaltitel:
  • Übersetzer:
  • Verlag: Bastei Lübbe (Ehrenwirth Verlag)
  • Erschienen: 04.2017
  • Einband: Hardcover
  • Seiten: 768
  • ISBN: 978-3431039771

Im Hinterland, die Hölle

© Heyne

Hört ihr Pferdewiehern oder das Quietschen von gutem Leder, so schärfte man den Kindern von Mitcham Beat ein, dann lauft und versteckt euch.

Dies ist ein Zitat aus dem Buch „The Mitcham War of Clarke County, Alabama“ von Harvey H. Jackson III., in welchem er, gemeinsam mit den Co-Autoren Joyce White Burrage und James A. Cox, die bürgerkriegsähnlichen Zustände im Clarke County von 1892 thematisiert, die aufgrund gleich einer Reihe brutaler Morde bis heute fest im Gedächtnis der Region verankert sind und auch den Autoren Tom Franklin zu seinem Debütroman „Die Gefürchteten“ inspirierten.

Franklin, selbst in Alabama geboren und aufgewachsen, greift die geschichtlichen Ereignisse rund um die so genannte „Hell-at-the-Breech“-Bande auf und formt aus ihnen mit einiger kreativer Freiheit einen waschechten „Southern-Gothic“, der in seinen besten Momenten den Vergleich mit Cormac McCarthy, Flannery O’Connor oder William Faulkner keinesfalls zu scheuen braucht. Und wenngleich er dabei von Setting und Ton her an cineastische Machwerke wie „Open Range“ oder „Gnadenlos“ erinnert und teils gar klassische Western-Themen bedient, stilistisch orientiert er sich stattdessen eher an den Vertretern aus der ersten Großen Depression. Diese hatte insbesondere den Süden der USA in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hart getroffen, der nach Ende des Amerikanischen Bürgerkriegs und der damit einhergehenden Abschaffung der Sklaverei ohnehin wirtschaftlich darniederlag. Ehemalige Farmbesitzer schufteten nun selbst von morgens bis abends auf ihren Baumwollfeldern. Viele von ihnen mussten Pachten an die neuen Besitzer in den Städten zahlen und waren danach gerade noch so in der Lage sich selbst zu ernähren. Der einstige Stolz und die moralische Überlegenheit – sie waren Selbstzweifeln und Minderwertigkeitskomplexen gewichen. Inmitten dieser von Missgunst und Rachegefühlen geschwängerten Atmosphäre nimmt „Die Gefürchteten“ seinen Anfang.

September 1897, Mitcham Beat, Alabama. Die beiden Brüder William und Mack Burke, zwei Waisen, die von der alten Hebamme und Witwe Gates großgezogen wurden, sind auf Freiersfüßen. Sie wollen der Hure Annie einen Besuch abstatten. Um das dafür benötigte Geld zu beschaffen, schleichen sie sich als Räuber verkleidet im Dickicht an den Ladenbesitzer und aufstrebenden Lokalpolitiker Arch Bedsole heran. Doch die Nacht ist dunkel, der Boden unwegsam und Mack Burkes Hand schweißnass. Als er in der Bewegung mit dem Knie wegknickt, löst sich ein Schuss und Bedsole fällt tot vom Pferd. Zu diesem Zeitpunkt kann keiner von den beiden ahnen, dass diese Tat für die gesamte Umgebung schwerwiegende Folgen haben wird, denn Arch Bedsoles Cousin Tooch nutzt diese Gelegenheit nicht nur um dessen Geschäft zu übernehmen, sondern hebt gleichzeitig einen Geheimbund aus der Taufe. Vordergründig soll er die Interessen der verarmten Farmer vor der Willkür der Städter aus Grove Hill schützen – in Wirklichkeit dient er vor allem dazu, um sich gegenseitig eines Alibis zu versichern, wenn auserwählte Mitglieder mit gezogener Waffe und schwarzen Kapuzen ihr Unwesen treiben.

