Edward Hoppers „Nighthawks“ (frei übersetzt: „Nachtschwärmer“) ist nicht nur eines der populärsten Bilder des 20. Jahrhunderts (es wurde oft kopiert und noch öfter zitiert), sondern gehört auch zu meinen persönlichen Favoriten, was insofern erwähnenswert ist, da ich mich ansonsten für Kunst kaum interessiere und noch weniger Ahnung von der Thematik habe. Fakt ist jedenfalls: Hoppers Komposition der Farben spricht mich genauso an, wie die Grundstimmung des Bilds, das drei in einer Bar sitzende Gäste zeigt, welche aneinander vorbeischauen und allem Anschein nach ihren eigenen Gedanken nachhängen.
Während draußen bereits die Nacht hereingebrochen ist, tauchen die Lampen des „Phillies“ alles in ein kühles, grelles Licht, das die Einsamkeit der Figuren noch unterstreicht. Durch die Theke von ihnen getrennt, geht der Barkeeper seiner Arbeit nach. Seine Aufmerksamkeit gilt dem rauchenden Mann vor ihm, der seinerseits die Frau neben sich kaum wahrzunehmen scheint. Abseits von ihnen sitzt ein weiterer Mann, mit der Rückenpartie zum Betrachter. Sein Hut hängt tief im Gesicht, sein Blick ist nach unten gerichtet. Meiner Ansicht nach ist es letztlich er, der die Popularität von „Nighthawks“ begründet. Einsam und in der hellen Ausleuchtung des Diners auch irgendwie exponiert, fungiert er als Fragezeichen für den Betrachter. Wer ist dieser Mann? Wo kommt er her? Warum wirkt er so niedergeschlagen?
Interpretationsansätze und -möglichkeiten gibt es sicherlich genug. Kein anderer hat für mich jedoch bisher eine passendere Hintergrundgeschichte geliefert als Richard Yates, der in seinem dritten Roman „Ruhestörung“, welcher im Jahr 1975 veröffentlicht worden ist, die Geschichte vom Absturz John Wilders erzählt. Und der erinnerte mich mehr als nur einmal, an den Mann auf dem bekannten Bild.
Wir schreiben den September des Jahres 1960. Wilder ist ein unauffälliger, durchschnittlicher New Yorker aus der Mittelschicht, mäßig talentiert, und doch beruflich recht erfolgreich im Verkauf von Anzeigen. Zuhause wartet eine auf ihn liebende Frau täglich auf seine Rückkehr aus dem Büro. Und am Wochenende entfliehen sie zumeist, gemeinsam mit ihrem zehnjährigen Sohn, dem Trubel des Big Apple und fahren aufs Land. Kurzum: Alles scheint gut und Wilder (der regelmäßig dem Alkohol frönt und sich auch immer mal wieder in einer heimlich gemieteten Wohnung mit anderen Frauen vergnügt) ein zufriedenes Leben zu führen. Doch die Idylle trügt … und etwas droht, die Ruhe zu stören.
Statt nach seiner Rückkehr von einem Arbeitstermin in Chicago wieder direkt die Wärme des Eigenheims anzusteuern, ruft er diesmal aus einer Telefonzelle seine Frau Janice an, um ihr mitzuteilen, dass er nicht nach Hause kommen kann. Ihre Frage nach dem Warum beantwortet er kurz und knapp: „Willst du es wirklich wissen, Schatz? Weil ich Angst habe, dass ich euch umbringen werde, deswegen. Euch beide.“ Einige Stunden später findet ihn sein Freund Paul Borg in einer Hotelbar. Wilder hat mehrere Whiskey zu viel Blut, ist mit dem Nerven am Ende und wirkt unberechenbar. Schließlich wird er, nicht ohne vorher noch dessen Frau aufs Übelste zu beleidigen, von Paul direkt ins Bellevue Hospital verfrachtet. Da es jedoch das Wochenende des Labor Day ist, wo ganz Amerika, einschließlich der Ärzteschaft, feiert und frei hat, überstellt man ihn zügig und ohne längere Erklärungen in die Psychiatrie. Hier, in der geschlossenen Station für gewalttätige Männer, zwischen Patienten in Zwangsjacken, Verbrechern, Verrückten und einem hünenhaften Schwarzen ausgeliefert, der mit freudiger Willkür seine Spritzen setzt – hier beginnt der tiefe und bodenlose Fall Wilders …
Richard Yates „Ruhestörung“ wird heute als eines seiner weniger guten Werke bezeichnet, wobei auch dabei die meisten Kritiker einen großen Bogen um das Wort „schlecht“ machen, schrieb der amerikanische Autor doch in solch literarischen Höhen, dass ein solches Adjektiv schlichtweg fehl am Platz wirken würde. Dennoch bin ich insofern geneigt zuzustimmen, dass es wohl Werke wie eben dieser dritte Roman waren, die Yates‘ dauerhaften Ruhm und Erfolg verwehrten. Seine sich durch alle Werke ziehende überaus pessimistische Ansicht vom Leben sowie die fortwährende Entmystifizierung des „American Dream“ stehen im krassen Gegensatz zum zuversichtlichen, gutgläubigen US-Amerikaner, dem ein Blick auf das flatternde Stars-and-Stripes-Banner zu reichen scheint, um voller Hoffnung in die Zukunft zu blicken. Diese Illusion vom lohnenden Happyend, dem letztendlichen Erreichen aller Träume – sie zerschlägt Yates mit einer Beiläufigkeit, welche zwar großen Anklang im Umfeld der Autorenkollegen fand, ihm aber den Beifall des Publikums versagte. Sein ernüchternder Realismus zieht sich wie ein Leitmotiv durch alle seine sieben Romane und Kurzgeschichten, und ist immer auch ein Abbild von Yates‘ eigener Biographie, was in „Ruhestörung“ wieder besonders stark zutage tritt.
