Life played out on a field

© Dumont

Von allen drei großen Sportarten in den Vereinigten Staaten von Amerika – Basketball, Football und Baseball – ist es wohl die letztere, für die ich seit jeher am wenigsten Interesse aufbringen konnte. Nicht zuletzt vielleicht deshalb, weil wir im Sportunterricht der Oberstufe ein bisschen zu oft in den Genuss ihrer Ausübung kamen. Das wiederum dürfte dann auch einer der Gründe gewesen sein, warum Chad Harbachs Roman „Die Kunst des Feldspiels“ eine „etwas“ längere Zeit auf dem „Zu-lesen-“Stapel neben dem Fernseher verbringen durfte – und immer wieder wie von Zauberhand einen Platz weiter nach unten wanderte.

Eine Geringschätzung, welche das Werk rückblickend sicherlich so nicht verdient gehabt hat, wenngleich ich aber auch nicht ganz in die oft sehr hymnischen Einordnungen manch anderer Rezensenten einstimmen kann und will, was ich aber – und deswegen schiebe ich diese Besprechung schon seit Wochen vor mir her – nur schwer in Worte gefasst bekomme.

Und wie immer wenn ich einer Schreibblockade erlege, deren Ursache ich nicht ergründen kann – und Abstand nehmen nicht mehr hilft – nutze ich diese doch jetzt einfach als Einstieg in die Rezension, ist schließlich dieses Symptom auch eine direkte Auswirkung der Lektüre, welche ich einerseits sehr genossen habe, mich aber gerade zum Ende hin mit gemischten Gefühlen zurückgelassen hat. Chad Harbach macht in „Die Kunst des Feldspiels“ einfach unheimlich viel richtig, hat ein typisches „Great American Novel“ zu Papier gebracht, dem man mit der Einordnung als Sportroman bei weitem nicht gerecht wird, da auch Themen wie Bildung, gesellschaftlicher Aufstieg und vor allem das „Coming-of-Age“ eine gewichtige Rolle in ihm spielen. So divers diese Mischung ist, so unterschiedlich auch die Charaktere, welche die Handlung bevölkern, die sich zwar weitestgehend im Mikrokosmos Universitätscampus abspielt, aber dennoch eben – aufgrund ihrer Figuren – universale Themen und Konflikte anspricht.

Ihren Anfang nimmt sie in der tiefsten Provinz in Lankton, South Dakota. Hier spielt im örtlichen Baseballteam der 17-jährigen Henry Skrimshander. Ein schmächtiger, relativ kleiner und wortkarger Bursche, der jedoch ein beinahe unglaubliches Talent besitzt, die Flugbahn eines Balles zu lesen und mit formvollendeter Eleganz diesen nicht nur jedes Mal in verschiedensten Positionen zu fangen, sondern auch gleich direkt dorthin zu werfen, wo er ihn haben will – das alles in einer scheinbar einzigen, fließenden Bewegung. Bei einem Spiel gegen Chicago wird schließlich der Student Mike Schwartz auf dessen unfassbare Begabung aufmerksam. Er ist Kapitän der Baseballmannschaft des Westish College und hofft das dortige Team der Harpooners, bis dato relativ erfolglos, mit Skrimshander zu verstärken. Nach kurzer Bedenkzeit stimmt Skrimshander zu und beginnt in Nordost-Wisconsin, an den Ufern des Lake Michigan, eine neues Leben.

Eine Entscheidung, die sich von Beginn an direkt für ihn auszuzahlen scheint. Nicht nur findet er schnell neue Freunde in Westish – mit seinem schwulen Mitbewohner Owen verbindet ihn bald eine enge Kameradschaft – auch auf dem Baseball-Feld läuft für ihn alles wie am Schnürchen. Sein „goldener Arm“, den er, wie den Rest seines Körpers, täglich in härtesten Übungen mit Mike Schwartz trainiert, wird zur entscheidenden Waffe im Spiel und führt die Harpooners von Sieg zu Sieg. Wie besessen versucht Skrimshander seine Fähigkeiten noch zu verbessern, wobei ihm vor allem „Die Kunst des Feldspiels“, die Baseball-Bibel des (fiktiven) großen Spielers Aparicio Rodriguez – ehemals selbst Shortstop wie Skrimshander – als Leitfaden dient. Schon bald säumen Scouts der Profi-Ligen den Spielfeldrand und versuchen einander mit höher dotierten Vertragsangeboten zu übertreffen. Alles läuft wie erhofft, bis es eines Tages plötzlich zu einem Unglück kommt, welches seinen bis hierhin kometenhaften Höhenflug jäh beendet. Bei einem eigentlich recht einfachen Wurf verfehlt der sonst so treffsichere Junge sein Ziel – und erwischt den auf der Bank lesenden Owen mitten im Gesicht.

Von jetzt auf gleich sieht sich nicht nur Skrimshander mit der eigenen Fehlbarkeit und bisher unbekannten Zweifeln konfrontiert – auch für den Präsidenten des College, Guert Affenlight, ist dieser Moment von entscheidender Bedeutung. Der renommierte Melville-Experte und national anerkannte Akademiker, ein typischer „Ladys Man“, muss sich eingestehen, dass er erstmals in seinem Leben wirklich verliebt ist. Und das ausgerechnet in den schmerzlich getroffenen Owen. Ohnehin ist es leitenden Angestellten am College untersagt, Beziehungen zu den ihnen anvertrauten Studenten zu unterhalten – doch auch noch eine homosexuelle? Affenlight, dessen Tochter Pella nach einer gescheiterten Ehe zu ihm zurückgekehrt ist, will, allen Risiken zum Trotz, seinen Gefühlen nachgeben.

