Ein hässlicher kleiner Krieg

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Das manche Autoren eines zweiten Anlaufs bedürfen, um auf dem deutschen Buchmarkt – zumindest über einen gewissen Zeitraum – Fuß zu fassen, hat man zuletzt anhand des Beispiels Don Winslow sehen können. Und auch William Boyd, von dem einige seiner Titel, darunter auch das vorliegende Buch „Die blaue Stunde“, bereits Mitte der 90er Jahre auf Deutsch erschienen sind, brauchte hierzulande ein knappes Jahrzehnt für einen größeren Durchbruch.

Spätestens seit „Ruhelos“ hat sich aber auch Boyd in Deutschland einen Namen im Genre der anspruchsvollen Unterhaltungsliteratur gemacht, fallen die einheitlich gestalteten Cover der stöbernden Leseratte in gut sortierten Buchhandlungen (die leider im weniger werden) ins Auge. Noch mehr als die äußere Aufmachung beeindruckt letztlich aber der Inhalt zwischen den Buchdeckeln, denn auch „Die blaue Stunde“ vermag wieder aufs Beste zu unterhalten.

Dennoch sei vorneweg gesagt: Ein „Krimi“ im eigentlichen Sinne ist dieses Buch (wie schon die anderen seiner Werke) eigentlich nicht, wenngleich sich Boyd wieder einmal Elementen des Spannungsromans bedient, um die Atmosphäre in seiner Handlung, welche in zwei Stränge aufgeteilt wurde, mit jeder Seite mehr zu verdichten.

Den Anfang nimmt das Buch im Los Angeles des Jahres 1936. Kay Fischer, eine junge, kinderlose und unglücklich verheiratete Architektin steht am Scheidepunkt ihrer gerade erst begonnenen beruflichen Karriere. Ihr bisheriger Kompagnon hat sie aus dem gemeinsamen Unternehmen geworfen und dabei gleich ihrer besten Ideen beraubt. Kay muss nun komplett neu anfangen, ohne dabei ihre künstlerischen Ambitionen gänzlich über Bord zu werfen. In all dem Stress und der Anspannung kann sie dabei die Belästigung eines alten Mannes, der sie zu verfolgen scheint, erst recht nicht gebrauchen. Der gibt beharrlich vor, ihr leiblicher Vater zu sein und lässt partout nicht locker. Kay zeigt sich stur und unnachgiebig, bis ihr neuestes Bauprojekt auf perfide Art in die Hände des verhassten, ehemaligen Kompagnons fällt und abgerissen wird. Plötzlich ist jeder Widerstand erlahmt und Kay beginnt sich Gedanken zu machen. Könnte es sich bei diesem Mann namens Salvador Carriscant wirklich um ihren Vater handeln? Was hat es mit dessen geheimnisvoller Verschwiegenheit auf sich? Mehr und mehr fällt sie unter den Bann von Carriscant, der sie schließlich zu einer Reise nach Lissabon überreden kann, um alle ihre Fragen zu beantworten. Auf dem Schiff beginnt er seine Lebensgeschichte zu erzählen …

Manila, Hauptstadt der Philippinen, 1902. Der amerikanisch-philippinische Krieg ist erst seit kurzem vorbei, fast eine Million Zivilisten sind aufgrund der Kampfhandlungen während des brutalen Konflikts ums Leben gekommen. Die Moros im Süden der Insel leisten weiterhin zähen Widerstand. Weder die alte spanische Kolonialbevölkerung noch die Einheimischen sind über die dauernde Präsenz der US-amerikanischen Truppen erfreut. Die Gefahr eines weiteren Aufstands schwelt weiterhin. Inmitten dieser angespannten Atmosphäre arbeitet Dr. Salvador Carriscant als Chirurg im San Jeronimo Krankenhaus in Manila. Dank seiner fortschrittlichen Operationsmethoden und weitreichender Kenntnisse hat er einen ausgezeichneten Ruf, allerdings auch eine ganze Reihe von Feinden. Einige der Kollegen schneiden ihn. Der Leiter des Hospitals, Dr. Cruz, ein entschiedener Gegner der modernen Antisepsis, begegnet ihm gar mit offenem Hass. Allein sein Assistent, der Anästhesist und begeisterte Flugpionier Pantaleon Quiroga, hält zu ihm.

