Aller guten Dinge sind drei. Nachdem ihr Debütwerk, „Das fehlende Glied in der Kette“, sowie der erste Band aus der Tommy-und-Tuppence-Beresford-Reihe, „Ein gefährlicher Gegner“, zwar beide positive Resonanz erfuhren, aber der große literarische Durchbruch bis dato ausgeblieben war, ließ Agatha Christie im Jahr 1923 mit „Mord auf dem Goldplatz“ den zweiten Kriminalroman um Hercule Poirot und seinen Freund Captain Hastings folgen – und hatte damit nun endlich den lang ersehnten Erfolg. Nicht zuletzt wohl auch deshalb, weil Zeitungen, wie z.B. „The Times“, den belgischen Detektiv jetzt in einem Atemzug mit der bisherigen Ikone, Sherlock Holmes, nannten, was dem Bekanntheitsgrad der noch neuen Figur enorm zugute kam.
Persönlich begannen für Agatha Christie die frühen 20er Jahre jedoch weniger erfreulich. In ihrer Ehe mit Oberst Archibald Christie begann es zu kriseln, weil er sie zum einen berufsbedingt häufig allein ließ und zum anderen eine, laut ihren eigenen Worten „an Sucht erinnernde Vorliebe“, für das Golfspiel entwickelt hatte. Wenn er überhaupt einmal zuhause weilte, verbrachte er den Großteil seiner Freizeit auf den Golfplatz, weswegen sich Agatha Christie bald als „Golf-Witwe“ bezeichnete. Ihren Frust verarbeitete sie daraufhin kurzerhand in dem vorliegenden Roman, dessen Widmung natürlich als ironischer Wink mit dem Zaunpfahl an den Gatten interpretiert werden kann. Archibald hatte nie viel Interesse an ihrer Schreiberei gezeigt und letztlich sollte die Autorin den Konkurrenzkampf mit dem Sport Golf auch verlieren. Im Jahre 1926 gestand er ihr einer Affäre mit seiner neuen Golfpartnerin, die er nach ihrer Scheidung sogar heiratete. Agatha Christie nahm nie wieder einen Golfschläger in die Hand und mied fortan auch jeglichen Golfplatz.
Vor diesem Hintergrund ist es umso erstaunlicher, dass „Mord auf dem Golfplatz“ mit Sicherheit zu ihren besten Werken mit dem Protagonisten Hercule Poirot zählt, der hier nicht nur einen seiner kniffeligsten Fälle zu lösen hat, sondern auch – als einziger Roman der Reihe – fast ausschließlich im Norden Frankreichs spielt, wo Christie als junge Frau selbst einige Zeit lebte. Die Handlung nimmt ihren Anfang im fiktiven Dorf Merlinville-sur-mer, das laut Poirots eigenen Worten irgendwo zwischen Boulogne und Calais liegt:
Nachdem Poirot und Hastings, die sich mittlerweile in London eine Wohnung teilen, ein Brief erreicht, überqueren sie den Kanal, um sich mit Monsieur Renauld zu treffen, der, hier ansässig, sein Leben in Gefahr glaubt und um die dringende Unterstützung des bekannten Detektivs bittet. Poirot, dessen kleine graue Zellen schon lange nicht mehr gefordert wurden und der von den unspektakulären Fällen der letzten Zeit genug hat, kommt trotz aller Eile zu spät. Noch bevor er mit seinem Mandanten ein Wort wechseln kann, wird dieser tot in einer ausgehobenen Grube auf dem nahe gelegenen Golfplatz gefunden, während man seine Ehefrau gefesselt und geknebelt im Schlafzimmer entdeckt. Alle Indizien scheinen eigentlich klar auf einen Einbruch hinzudeuten. Und auch für den arroganten Ermittler der Sûreté, Monsieur Giraud, scheint der Fall gelöst. Niemand anderes als der Sohn, Jack Renauld, der für den Abend kein Alibi aufzuweisen hat, kann die Tat begangen haben. Doch Poirot selbst kommen Zweifel, die sich auch schon nach kurzer Zeit als berechtigt erweisen sollen …
Das liest sich auf den ersten Blick wie jeder andere typische Vertreter des klassischen Whodunits, aber „Mord auf dem Golfplatz“ birgt durchaus einige Besonderheiten. Nicht nur kommt der vorliegende Roman weit düsterer daher als die sonst eher gemütlichen Titel dieses Sub-Genres – mit Monsieur Giraud setzt Christie zudem auch einen zweiten „Hahn“ in den Stall, der sich von vorneherein gegen Poirots Teilnahme sperrt und diesem extrem feindlich gesinnt ist. Der Belgier, üblicherweise selbst gewohnt, die Bühne allein für sich zu beanspruchen, zeigt sich anfangs äußerst irritiert darüber, sein Scheinwerferlicht teilen zu müssen und ist derart in dem Konkurrenzkampf gefangen, dass er dadurch fast den eigentlichen Fall vergisst. Christie gibt sich hier viel Mühe, das Kräftemessen der zwei Egomanen in Szene zu setzen und geizt dabei weder mit Situationskomik noch mit einer gewaltigen Portion britischen Humors. Konkurrenz belebt in diesem Buch nicht nur das Geschäft, sondern vor allem die Handlung. Und sorgt letztlich auch dafür, dass der Belgier mit dem eiförmigen Kopf zur Höchstform aufläuft. Ihm spielt dabei vor allem sein gutes Gedächtnis in die Karten, denn sein Wissen über vergangene Fälle mit ähnlichem Tathergang soll sich bei der Lösung als äußerst nützlich erweisen.