Währenddessen steht auch Skrimshanders unerbittlicher Förderer Mike Schwartz, dessen Körper von Jahren des Spiels gezeichnet ist, vor einer alles entscheidenden Frage: Was kommt eigentlich nach dem College?

Schon dieser kurze Anriss des Plots sollte verdeutlichen, dass die Sportart Baseball nun wahrlich keine Hürde für den Einstieg in dieses Buch darstellt (auch wenn eine gewisse Vorkenntnis sicherlich nützlich ist), denn die Geschichte hätte auch sicher mit Football oder Basketball ähnlich gut funktioniert. Voraussetzung ist aber in jedem Fall die amerikanische Prägung, denn gerade das beschriebene Leben zwischen College-Sport und Campus-Leben hat natürlich seine Wurzeln jenseits des großen Teichs – und ist auch eben darum dort am besten aufgehoben. Vielleicht ein Grund, weshalb es vergleichbare Literatur für Fußball hierzulande nicht gibt bzw. die in den meisten Fällen von eher minderer Qualität ist. Harbach gelingt es äußerst kunstvoll und vor allem unheimlich wortgewandt, die Träume, Wünsche und Ziele der jungen Studenten, aber auch ihre Ängste, Zweifel und Niederlagen vor dem Hintergrund dieses Spiels, das sie alle vereint, zu verbildlichen und gleichzeitig äußerst einfühlsam mit den Entscheidungen des älteren Guert Affenlight zu spiegeln, der im fortgeschrittenen Alter die Sinnhaftigkeit des eigenen, konfliktlosen Wegs in Frage stellt.

So traumwandlerisch sicher wie Skrimshander seine Bälle ins anvisierte Ziel bringt, so sicher erweist sich Chad Harbach auch in der Zeichnung seiner Figuren, für die ihm meines Erachtens auch das allergrößte Lob gebührt. Lange ist es her, dass mir Protagonisten – auch aufgrund der warmherzigen, gefühlvollen Sprache – so schnell und vor allem intensiv ans Herz gewachsen sind, mich ihr Scheitern hat derart leiden lassen und eine neu gefundene, wahre Liebe so berührt hat. Wenn sich Owen Dunne und Guert Affenlight näher und näher kommen, kann man (selbst als heterosexueller Leser) schlicht nicht anders, als sich mit beiden zu freuen, da Harbach hierbei eine Verbindung schildert, nach der sich wohl ein jeder sehnt, der denjenigen bzw. diejenige im echten Leben noch nicht gefunden hat. Und er tut das wohlgemerkt mit einer sichtbaren Sensibilität, viel (langvermisste) Toleranz und ohne diese Liebe mit unnötigen Kitsch zu überfrachten – oder zu sehr ins Detail zu gehen. Eine Versuchung, welcher der ein oder andere Autor an dieser Stelle wahrscheinlich erlegen wäre.

Desweiteren verzichtet Harbach – zumindest im ersten Drittel – auch auf übertrieben bedeutungsschwangere Passagen, zeigt sich stilistisch äußerst leichtfüßig und lebhaft, findet lange Zeit genau das richtige Maß zwischen Wortwitz und Einfühlsamkeit. Während wir dabei Henry Skrimshander irgendwann nicht mehr wirklich näher kommen, er dem Leser aufgrund seinem überbordenden Perfektionismus und dem Bedürfnis nach Isolation von den anderen zunehmend entrückt, ist es dann vor allem das Schicksal von Mike Schwartz, dem wir mit besonderem Mitgefühl unsere Aufmerksamkeit widmen.

Er steht beinahe stellvertretend für alle Sonnen- und Schattenseiten dieses Sports, verkörpert sowohl die zielgerichtete Professionalität in Form seines besessenen Trainings und seiner fast schon quälenden Selbstdisziplin, als auch das verbindende Element zwischen den Spielern, welches mit strenger Hand dafür sorgt, dass die Kameradschaft innerhalb der Mannschaft nie unter dem Konkurrenzkampf leidet. Und wie so oft, ist es gerade der Anführer, der Leader, welcher sich daraus resultierend als isoliert wiederfindet, sein eigenes Leben und eigene Träume für jemand anderes – in diesem Fall Skrimshander – opfert. Damit dessen Automatismen wieder greifen, sein Wunsch Profi-Spieler zu werden doch noch in Erfüllung geht, tut der Musterathlet Schwartz mit leidenschaftlicher Hingabe alles – und droht am Ende dabei selbst auf der Strecke zu bleiben.