Es dauert nicht lange und bald wird die gesamte Gegend von der so genannten „Hell-at-the-Breech“-Bande terrorisiert. Es kommt zu Lynchjustiz und zu Angriffen auf Schwarze. Wer sich unter der Landbevölkerung weigert die Bande zu unterstützen, zahlt mit Blut oder gar mit dem Leben. Als die ersten Nachrichten von brutalen Überfällen Grove Hill erreichen, wird der Ruf nach Gerechtigkeit laut. Doch der alte Sheriff Billy Waite hat mit sich selbst und vor allem mit dem Alkohol zu kämpfen. Seit längerem weigert er sich beharrlich, jemanden zum Deputy zu benennen. Und fast ebenso lange hat er sich nicht mehr im Umland von Mitcham Beat blicken lassen. Mit dem Mord an dem Farmer Anderson ist aber auch er schließlich gezwungen zu handeln. Während er sich mit seinem treuen Gaul King durch das Gehölz des Bear Thicket kämpft, plagen seinen Cousin Oscar York Zweifel. Der Richter von Grove Hill glaubt nicht, dass der Sheriff in der Lage ist, die Situation zu lösen und nimmt daher die Hilfe des ehrgeizigen Ardy Grant in Anspruch. Unwissentlich schließt er damit einen Pakt mit dem Teufel, denn Grant ist nicht das, was er zu sein scheint …

Vertreter des „Southern Gothic“ werden oftmals auch als „Country Noir“ beworben und wenn letztere Plakatierung wohl je gepasst hat, dann bei „Die Gefürchteten“, denn diese Lektüre ist nichts weniger als ein Parforceritt ohne Sattel durch tiefste menschliche Abgründe – von Autor Tom Franklin in einer Lakonie kredenzt, welche noch der muntersten Frohnatur das Lächeln mit knallharter Schreibe aus der Fresse haut. Entspannt zurücklehnen und genießen, das kann man hier getrost vergessen. Von Beginn an legt sich mit bleierner Schwere eine deprimierende und rigoros nihilistische Grundstimmung über das Geschehen, welche den Leser aus seiner gemütlichen Sofa-Ecke in den Nahkampf mit den eigenen Gefühlen zerrt. Die ärmlichen Bedingungen unter denen die Farmer ihre Familie großziehen müssen – sie schildert Franklin in einer drastischen Konsequenz, die jegliche Distanz zum Buch unmöglich macht. So wird schon auf den ersten Seiten ein Sack voller Welpen im Fluss ertränkt. Mehr als den einen Hund kann die alte Witwe schließlich nicht ernähren. Und es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass sie Mack diese Aufgabe überlässt, der damit zum zweiten Mal in kurzer Zeit zum Mörder wird.

Inmitten der dunklen Wälder, zwischen weißen Baumwollfeldern und maroden Holzhütten – hier droht eine ganze Generation dem Vergessen anheim zu fallen. Und so fällt es schwer, nicht die Bitternis nachzufühlen, welche die Bewohner von Mitcham Beat empfinden, die trotz schwerster körperlicher Arbeit am „American Way of Life“ nie teilnehmen werden, beim Streben nach Glück von ihren Nachbarn in der Stadt zurückgelassen wurden. Die wiederum nutzen jede Tragödie, um sich am Leid ihrer Pächter zu bereichern. Notfalls sogar durch Meineid, was im vorliegenden Fall dazu führt, dass die Bürger der Stadt selbst zur Waffe greifen und als wilder Mob der Bande entgegenreiten. Bis dahin lässt sich Tom Franklin ausgiebig Zeit. Meines Erachtens manchmal etwas zu viel, wenn er gewisse Szenen im wahrsten Sinne des Wortes zu sehr ausreitet, anstatt sie der Fantasie des Lesers zu überlassen.

Aber auch Zeit, die er nutzt um Mack mit seinem Gewissen und Billy mit seinem Alkoholproblem und der nörgelnden Ehefrau kämpfen zu lassen. Letzteres klingt lustiger, als es dann im Buch wirklich ist, wie überhaupt man Humor eigentlich in diesem nachtschwarzen Werk vergeblich sucht. Dafür ist der Grundtenor allerdings auch viel zu ernst. So ernst, dass selbst Liebe ein Element ist, das es in „Die Gefürchteten“ schwer hat zur Entfaltung zu kommen. Zumindest bis ganz zum Schluss, wo die gesamte Handlung noch einmal eine überraschende Wendung erfährt und sich zudem die angestaute Spannung in einem brachialen Kugelhagel entlädt, der selbst für mich nur schwer zu ertragen war.

Wenn sich der Pulverdampf schließlich verzieht, ist der Plot um einige Figuren ärmer – und der Leser um eine eindringliche literarische Erfahrung reicher. „Die Gefürchteten“ – das ist ein Debüt bar jeglicher Sentimentalität und Wildwest-Romantik. Ein harter, bisweilen auch arg brutaler Trip ins Hinterland von Alabama, für den Tom Franklin in seiner Heimat zurecht gefeiert wurde und der hierzulande eine Neuauflage durchaus verdient hätte. Ein passender Moment wäre es, ist doch gerade erst bei Pulp Master mit „Krumme Type, krumme Type“ ein weiteres Werk des Schriftstellers in Erstveröffentlichung erschienen und vom Feuilleton gepriesen worden.

