Into the Wild …

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© Seeling

Als ich vor ein paar Tagen mal wieder „Beim Sterben ist jeder der Erste“ gesehen habe, brachte mir das sogleich Dickeys literarische Vorlage „Flussfahrt“ in Erinnerung, welche den Film in Punkto Atmosphäre nochmal um ein paar Kanu-Längen schlägt. Leider ist die 2011 im Seeling Verlag erschienene Neuauflage inzwischen schon wieder vergriffen, weshalb interessierten Lesern derzeit nur der Blick ins Antiquariat bleibt. Der wiederum lohnt sich aber – und zwar genau deshalb:

Das Wort „Sogkraft“ wird in den Besprechungen von Kriminalliteratur heutzutage schon fast inflationär benutzt – selten hat der Begriff aber so auf ein Buch gepasst, wie bei James Dickeys Klassiker aus den 70er Jahren. Mit „Flussfahrt“ hat der kleine Seeling Verlag einen lange verschollenen (und vergriffenen) Rohdiamanten ausgegraben, der sich neben den glattgebügelten, rasanten Mainstream-Thrillern von heute zwar wie ein Oldtimer verhält, von seiner erzählerischen Kraft jedoch genauso wenig verloren hat, wie von seiner Aktualität. Ganz im Gegenteil: Dickey legt den Finger in eine Wunde, die heute noch schlimmer schwelt, als zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung – die zunehmende Modernisierung und Verstädterung des Lebens, welche keinerlei Ausbruch mehr erlaubt und die Menschen in ihren alltäglichen Verpflichtungen gefangen hält.

Diesen wollen in „Flussfahrt“ auch die vier Großstädter Ed, Drew, Bobby und Lewis für ein verlängertes Wochenende entfliehen. Es gilt den wilden Cahulawassee River, der bald einem Staudammprojekt zum Opfer fallen soll, im Kanu zu bezwingen und nebenbei ihre Fähigkeiten mit Pfeil und Bogen zu trainieren. Insgeheimer Anführer der Gruppe ist Lewis, ein durchtrainierter Fitnessfanatiker, der mit allen Mitteln dem fortschreitenden Alter zu trotzen versucht und dafür auch die größten Risiken in Kauf nimmt. Die undurchdringliche Wildnis der Provinz scheint dafür bestens geeignet, ist sie doch nicht nur ein Rückzugsort für wilde Tiere, sondern auch für die kriminelleren Elemente der Gesellschaft, welche die Abgeschiedenheit der Wälder unter anderem dafür nutzen um illegal Schnaps zu brennen. Trotz dieser Gefahren lässt man anfangs relativ unbekümmert die Kanus zu Wasser … doch mit jeder Biegung des durch enge Schluchten strömenden Gebirgsflusses werden die Zweifel lauter.

Hätte ich besser zuhause bleiben sollen? Was wollen wir uns hier eigentlich beweisen? Bevor irgendeiner seine Gedanken laut äußern kann, eskaliert von jetzt auf gleich die Situation. Und aus der Suche nach einem harmlosen Abenteuer wird ein erbitterter Kampf ums Überleben …

Der Ruf der Wildnis ist schon in vielen Büchern treibendes Element der Geschichte gewesen – wohl kaum ein anderer Autor hat diese Thematik aber in dieser Art und Weise auf seine archaische Essenz reduziert, wie James Dickey. Schon zu Beginn scheint sich ein namenloses Grauen in die Unternehmung der vier Freunde hineinzuschleichen, einer Gewitterwolke gleich, die nur darauf wartet die Schleusen über den Köpfen des Leser zu öffnen. Aus der Sicht des Ich-Erzählers Ed verfolgen wir die Fahrt im engen Kanu, die so bedächtig beginnt und beinahe unmerklich an Tempo zulegt. Mit jeder Kehre des Flusses, jedem von reißenden Wellen umtosten Felsen, tauchen wir tiefer in diese uns mittlerweile so unbekannte Welt ein, lassen wir die Zivilisation und all seine Annehmlichkeiten hinter uns. Und mit Ihnen auch die moralischen Haltepunkte. Es ist eine Rückbesinnung auf den Ursprung des Menschen, der hier, im Angesicht der Natur, längst verloren geglaubte Sinne schärfen und den eigenen Instinkten vertrauen muss.

