Wenn der Jongleur einen Ball verliert …

© Matthes & Seitz

Ich bin selbst kein Schriftsteller, also kann ich allenfalls Vermutungen anstellen. Dennoch behaupte ich, dass es wohl kaum einen schlimmeren Moment für einen Schreiberling gibt, als sich nach langer Abwesenheit vom Schreibtisch wieder an den Selbigen zu setzen, um einen neuen Roman, eine neue Geschichte oder einfach einen neuen Text in Angriff zu nehmen. Im besten Fall hat man bereits eine genaue Vorstellung von dem, was auf dem Papier erscheinen soll – im schlechtesten allenfalls lose Ideen, die man nun irgendwie zu einem literarischen Ganzen zusammenfügen muss. Ob letztere Ausgangslage zur Herausforderung wird, hängt dann vielleicht auch nicht zuletzt von der Tagesform ab. An manchen Tagen bewegt sich die Hand automatisch über die Tastatur oder der Stift über das leere Blatt – an anderen braucht es Stunden und manchmal gar Tage, bis der vermaledeite Knoten im Kopf sich löst und endlich ein paar Wörter erscheinen, die es wert sind, nicht gleich wieder gelöscht zu werden.

Was hat das nun mit Emmanuel Carrères „Der Widersacher“ zu tun? Nun, genau genommen gar nichts. Es ist ein Trick, eine List, um mich selbst zu täuschen, mich davon zu überzeugen, dass ich nach Monaten gesundheitlicher Rückschläge und damit einhergehender fehlender Muße für mein liebstes Hobby, eben jene Hürde, jene Blockade überwinden und wieder die richtigen Worte finden kann. Worte, die zu lesen sich für die Besucher dieses Blogs auch lohnen, weil man zwischen ihnen hoffentlich herauszulesen vermag, dass ich nicht nur den Spaß an der Sache, sondern auch den Zugang zu diesem Stück Literatur (zurück)gefunden habe, welches wohl wie kaum ein anderes besonderes Fingerspitzengefühl meinerseits erforderlich macht.

Der Widersacher“ (2001 bereits auf Deutsch beim Fischer-Verlag unter dem Titel „Amok“ erschienen) ist – ganz in der Tradition von Truman Capotes „Kaltblütig“ – ein True-Crime-Roman, der in seiner moralischen Integrität auf einem dünnen, aber scharfen Seil balanciert. Und dieses Seil, an dem sich die Geschichte entlanghangelt, hinterlässt wiederum schmerzhafte Abdrücke beim Leser. Es ist eine Koketterie mit dem morbiden Grauen und der seelischen Qual, mit dem Unsag- und Untolerierbaren, die immer kurz davor ist, ein Stück zu weit zu gehen. Immer die Grenzen noch ein bisschen weiter zu verschieben versucht – und mich damit auf halber Strecke fast verloren hat. Doch vor dem Warum, kommen wir vorher kurz zum Inhalt:

Jean-Claude Romand wächst als Sohn eines Försters und dessen depressiver Frau im französischen Jura auf. Schon früh lernt er, die seelischen Probleme seiner Mutter zu ignorieren und gemeinsam mit seinem Vater für Außenstehende stets neue Ausreden für Ihren Zustand zu erfinden. Bereits in jungen Jahren verstetigt sich dadurch der innere Impuls von Selbstleugnung und Selbstbetrug. Die eigene Traurigkeit wird verborgen, Unsicherheit mit selbstbewusstem Auftreten überspielt – Lügen ersetzen die Wahrheiten, werden zu den festen Stegen seines inneren Laufrads. Sein wahres Ich bleibt für alle anderen unsichtbar, gut versteckt hinter der bürgerlichen, wohlmeinenden Fassade eines Schauspielers, die zwar immer wieder Risse bekommt, aber über achtzehn lange Jahre durch fast unheimliches Glück dennoch nie in sich zusammenfällt, weil Romand mit der Selbstverständlichkeit eines Hauptmanns von Köpenick und der Fantasie eines Baron von Münchhausen seine Rolle spielt, dem wackeligen Lügengebäude mit immer wieder neuen Einfällen und Ausreden notdürftige – und meist auch nur kurzfristige – Stabilität verleiht.