Wertung: 87 von 100 Treffern

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  • Autor: Tom Franklin
  • Titel: Die Gefürchteten
  • Originaltitel: Hell at the Breech
  • Übersetzer: Wolfgang Müller
  • Verlag: Heyne
  • Erschienen: 01.2008
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 414 Seiten
  • ISBN: 978-3453431980

I’d Lie for You (And That’s the Truth)

© Goldmann

Es heißt zwar, dass nur tote Fische mit dem Strom schwimmen, doch es ist trotzdem erstaunlich, wie wenig sich meine eigene Meinung zu John Harts „Der König der Lügen“ mit dem Gros des Feuilletons deckt, bei dem dieser Debütroman eher schlecht als recht wegkommt. Wohlgemerkt hierzulande, denn in seiner Heimat USA wurde „The King of Lies“ kurz nach seiner Veröffentlichung im Jahr 2006 für den Edgar Award als „Best First Novel“, für den Macavity Award als „Best First Mystery Novel“, den The-Gunshow-Award als Best First Novel und den SIBA-Book-of-the-Year-Award nominiert.

Dies ist insofern erwähnenswert, da es Hart nachfolgend gelang, gleich zweimal den Edgar Award abzuräumen, was noch einmal unterstreicht, mit welcher Qualität und Konstanz der Autor von Tag eins an überzeugt – zumindest wenn man den Erstling nicht unter dem Brennglas des Krimi-Kritikers betrachtet, denn „Der König der Lügen“, vom Goldmann Verlag schon wohlweislich als „Roman“ plakatiert, hat so gar nichts mit den üblichen Reißern gemein, welche sonst in Scharen den Weg über den großen Teich zu uns finden. Und auch wenn sich Parallelen zu Scott Turow oder John Grisham finden – ein Justizthriller im klassischen Sinne ist das vorliegende Buch ebenfalls nicht.

Um „Der König der Lügen“ näher einzuordnen lohnt ein Blick in Harts Vita bzw. auf die Titel, welche ihn maßgeblich beeinflusst und die er zudem – wie sein eigenes Werk – als Genre-Überwindend einstuft. Es ist für mich nach meiner Lektüre daher nur wenig überraschend, dass sich hierunter unter anderen „Mystic River“ von Dennis Lehane sowie „Geheimnisse und Lügen“ von Tim O’Brien wiederfinden. Besonders ersterer Roman weist doch sowohl hinsichtlich der Erzählweise als auch allgemein in Bezug auf die Stimmung viele Parallelen auf. Wie schon der Name des Titels vermutet, so sind auch in diesem Netz von Lügen selbst kleinste vermeintliche Wahrheiten oftmals trügerisch, wabert ein Nebel des Misstrauens zwischen dem Leser und den Protagonisten, welche in Harts Buch von Ich-Erzähler Jackson Workman Pickens angeführt werden. Die sich um ihn drehende Handlung sei zum besseren Verständnis kurz angerissen:

Jackson Workman Pickens, genannt „Work“, ein Strafverteidiger im Rowan County, North Carolina, sieht sich an einem Scheidepunkt angekommen. Speziell die letzten Monate haben ihn desillusioniert, lassen ihn an seiner Karriere ebenso zweifeln wie an seiner Ehe, welche schon seit langem nur noch eine Farce ist, ein perfekt einstudiertes Kammerspiel für gesellschaftliche Anlässe und gemeinsame Freunde. Work will und kann diese Fassade nicht mehr aufrecht erhalten. Vor allem der Tod seiner Mutter, welche unter mysteriösen Umständen auf einer Treppe stürzte, hat ihn jeglichen Haltes beraubt. Noch in der Nacht des tragischen Unglücks verschwand auch sein Vater, Ezra Pickens, spurlos. Ein renommierter, allseits anerkannter, aber auch gefürchteter Anwalt, der für seinen Aufstieg einst die Beziehung zu seinen Kindern opferte. Noch mehr als Work, dem sein Vater stets spüren ließ, wie wenig er in seinen Augen wert ist, hat besonders seine Schwester Jean diese Tragödie aus der Bahn geworfen. Mehrfach hat sie bereits versucht sich das Leben zu nehmen. Die Hilfe ihres Bruders, den sie für das Geschehene mitverantwortlich macht, lehnt sie rigoros ab. Und Works einzige Hoffnung, dass die Zeit alle Wunden heilt, wird schließlich ebenfalls jäh zerstört, als man die Leiche seines Vaters entdeckt.