Dickey zeigt eindrucksvoll und mit klarer, karger Sprache, wie schmal der Grad zwischen dem einfachen Abenteuer und echter Gefahr sein kann. Welche Folgen es haben kann, sich dem Adrenalin und dem Nervenkitzel zu ergeben. Inmitten der düsteren, von schroffen Felsen übersäten Natur werden Erzähler Ed und seine Freunde auf ihren primitiven Ursprung reduziert und letztlich mit diesem auch konfrontiert. Diesen Kontakt mit der Maß- und Gesetzlosigkeit schildert der Autor drastisch, brutal und erbarmungslos – und der Leser scheint als fünfter Teilnehmer des Ausflugs direkt mittendrin zu sein. Ab hier ist jede Planung über den Haufen geworfen, die Kontrolle an höhere Mächte abgegeben. Aus der Flussfahrt ist ein Kampf geworden, den Dickey dramatisch in Szene zu setzen weiß. Unvergessen die Passage, in der Ed im Mondschein auf einem hohen Baum hockt, Pfeil und Bogen bereit, das Ziel mit schweißnassen Händen anvisiert. Es sind einfachste Mittel, mit denen die Spannung erzeugt wird. Und sie erweisen sich doch wirkungsvoller, als alle Gewaltorgien heutiger Psychothriller.

Es ist dieser ursprüngliche, klassische Stil, welcher den Plot trägt und ihn letztlich so glaubhaft macht. Alles an „Flussfahrt“ ist echt, scheint greifbar nah, wirkt in irgendeiner Art und Weise auf den Leser. Und wo andere Schriftsteller im Finale einen actionreichen Showdown abfackeln, sind es in diesem Falle die leisen Töne, die unbeantworteten Fragen und Zweifel, welche nachhaltig beeindrucken und im so abgestumpften Krimi-Genre an den Gefühlen rühren.

Flussfahrt“ ist genau das, was Titel und Klappentext versprechen. Ein wilder, rauschender Ritt ins Herz der Natur, dessen grimmiger, karger Charakter seinesgleichen sucht. Nicht nur für Freunde von Lansdales „Die Wälder am Fluss“ und David Osborns „Jagdzeit“ eine mehr als lesenswerte Wiederentdeckung.

Wertung: 86 von 100 Trefferneinschuss2

  • Titel: Flussfahrt
  • Originaltitel: Deliverance
  • Übersetzer: Jens Seeling
  • Verlag: Seeling
  • Erschienen: 4/2011
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 280
  • ISBN: 978-3-938973-13-4

3 Gedanken zu “Into the Wild …

    • Ja, das ist das Besondere an dem Buch. Obwohl eigentlich zu Beginn wenig Weltbewegendes passiert, ist die Stimmung schon irgendwie aufgeladen und voller böser Vorahnungen. Und obwohl man – natürlich auch aufgrund der kurzen Inhaltsbeschreibung – Schlimmes erwartet, überrascht uns dann doch das Ausmaß der Gewalt. Dazu kommt die Bilder, die Dickey mit seiner Sprache malt. Wie in der Rezi erwähnt: Wenn er da oben mit dem gespannten Bogen im Mondlicht auf dem Baum sitzt, spült man den Schweiß förmlich selber laufen.

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  1. Habe die alte Ausgabe von 1971, da wurde noch „Flußfahrt“ geschrieben.
    Kleiner Auszug aus meiner Rezi.
    „Der Erzähler Ed Gentry wird uns vom Autor vorgestellt und auch während der Tour sehr genau näher gebracht, ähnelt fast schon einem Psychogramm. „

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