Die Szenen, in denen sich Schwartz, nur noch zusammengehalten von Schmerzmitteln, Bandagen und Tapes, durch die Spiele kämpft, vorangeht und doch immer noch den Blick für das große Ganze beweist – sie hallen lange und eindringlicher nach, als das Schicksal Skrimshanders, der außer seinem Talent nicht allzu viel an bemerkenswerten Eigenschaften mitbringt. Und der, als er es plötzlich verliert, sich in sich selbst zurückzieht, in Selbstzweifeln und Selbstmitleid versinkt – und damit auch gleichzeitig die von Schwartz in ihn gesetzten Hoffnungen als neuer Staffelträger zerstört. Für ihn, seinen Entdecker, ist aber gerade dieses Scheitern auch ein Moment der Erweckung, erkennt er doch nun wie fehl ihn seine Ambitionen geleitet haben, dass sein Scheitern im Spiel auch seine weitere fragile Existenz als solches bedroht, wenn er es einfach geschehen lässt und sein Augenmerk nicht endlich auf die eigene Zukunft richtet.

Harbach kreidet den Pursuit of Happiness damit literarisch auf einem Baseballfeld ab. Ein Ort, der metaphorisch für ein ganzes Land steht, welches alles dem Erfolg unterordnet – und in dem augenscheinlich auch nur der Erfolgreiche glücklich sein darf. Erwartungen, Sehnsüchte und Hoffnungen zerschellen nicht selten an der bitteren Realität, die letztlich auch bedeutet: Selbst in einer Mannschaft kämpft jeder für sich allein, bedeutet Gemeinschaft nicht folgerichtig auch die Abwesenheit von Einsamkeit. Vielmehr teilt sich auch im Baseball alles zwischen Gewinnern und Verlierern – eine Welt voller Obsessionen, in der man sich eben beweist oder das Feld geschlagen verlassen, in der man nach einer Niederlage wieder aufsteht oder mit dessen Schande leben muss. Wie Harbach diese bittere Wahrheit zunehmend verdichtet und dabei noch Zeit hat, sich in literarisch-philosophischen Betrachtungen unter anderem dem Lebenswerk Herman Melvilles zu widmen, das ist durchaus beeindruckend und zeugt von großem Talent, wird aber meines Erachtens durch eine gewisse mangelnde Konsequenz im letzten Viertel des Romans etwas getrübt.

Anstatt seiner vorigen Linie treu zu bleiben, wendet sich hier für meinen Geschmack etwas zu viel und vor allem zu schnell zum Besseren, zielt das zu glatt und präzis inszenierte Finale zu sehr auf Hollywood, um im Kontext zum Rest der Geschichte glaubhaft zu bleiben – und unterwandert damit auch dessen eigentliche Tragik. In der allerbesten Manier und Tradition des US-amerikanischen Kinos endet der Weg in einem prall gefüllten Stadion applaudierender Zuschauer – die in der Sonne wehenden Stars und Stripes darf sich der Leser noch dazudenken. Gerade auf diesen letzten Metern erweist sich Harbach damit einen Bärendienst, hätte er doch weiterhin dem Plot seinen Lauf und seine Bilder wirken lassen sollen, anstatt derart offensichtlich manipulativ einzugreifen. Zumindest habe ich es entsprechend empfunden.

Nein, das ändert nichts daran, dass jeder Freund des großen amerikanischen Romans Chad Harbachs „Die Kunst des Feldspiels“ unbedingt eine Chance geben und diese fantastischen Protagonisten kennenlernen sollte, die lange über das Ende der Lektüre hinaus in Erinnerung bleiben dürften. Mögen meine Worte also als (äußerst persönliche) Kritik auf höchstem Niveau verstanden und diesem Werk über die Irrungen und Wirrungen des Lebens dennoch möglichst viele Leser zuteil werden.

Wertung: 83 von 100 Trefferneinschuss2

  • Autor: Chad Harbach
  • Titel: Die Kunst des Feldspiels
  • Originaltitel: The Art of Fielding
  • Übersetzer: Stephan Kleiner, Johann Christoph Maass
  • Verlag: Dumont
  • Erschienen: 11.2012
  • Einband: Hardcover
  • Seiten: 608
  • ISBN: 978-3832196264

Der Preis der Freiheit

© Pendragon

Gerade erst vor wenigen Tagen feierte der Bielefelder Pendragon Verlag sein vierzigjähriges Bestehen (die kriminelle Gasse berichtete kurz hier) und damit auch im gleichen Zuge die bisherige Lebensleistung von Günther Butkus, der im Alter von gerade mal 22 Jahren das Fundament für diese Erfolgsgeschichte gelegt hat. Dazu beigetragen hat aber vor allem eine ganz Riege außergewöhnlicher Autoren/innen, in deren Mitte sich inzwischen auch Sandra Brökel einreiht, welcher mit „Das hungrige Krokodil“ ein nachhaltig in Erinnerung bleibendes literarisches Kleinod gelungen ist, das ich persönlich jedoch erst mit einer gewissen Verspätung für mich entdeckt habe.