Mit ihr brechen auch alte Narben wieder auf. Zum ersten Mal setzt sich Work näher mit Ezras geheimnisvollen Verschwinden auseinander. Angetrieben von einem Zorn, der seit Jahren unter der Oberfläche gebrodelt hat, beginnt er die Hinterlassenschaften seines Vaters zu sichten, um endlich die Zukunft in die eigene Hand zu nehmen. Parallel beginnt jedoch auch die Polizei in Persona von Detective Mills ihre Ermittlungen. Die Polizistin hegt nicht nur einen Groll gegen Work, sondern ist sich sicher den Mörder in Ezras Familie zu finden. Um Vergangenes gut zu machen und seine Schwester vor der Justiz zu schützen, macht sich Work selbst zum Verdächtigen. Es beginnt ein riskantes Spiel, das für den jungen Anwalt bald lebensbedrohlich wird …

Reduziert man „Der König der Lügen“ auf diesen kompakten Ausschnitt der Handlung – ja, vielleicht sind dann doch ein wenig die enttäuschten Rückmeldungen deutscher Leser im Internet nachzuvollziehen, denn mit dem Klappentext enden eigentlich jegliche Ähnlichkeiten mit der sehr geradlinigen und simpel gestrickten Unterhaltungsliteratur, die heute den Großteil der Buchhandelstische bedeckt – und wohl auch beim vorliegenden Roman erwartet wird. John Harts Debüt ist mitnichten ein Pageturner, macht auch keinerlei Versuche dies zu sein und nimmt sich von Beginn an viel Zeit, um die Situation des Ich-Erzähler Work herauszuarbeiten – und einen dichtes Geflecht von Unwägbarkeiten und offenen Fragen zu platzieren, die sowohl Leser als auch Protagonist zunehmend an vielem zweifeln lassen, was anfangs noch so offensichtlich erscheint. Beinahe unmerklich sickert die Düsternis zwischen die Zeilen, verirrt sich Work in seiner Suche nach der Wahrheit in einem Labyrinth aus Lügen. Handwerklich läuft Hart schon hier in diesem Erstling zur Höchstform auf.

Zynisch, bitter, beinahe resigniert die Sprache, die sich träge, aber stetig um den Leser windet, ihn herabzieht in die dunkle Vergangenheit der Familie Pickens – und in die Abgründe dieser Kleinstadt, in der seit jeher das Spiel um Macht und Einfluss hinter protzenden Fassaden mit dreckigsten Mitteln ausgefochten wird. Und in der Menschen wie Work rücksichtslos zum Spielball werden. Sein Fall, sein Sturz auf den bitteren Fußboden der Realität – er ist ein Resultat dieser Rücksichtslosigkeit, die er bereits in jungen Jahren vom Vater erfuhr und letztlich auch den Mann geprägt hat, der er geworden ist. Hart schildert in „Der König der Lügen“ Works Versuch sich über das vorbestimmte Schicksal zu erheben, es in die eigene Hand zu nehmen und den König der Lügen von seinem überlebensgroßen Thron zu stoßen. Er verkörpert damit eine andere Art Anti-Held als uns sonst z.B. im Hardboiled begegnet, Statt in körperliche Auseinandersetzungen gezogen zu werden, sprichwörtlich auf die Fresse zu bekommen, fechtet er einen Kampf mit sich selbst und seinen inneren Dämonen und Erinnerungen aus. Statt wie Genre-üblich die Sorgen ausschließlich im Alkohol zu ertränken, ist er auch durch die sich zuziehende Schlinge der Polizeiermittlungen dazu genötigt, sich diesen zu stellen.

Nein, „Der König der Lügen“ erfindet den Krimi mit Sicherheit nicht neu. Was in erster Linie daran liegt, dass er eben über weite Strecken mehr familiäres Drama als Krimi ist – und in gerade dieser Hinsicht auch bereichert. Wie Dennis Lehane, so erweist sich gleichfalls John Hart als aufmerksamer Beobachter, als empathischer Entdecker der vielen kleine Unglücke, die unter den richtigen, oder besser gesagt falschen Umständen, in einer großen Tragödie enden können. Sollte dieser Einstieg ins Autorendasein also tatsächlich seinen schlechtesten Wurf darstellen – die Vorfreude auf Harts weitere Werke könnte kaum berechtigter sein.