Weniger nützlich ist diesmal Captain Hastings, der sich Hals über Kopf in die in dem Mordfall verwickelte Dulcie Duveen verliebt, was wiederum im weiteren Verlauf die Freundschaft zwischen ihm und Poirot auf eine harte Probe stellt. Später wird Hastings seine große Liebe heiraten und mit ihr gemeinsam nach Argentinien ausreisen, womit sich Agatha Christie einen persönlichen Wunsch erfüllt, die dieser Figur bereits seit dem ersten Roman überdrüssig geworden war und ihn von der Bildfläche verschwinden lassen wollte. Wie Arthur Conan Doyle, der Sherlock Holmes in den Reichenbachfällen entledigte, um ihn auf Druck der Leserschaft doch wieder zum Leben zu erwecken, so holt aber auch die Queen of Crime Poirots etwas naiven, aber gutmütigen Partner schon früh wieder zurück an dessen Seite. Schon im übernächsten Band der Reihe, „Die großen Vier“, wird er erneut mit von der Partie sein und erst 1937 für längere Zeit aus der Serie verschwinden, um dann sein Comeback und den letzten Auftritt erst wieder im Finale, „Der Vorhang“, zu feiern. Obwohl daher ein Großteil der Hercule-Poirot-Romane ohne Captain Hastings auskommt, ist er, wie Dr. Watson bei Sherlock Holmes, bis heute fest in unserer Erinnerung verwurzelt.
Und was tut sich in Punkto Spannungsmoment? Nun, wie jeder guter Rätselkrimi, so lebt auch dieser – der übrigens nur (wir wissen ja auch jetzt warum) wenige Zeit auf dem Golfplatz spielt – von den geschickt ausgelegten falschen Spuren und überraschenden Wendungen, wobei sich Agatha Christie hier eindeutig von Sir Arthur Conan Doyles Kurzgeschichte „Abbey Grange“ (siehe „Die Rückkehr des Sherlock Holmes“) sowie dessen Roman „Das Tal der Furcht“ inspirieren ließ. Das tut dem Lesevergnügen aber keinen Abbruch, denn wie geschickt und ausgekocht Poirot auch diesmal wieder die losen Fäden verknüpft, das weiß selbst fast hundert Jahre nach der Veröffentlichung des Romans noch zu begeistern. Mehr noch: Frönt Christie in ihren Krimis zumeist eher einer beschaulichen Gangart, entwickelt sich dieser Whodunit gegen Ende hin zu einem fesselnden Pageturner, den man auch für alle guten Worte nicht mehr aus der Hand legen möchte.
„Mord auf dem Golfplatz“ – das ist ein herrlich unterhaltsames Krimi-Kammerspiel von der ersten bis zur letzten Seite, das erstaunlich viele Haken schlägt und uns bis zum Schluss gekonnt im Dunkeln tappen lässt. Ein echtes Muss für alle Freunde der Queen of Crime und eine uneingeschränkte Empfehlung für alle Liebhaber des klassischen britischen Krimis aus dem Golden Age.
Wertung: 93 von 100 Treffern
- Autor: Agatha Christie
- Titel: Mord auf dem Golfplatz
- Originaltitel: The Murder on the Links
- Übersetzer: Gabriele Haefs
- Verlag: Atlantik
- Erschienen: 04/2016
- Einband: Taschenbuch
- Seiten: 240 Seiten
- ISBN: 978-3455651003
Ach, Stefan, ich liebe einfach Deine wunderbar fundierten und unterhaltsamen Rezensionen,…
…und wenn dann in dem Zusammenhang noch der Name meiner Lieblingsautorin fällt: Absolut perfekt!
Lieben Gruß
Andreas
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Und ich freue mich sehr über die warmen Worte. So etwas motiviert doch ungemein. Danke, lieber Andreas!
Liebe Grüße zurück
Stefan
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Gern nimmt man Herkule Poirot auch heute nochgern in die Hand. Immer noch gesellschaftskritisch, immer noch aktuell, immer gut durchdacht und unterhaltsam.