Grund dafür ist wohl vor allem die Etikettierung als „Familienroman“, was bei jemandem, der in seiner Schulzeit gleich zweimal aufs Schlimmste mit Thomas Manns „Buddenbrooks“ gefoltert wurde, bis heute reflexartig böse Geister weckt – und das obwohl ich diesen deutschen Klassiker sogar inzwischen äußerst wohlwollend betrachte. Fakt ist jedoch: Es ist ein Genre, dem ich eher selten bzw. nur sporadisch Aufmerksamkeit schenke. Brökels Werk wurde diese nun zuteil – zu meinem großen Gewinn, denn „Das hungrige Krokodil“ ist nicht nur aus historischer Sicht äußerst lesenswert, es gibt auch mehr als nur einen Einblick in das Leben hinter dem Eisernen Vorhang, katapultiert uns mitten in eine Epoche, in welcher der Traum vom „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ durch den gewaltsamen Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes am 21. August 1968 zerplatzte. Doch wie kommt die deutsche Schreib- und Trauertherapeutin Sandra Brökel überhaupt auf die Idee, über genau diesen wichtigen Wendepunkt der tschechischen bzw. tschechoslowakischen Geschichte zu schreiben? Wer genau war dieser Pavel Vodák und wie wurde er zum Fixpunkt dieses biographischen Romans?

Die Erklärung dafür ist fast genauso interessant und faszinierend wie die Lektüre selbst, denn es begann tatsächlich alles mit einer alten Arzttasche. Sandra Brökel, als Kind adoptiert, begann im Jahre 2008 intensiv mit einer Suche nach ihren eigenen familiären Wurzeln – und wurde auch fündig. Gleichzeitig hielt sie dabei Ausschau nach fundierter Fachliteratur und stieß dabei auf die wissenschaftlich anerkannte Publikation von eben jenem Pavel Vodák, welche zu diesem Zeitpunkt allerdings nur in tschechischer Sprache vorlag und somit für sie nicht lesbar war. Vodák geriet in Vergessenheit, bis ihr im Januar 2014 ihre Freundin Paula, eine eingedeutschte Tschechin, welche eigentlich Pavla heißt, bei einem Restaurantbesuch von den Erinnerungen an ihre Familie und vor allem von ihrem Vater erzählte. Brökel wurde schnell klar – dabei handelt es sich um niemand geringeren als Pavel Vodák. Ihre Freundin stellte ihr sämtliche Unterlagen, aufbewahrt u.a. in eben jener Arzttasche, zur Verfügung, woraufhin Brökel damit begann, Ordnung in das Durcheinander, es für Pavla in eine gewisse Form zu bringen. Ein Prozess, in deren Verlauf beide irgendwann realisierten – das hat Potenzial für einen Roman. Und man sollte ihn veröffentlichen. Sandra Brökel reiste für die Arbeit daran nach Prag, brachte Zeile für Zeile im Café Slavia auf Papier und kam dabei Pavel Vodák immer näher – so nah, dass es sie laut eigener Aussage an ihre eigenen emotionalen Grenzen brachte. Worte, die man nach Beendigung dieses Buches nicht für eine Sekunde anzweifeln möchte. Doch first things first.

Den Anfang nimmt Vodáks Geschichte zwar im Juni 1970, doch wechseln wir bald zurück in die Zeit seiner Jugend. 1920 als Sohn eines tschechischen Offiziers und einer deutschen Mutter in Budweis geboren, wird er im März des Jahres 1939 Zeuge des Einmarschs der deutschen Wehrmacht, der zu dieser Zeit noch von vielen Menschen der nicht selten deutschstämmigen Bevölkerung durchaus begrüßt, stellenweise sogar begeistert gefeiert wird. Selbst einer von Pavels Lehrern preist den Zusammenschluss der Nationen, lobt die Besatzer als kulturellen Gewinn, handelt es sich doch schließlich um das Volk von Goethe, Lessing und Schiller – das Land der Dichter und Denker. Doch die Soldaten, welche „Heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt“-singend durch die Straßen paradieren, zeigen schon recht bald wessen Geistes Kind sie wirklich sind. Als sich im Oktober 1939 mehrere Studenten zu einer friedlichen Demonstration versammeln, wird diese gnadenlos niedergeschlagen, neun der Anführer gar zum Tode verurteilt. Pavel selbst bleibt nur durch Glück verschont, muss aber hilflos mit ansehen, wie ein jüdischer Kommilitone von der Universität ausgeschlossen wird, später ganz verschwindet. Es dauert nicht mehr lange und der Studienbetrieb wird komplett eingestellt.

Für die Tschechoslowakei beginnt eine dunkle Zeit, die sich durch das Wirken von Reinhard Heydrich und die Folgen des Attentats auf ihn noch verdüstert. Erst sechs Jahre später kehrt wieder so etwas wie Frieden ein, als der Krieg endlich zu Ende geht. Nicht jedoch für Pavel, den man als Mediziner in Ausbildung zur Unterstützung nach Theresienstadt schickt, wo er aus erster Hand mit dem kompletten Ausmaß der durch die Nazis begangenen Verbrechen konfrontiert wird und eine langjährige Ablehnung gegen alles Deutsche entwickelt. Die Befreiung durch die Sowjets aber, sie wird nur kurz als solche empfunden. Obwohl er privat sein Glück findet und seine große Liebe Vera heiratet, kommt es auch unter Stalins Sozialismus immer mehr zu Einschränkungen. Der von Moskau ausgehende Uniformismus reglementiert jeden Schritt der Tschechen, zwingt Vera zur Arbeit in der Fabrik und Oppositionelle in den Untergrund. Pavel glaubt weiterhin offen sprechen zu können, bis ihm ein Parteifunktionär eine deutliche letzte Warnung zukommen lässt.