Wertung: 87 von 100 Treffern

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  • Autor: John Hart
  • Titel: Der König der Lügen
  • OriginaltitelThe King of Lies
  • Übersetzer: Rainer Schmidt
  • Verlag: Goldmann
  • Erschienen: 5/2009
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 442 Seiten
  • ISBN: 978-3442469932

Laughing all the way to hell

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© Pulp Master

„Ich mochte Morris – zumindest so, wie ich jeden mochte, den ich mochte.“

Mit diesem euphemistischen Bekenntnis des Ich-Erzählers setzt Autor Dave Zeltserman schon auf der ersten Seite genau das fort, womit er schon mit der Betitelung seines Romans begonnen hat: Die äußerst geschickt inszenierte Manipulation des Lesers.

Von „Small Crimes“ (dt. „Kleine Verbrechen“) kann nämlich im ersten Buch der zwar nicht inhaltlich, aber thematisch zusammenhängenden „Badass Get Out of Jail“-Trilogie, mitnichten die Rede sein. Mehr noch: Wenn der oben zitierte Joe Denton davon spricht, dass er jemanden mag, heißt das nichts Geringeres, als dass ihm die jeweilige Person so ziemlich Arsch vorbeigeht – wobei sie sich in guter Gesellschaft wähnt, denn wie wir im Laufe der knapp 340 Seiten feststellen dürfen, interessiert den Erzähler, trotz andauernder anderslautender Beteuerungen, nur eins: Er selbst. Und das, muss man fast sagen, ist auch gut so, weil der Klappentext den vorliegenden Noir als Machwerk in der Tradition von Jim Thompson und James M. Cain preist – zwei absolute Schwergewichte des dreckigen Hardboiled, die vor allem eine Sache verbindet: Sie waren beide äußerst geschickt darin, den Leser das glauben zu lassen, was sie wollten – und zwar so lange wie sie es wollten.

Es ist also wenig verwunderlich, dass der ehemalige Softwareentwickler Zeltserman, ersteren Autor auch als großes Vorbild nennt und bereits für einige Publikationen über diesen verantwortlich zeichnet. Inzwischen gilt er selbst als legitimer Nachfolger Thompsons. Und bevor alle Puristen nun gleich Schnappatmung kriegen – das ist nur ein auf den ersten Blick anmaßender Vergleich, denn „Small Crimes“ beweist eindrücklich, dass es dieser Gegenüberstellung durchaus standhalten kann. Einen Beweis, den er mit den nachfolgenden Titeln der Trilogie, „Paria“ und „Killer“, noch zementiert, wo sich der Autor bei seinen Hauptprotagonisten sogar von realen Hintergrundgeschichten inspirieren ließ. Vielleicht auch eine Erklärung für die nicht chronologische Veröffentlichungspolitik des Pulp Master Verlags, der uns nach dem soziopathischen Killer Kyle Nevin und dem eiskalten Mafia-Ausputzer Leonard March nun also den ehemaligen Cop Joe Denton kredenzt.

Wie schon die beiden anderen Protagonisten, so wird auch Denton aus dem Knast entlassen, wo er zuvor sieben Jahre absitzen musste. Nur sieben Jahre möchte man sagen, denn er hatte nicht nur versucht die ihn belastenden Beweismittel im Büro des Bezirksstaatsanwalts Phil Coakley abzufackeln, sondern, als er von dessen Ankunft überrascht wurde, Coakley gleich auch noch dreizehnmal mit einem Brieföffner im Gesicht traktiert. Normalerweise genug für die Höchststrafe, selbst in einem vergleichsweise liberalen Staat wie Vermont, doch die richtigen Leute wurden geschmiert. Was in einer Kleinstadt wie Bradley vor allem dann problemlos vonstatten geht, wenn die komplette Polizei durch und durch korrupt ist, und daher großes Interesse daran hat, dass ihr Ex-Kollege hinter Gittern seinen Mund hält. Weil Denton das ohne zu Murren tut, ist seine Zeit im Gefängnis relativ leicht, doch seine Hoffnungen für einen Neuanfang lösen sich schon beim Verlassen der Justizanstalt in Luft auf.