Als eine Reihe von mysteriösen Morden an amerikanischen Soldaten die Stimmung in der Bevölkerung zum Kochen bringt, wird Carriscant vom Leiter der amerikanischen Militärpolizei, Paton Bobby, für die Untersuchungen herangezogen. Jedem der Opfer wurde das Herz entfernt. Verfügt der Mörder vielleicht über medizinische Kenntnisse? Während Carriscant dem verzweifelten Bobby bei seinen Ermittlungen hilft, verändert die Zufallsbegegnung mit Delphine Sieverance, der Frau eines amerikanischen Offiziers, sein Leben. Von seiner eigenen zerrütteten Ehe genervt, beginnt er eine Affäre mit seiner großen Liebe. Er plant mit ihr die Flucht nach Europa, baut sich Luftschlösser, bis diese eines Tages plötzlich einstürzen – Carriscant wird verhaftet, wegen Mordes…

Wie macht dieser William Boyd das nur? Egal, wie unspektakulär seine ersten Worte sind oder wie trivial er den ersten Akt in Szene setzt: Ich bin ihm von Beginn an verfallen, hänge an seinen unsichtbaren Lippen und kann mich bei seiner herrlich ziselierten Spannung wunderbar treiben lassen. Mit „Die blaue Stunde“ tritt Boyd einmal mehr den Beweis an, das er den Vergleich mit Größen wie Graham Greene nicht scheuen muss und man für einen packenden Plot nicht unbedingt seitenweise Leichen oder Blut bedarf. Hier ist es lediglich eine geheimnisvolle Figur und ihre Geschichte, die ausreicht, um uns in den Bann zu ziehen und dabei gleichzeitig längst Vergangenes und Vergessenes im Geiste neu zum Leben zu erwecken. So sympathisch Kay Fischers Auftritt am Anfang da bereits ist, steht außer Zweifel, dass „Die blaue Stunde“ natürlich in erster Linie von Carriscants Erlebnissen auf den Philippinen des frühen 20. Jahrhunderts lebt.

Mit dem Rückblick in die Vergangenheit sieht sich auch der Leser Eindrücken ausgesetzt, denen er sich nicht entziehen kann. Schwüle, tropische Hitze, eine von Intrigen, Missgunst, Neid und kolonialem Denken geprägte Bevölkerung, unterschwelliger Hass und menschliche Abgründe. Boyds Worte dringen durch unsere Poren, nehmen gefangen und lassen einfach nicht mehr los. Auf einmal beginnt man selbst zu schwitzen, glaubt man gewisse Gerüche selbst wahrzunehmen. Wenn Carriscant sein Skalpell ansetzt, um eine Operation auszuführen, meint man jeden selbst noch so kleinen Schweißtropfen auf dessen Stirn sehen zu können. Ein Buch aus der Feder William Boyds zu lesen, bedeutet eine besondere Erfahrung. Nicht zuletzt deshalb, weil der britische Schriftsteller stets sonderbare, exotische Orte für seine Handlung wählt und seine auf den ersten Blick so offensichtlichen, konstruierten Geschichten immer einen Verlauf nehmen, der an den unwahrscheinlichsten Stellen für Überraschungen gut ist. Der Trivialität dieses Besondere, diesen Glanz abzugewinnen, darin liegt Boyds Stärke.