Die Jahre vergehen und die Tschechoslowakei wird für den Freigeist Pavel immer mehr zu einem großen Gefängnis. Erst 1968 scheint sich endlich der Wind zu drehen. Alexander Dubcek, späterer Staatspräsident, regt im Frühling vorsichtig Reformen an und verleiht der Opposition neue Kraft. Pavel, inzwischen ein renommierter und europaweit bekannter Facharzt in der Kinderpsychiatrie, aber auch viele andere Intellektuelle beteiligen sich am „Manifest der 2000 Worte“, das für eine menschlichere Form des Sozialismus wirbt – gehört am Ende aber nicht zu dessen Unterzeichnern. Wie sich später herausstellt, zu seinem Glück, denn der aus dem Manifest resultierende so genannte „Prager Frühling“ wird vom Militär mit Gewalt beendet, alle Beteiligten verhaftet oder – wie Pavel – unter strenge Beobachtung gestellt. Prag, seine Heimat, sie ist endgültig nicht mehr sicher und Pavel trifft eine schwere Entscheidung. Er, der sein Land über alles liebt, muss flüchten, gemeinsam mit seiner gesamten Familie …

Freiheit. So ein kurzes, unscheinbares Wort. Und dann doch vielleicht das Wichtigste im Leben von uns Menschen, wenngleich wohl nur noch die wenigsten ihr diesen Wert beimessen, geschweige denn ihn überhaupt erkennen. Dort wo man sie genießt, wo sie allgegenwärtig ist, dort nimmt man sie bald nicht mehr wahr, nimmt man sie als selbstverständlich. Der Preis, den sie gekostet hat – und der immer noch, wenn auch vielleicht nicht bei uns – dafür gezahlt werden muss, ihn haben viele von uns vergessen. Und werden nun durch Sandra Brökels „Das hungrige Krokodil“ auf eine Art und Weise daran erinnert, für die eine schlichte Analyse nicht ausreicht, ist doch das künstlerische Wie weit weniger ausschlaggebend, als das, was uns zwischen den Zeilen dieses tollen Werks erreicht. Brökels Sprache ist klar, knapp, beinahe spartanisch – in ihr ist kaum künstlerische Ausschmückung zu finden. Sie mäandert nicht, ist zielgerichtet und irgendwie kühl. Fast so, als habe sie etwas von diesem sozialistischen Uniformismus aufgesogen, in der sich ihre Figuren bewegen. Und doch – gerade deswegen fehlt diese typische Barriere zwischen der Handlung und dem Leser, schreiten wir von Beginn an im Rhythmus von Pavels Schritten durch diesen wirklich einmaligen Roman, der unser Herz immer wieder, nicht selten zur eigenen Überraschung, zu rühren vermag.

Verleger Günther Butkus berichtete mir im persönlichen Gespräch, dass Sandra Brökel bei manchen ihrer Lesungen selbst die Tränen gekommen sind. Und wo ich sonst mit bitterem Geschmack aufgesetzten Kitsch und Inszenierung dahinter vermuten würde, so kann ich das hier äußerst trefflich nachvollziehen. Brökel scheint bei ihrer Aufarbeitung von Pavels Leben, man muss es so sagen, irgendwann fast eins mit ihm geworden zu sein. Anders lässt es sich nicht erklären, wie nahbar uns diese Lektüre macht, wie Bilder vor unseren Augen entstehen, obwohl diese seitens der Autorin doch mit keinem Wort beschrieben worden werden. Wenn sich Pavel durch das Grauen von Theresienstadt bewegt, er in Ungarn jemanden trifft, der ihm zur Ausreise verhilft oder die ärztliche Diagnose vom Zustand seiner Schwiegermutter erhält – dann, ja, dann, ist es schwierig gefasst zu bleiben, nicht zu verstehen, wie es sich angefühlt haben muss, gegen die eigene Auffassung davon, was richtig und falsch ist, handeln zu müssen. Mit der Entscheidung seinem Land den Rücken zu kehren, entscheidet sich Pavel auch für den Verlust – seiner Heimat, seiner Freunde, seiner Arbeit und im schlimmsten Fall auch eines geliebten Menschen. Wir durchleben das dank Brökels vollkommen distanzloser Sprache stets mit, spüren das große Opfer, das zu bringen er gezwungen ist. Wohlgemerkt, dies gilt es zu betonen, ohne dabei das Gefühl zu haben, irgendeiner Form von Rührseligkeit auf den Leim gegangen zu sein.

Ganz im Gegenteil: Selten war eine geschichtliche Reise emotional derart intensiv, hatte ich am Ende zu meinem eigenen Erstaunen so schwer gegen die Tränen anzukämpfen. Vielleicht auch noch unterstützt durch das Wissen, das ein Teil meiner Verwandtschaft ähnliches in der Deutschen Demokratischen Republik durchleben musste. Dabei fand ich das Motiv des „hungrigen Krokodils“ immer wieder äußerst treffend gewählt, das reglos und auf den ersten Blick apathisch sein Opfer mit Argusaugen beobachtet. Nur auf den richtigen Moment der Unachtsamkeit, des sich Sicherfühlens wartend, um dann blitzschnell loszuschlagen und seine Beute ins Verderben zu ziehen. Diese Metapher für den totalitären Staat – sei er nationalsozialistisch oder sowjetkommunistisch – ist mehr als passend und nachvollziehbar, was übrigens meines Erachtens, neben vielen anderen Elementen, diesen Roman auch zu einer hervorragenden Schullektüre macht.