Phil Coakley, fürs Leben entstellt, wartet am Ausgang und setzt ihn davon in Kenntnis, dass er nichts unversucht lassen wird, um Denton wieder dorthin zu bringen, wo er gerade hergekommen ist. Eine Drohung, die der Ex-Cop relativ locker nimmt, bis er sich mit dem örtlichen Sheriff Dan Pleasant trifft. Pleasant, welcher seit Jahren in allen dreckigen Geschäften in der Gegend seine Finger hat und eng mit dem örtlichen Mobster Manny Vassey zusammenarbeitet, macht seinem Namen keinerlei Ehre. Er setzt Denton eindringlich davon in Kenntnis, dass Manny an Magenkrebs erkrankt ist. Und mehr noch: Anscheinend hat er zu Gott gefunden und will auf dem Sterbebett seine Sünden beichten. Sünden, an denen natürlich auch Denton und Pleasant maßgeblich beteiligt gewesen sind, was wiederum Phil Coakley weiß, der den todkranken Mobster regelmäßig besucht und Stück für Stück Richtung Geständnis treibt. Denton wird nun vor die Wahl gestellt: Entweder Manny oder Coakley – einer von beiden muss sterben …

Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert und so lässt uns auch Zeltserman anfänglich glauben, dass Denton mit der Vergangenheit abschließen, aus dem Teufelskreis ausbrechen und ein neues Leben beginnen will. Als Triebfeder dienen ihm dafür die beiden inzwischen jugendlichen Töchter, nach denen er sich auf den ersten Blick sehr sehnt und welche seine Ex-Frau Elaine mit zu sich nach Albany genommen hat. Wohlgemerkt, auf den ersten Blick, denn wie anfangs erwähnt, ist Zeltserman, und insbesondere seine frühen Werke, stark vom Vorbild Thompson geprägt, der es meisterhaft verstand, in die Psyche seiner Figuren einzutauchen und ihr Handeln zu rechtfertigen. Eine Psyche, die meist gestört war. Und ein Handeln, dass nicht selten aus brutalem Mord bestand. Denton reiht sich in diese Kategorie der manipulativen Erzähler ein, lässt uns nach und nach ahnen, dass seinen Worten, seinen Bestrebungen nicht zu trauen ist – bis auch schließlich der gutgläubigste Leser dann kapiert hat, dass er es hier mit einem ausgewachsenen Psychopathen zu tun hat.

Es ist die große Stärke von „Small Crimes“, dass dies nie wirklich offensichtlich, dass die eigentliche Wahrheit verschleiert, beschönt und hintertrieben wird – stets darauf setzend, dass ein Großteil des Publikums, wenn schon nicht an das Gute glaubend, so zumindest der Ansicht ist, einen weiteren Genre-typischen Anti-Helden vorzufinden. Doch heldenhafte Züge – sie sucht man bei Denton vergebens, der immer wieder neue Lösungsmöglichkeiten erdenkt, um sich aus der Schusslinie zu befreien und sich damit Schritt für Schritt nur mehr in der Scheiße reitet. Die regelmäßigen Damespiele mit dem Direktor im Knast noch kontrollierend, ist er außerhalb des Gefängnisses nur ein Spielball fremder Mächte – und vor allem seiner eigenen verderbten Moral. Er wird nicht müde sich zu rechtfertigen, versichert sich selbst und dem Leser immer wieder von seiner Reue, um dann im Anschluss doch der rasenden Wut und der Sucht nach Koks nachzugeben, welche beide schon vor sieben Jahren für seinen Abstieg verantwortlich waren. Die zaghaften Versuche seiner Eltern, die ihn eigentlich zum großen Teil schon aufgegeben haben, mehren den Zorn noch. Der psychologischen Analyse seines Vaters, er hätte eine narzisstische Störung, begegnet er mit beißendem Spott. Man hat das Gefühl, dass alles was Dentons Hand berührt verdorrt, jeder seiner Züge von vornherein zum Scheitern verurteilt ist.

Und genau diese Züge sind es, die nach und nach den Spannungsbogen nach oben treiben, den Kessel mehr und mehr unter Druck setzen und zum Kochen bringen. Ein Kessel, welcher noch zusätzlich durch die örtlichen Gegebenheiten befeuert wird, denn auch das Setting ist eine Reminiszenz an Thompsons Noir. Ein kleines Provinzkaff im ländlichen Vermont – gefüllt mit mörderischen Schlägern und Heimat für Stripclubs, Meth-Labore und schmuddelige Motels. Der typische New-England-Sündenpfuhl also, wie er schon von vielen Vertretern dieses Genres bedient wurde. Und ein Ort, den man natürlich nicht so einfach hinter sich lassen kann. Schon gar nicht, wenn man es so halbherzig versucht wie Joe Denton, der, gefangen in einer Abwärtsspirale, stattdessen voll auf Konfrontationskurs geht, wodurch sich das übliche Chaos noch multipliziert. Und Chaos ist das einzige, wozu Denton fähig ist, die einzige Verlässlichkeit dieses Plots – dieser Ausbruch der Gewalt, der dräuend über der Geschichte hängt und sich naturgemäß schlussendlich entladen muss. Doch selbst hier weiß das Wie zu begeistern und ringt dem Altbekannten sogar ein paar neue Facetten ab.

