Krieg der Lügen

© Kampa

Es gibt sie immer noch – diejenigen, welche als Grenzschützer die vermeintlichen Übergänge zwischen den Genres überwachen, peinlich genau darauf achten, dass sich das sogenannte Triviale nicht mit der Hochliteratur vermischt, bloß keine Brücken zwischen Niveau und Unterhaltung geschlagen werden.

Sie merken nicht, dass sie die Entwicklungen der letzten Jahre, ja Jahrzehnte vollkommen verschlafen haben, wir nicht mehr länger in diesen Kategorien urteilen und Maß nehmen können, da sich das einstmals Ausschließende inzwischen längst vereinigt hat – vorangetrieben von Autoren, die diese willkürlich gesetzten roten Linien einfach nicht als solche wahrgenommen oder mittels der künstlerischen Freiheit überwunden haben. Und während es einige Schriftsteller gab, wie zum Beispiel Graham Greene, wo dies bereits zu früheren Zeiten akzeptiert worden ist, muss sich der ein oder andere heute weiterhin zu diesem Eiertanz zwischen klassischer Belletristik und Spannungsroman auffordern lassen. Zu ihnen gehört auch William Boyd, dessen Roman „Ruhelos“ man vor einigen Jahren in den Buchhandlungen in verschiedenen Abteilungen finden, leider aber sich in keiner davon augenscheinlich einen dauerhaften Platz erobern konnte.

Das ist weiterhin bedauernswert, zumal gerade „Ruhelos“ bei der damaligen Veröffentlichung hierzulande größere Aufmerksamkeit bekommen hat, welche einen Durchbruch in Deutschland erhoffen ließ. Boyd aber bleibt bis heute, unverständlicherweise, ein Geheimtipp. Und während das Lebenswerk des kürzlichen verstorbenen John Le Carré allenthalben gefeiert und nochmal ins Scheinwerferlicht gerückt wird, muss daher wohl die kriminelle Gasse für den schottischen Autor, der aktuell wieder beim tollen Kampa-Verlag neu aufgelegt wird, Schützenhilfe leisten. Mit Freuden wohlgemerkt, denn Boyd ist hier ein Spionageroman klassischer Schule gelungen, der sowohl sprachlich als auch in seinem Aufbau zu überzeugen weiß und dem Leser nebenbei noch eine Geschichte kredenzt, die gleich mehrere Ebenen aufweist – und sich mitunter äußerst beklemmend liest.

Ihren Anfang nimmt sie im England des Jahres 1976, genauer gesagt im beschaulichen Oxford. Die Bevölkerung der Universitätsstadt leidet unter einem ungewöhnlich heißen Sommer. Unter ihnen auch die allein erziehende Sprachlehrerin Ruth Gilmartin mit ihrem Sohn Jochen, welche sich nicht nur aufgrund der Hitze zunehmend Sorgen um die Gesundheit ihrer alten Mutter Sally macht. Diese sitzt nach einem Hausunfall mittlerweile im Rollstuhl und sucht in letzter Zeit vermehrt und äußerst nervös den angrenzenden Waldrand mit dem Fernglas ab. Ihr Haus verlässt sie selbst kaum noch, Telefonanrufe nimmt sie nur nach einen vorher vereinbarten Klingelzeichen ab. Was Ruth anfangs für den Beginn von Altersdemenz hält, hat jedoch viel tiefer gehende Gründe. Und eines Tages kommt seitens Sally zu einer überraschenden Eröffnung: In Wirklichkeit heißt sie nicht Sally sondern Eva Delektorskaja und war früher für viele Jahre als Spionin für den britischen Geheimdienst tätig. Und genau deswegen, bangt sie nun um ihr Leben …

