John Buchans „Der Übermensch“, war da nicht mal was? Wer die deutsche Verlagsszene insbesondere im Bereich Kriminalroman in den letzten Jahren genauer verfolgt hat, dem wird nicht entgangen sein, dass dieser Titel bereits 2014 vom Elsinor Verlag veröffentlicht worden ist. Genau ist dabei allerdings das Stichwort, denn wie leider so oft bei kleineren Verlagshäusern, so blieb auch diesem Buch eine größere mediale Reichweite – und damit ein entsprechendes Lesepublikum – verwehrt. Und wenn es sich dann auch noch um einen Klassiker aus der Zeit des Ersten Weltkriegs handelt, scheinen die Chancen nicht selten umso geringer. Wieso also jetzt eine weitere Neuauflage?
Nun, einerseits feierte der klassische Spannungsroman zuletzt ein kleines Revival, wobei dies wohl weniger der großen Nachfrage geschuldet ist, als vielmehr dem Kostenfaktor. Anstatt Übersetzer, Lektoren und neue Lizenzen für großes Geld einzukaufen, bedient man sich bestehender Rechte und auch Übersetzungen, welche man allenfalls nochmal hier und da überarbeitet. Verlage wie zum Beispiel Kampa oder auch der Unionsverlag haben die finanziellen Vorteile in diesem Geschäftsmodell längst für sich entdeckt und entsprechend ihr Programm ausgerichtet. Andererseits gibt es weiterhin Menschen dort draußen, die nicht müde werden, sich für längst vergessene (oder auch bis dato unentdeckte) Krimi-Perlen einzusetzen. Und einer davon ist seit vielen Jahrzehnten Martin Compart – ehemaliger Herausgeber für u.a. so wegweisende Krimi-Reihen wie die „gelben Krimis“ bei Ullstein, die „Schwarze Serie“ von Bastei Lübbe oder die kurzlebige Kollektion DuMont Noir. Er ist es auch, der in der überarbeiteten Ausgabe von „Der Übermensch“ (engl. „The Power House“) wieder ein Nachwort besteuert, das sich am Informationsgehalt der oben genannten Reihen orientiert, fast allein den Kauf schon lohnt – und damit aber eigentlich auch in Inhalt und Umfang eine größere Besprechung des vorliegenden Romans fast gänzlich überflüssig macht.
Was soll ich da jetzt noch ergänzen oder aus dem Text herausholen? Das war so ziemlich mein erster, leicht verzweifelter Gedanke nach der Beendigung dieses Klassikers, welchen Compart – im Kontext der Bedeutung und der Entwicklung des Spionage-Romans (bis hin zum Ursprung des Begriffs Spion an sich) sowie auch mit Fokus auf den Lebenslauf John Buchans – im Anschluss an die eigentliche Geschichte über ganze dreißig Seiten (!!) analysiert. Nun, konzentriere Dich einfach auf den gelesenen Text, würde wohl mein alter Dozent zu mir sagen. Doch genau hier steht man relativ schnell vor dem nächsten Problem, denn „Der Übermensch“ ist eigentlich vom Umfang her weniger ein Roman, als vielmehr eine recht übersichtliche Novelle, welche zudem ohne wirkliche Aktion seitens des Hauptprotagonisten, Edward Leithen, auskommt.
Leithen ist stattdessen der Prototyp des „Clubland Heros“, der, selbst konfrontiert mit lebensbedrohlichen Problemen, diesen weitestgehend von seinem Schreibtisch aus begegnet, wodurch sich wiederum Buchans Geschichte deutlich von vielen zeitgenössischen Kollegen wie Eric Ambler oder W. Somerset Maugham, unterscheidet. Compart spricht hier von einem „romantisierenden Blick“ gegenüber dem eher realistischen Ansatz der genannten Autoren – und trifft damit den Nagel auf den Kopf. Genau diese stilistische Eigenheit des schottischen Schriftstellers lässt aber eben wenig Raum für eine Auseinandersetzung mit der eigentlichen Handlung – zumindest ohne im gleichen Zug die Essenz, Faszination und vor allem Spannung schon vorweg zu nehmen. Ich will es dennoch versuchen und dabei vermutlich scheitern:
Edward Leithen ist der exemplarische, ja fast schon klischeehaft konservative Vertreter der britischen Oberschicht nach dem Ende der viktorianischen Ära. Wohnhaft in der Metropole London, leistet er seinen Dienst am Empire als Abgeordneter der Tory-Partei im Parlament und ist nebenbei noch am örtlichen Gericht als Anwalt tätig. Sein Leben findet neben diesen beiden Schauplätzen größtenteils in diversen exklusiven Clubs statt, in welchen die erbitterten, aber stets sportlichen Konflikte aus den politischen Sälen Westminsters mit großer Begeisterung fortgesetzt werden. So ist es wenig überraschend, dass zwei seiner besten Freunde dem gegnerischen Lager der Labour-Partei entstammen. Während man sich vor den Augen der allgegenwärtigen Presse in den Auseinandersetzungen nichts schenkt, schätzt man sich privat umso mehr, wenngleich ein jeder darauf bedacht ist, den jeweils anderen mit seinen Leistungen oder Erlebnissen zu beeindrucken.