Small Crimes“ ist ein Noir alter Schule mit äußerst nihilistischem Anstrich. Dreckig, kantig, roh – und doch stilistisch auch immer wieder ein echtes Fest, wenn Denton uns Einblicke wie diese gewährt:

„Einen Augenblick lang dachte ich, sie werde mir erklären, ich sollte mich selbst ficken, und dass sie es nicht tat, ich glaube, dass überraschte sie selbst wohl noch mehr als mich. Ihr Lächeln verabschiedete sich und sie nickte. Ich denke, die Story war ihr mehr wert als die Genugtuung darüber, mir zu erklären, auf welche Weise ich mich mit mir selbst beschäftigen konnte.“

Es bleibt dabei. Wo Pulp Master draufsteht, ist erstklassige Unterhaltung drin.

Wertung: 87 von 100 Treffern

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  • Autor: Dave Zeltserman
  • Titel: Small Crimes
  • Originaltitel: Small Crimes
  • Übersetzer: Michael Grimm, Angelika Müller
  • Verlag: Pulp Master
  • Erschienen: 08.2017
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 337 Seiten
  • ISBN: 978-3927734838

 

Die künstlerische Eleganz der Routine

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© Pendragon

Wer schon mal nach langem Auslandsaufenthalt, einem Urlaub oder anders gearteter Abwesenheit auf dem Weg nach Hause endlich das lang ersehnte Ortsschild erblickt hat, kennt dieses Gefühl: Eine (unter optimalen Umständen) unterschwellige Vorfreude, die Erwartung einer wohl bekannten Geborgenheit, der Rückzug in die seit Jahren antrainierte Routine.

Ähnliche emotionale Reflexe wird wohl auch diesmal die Lektüre des im Mai 2010 beim Pendragon Verlag veröffentlichten Robert B. Parker Romans „Alte Wunden“ auslösen, der sich, wie schon seine Vorgänger, kein Jota vom altbewährten Schema F entfernt hat. Freunde des vornamelosen und in die Jahre gekommenen Privatdetektivs werden dies wiederum sicherlich begrüßen, bedeutet ein neuer Parker-Roman doch auch so etwas wie eine Heimkehr, ein Wiedersehen mit guten, lieb gewonnenen Bekannten. Ein Wiedersehen, das zumeist dann besonders kurzweilig ausfällt, wenn seit dem letzten Treffen eine gewisse Zeit ins Land gegangen ist, denn Variation und individuelle Kreativität sind Parkers Sache nicht, was auf Dauer auch den geduldigsten Reihen-Leser auf die Palme bringen kann.

Die Titelwahl des Pendragon Verlags kann hier nur begrüßt werden, denn „alte Wunden“ sind es in der Tat, die Spenser in seinem diesmaligen Fall aufreißen muss, um der Wahrheit auf die Schliche zu kommen. Beauftragt von seinem ehemaligen Schützling Paul Giacomin soll er für dessen Freundin Daryl Gordon herausfinden, wer für den Mord an ihrer Mutter während eines Banküberfalls im Jahre 1974 verantwortlich gewesen ist. Durchgeführt wurde die damalige Aktion von einer revolutionären Studentengruppe namens „Dread-Scott-Brigade“, über die, das findet Spenser bei seinen Nachforschungen im Polizeirevier seines Freunds Martin Quirk raus, nicht allzu viel aktenkundig ist. Und auch dem FBI scheint Mitte der 70er Jahre viel daran gelegen zu haben, den Fall möglichst schnell unter den Teppich zu kehren.

Spenser lässt nicht locker und tritt mit Freund „Hawk“ die Reise nach San Diego an, um von Daryl Gordons Vater Näheres in Erfahrung zu bringen. Währenddessen wird die Liste seiner Verfolger länger und länger. Und ein Killer namens Harvey wartet nur auf den geeigneten Zeitpunkt, um die alten Wunden durch neue und ebenfalls tödliche zu ersetzen …

Wenn etwas nicht kaputt ist, repariere es nicht.“ Getreu diesem Motto schreibt Robert B. Parker seit 1973 seine Romane mit dem Serienhelden Spenser, der es, verkörpert von Robert Urich, Mitte der 80er sogar für einige Jahre auf die Leinwand geschafft hat. Der ehemalige Cop, dem seine Launen und der Egoismus die Karriere kosteten, ist auch im Jahre 2003 immer noch derselbe Spenser wie früher. Und das soll auch so sein, ist es doch gerade diese Zeitlosigkeit welche von Parkers Publikum geschätzt wird. Veränderungen sind unerwünscht, neues Blut in Form neuer Hauptcharaktere braucht es nicht. Stattdessen findet Parker immer wieder Mittel und Wege dem altbewährten Figurenstamm um Spenser neue, wenn auch kleine, Facetten abzuringen. Diese Variation auf kleinstem Raum scheint zu funktionieren, birgt jedoch auch stets die Gefahr in sich, ausrechenbar zu werden.

