Der Rest ist Schweigen

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© btb

Lange Küstenlinien, felsige Inseln und majestätische Berge. Maine ist nicht nur der größte der Bundesstaaten, aus denen sich die Region New England zusammensetzt, sondern auch eins der beliebtesten Touristenziele im Nordosten der USA, welches seinen Reiz aus den bisweilen rauen Landschaften, dem historischen Charme der kleinen Orte und vor allem dem „Indian Summer“, der Zeit der beeindruckenden Blätterfärbung, bezieht.

So ist es wenig verwunderlich, dass es gerade dieses bunte Schauspiel ist, was wir hierzulande mit Maine verbinden – und weniger der Winter, der streng und von langer Dauer oftmals den Frühling gänzlich überspringt und lediglich von Anfang Juni bis Mitte September die Nächte frostfrei lässt. Monatelang sind Seen und Flüsse mit Eis bedeckt, Städte wie Bangor (u.a. Wohnort von Autor Stephen King) infolge der klirrenden Kälte durchschnittlich 125 Tage im Jahr unzugänglich.

Kurzum: Ein Ort, an dem sich der Mensch noch nach der Natur auszurichten, die Wildnis die Herrschaft noch nicht gegen die vordringende Zivilisation verloren hat. Und genau hier spielt Gerard Donovans Roman „Winter in Maine“, der, vom Feuilleton und Hobbylesern gleichermaßen gefeiert, zu den beeindruckendsten literarischen Kleinoden gehört, die ich in den letzten Jahren zu lesen die Ehre hatte. Die Handlung des gerade mal knapp zweihundert Seiten umfassenden Buchs sei daher an dieser Stelle kurz angerissen:

Julius Winsome lebt zurückgezogen in einer Hütte in den tiefen Wäldern Maines, wo er es sich in der behaglichen Wärme eines Kaminofens gemeinsam mit der Hinterlassenschaft seines Vaters, 3282 katalogisierten Büchern, für ein Leben fernab anderer Menschen eingerichtet hat. Ein Leben, welches lange Zeit ebenso gleichförmig wie einsam war, bis vor vier Jahren die liebenswerte Claire in eben dieses trat. Auf ihr Anraten folgte schließlich auch der lebhafte Pitbullterrier Hobbes. Die Idylle scheint perfekt, bis Claire ihn plötzlich stillschweigend und ohne Angabe näherer Gründe verlässt. Zurück bleibt Hobbes, dem nun Julius‘ ganze Liebe gilt. Doch auch dieses Glück soll nicht lange währen.

Als Hobbes eines Tages bei einem seiner Streifzüge offensichtlich vorsätzlich erschossen wird, bleibt Julius erschüttert zurück. Er vergräbt sich in seinen Büchern, insbesondere Shakespeares gesammelten Werken, welche ihn gedanklich bei der Suche nach den Mördern seines Hundes ebenso begleiten wie ein weiteres Erbstück seiner Familie: Ein Scharfschützen-Gewehr aus dem Ersten Weltkrieg. Julius, der lange den Kriegsgeschichten seines Großvaters gelauscht und dessen Schießfertigkeiten inzwischen ebenfalls erlernt hat, legt sich auf die Lauer, wartet, lauscht, während der dichte Schnee unbeeindruckt von all den Geschehnissen die Wälder Maines unter seinem weißen Mantel bedeckt. Bald dringen die vermeintlichen Schuldigen ins Revier von Julius vor – und werden von diesem mit kalter Ruhe und Präzision erschossen. Ein Tod ist gerächt. Oder um es mit Shakespeare zu sagen: „Der Rest ist Schweigen.

Nun, man kann eine Rezension epochal aufbauen, in mehrere Teile gliedern, einzelne Versatzstücke des Romans interpretieren und analysieren, Textstellen zitieren und am Ende ein die vorherigen Themen berücksichtigendes Fazit ziehen. Man kann es sich aber auch einfacher machen und schlichtweg konstatieren: „Winter in Maine“ ist großartig. „Winter in Maine“ ist einzigartig. „Winter in Maine“ ist Pflichtlektüre.