Wie Wilder war Richard Yates ein starker Alkoholiker, der, trotz vieler Entziehungsversuche, sein Leben lang in exzessiven Mengen trank und dieses schließlich dadurch sogar beendete, als er 1992 an seinem eigenen Erbrochenen erstickte. Und wie Wilder war Yates in psychiatrischer Behandlung und Patient des Bellevue Hospitals. All das, was den amerikanischen Autor (auch aus seiner eigenen Sicht) scheitern ließ, lässt er hier seinem Protagonisten widerfahren, der ebenfalls glaubt, etwas Großes, Einmaliges erreichen zu können, Filmproduzent zu werden, Hollywood im Sturm zu erobern – und der letztlich mit jedem versuchten Ausbruch aus der Routine des ihm inzwischen so verhassten Familienlebens die Schlinge nur enger zieht, den Treibsand nur noch mehr dazu einlädt, ihn fester zu packen. Schon mit dem ersten Auftritt Wilders ist dem Leser klar, dass der Fahrstuhl in dem er steckt, allein in eine Richtung fahren kann – nach unten. Immer wieder ist es seine Trunksucht, die zuvor aufgewandte Mühen zermalmt, um ihn sich sogleich wieder in Hoffnungen verrennen zu lassen, die nichts als Luftschlösser sind. Wilders Geschichte liest sich somit als Chronik des Scheiterns, wobei Yates gänzlich darauf verzichtet diese mit Pathos und literarischem Zuckerguss zu versüßen.
Stattdessen erwartet uns in „Ruhestörung“ eine trockene, lakonische und distanzierte Sachlichkeit. Nachtschwarz, hoffnungslos, desillusionierend, und doch nicht ohne ein gewisses Gespür für Situationskomik und Witz, welches den Leser die Aneinanderreihung von Enttäuschungen mit einem lachenden und einem weinenden Auge verfolgen lässt. Nicht selten musste ich für kurze Zeit lauthals auflachen, um schon einen Absatz später ernüchtert zu schlucken, weil Yates den Schutzpanzer des Betrachters beharrlich malträtiert. Gerade seine Fähigkeit das Scheitern im kleinen Rahmen darzustellen, die Fehler im Alltag, die Unfähigkeit zur Umkehr in einfachsten Situationen zu betonen, macht seine Bücher so wirkungsvoll – und damit, trotz des düsteren Grundtenors, so lesenswert.
„Ruhestörung“ liest sich wie eine rohe Abrechnung, wie ein verbitterter, aber auch zielgerichteter Rundumschlag eines Zeit seines Lebens Verkannten, der uns durch John Wilder gleichzeitig einen Blick in das eigene Befinden erlaubt. Er tut dies nicht als typischer allwissender Erzählender, sondern bodenständig und behutsam. Wir dürfen nur sehen, was Wilder sieht, fühlen, was er selbst fühlt. Wenn dieser einmal mehr vom Ärztepersonal zu Boden gerungen und narkotisiert wird, geht für uns das Licht gleichermaßen aus. Bis dieser wiederum erwacht und mit den Worten „Entschuldigen Sie. Können Sie mir sagen, wo ich bin?“ den Gang in den Abgrund auf ein Neues antritt. Einmal, zweimal, dreimal. Ein stilistischer Kunstgriff, der Wilders Höllenritt nicht nur glaubwürdiger macht, sondern seine geschädigte Psyche auch wesentlich intensiver wirken lässt.
Mit „Ruhestörung“ hat Richard Yates sein vielleicht düsterstes und eindringlichstes Werk abgeliefert. Eine „Tour de Force“ in den Untergang, die uns am Ende mit bitterem Geschmack in eine Wirklichkeit entlässt, welche der Wilders – in vielen Facetten – immer noch ähnelt. Ganz, ganz große, zierlose und geradlinige Literatur – höllisch gut erzählt.
Wertung: 93 von 100 Treffern
- Autor: Richard Yates
- Titel: Ruhestörung
- Originaltitel: Disturbing the Peace
- Übersetzer: Anette Grube
- Verlag: btb
- Erschienen: 04.2012
- Einband: Taschenbuch
- Seiten: 315 Seiten
- ISBN: 978-3442744268
Schöner Beitrag über einen meiner geschätztesten Autoren! Ruhestörung ist neben Eine besondere Vorsehung einer der beiden Romane, die noch auf eine Lektüre warten. Kommt noch! Einstweilen Danke für die Besprechung! Schöne Grüße, Petra
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Sehr schöne Besprechung! „Ruhestörung“ gehört ja zu meinen persönlichen Favoriten von Yates. Mir hat dieser „Absturz“ so gut gefallen, weil Yates es schafft, vollkommene Authentizität zu erreichen. Schade, dass das von seine eigenen Erfahrungen herrührt.
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