Verlorene Identitäten

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© Atlantik

Angeregt durch eine kleine Diskussion über die Bezeichnung Thriller im von mir äußerst geschätzten Blog „crimenoir.wordpress.com„, habe ich mal meine alte Besprechung zu Eric Amblers „Der dunkle Grenzbezirk“ hervorgekramt. Der Autor – der übrigens sträflicherweise eine Zeit lang (inzwischen hat der Verlag die Rechte nicht mehr) zu den am schlechtesten verkauften Schriftstellern im Hause Diogenes gehörte – gilt als einer der Begründer des Thrillers und erwies sich zu Lebzeiten als äußerst visionär. Der Aufstieg der Faschisten, die Atombombe – Ambler war der Zeit immer ein wenig voraus. Erst letztens bin ich vor dem Eingang zur Frankfurter Buchmesse bei einem kleinen Flohmarkt/Antiquariats-Stand wieder auf seinen Namen gestoßen. Insofern: Augen offen halten und mitnehmen – bis sich endlich mal ein Verlag erbarmt und diesen grandiosen Autor wieder neu auflegt. Zeit wäre es.

Und genau deshalb werde ich seine vier ersten Titel in den nächsten Tagen hier etwas näher vorstellen.

Jules Verne. Es gibt wohl kaum einen, dem dieser Name nichts sagt oder der nicht zumindest in Form einer Verfilmung in den Genuss eines seiner Werke gekommen ist. Samt und sonders sind seine Bücher Klassiker. Und gleichzeitig ein Paradebeispiel für zukunftsweisende Literatur, behandelte Verne doch technische Innovationen und Erfindungen, die erst Jahre später das Licht der Welt erblickten. Von Raketen, welche zum Mond fliegen bis zu Booten, die sich unter Wasser bewegen. Was der französische Schriftsteller für das Science-Fiction-Genre ist, stellt nun Eric Ambler für die Kriminalliteratur dar.

Mit blutjungen 27 Jahren machte er das erste Mal mit seinem Debüt „Dark Frontier“ (dt. „Der dunkle Grenzbezirk„) von sich reden und begründete damit eine Gattung des Kriminalromans, der aus den heutigen Buchhandlungen nicht mehr wegzudenken ist: Den Thriller. Man mag darüber streiten, inwiefern sein Erstlingswerk schon den Namensgebenden „Thrill“ beinhaltet, aber es besteht kein Zweifel, dass er bereits hier wegweisende Maßstäbe gesetzt hat. Wie Jules Verne beweist er ein großes Maß an Voraussicht, behandelt er in seinem Buch doch in Anspielungen die Entwicklung einer völlig neuartigen Waffe. Der Atombombe. Und das zu einer Zeit (1936), als das Ausmaß noch nicht abzuschätzen war und die Nutzung noch in weiter Ferne lag. Nicht mal eine Kernspaltung war bis dato gelungen. Auch das sollte erst zwei Jahre später geschehen. Umso erstaunlicher, wie Ambler bereits zu diesem Zeitpunkt die Wirkung und das Bedrohungspotenzial einer solchen Waffe erkennt, wenngleich er natürlich nicht annähernd den technischen Aufwand beim Bau einer Atombombe erfassen konnte.

In seiner Geschichte begegnet uns zuerst der überarbeitete Professor Barstow, der auf dem Weg in den entspannenden Urlaub von einem Vertreter des Waffenproduzenten Cator & Bliss namens Groom abgefangen und angeheuert wird, um eine europäische Katastrophe zu verhindern. In dem fiktiven Land Ixanien, einer Republik im Balkan, hat man mit dem Bau eines Laboratoriums begonnen, das die Konstruktion einer Atombombe ermöglichen soll. Die kleine Bananenrepublik, in der Korruption, Armut und Despotie herrschen, will mithilfe dieser neuen Waffe eine bessere Zukunft und eine Veränderung der umliegenden Grenzen erzwingen. Barstow soll nun im Auftrag Grooms die Baupläne der zu erbeutenden revolutionären Erfindung überprüfen und als technischer Berater deren Gefahrenpotenzial abschätzen. Doch der pazifistische Professor lehnt ab und setzt seine Fahrt in den Urlaub fort, die im Graben mitsamt seinem Auto ein jähes Ende findet.

Barstow verliert sein Gedächtnis und bildet nun schizophrene Merkmale aus. Hatte er vorher noch in einem Drei-Groschen-Roman von den Abenteuern des Privatermittlers Conway Carruthers gelesen, schlüpft er nun selbst in diese Rolle. Er reist Groom nach Ixanien nach und setzt alles daran, der Entwicklung der Bombe und den egoistischen Plänen des Waffenfabrikanten ein Ende zu setzen.

Zugegeben: Eine kurze Zeit überforderte mich dieser Wechsel der Identitäten, blieb mir wie seiner Umgebung der Umstand der Schizophrenie verborgen. Als es mir dann dämmerte, konnte ich nicht anders, als die Genialität des Autors loben. Die im weiteren Verlauf folgenden Abenteuer des schlagfertigen, einfallsreichen Carruthers haben mich völlig in den Bann gezogen und auf hohem Spannungsniveau bestens unterhalten. Amblers Idee, ab der Mitte des Romans die Perspektive zu wechseln und die Geschichte aus Sicht des Journalisten Casey zu erzählen, ist schlichtweg brillant und macht die Story umso facettenreicher. Verfolgungsjagden, Schießereien und „a few bodies along the way“ tun ihr übrigens, um den Leser bei der Stange zu halten. Eine zwischendurch immer wieder durchscheinende latente Deutschlandfeindlichkeit sehe ich ihm nach, geben die ab 1933 stattfindenden Ereignisse in meiner Heimat seinen Befürchtungen ja recht. Und wer sich über die unrealistische Überspitzung der Heldentaten des Protagonisten ärgert und dessen bewusst überzeichnete Persönlichkeitsmerkmale anprangert, hat wohl den Sinn und den Auftrag dieses Buches nicht verstanden.

Der dunkle Grenzbezirk“ ist ein äußerst kurzweiliger Ausflug in die Anfänge des Genres, in dem eine anti-patriotische und pazifistische Botschaft mitschwingt, die zum damaligen Zeitpunkt wohl mehr Menschen hätten lesen sollen. Ein gelungenes Debüt, das prophetisch künftige Entwicklungen auf erstaunliche Art und Weise vorweg nimmt.

Nachtrag: Eric Ambler wird inzwischen vom Atlantik-Verlag neu aufgelegt.

Wertung: 87 von 100 Trefferneinschuss2

  • Autor: Eric Ambler
  • Titel: Der dunkle Grenzbezirk
  • Originaltitel: The Dark Frontier
  • Übersetzer: Walten Hertenstein, Ute Haffmans
  • Verlag: Atlantik Verlag
  • Erschienen: 01.2017
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 352
  • ISBN: 978-3455651096

4 Gedanken zu “Verlorene Identitäten

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