Im Studium schwänzt er eine wichtige Zwischenprüfung, bleibt aber vor seinen Freunden beharrlich bei der Geschichte, diese bestanden zu haben. Ohne abgeschlossenes Medizinstudium droht ihm trotzdem die berufliche Bedeutungslosigkeit, worauf er kurzerhand behauptet, als Arzt und Forscher auf dem Gebiet für Arteriosklerose bei der WHO eine neue Stelle gefunden zu haben. Um den immer teurer werdenden Lebenswandel und die gut betuchten Bekannten weiter finanzieren zu können, nimmt er Kontakt zu seiner Verwandtschaft auf. Unter dem Vorwand, ihr Geld zu günstigen Konditionen in einem Hedgefonds anzulegen, erschleicht er sich über die Jahre ein enormes Kapital. Rückfragen zu seinem Beruf weicht er oft geschickt aus. Seine angeblichen Dienst- und Geschäftsreisen führen ihn in ein Hotelzimmer am Flughafen Genf, wo er medizinische Zeitschriften liest und sich in Reiseführern über seine angeblich besuchten Länder informiert.

Als er seine zukünftige Frau Florence kennengelernt, ist das für ihn nur ein weiterer Ball in seinem ganz persönlichen Jonglierspiel. Auch sie ahnt nichts von seinem Doppelleben, glaubt ihn täglich zur Arbeit gehen zu sehen, während er stattdessen ausgedehnte Wanderungen durch die anliegenden Wälder oder ganze Städtetouren unternimmt. Die Situation belastet ihn aber mehr und mehr und seine immer häufiger werdenden Stimmungsschwankungen erklärt er nun kurzum mit einer stets neu ausbrechenden Krebserkrankung. Während die Frau krank vor Sorge ist, findet Romand kurzfristig Trost in den Augen seiner Geliebten in Paris, bis diese ebenfalls zu viele Fragen stellt und er stattdessen seine Zeit mit Schlaf in seinem geparkten Wagen verbringt. Den weiterhin bohrenden Fragen kann er jedoch inzwischen nicht mehr aus dem Weg gehen. Und im Gegensatz zu früher, verliert das Lügen unter Druck für ihn zunehmend an Reiz. An dem Tag, wo die Geliebte das ebenfalls von ihm „angelegte“ Geld zurückverlangt, reift in ihm der Entschluss, sich das Leben zu nehmen. Am 9. Januar 1993 kauft er sich eine Pistole samt Schalldämpfer sowie einen Benzinkanister. Und was dann passiert, geht als einer der grauenvollsten Kriminalfälle der jüngeren Zeit in die französische Geschichte ein …

Ich habe lange mit mir gehadert, ob ich auf die weiteren Einzelheiten seiner Taten direkt eingehen soll, es aber schließlich doch unterlassen. Möglicherweise geht es dem ein oder anderen wie mir, und er war vor der Lektüre dieses Buches mit diesem speziellen Fall nicht vertraut. Wodurch er mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die nachfolgenden Geschehnisse mit noch großer Fassungslosigkeit verfolgen wird, zumal Carrère die klinische und selbstsichere Gründlichkeit von Romand in einer Art und Weise betont, die in der gespenstischen Ruhe seiner Vorgehensweise umso lauter beim Leser nachhallt. Der Autor taucht dabei tief in die menschlichen Abgründe ein, ohne uns jedoch ein Sauerstoffgerät an die Hand zu geben oder den Ausweg zur Oberfläche aufzuzeigen, weswegen man das Geschriebene nicht nur fast durchgängig mit atemloser Fassungslosigkeit verfolgt, sondern in all den Gräueln gefühlt zu Ertrinken droht.

Und das von Beginn an, wo Carrère im Vorwort relativ knapp zusammenfasst, wie er vom Verbrechen Jean-Claude Romands in der Zeitung Libération erfuhr, während er gleichzeitig das letzte Kapitel seiner Biographie über Philip K. Dick (mit dem in diesem Zusammenhang irritierend passenden englischen Titel „I Am Alive and You are Dead“) beendete. Kurz zuvor hatte er noch eine Versammlung an der Schule seines Sohnes besucht. Zum damaligen Zeitpunkt war dieser fünf Jahre alt. Genauso alt wie Romands Sohn, Antoine. Schon hier deutet sich die Marschrichtung des Buches an, in dem zwar äußerst deutlich Carrères dokumentarischer Stil mit einfließt, aber auch seine Eigenart zum Tragen kommt, sich selbst zum Teil der Geschichte zu machen – und damit gleichzeitig eine objektive Betrachtungsweise hinter sich lässt. Mit jedem Ort aus Romands Geschichte, den der Autor besucht und mit jedem Freund oder Verwandten, den er interviewt, scheinen die Grenzen zwischen Tatsachenbericht und Roman vollkommen ihre Konturen zu verlieren. Sie zerfließen vor den Augen des Lesers, den die zunehmend enge Verbindung mit dem Mörder verstört (Carrère besucht ihn – mit mehreren Unterbrechungen – sieben Jahre im Gefängnis) – der jedoch auch immer wieder merkt, wie sehr Carrère selbst damit gekämpft hat, den richtigen Ton zu treffen, die Person Jean-Claude Romand so zu fixieren, dass sich ein klares Bild ergibt.