Was klingt wie mit ziemlich heißer Nadel gestrickt und anfangs noch vielleicht den oder anderen Zweifel aufgrund der Ausgangskonstellation beim Leser erweckt, entfaltet zwischen denn Buchdeckeln aber tatsächlich nach wenigen Seiten (wie so oft bei Boyd) eine schon fast unheimliche Sogwirkung, verlieren wir uns in den zeitgeschichtlichen Ereignissen, die vom Autor in zwei Handlungsstränge aufgeteilt werden, deren Auswirkungen wiederum bis in das Heute spürbar sind. Der Hauptstrang führt uns zurück in das Jahr 1939, genauer nach Paris, wo die russische Emigrantin Eva nach dem Tod ihres Bruders durch die Nazis, von dem mysteriösen Lucas Romer für den britischen Geheimdienst angeworben wird. Es folgt eine intensive Ausbildung in Schottland mit anschließenden Einsätzen in Belgien, England und vor allem in den USA. Das Ziel der geheimen Unterabteilung des British Secret Service: Falschmeldungen zu lancieren, welche die Vereinigten Staaten von Amerika zum Eintritt in den Krieg bewegen sollen. Und dafür ist den Engländern, die ab 1940 die letzte Bastion gegen Hitlers Armeen bilden und sich in einer verzweifelten Lage befinden, beinahe jedes zur Verfügung stehende Mittel recht.

Selbst wer sich grundsätzlich eher wenig für die militärhistorischen Konstellationen vor Pearl Harbour interessiert, wird sich dank Boyds zielsicherer, feinfühliger Schreibe, dem sich zuspitzenden Plot und der facettenreichen Figur Eva und ihren Erlebnissen nur schwerlich entziehen können. Der Autor profitiert dabei von seiner Besetzung, denn in einem Milieu der Geheimdienste, wo man mit erfundenen Geschichten, Falschmeldungen und bewusst konstruierten Fährten die Weltgeschichte in die jeweils gewünschte Richtung lenken will, fällt eine Lüge mehr oder weniger nicht auf, verschwimmen die sonst deutlicher getrennten zwischen Fiktion und historischer Realität. Es ist ein heikles Spiel, welches Boyd hier schildert und das vor allem von Taktik geprägt ist, weswegen sich „Ruhelos“, im Kontrast zum Titel, immer wieder Zeit nimmt, um ausführlich zu erzählen, was in Zeiten geradlinig durchkomponierter und mit Action vollgestopfter Thriller schnell auf Ungeduld stoßen dürfte. Gerade an die Geduld möchte ich aber appellieren, sind doch diese behäbigeren Passagen nur das Luftholen, nur der minutiös geplante Aufbau für eine ganze Reihe von Eröffnungen, die mehr als nur eine Überraschung in sich birgen.

Das einzige Manko: Bis dahin müssen wir auch immer wieder in die 70er Jahre zurückwechseln, wo sich die Ich-Erzählerin Ruth nicht nur mit wachsender Faszination durch die schriftlichen Dossiers ihrer Mutter arbeitet, sondern über Umwege auch noch in den Dunstkreis der Baader-Meinhof-Gruppe gerät. Wie und warum, das sei hier nicht näher geschildert, verkommt doch dieser nicht weiter ausgearbeitete Handlungsstrang zu einem Sturm im Wasserglas, nachdem man sich umso mehr auf Evas Erzählungen aus ihrem „ruhelosen“ Leben freut. Gerade das geschilderte Doppel- und Dreifachspiel der Agenten, die gezielten Seitenhiebe auf die Macht der Medien und der psychologische Unterbau samt der finalen Auflösung, sorgen dafür, dass man nicht nur hochklassig und kurzweilig unterhalten wird, sondern am Ende auch der festen Überzeugung ist, einen völlig neuen und anderen Einblick in das Leben dieser Epoche erhalten zu haben.

So ist „Ruhelos“ schließlich eine auf- und anregende Lektüre, die trotz einiger, unübersehbarer Schwächen den wehrlosen Leser in seinen Bann zu Ziehen vermag und nebenbei noch eine Lanze für das zuweilen abschätzig betrachte Genre des Spionage-Thrillers bricht. Ein Katz-und-Maus-Spiel zwischen feindlichen Agenten kann sehr wohl spannend, literarisch und tiefgründig zugleich sein. Dieses Buch beweist es.

Wertung: 92 von 100 Treffern

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  • Autor: William Boyd
  • Titel: Ruhelos
  • Originaltitel: Restless
  • Übersetzer: Chris Hirte
  • Verlag: Kampa
  • Erschienen: 03.2019
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 384 Seiten
  • ISBN: 978-3311100058

2 Gedanken zu “Krieg der Lügen

    • Auf jeden Fall, Gunnar. Ein toller Schriftsteller. Mich hat vor allem „Eines Menschen Herz“ sehr beeindruckt. Quasi ein „Forrest Gump“ in Buchform. Die Besprechung dazu muss ich aber nochmal komplett überarbeiten, bevor ich sie auf die Menschheit loslasse. :-)

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