Parkers Werke sind somit, auch wegen ihrer Länge (meist sind es nicht wenig mehr als 200 Seiten), prädestiniert für die Lektüre zwischendurch, da Handlung wie Personenbesetzung auf einen Blick zu überschauen sind. Das letztere dabei aus dem Lehrbuch des „Hardboiled/Noir“-Werks zu stammen scheinen und jegliches Klischee seit den Zeiten Marlowes und Spades mitnehmen, wird zwar in jeder Zeile deutlich, macht aber nun auch die Faszination der „Spenser“-Reihe aus. Man weiß, was einen hier erwartet. Ein rauer, trinkfester Privatdetektiv, an dem die Jahrzehnte augenscheinlich fast spurlos vorbeigegangen sind und der einen einmal angenommenen Fall bis zum bitteren Ende verfolgt. In „Alte Wunden“ wird er für seine Arbeit lediglich mit sechs Donuts entlohnt, was ihn jedoch nicht davon abhält die größten Risiken einzugehen (Selbst dann noch, als ihn seine Klientin längst aufgefordert hat, den Fall ruhen zu lassen).Und wenn es hart auf hart kommt, gibt es ja immer noch seinen schweigsamen Freund Hawk. Seit Beginn der Reihe ist er düsterer Schatten und Rückendeckung zugleich, wenn es darum geht, im Kugelhagel die bösen Buben ins Nirvana zu befördern. Seine stoische Ruhe und Gelassenheit bildet einen scharfen Kontrast zum extrovertierten Plappermaul Spenser, dem die Frauen auch im höheren Alter immer noch zu Füßen liegen. Das dessen Herz seit Jahren nur für die Lebensgefährtin Susan Silverman schlägt, ist schon fast der einzige abweichende Punkt zu Parkers geistigen „private-eye“-Vorbildern aus den 30er Jahren.

Was den Stil angeht: Parker hat die ökonomische Schreibweise perfektioniert. Jeder Satz ist genau einstudiert, sitzt wie ein guter Schuh, treibt die Handlung voran. Hier gibt es keine Nebenschauplätze, keine störenden Innenansichten, keine Ausschweifungen über zwischenmenschliche und soziale Probleme. Das tiefere Grundgerüst des Ganzen ergibt sich aus den Handlungen und Dialogen der Figuren. Und da haben es besonders letztere in sich: Mit trockenem, lakonischem Charme spielen sich Spenser und Hawk die rhetorischen Bälle zu, dass es eine wahre Freude ist. Selbstironie, schwarzer Humor, nicklige Wortgefechte. Parker setzt immer wieder köstliche Glanzmomente, um kurze Zeit später mit drastischen Szenen oder einem dramatischen Shoot-Out das Gaspedal wieder voll durchzutreten (In diesem Fall weiß da besonders Spensers Konfrontation mit drei Hitmen in einem verlassenen Stadion zu überzeugen). Dank jahrzehntelanger Routine gelingt dies mit einer unspektakulären Eleganz, welche zwar altmodisch ist, aber eben auch das altbewährte kraftvoll und immer noch spannend in das Heute zu retten vermag.

Robert B. Parker bleibt sich mit „Alte Wunden“ treu. Innerhalb der für ihn eng gestreckten Grenzen des Genres gelingt ihm auch hier wieder eine herrlich unaufgeregte und doch stets fesselnde Spenser-Episode, welche auf den größeren Kanon der Reihe zwar keine nachhaltigen Auswirkungen haben wird, aber einen weiteren Mosaikstein dem beeindruckenden Werk Parkers hinzufügt. Dieser ist am 18.1.2010 mit 77 Jahren von uns gegangen. Seine Bücher bleiben wie er, auch dank dem Engagement des Pendragon Verlags, unvergessen.

Wertung: 87 von 100 Treffern

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  • Autor: Robert B. Parker
  • Titel: Alte Wunden
  • Originaltitel: Back Story
  • Übersetzer: Emanuel Bergmann
  • Verlag: Pendragon
  • Erschienen: 05.2010
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 224 Seiten
  • ISBN: 978-3865321589