Romands Taten stehen so im Kontrast zu allem, was einem gemeinhin als richtig und normal vorkommt, dass Carrère scheinbar nichts anderes übrig blieb, als immer mehr Nähe zu dem Täter zu suchen, dem das sichtlich Recht zu sein scheint und der jede Gelegenheit nutzt, um seine Beweggründe zu erklären – dabei aber nie konkrete Details nennt oder sonst in irgendeiner Form Stellung zum Verbrechen selbst bezieht. In seinen fast beiläufigen Erzählungen werden die eigenen Morde zu einer scheinbar folgerichtigen Tragödie, die es zwar zu bedauern, aber nicht zu bereuen gilt, da sich im Menschen Romand etwas standhaft weigert eine Gemütsregung zu zeigen, Position zu beziehen und Verantwortung zu übernehmen. Stattdessen verkauft er sich als Beifahrer eines Autos, das vom Beginn der Reise an schon außer Kontrolle ist. Ein Gefährt ohne Bremsschläuche, dessen letztendlicher Aufprall genauso so unvermeidlich war, wie die damit verbundenen „Kollateralschäden“. Genau in solchen Passagen muss man sich mühen, nicht voller Ekel die Buchdeckel zu zuklappen, nicht dem starren, ausdruckslosen Blick zwischen den Seiten auszuweichen. „Der Widersacher“ fordert von uns eine Standhaftigkeit im Angesicht des Bösen ab, die manch einer, verständlicherweise, nicht aufbringen möchte.

Wenn Carrère dann noch am Ende in die Ich-Perspektive von Romand wechselt, der uns vorgeblich lückenlos, aber offensichtlich ebenso manipulativ seine Sicht der Dinge in einer Art Zeugenaussage darlegt, wird das Buch auf mehreren Ebenen seinem Titel vollends zurecht. Einerseits passt er zum inneren Gegner, den Jean-Claude Romand nie niederzuringen geschafft hat (hat er es überhaupt je probiert?), da sein Umgang mit einem Problem stets vom Ignorieren und Umgehen des selbigen geprägt war. Andererseits beschreibt es genau das, was wir hier als Leser vorfinden. Einen nicht ganz 200 Seiten umfassenden Widersacher, der sich standhaft weigert, in einem Stück konsumiert zu werden und uns in weiten Teilen der Erzählung äußerst quer im Magen liegt.

Hat Carrère hier einem „Monster“ und „Ungeheuer“ eine unverdiente Bühne gegeben? Ist es überhaupt legitim, den Ursachen solcher Taten auf den Grund zu gehen, wenn man dabei vielleicht Gefahr läuft, die Schuld zu relativieren? Möchte ich in die Scheinwelt eines Mörders, in der es sich dieser sichtlich gemütlich gemacht hat, überhaupt einen Fuß setzen? Was können wir Leser Romand und am Ende auch Carrère überhaupt glauben? Wie viel Schlimmes ist bisher ungesagt und damit unentdeckt geblieben?

All diese Fragen muss sich der Leser selbst beantworten, weswegen ich unterm Strich keine uneingeschränkte Empfehlung aussprechen kann. Nüchtern betrachtet ist „Der Widersacher“ aber mit Sicherheit eins der prägendsten, qualvollsten und erschütterndsten Werke aus dem True-Crime-Genre, das ich bis dato in meinen Fingern hatte. Wer sich ernsthaft für die Psychologie eines Mörders interessiert (und nicht nur aus morbider Neugier Interesse an dieser Art Literatur zeigt), wird schwerlich an dem Titel vorbeikommen.