Während einer geselligen Zusammenkunft ist es dann an Edward Leithen von seinem bis dato größten Abenteuer zu erzählen. Dieses begann mit der urplötzlichen und mysteriösen Flucht eines Bekannten aus London. Sein Name: Charles Pitt-Heron. Schon immer mit dem Ruf eines Draufgänger versehen, sind dessen Freunde dennoch überrascht über die Art und Weise der Abreise. Von seinem Freund Tommy Deloraine erfährt Edward, dass Charles zuletzt in zwielichtigen Kreisen verkehrt hat und nun verzweifelt versucht, diesen zu entkommen. Tommy seinerseits möchte ihm nachreisen und beistehen, weswegen er seinen Freund damit beauftragt, die Ursprünge der unbekannten Gefahr näher zu erforschen. Edward, der einst Charles‘ Ehefrau Ethel sehr zugetan war, kommt nach und nach einer weltumspannenden Verschwörung namens „Das Kraftwerk“ (engl. „The Power House“) auf die Spur und sieht sich schließlich sogar dessen Kopf gegenüber. Als dieser ihm die mitunter nachvollziehbaren Gründe für sein kriminelles Wirken erläutert, steht er vor einer schwierigen Wahl: Soll er den Dingen seinen Lauf lassen oder sein eigenes Leben riskieren, um ein anderes zu retten? Edwards Entscheidung setzt schließlich eine Kette von Ereignissen in Gang, welche von London bis in das ferne Kaschmir ihren Widerhall finden …
John Buchan – ein Name, der heute hierzulande allenfalls Kennern des Genres in Begriff ist, wobei sich diese Kenntnis zumeist auf sein wohl bekanntes Werk, „Die neununddreißig Stufen“, potenziert, dessen Verfilmung durch den damals noch recht jungen Alfred Hitchcock zu den größten britischen Filmen aller Zeiten zählt. Hier, in Großbritannien, ist Buchans Buch auch seit seinem Erscheinen im Jahr 1915 durchgehend lieferbar. Im Verlauf der Jahre hat es wie sein Schöpfer viele Bewunderer gefunden, zu denen u.a. Persönlichkeiten wie der ehemalige amerikanische Theodore Roosevelt zählten. Auch Graham Greene orientierte sich in seiner Arbeit stark am Idol John Buchan, dessen abwechslungsreiches und fast übervolles Leben von Martin Compart in dieser Ausgabe hervorragend herausgearbeitet und gewürdigt wird. Obwohl er nur 64 Jahre alt wurde, tat er sich nicht nur als Schriftsteller und Journalist hervor, sondern war während des Ersten Weltkriegs auch Mitarbeiter im militärischen Geheimdienst und ab 1935 sogar Generalgouverneur von Kanada. Zu seinem umfangreichen Werk gehören neben zweiundvierzig Sachbüchern, vier Gedichtbänden und zehn Biographien auch achtundzwanzig Romane, von denen der erste, „The Half-Hearted“, bereits im Jahr 1900 das Licht der Öffentlichkeit erblickte.