Gerard Donovan hat hier mehr als nur eine weitere Geschichte über einen Einsiedler und Einzelgänger auf Rachefeldzug geschrieben, hat „Walden“ nicht bloß kriminell „gewürzt“, um niedere Instinkte zu bedienen. Nein, ihm gelingt die große Kunst, Kraft und Können auf knapp zweihundert Seiten zu komprimieren, wobei jedes Wort, treffsicher wie die Kugeln des Mörders, genau auf das Herz des Lesers gerichtet ist, welches es mit der schneidenden Kälte des eisigen Winterwinds umschließt und bis zum Schluss der Lektüre nicht mehr loslässt. Hier ist erzählerische Dichte fühlbar, fließt die Sprache wie ein Fluss über die Seiten, gemächlich, gelassen und doch mäandernd. Jeder Satz, jede Silbe, ein Ausdruck des Lebensgefühls von Julius, ein Beweis seines Einklangs mit sich, der Literatur und der Natur. Und doch auch gleichzeitig Beleg für die Einsamkeit, dem Fehlen von Liebe, welche Julius nur kurz verspüren darf. Sein Erlebnisse in „Winter in Maine“ stehen sinnbildlich für den ewigen Kreislauf der Natur, für den Zusammenhang von Geburt und Tod, für Liebe und Hass – für den Gewinn und den letztendlichen Verlust. Die Endlichkeit aller Dinge, unaufhaltsam wie die Jahreszeiten, sie lässt sich nicht umgehen, was auch Julius erkennen muss, der sich – und das ist das Paradoxon der Geschichte und damit gleichzeitig auch das des menschlichen Lebens – anderen öffnen muss, um das Gefühl von Zusammenhalt, von Freundschaft, von Liebe zu erfahren, nur um diese im Anschluss daran gleich wieder zu verlieren.

Winter in Maine“ ist von poetischer Schönheit, von einer Melancholie durchdrungen, die ebenso nachdenklich macht, wie sie uns rührt, weil es keine abstrakte Geschichte ist, die uns Donovan hier erzählt, sondern man als Leser einem Faden folgt, dessen letztendlicher Ausgang genauso nachvollziehbar wie drastisch ist. Das liegt vor allem daran, dass kein Loblied auf die Selbstjustiz gesungen, Mord weder juristisch noch emotional gerechtfertigt wird. Stattdessen gewährt uns der Autor einen Blick in die Veränderungen von Julius‘ Seele und dessen Gedankengänge, welche sich, präzise wiedergegeben, gefühlvoller Schilderungen versagen. Ob bei den Erinnerungen an seine Jugend, wo er Shakespeare wortweise lernen musste oder bei den Rückblicken auf die kurze Beziehung zu Claire – Donovan fasst sich konsequent kurz und knapp, hebt die ökonomische Schreibweise auf ein neues Level, in dem jedes Kapitel in seinem geringen Umfang nur das für den Leser wirklich wesentliche erzählt. Wohlgemerkt ohne dabei eine Wertung vorzunehmen bzw. moralisch einen Standpunkt zu vertreten.

Wo sonst ein Element des Roman diesen aus der Masse hervorhebt, ist es im Falle von „Winter in Maine“ die Stimmigkeit des Ganzen. Von der aufgeladenen, stimmungsvollen Atmosphäre über die Schönheit der Sprache bis hin zu den mit feiner Feder gezeichneten Landschaftsbildern – Donovans Werk ist von ungewöhnlicher Raffinesse und Einsicht. Ein Buch der inneren Einkehr, das kontroverse Gefühle hervorruft und den Leser über die volle Distanz mit eiskalter Hand gefangen hält. Und schon jetzt ein moderner Klassiker, der ohne wenn und aber ins das Regal eines jeden Bibliophilen gehört.

Wertung: 91 von 100 Treffern

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  • Autor: Gerard Donovan
  • Titel: Winter in Maine
  • Originaltitel: Julius Winsome
  • Übersetzer: Thomas Gunkel
  • Verlag: btb
  • Erschienen: 08.2014
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 240 Seiten
  • ISBN: 978-3442747597

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