Wertung: 80  von 100 Treffern

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  • Autor: Emmanuel Carrère
  • Titel: Der Widersacher
  • Originaltitel: L’Adversaire
  • Übersetzer: Claudia Hamm
  • Verlag: Matthes & Seitz Verlag
  • Erschienen: 02.2011
  • Einband: Hardcover
  • Seiten: 195 Seiten
  • ISBN: 978-3957576125

6 Gedanken zu “Wenn der Jongleur einen Ball verliert …

  1. Viele denken ja immer, schreiben ist doch einfach. Und das doch x oder y gefälligst sein neues Buch endlich raus bringen soll oder eben einen neuen Blogbeitrag. Aber das sind dann wohl nur die, welche einfach ein Wort, einen Satz, ein Bild nach dem anderen konsumieren.
    Schön, dass Du wieder so genesen bist, dass Du hier Deinem Hobby nach gehen kannst. Danke für Deine Rezensionen
    Und ich hoffe, es wird weiter aufwärts gehen
    Liebe Grüße
    Nina

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  2. Hallo und Welcome back in der Gasse,

    so sehr ich mich freue wieder von Dir zu lesen so sehr bin ich absolut nicht an „True Crime“ interessiert – absichtlich – um mich vor schlafllosen Nächten und Sorgen zu schützen. Aus diesem Grund werde ich mir auch ganz bestimmt diese Doku über Dahmer nicht ankucken…

    Vielleicht verstehst Du es besser, wenn ich hier sage, dass eines meiner Kinder sich eine solche Welt plus Lebenslauf zusammen gelogen hat und nur seine Schwester und ich wussten wie es wirklich um ihn steht. Solange er als junger Mann galt, haben die Leute um ihn herum alle seine Storys geglaubt und wenn er Geld benötigte hat er mich (oder seine Schwester um einiges „erleichtert“).

    Mittlerweile ist er am eigenen Druck auf sich selbst zerbrochen und ist auf dem Weg ehrlicher zu sich selbst, der Familie, seinen Freunden und Bekannten zu werden (nicht so ganz, aber in Häppchen um die Wahrheit verdaulicher zu machen) und hat sich in ärztliche Behandlung begeben… Glaube mir, ich weiss nicht wie die Sache ausgegangen wäre, wenn er gar kein „Backup“ und feste Unterkunft durch mich erhalten hätte.

    Leider hat mich diese Situation in den letzten 15J. selbst ausgelaugt und überfordert und tut es immer noch. Solange jedoch Hoffnung besteht, werde ich dieses „Kind“ nicht aufgeben (so wie viele – auch Ärzte – es mir raten) und ich möchte auf jeden Fall verhindern, dass irgendwann durch entstehende Extremsituationen er selbst oder andere Menschen zu Schaden kommen.

    Irgendwie halte ich es mit dem „alten“ Herrn Genscher, der mal sagte: „Zu einem immer neuen Gespräch gibt es keine Alternative!“

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    • Erst einmal vielen lieben Dank für Deinen Kommentar und diesen äußerst persönlichen Einblick. Ich bin gerade etwas „sprachlos“, ehrlich gesagt, denn es ist eins über so ein Thema in einem Buch zu lesen, aber nochmal etwas ganz anderes, dies direkt erzählt zu bekommen.

      Es wäre vermessen zu behaupten, ich würde genau verstehen, was in Dir vorgeht – das kann man wohl nur, wenn man sich seit Jahren mit so einer Situation auseinandersetzen muss – aber ich kann vollkommen nachvollziehen, warum man so ein Buch dann nicht zur Lektüre wählt.

      Die Kraft, welche es erfordert, über die gesamte Zeit die Hoffnung aufrechtzuerhalten und an gutes Ende zu glauben, muss sicherlich groß sein. Und ich wünsche Dir, dass sich diese unerschütterliche Treue und Liebe irgendwann auch für Dich auszahlt.

      Persönlich ist es für mich in Sachen True Crime auch weniger die morbide Neugier, als vielmehr das Interesse an Kriminalistik (und deren Entwicklung) und Psychologie, welche dieses Sub-Genre so interessant macht. Wobei es für mich auch hier Grenzen gibt: In die Köpfe mancher Menschen möchte ich selbst nicht über ein Buch eintauchen.

      Ich wünsche Dir, Deiner Tochter und Deinem Sohn alles erdenklich Gute und sage nochmal Danke für Deine Rückmeldung

      Mit freundlichen Grüßen
      Stefan

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      • Danke für Deine Worte – es ist halt manchmal etwas sehr schwierig… Ich liebe ja Krimis (auch sehr düstere) und solche die die psychologische und/oder die soziale Seite mit einbeziehen, doch mache ich einen Rückzieher (in die Sicherheit) wenn es sich um True Crime handelt… denn dann fehlt mir die Distanz zu einem fiktiven Geschehen. Es ist etwas schwer zu erklären, aber ich denke du verstehst.

        Liebe Grüsse, Michèle Z.

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