Jedermanns Sache wird das nicht sein. Und gerade diejenigen Leser, die einen Krimi mit Haken und Ösen erwartet haben, werden sich gänzlich enttäuscht sehen, denn so mysteriös und spannend die Morde zwar sind, stehen sie doch im Schatten anderer Ereignisse und dienen lediglich als stringenter Faden für die Auflösung des Buchs. Dessen Faszination liegt an anderer Stelle. William Boyd verarbeitet in „Die blaue Stunde“ Motive des Abenteuer- und des historischen Romans, erklärt durch die Handlungen seiner Figuren einen gewaltreichen Konflikt, von dem Carriscant sagt:

„Es war ein hässlicher kleiner Krieg … in gewisser Weise ist es ganz gut, dass die Welt ihn vergessen hat.“

Boyd wirkt mit seiner Geschichte nicht nur diesem Vergessen entgegen, sondern zeigt auch die Tragik in den geschichtlichen Ereignissen. Während in der Heimat der „Way of Life“ zelebriert wurde, die Freiheitsstatue den „Müden, Armen und geknechteten Massen“ ein Licht wies, beging selbige Nation Völkermord an tausenden Filipinos, darunter Kindern von gerade mal zehn Jahren. Hier wird von Menschen berichtet, die es in die Ferne treibt, nur um dort wieder das aufzubauen, was sie hinter sich lassen wollten.

Im Kleinen betrifft dies auch Carriscant, der einerseits das veraltete Denken verflucht und medizinischen Fortschritt propagiert, andererseits aber gerade die westlichen Einflüsse verdammt, die dem vollkommenen Glück im Wege stehen und ihn dazu zwingen, eine Affäre im Geheimen zu führen. Das seine Liebe zu Delphine kein gutes Ende nehmen kann und wird, ahnt man zwar schnell. Der Faszination für die Figur Carriscant tut das jedoch keinen Abbruch. Ganz im Gegenteil: Mit dem Doktor ist Boyd ein fehlbarer Held gelungen, dessen Leid und Glück man nur allzu gern teilt und der die Geschichte, im Verbund mit ebenso ausgeprägten Charakteren wie Delphine, Bobby oder Pantaleon, mit einer großen Bandbreite von Gefühlen versieht. Das wird dem ein oder anderen vielleicht streckenweise zu sentimental sein. Mich persönlich hat dies, insbesondere auf den letzten siebzig Seiten, sehr berührt und nachhaltig beeindruckt.

William Boyd erweist sich mit seinem sechsten Roman „Die blaue Stunde“ wieder mal als ein großer Romancier unserer Zeit. Eine herausragende, souverän und melancholisch erzählte Geschichte, die durch exotische Vielfalt und mit Liebe zum Detail besticht. Auch wenn er hier nicht ganz das Niveau von „Ruhelos“ oder „Eines Menschen Herz“ erreicht – ein unbedingt lesens- und empfehlenswertes Buch.

Wertung: 88 von 100 Treffern

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  • Autor: William Boyd
  • Titel: Die blaue Stunde
  • Originaltitel: The Blue Afternoon
  • Übersetzer: Matthias Müller
  • Verlag: Kampa
  • Erschienen: 01.2020
  • Einband: Hardcover
  • Seiten: 400 Seiten
  • ISBN: 978-3311100072

2 Gedanken zu “Ein hässlicher kleiner Krieg

  1. „Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust.“ Es ist ein stiller Aufschrei, wenn ich die Nachricht erhalte, dass Crimealley eine neue Rezension veröffentlicht hat.

    Schon während ich die Seite öffne und noch bevor ich die neueste Rezension anfange zu lesen, flüstert ein kleines, aber beharrliches Stimmchen im Hinterkopf: „Nein, das kommt nicht in Betracht! Nein, das kommt nicht auf den Merkzettel! Untersteh dich! Trau dich ja nicht!“ währenddessen meine Finger schon über die Tastatur gleiten und nach dem rezensierten Titel (und natürlich anderen Titeln des Herrn Boyd suchen) …

    [Auszug aus dem Leben mit einer Sucht] :-)

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