In dieser bis heute unübersetzten klassischen Abenteuergeschichte verhindert der Held namens Lewis eine Invasion durch die Russen. Zehn Jahre später folgt der Leser Buchan in „Trommeln über Transvaal“ (engl. „Prester John“) nach Südafrika, wo sich ein junger Engländer einem verheerenden Aufstand der Schwarzen entgegenstellt. Letzterer ist zwar von der damaligen imperialistischen Ideologie und Doktrin beeinflusst, zeichnet gleichzeitig aber auch ein für diese Zeit überraschend verständnisvolles Bild der südafrikanischen Sichtweise. Aus heutiger Sicht könnte man „Trommeln über Transvaal“ wohlwollend als frühen Polit-Thriller bezeichnen.
Dennoch sollte es nochmal fünf weitere Jahre dauern, bis Buchans literarischer Fingerabdruck auch von einem größeren Publikum wahrgenommen wird. Beeinflusst von den desillusionierenden Eindrücken des Kriegsjahres 1915, begann er mit der Arbeit am bereits erwähnten „Schlüsselwerk“ seiner Schriftstellerkarriere – „Die neununddreißig Stufen“, das noch im gleichen Jahr in Druck ging und zu einem großen Erfolg für Buchan wurde. Ein Erfolg, von dem auch „Der Übermensch“ profitierte, der bereits 1913 als Fortsetzungsroman erschienen war, und drei Jahre später, die Gunst der Stunde nutzend, als gebundene Ausgabe erneut auf den Markt kam. Nach Ansicht von Martin Compart, handelt es sich hierbei um den ersten modernen Spionage-Roman. Und selbst wenn viele Buchan nachfolgende Autoren des Genres bis heute „Die neununddreißig Stufen“ als Blaupause hervorheben – ich bin nach genauer Überlegung durchaus eneigt Compart zuzustimmen.
Um seine Sichtweise zu teilen, bedarf es allerdings auch einer gewissen Erweiterung eben dieser, denn „Der Übermensch“ hat aus heutiger Sicht nur noch wenig mit dem gemeinsam, was wir, geprägt von Protagonisten wie George Smiley oder James Bond, mit diesem Sub-Genre verbinden. Anstatt uns wie später genreüblich an der Seite der fürs Gute streitenden Helden körperlicher Gefahr auszusetzen, entwickelt sich der Spannungsbogen von „Der Übermensch“ größtenteils zwischen den Papierstapeln des Schreibtischs, hinter denen Edward Leithen sitzt und Telegramme verschickt, um die eigentlich der Bedrohung ausgesetzten Akteure zu warnen und in Sicherheit zu bringen. Fast scheint es anfangs so, als hätte Buchan es bewusst vermieden, seine höchstwahrscheinlich eher elitäre Leserschaft direkt mit so primitiven Dingen wie Mord und Totschlag auseinanderzusetzen. Immer wenn sich daher die Häscher den durch die Berge Bucharars und Kaschmirs Charles Pitt-Heron und Tommy Deloraine nähern, sitzen wir Leser im warmen, behaglichen London – relativ unberührt von dem Ausmaß der kriminellen Verschwörung, die Edward bis hierhin relativ dank diverser Gespräche und Schlussfolgerungen unbehelligt aufdecken kann. Zumindest so lang, bis der Hauptprotagonist durch das Element des Zufalls dem Kopf dieses Syndikats gegenübersteht.
Bis zu diesem Zeitpunkt hat uns „Der Übermensch“ zwar relativ temporeich und gefällig, aber auch wenig überraschend oder gar begeisternd von Seite zu Seite zu tragen – nun ändert diese Begegnung in einem dunklen Salon eines alten Landhauses von jetzt auf gleich die ganze Tonalität. Hier, in den Schatten eines brennenden Kaminfeuers, offenbart sich der scheinbar wohlwollende Gastgeber als Drahtzieher des Bösen, als kultivierte und doch gefährliche Spinne im Zentrum eines gewaltigen Netzes. Martin Compart zieht in seinem Nachwort Vergleiche mit Hugo Drax und Ernst Stavro Blofeld, späteren Superverbrechern und Gegenspielern James Bonds, dessen Schöpfer Fleming sich ebenfalls als Autor in der Tradition John Buchans verstand. Und tatsächlich liegen die Parallelen deutlich auf der Hand, erinnert die Enthüllung des Bösewichts frappant an die Konfrontationen von 007 mit den übergroßen Schurken, welche durch die Verfilmungen in die moderne Kultur übergegangen sind. Für mich weckt dieser wortwörtliche Gänsehautmoment – der Dialog zwischen Leithen und dem Kopf des „Kraftwerks“ gehört meines Erachtens zum Besten, was dieses Genre hervorgebracht hat – allerdings Erinnerungen an jemand ganz anderen.