Was bleibt darüber hinaus: Die Erinnerung an so ziemlich fast jede beschriebene Passage, auch noch Wochen nach Beendigung meiner Lektüre. Allein schon das sollte Bände sprechen für den Eindruck, den Sandra Brökels „Das hungrige Krokodil“ hinterlassen hat – ein Buch, das, neben der Geschichte der Tschechen im 20. Jahrhundert, auch viel über uns selbst verrät. Und über die Gefahr, das lauernde Krokodil nicht mehr zu beachten und gewähren zu lassen. Ergo: Große, bereichernde Literatur – nicht mehr, nicht weniger.

Wertung: 93 von 100 Trefferneinschuss2

  • Autor: Sandra Brökel
  • Titel: Das hungrige Krokodil
  • Originaltitel:
  • Übersetzer:
  • Verlag: Pendragon 
  • Erschienen: 02.2018
  • Einband: Broschiertes Taschenbuch
  • Seiten: 320
  • ISBN: 978-3865326089

Krieg der Lügen

© Kampa

Es gibt sie immer noch – diejenigen, welche als Grenzschützer die vermeintlichen Übergänge zwischen den Genres überwachen, peinlich genau darauf achten, dass sich das sogenannte Triviale nicht mit der Hochliteratur vermischt, bloß keine Brücken zwischen Niveau und Unterhaltung geschlagen werden.

Sie merken nicht, dass sie die Entwicklungen der letzten Jahre, ja Jahrzehnte vollkommen verschlafen haben, wir nicht mehr länger in diesen Kategorien urteilen und Maß nehmen können, da sich das einstmals Ausschließende inzwischen längst vereinigt hat – vorangetrieben von Autoren, die diese willkürlich gesetzten roten Linien einfach nicht als solche wahrgenommen oder mittels der künstlerischen Freiheit überwunden haben. Und während es einige Schriftsteller gab, wie zum Beispiel Graham Greene, wo dies bereits zu früheren Zeiten akzeptiert worden ist, muss sich der ein oder andere heute weiterhin zu diesem Eiertanz zwischen klassischer Belletristik und Spannungsroman auffordern lassen. Zu ihnen gehört auch William Boyd, dessen Roman „Ruhelos“ man vor einigen Jahren in den Buchhandlungen in verschiedenen Abteilungen finden, leider aber sich in keiner davon augenscheinlich einen dauerhaften Platz erobern konnte.

Das ist weiterhin bedauernswert, zumal gerade „Ruhelos“ bei der damaligen Veröffentlichung hierzulande größere Aufmerksamkeit bekommen hat, welche einen Durchbruch in Deutschland erhoffen ließ. Boyd aber bleibt bis heute, unverständlicherweise, ein Geheimtipp. Und während das Lebenswerk des kürzlichen verstorbenen John Le Carré allenthalben gefeiert und nochmal ins Scheinwerferlicht gerückt wird, muss daher wohl die kriminelle Gasse für den schottischen Autor, der aktuell wieder beim tollen Kampa-Verlag neu aufgelegt wird, Schützenhilfe leisten. Mit Freuden wohlgemerkt, denn Boyd ist hier ein Spionageroman klassischer Schule gelungen, der sowohl sprachlich als auch in seinem Aufbau zu überzeugen weiß und dem Leser nebenbei noch eine Geschichte kredenzt, die gleich mehrere Ebenen aufweist – und sich mitunter äußerst beklemmend liest.

Ihren Anfang nimmt sie im England des Jahres 1976, genauer gesagt im beschaulichen Oxford. Die Bevölkerung der Universitätsstadt leidet unter einem ungewöhnlich heißen Sommer. Unter ihnen auch die allein erziehende Sprachlehrerin Ruth Gilmartin mit ihrem Sohn Jochen, welche sich nicht nur aufgrund der Hitze zunehmend Sorgen um die Gesundheit ihrer alten Mutter Sally macht. Diese sitzt nach einem Hausunfall mittlerweile im Rollstuhl und sucht in letzter Zeit vermehrt und äußerst nervös den angrenzenden Waldrand mit dem Fernglas ab. Ihr Haus verlässt sie selbst kaum noch, Telefonanrufe nimmt sie nur nach einen vorher vereinbarten Klingelzeichen ab. Was Ruth anfangs für den Beginn von Altersdemenz hält, hat jedoch viel tiefer gehende Gründe. Und eines Tages kommt seitens Sally zu einer überraschenden Eröffnung: In Wirklichkeit heißt sie nicht Sally sondern Eva Delektorskaja und war früher für viele Jahre als Spionin für den britischen Geheimdienst tätig. Und genau deswegen, bangt sie nun um ihr Leben …