Diesen habe ich tatsächlich noch nicht gelesen und muss das unbedingt nachholen.
Danke und liebe Grüße
Nina
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Das stimmt. Wenngleich die Whodunits des Golden Age sich immer eines absolut künstlichen Settings bedient haben – dieses detektivische Kammerspiel funktioniert auch heute noch hervorragend (siehe zuletzt „Knives Out“), eben weil die Menschen sich seitdem nicht wirklich geändert haben.
Liebe Grüße zurück!
Stefan
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Herkule Poirot wird ewig leben. Und zwar nicht nur wegen der Bücher selbst, sondern auch wegen solch grandioser Rezensionen! 👍
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Oh, vielen lieben Dank! Momentan ist es hier in der Gasse verdächtig ruhig, da tun dann solche Worte besonders gut!
Liebe Grüße in den Norden & passt gut auf euch auf. Da kommen ja jetzt stürmische Zeiten auf euch zu. ;-)
Stefan
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Sturm ist erst, wenn die Schafe keine Locken mehr haben. Und zwar in allen Belangen. 😉
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:-D :-D :-D – Ach, ich vermisse den Norden. :-)
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Weißt ja: always welcome! Beide! Also wenn die Infektionslage es wieder zulässt.
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Falls es euch mal in das Land der Grimmschen Märchen zieht, gilt das natürlich auch für euch! Hoffentlich bessern sich die Zeiten bald wieder. Bis dahin ist durchhalten angesagt.
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Danke für die schöne Erinnerung: Genau dieser Poirot-Band steht auch in meinem Bücherregal (welches übrigens nicht so vollständig ausgestattet ist, wie auf dem Beitragsbild zu sehen ;) ) und vielleicht sollte ich ihn aus gegebenem Anlass wieder mal zur Hand nehmen. Herzliche Grüße!
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Hat auch ein bisschen gedauert alle Christies zusammenzusammeln (das Bild ist nur ein Ausschnitt des Regals) :-) . Gerade bei den Poirots sind wirkliche einige Perlen dabei, die man auch gern ein zweites oder drittes Mal liest. Ich besonders gerne dann immer in dieser eher unwirtlichen Jahreszeit.
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Ihre Krimis habe ich als Teenager verschlungen, doch dann war irgend einmal Schluss. Vielleicht bewegt mit deine attrakive Besprechung dazu, wieder einmal einen „Poirot“ in die Hand zu nehmen. Miss Marple hingegen bleibt aussen vor.
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Mit der guten Mrs. Marple bin ich (im Buchformat) auch nie so recht warm geworden. Das war mir dann doch ein Ticken zu cosy. Die gute Frau Rutherford schaue ich mir allerdings immer noch gerne an. ;-)
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Finde ich super, dass du gerade jetzt über Agatha Christie schreibst. Ich möchte nämlich in nächster Zeit wieder ab und zu auch Klassiker der Krimigenres lesen. Als Jugendlicher habe ich Christies „Tödlicher Irrtum“ gelesen, hat mich damals sehr begeistert. Aber wirklich erinnern kann ich mich nicht mehr, allerdings habe ich das Buch nie weggegeben. Ihre Miss-Marple-Krimis, da habe ich mich allerdings nie drübergetraut. Und Hercule Poirot kenne ich nur als Filmfigur aus „Mord im Orientexpress“ sowie „Tod am Nil“. Das von dir beschriebene Buch klingt aber auch sehr interessant. Eigentlich mag ich diese Whodunnit-Krimis ja überhaupt nicht, aber zwischendurch machen sie dann doch einigermaßen Spaß. Nur einen Rätselkrimi nach dem anderen, das halte ich überhaupt nicht aus …
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Ich hatte von 2006 bis 2009 eine regelrechte Whodunit-Phase und mir in der Zeit die gesamte DuMont-Kriminalbibliothek sowie sämtliche Christies, Sayers, etc. zusammengesammelt. Habe seit jeher ein Faible für diese klassischen Kammerspiele im Herrenhaus, wenngleich ich inzwischen diese auch nur noch wohl dosiert genießen kann. Die Tendenz geht jetzt tatsächlich noch viel mehr richtig Noir, Southern Gothic etc. – In der Poirot-Reihe gibt es aber einige echte Perlen. Habe fast alle Bände gelesen und auch rezensiert. Allerdings kann man diese alten Besprechungen nicht mehr vorzeigen, weswegen ich die jetzt nach und nach überarbeiten muss. – Empfehlen kann ich Dir übrigens nachdrücklich auch John Dickson Carr. Spielen zwar in einem meist völlig künstlichen Setting, sind aber schaurig-schön zu lesen und herrlich atmosphärisch. Und einen weiteren Krimiklassiker werde ich demnächst hier näher vorstellen. :-)
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