Wenn sich Leithen und sein Gegenüber ein philosophisches Wortduell über ihre gegensätzlichen Weltanschauungen liefern und unser Held dabei, ohne wirklich nachzugeben, in diesem Kräftemessen immer mehr an Boden verliert, verwandelt sich das düstere Zimmer vor meinen Augen in den tosenden Abgrund eines Wasserfalls – in den Schauplatz der unvermeidlichen und entscheidenden Auseinandersetzung zwischen dem Meisterdetektiv Sherlock Holmes und dem Napoleon des Verbrechens, Professor Moriarty. Und Letzterer ist es auch, der hier für mich in Gestalt des großen Gegenspielers eine einprägsame, weil zutiefst unheimliche Wiederauferstehung feiert. Mit dem gleichen diabolischen Genie versehen und ebenso entschlossen, arbeitetet auch das „Kraftwerk“ am Fall der bestehenden, so genannten Ordnung, deren Ineffizienz und Anfälligkeit sich die Organisation aber gleichzeitig zu Nutze macht, um überall ihre eigenen Leute für den vernichtenden Schlag zu positionieren. Wie alle Oberschurken nach ihm (und vor ihm eben ein Moriarty), so gewährt er Leithen – und damit auch uns – einen relativ freigiebigen Blick in seine Absichten. Doch wo heutzutage ein actionreiches Überraschungselement dieser Selbstherrlichkeit ein Ende setzen würde, bleibt in „Der Übermensch“ nur ein mulmiges Gefühl zurück. Zu sehr schneiden sich die Worte von Leithens Gegner durch unser vermeintliches Selbstverständnis. Zu ungewollt und dennoch deutlich, der aktuelle Bezug.
„Haben Sie jemals darüber nachgedacht, wie brüchig diese Zivilisation eigentlich ist, auf die wir alle so stolz sind?“
Bei Drohungen bleibt es im weiteren Verlauf dann auch nicht mehr. Leithen, der sich als aufrechter Patriot seiner Zeit nicht einschüchtern lassen will, wird damit endgültig zum Hauptziel des vollkommen skrupellosen und an menschlichen Ressourcen nicht armen „Kraftwerks“ und muss fortan alle eigenen Hebel in Bewegung setzen, um am Leben zu bleiben – und um schließlich zum Gegenschlag ausholen zu können. Unterstützt wird er dabei von dem heimlichen Star des Buchs, der in Form des schlagkräftigen „Volkstribuns“ Chapman für ein paar handfeste Momente und damit eine kurzfristige Auflockerung der zupackenden Suspense sorgt (Übrigens fühlte ich mich auch hier an eine weitere Figur aus der Feder Sir Arthur Conan Doyles erinnert: Den temperamentvollen Professor Challenger aus „Die verlorene Welt“). Auch diese zupackende Unterstützung kann letztlich aber nicht verhindern, dass Leithen am Ende in den Straßen Londons noch um sein Leben laufen muss – und damit einem weiteren Stilelement den Boden bereitet, das heute aus keinem Spionage-Thriller mehr wegzudenken ist: Die rasante und atemlose Verfolgungsjagd.
„Der Übermensch“, Auftakt einer vierbändigen Reihe um Edward Leithen, ist aber auch abseits seiner Bedeutung für das heutige Sub-Genre des Kriminalromans ein kaptivierendes, unheimlich dichtes Stück Spannungsliteratur, dessen Lektüre immer noch lohnt. Es bleibt zu hoffen, dass Martin Compart und der Elsinor Verlag auch in Zukunft weitere Schätze dieser Qualität aus den Tiefen der Thriller-Geschichte heben können.
Wertung: 87 von 100 Treffern
- Autor: John Buchan
- Titel: Der Übermensch
- Originaltitel: The Power House
- Übersetzer: Jakob Vandenberg
- Verlag: Elsinor
- Erschienen: 05.2022
- Einband: Broschiertes Taschenbuch
- Seiten: 160 Seiten
- ISBN: 978-3942788670