Was klingt wie mit ziemlich heißer Nadel gestrickt und anfangs noch vielleicht den oder anderen Zweifel aufgrund der Ausgangskonstellation beim Leser erweckt, entfaltet zwischen denn Buchdeckeln aber tatsächlich nach wenigen Seiten (wie so oft bei Boyd) eine schon fast unheimliche Sogwirkung, verlieren wir uns in den zeitgeschichtlichen Ereignissen, die vom Autor in zwei Handlungsstränge aufgeteilt werden, deren Auswirkungen wiederum bis in das Heute spürbar sind. Der Hauptstrang führt uns zurück in das Jahr 1939, genauer nach Paris, wo die russische Emigrantin Eva nach dem Tod ihres Bruders durch die Nazis, von dem mysteriösen Lucas Romer für den britischen Geheimdienst angeworben wird. Es folgt eine intensive Ausbildung in Schottland mit anschließenden Einsätzen in Belgien, England und vor allem in den USA. Das Ziel der geheimen Unterabteilung des British Secret Service: Falschmeldungen zu lancieren, welche die Vereinigten Staaten von Amerika zum Eintritt in den Krieg bewegen sollen. Und dafür ist den Engländern, die ab 1940 die letzte Bastion gegen Hitlers Armeen bilden und sich in einer verzweifelten Lage befinden, beinahe jedes zur Verfügung stehende Mittel recht.

Selbst wer sich grundsätzlich eher wenig für die militärhistorischen Konstellationen vor Pearl Harbour interessiert, wird sich dank Boyds zielsicherer, feinfühliger Schreibe, dem sich zuspitzenden Plot und der facettenreichen Figur Eva und ihren Erlebnissen nur schwerlich entziehen können. Der Autor profitiert dabei von seiner Besetzung, denn in einem Milieu der Geheimdienste, wo man mit erfundenen Geschichten, Falschmeldungen und bewusst konstruierten Fährten die Weltgeschichte in die jeweils gewünschte Richtung lenken will, fällt eine Lüge mehr oder weniger nicht auf, verschwimmen die sonst deutlicher getrennten zwischen Fiktion und historischer Realität. Es ist ein heikles Spiel, welches Boyd hier schildert und das vor allem von Taktik geprägt ist, weswegen sich „Ruhelos“, im Kontrast zum Titel, immer wieder Zeit nimmt, um ausführlich zu erzählen, was in Zeiten geradlinig durchkomponierter und mit Action vollgestopfter Thriller schnell auf Ungeduld stoßen dürfte. Gerade an die Geduld möchte ich aber appellieren, sind doch diese behäbigeren Passagen nur das Luftholen, nur der minutiös geplante Aufbau für eine ganze Reihe von Eröffnungen, die mehr als nur eine Überraschung in sich birgen.

Das einzige Manko: Bis dahin müssen wir auch immer wieder in die 70er Jahre zurückwechseln, wo sich die Ich-Erzählerin Ruth nicht nur mit wachsender Faszination durch die schriftlichen Dossiers ihrer Mutter arbeitet, sondern über Umwege auch noch in den Dunstkreis der Baader-Meinhof-Gruppe gerät. Wie und warum, das sei hier nicht näher geschildert, verkommt doch dieser nicht weiter ausgearbeitete Handlungsstrang zu einem Sturm im Wasserglas, nachdem man sich umso mehr auf Evas Erzählungen aus ihrem „ruhelosen“ Leben freut. Gerade das geschilderte Doppel- und Dreifachspiel der Agenten, die gezielten Seitenhiebe auf die Macht der Medien und der psychologische Unterbau samt der finalen Auflösung, sorgen dafür, dass man nicht nur hochklassig und kurzweilig unterhalten wird, sondern am Ende auch der festen Überzeugung ist, einen völlig neuen und anderen Einblick in das Leben dieser Epoche erhalten zu haben.

So ist „Ruhelos“ schließlich eine auf- und anregende Lektüre, die trotz einiger, unübersehbarer Schwächen den wehrlosen Leser in seinen Bann zu Ziehen vermag und nebenbei noch eine Lanze für das zuweilen abschätzig betrachte Genre des Spionage-Thrillers bricht. Ein Katz-und-Maus-Spiel zwischen feindlichen Agenten kann sehr wohl spannend, literarisch und tiefgründig zugleich sein. Dieses Buch beweist es.

Wertung: 92 von 100 Treffern

einschuss2
  • Autor: William Boyd
  • Titel: Ruhelos
  • Originaltitel: Restless
  • Übersetzer: Chris Hirte
  • Verlag: Kampa
  • Erschienen: 03.2019
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 384 Seiten
  • ISBN: 978-3311100058

Ein schrecklich trauriges Gespenst

© Kampa

„Das Gespenst von Canterville“ ist nicht nur das erste erzählerische Werk des englischen Schriftstellers Oscar Wilde, sondern hat darüber hinaus auch für mich persönlich eine gewisse Bedeutung. Erstmals erschienen ist diese herrliche Gesellschaftssatire nämlich in der Londoner Zeitschrift „The Court and Society Review“ im Jahr 1887. Demselben Jahr, in dem auch Sir Arthur Conan Doyles Held Sherlock Holmes in „Eine Studie in Scharlachrot“ das Licht der Welt erblickt und Freundschaft mit Dr. Watson geschlossen hat.

Beide, Doyle wie Wilde, haben mich bereits in jungen Jahren für das Lesen begeistern können und letztlich den Grundstein dafür gelegt, dass ich mir heute ein Leben ohne die Literatur gar nicht mehr vorstellen kann. Ein Grund mehr, Wildes amüsante und kurzweilige Erzählung nochmals aus dem Regal zu ziehen und ein wenig in Nostalgie zu schwelgen. Für alle diejenigen, welche nicht mit dem Werk vertraut sind, sei die Geschichte hier nochmal schnell angerissen:

Hiram B. Otis, ein amerikanischer Gesandter, wird ausdrücklich vor dem Kauf von Schloß Canterville Chase gewarnt. Seit Jahrhunderten schon spukt es in den düsteren Gemäuern und das dortige Gespenst, ein Vorfahr der Cantervilles, welcher einst seine Frau umbrachte, hat schon einige Menschen zu Tode erschreckt. Kaum jemand hat es deshalb längere Zeit auf dem großen Anwesen aushalten können. Doch Otis will nichts davon wissen, tut Gespenster und ihr Treiben als Aberglauben ab. Gemeinsam mit seiner Familie zieht er in das Schloss ein, wo er sehr bald feststellen muss, dass dieser Aberglaube tatsächlich der Wirklichkeit entspricht. Statt jedoch zu erschrecken oder sich gar zu fürchten, nimmt die aus einer aufgeklärten Gesellschaft entstammende Sippe den gruseligen Geist als nicht zu ändernde Tatsache zur Kenntnis und behandelt ihn wie einen lästigen und unerwünschten Mitbewohner. Ihre Lässigkeit sowie das gelangweilte Desinteresse bringen das Gespenst schließlich schier zum verzweifeln, was nicht nur zu einigen komischen Situationen führt, sondern auch in Otis‘ Tochter Virginia bald das Mitleid für den traurigen Untoten weckt …

Das Gespenst von Canterville“ ist eine dieser Erzählungen, die so wohl nur ein Ire verfassen konnte. In wundervoller, heiterer Sprache geschrieben strotzt Wildes Erstlingswerk nur so vor Situationskomik und witzigen Momenten, wobei der ältere Leser auch hier und da die Seitenhiebe auf die englische und amerikanische Gesellschaft des ausklingenden 19. Jahrhunderts ausmachen wird. Ohnehin sind es diese Unter- und Zwischentöne, welche die Geschichte so lesenswert machen und aus dem sonstigen Allerlei von Gespenstergeschichten herausheben. Der Geist von Canterville wurde von Wilde schon fast rührend menschlich gezeichnet und hat von Beginn an, trotz seiner schlimmen Taten in der Vergangenheit, die Sympathie des Lesers. Die Familie Otis zeigt sich dagegen typisch amerikanisch, was dazu führt, dass man selbst ein wenig um die gute, alte, englische Tradition der Schlossgespenster zu fürchten beginnt, wenn ein Anwesen derart leicht in ausländische Hände fällt.

Wilde klagt zudem den Materialismus an, der im völligem Gegensatz zu seiner eigenen Stilrichtung, dem Ästhetizismus steht. Die wiederholten Versuche des Otis Sohns Washington den blutigen Fleck mittels Pinkertons-Universal-Fleckenreiniger zu entfernen, dürfen somit als verschlüsselter Hinweis gegen alles Unästhetische und Unnatürliche verstanden werden. Wo bleibt die Romantik und der Schauer, wenn plötzlich alles rational erklärt und wissenschaftlich nachgewiesen werden kann? Langeweile und Ausrechenbarkeit scheinen eine Nebenwirkung der aufgeklärten Gesellschaft zu sein, welche durch nichts mehr wirklich begeistert oder aus der Fassung gebracht werden kann. Das romantische und versöhnliche Ende erweckt deshalb den Anschein, als wollte hier der Autor dem Ganzen ein wenig die Schärfe nehmen.

Das Gespenst von Canterville“ ist eine liebenswerte, vergnügliche Lektüre, welche Jung und Alt gleichermaßen zu faszinieren und begeistern weiß und auch im 21. Jahrhundert noch kein bisschen Staub angesetzt hat. Ein Klassiker der Weltliteratur, der einfach in jedem gut sortierten Bücherregal seinen Platz finden sollte.

Wertung: 83 von 100 Treffern

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  • Autor: Oscar Wilde
  • Titel: Das Gespenst von Canterville
  • Originaltitel: The Canterville Ghost
  • Übersetzer: Franz Blei
  • Verlag: Kampa
  • Erschienen: 10/2019
  • Einband: Hardcover
  • Seiten: 96 Seiten
  • ISBN: 978-3311270034

Der einzige Weg eine Versuchung loszuwerden, ist, ihr nachzugeben …

© Diogenes

„Es gibt weder moralische noch unmoralische Bücher. Bücher sind gut oder schlecht geschrieben. Nichts sonst.“

Die Aphorismen im „Vorwort“ seines einzigen Romans aus dem Jahr 1890/91 waren Oscar Wildes Antwort auf die Kritiker, die sich nach der aufsehenerregenden Erstveröffentlichung in „Lippincott’s Monthly Magazine“ über das Unmoralische und Ungesunde der Geschichte mokierten. Doch trotz aller sündigen Vergnügungen hat „Das Bildnis des Dorian Gray“ durchaus eine Moral und kann sogar als Mahnung vor den Gefahren des Lasters gelesen bzw. verstanden werden.

Mehr noch: Das Buch, mit dem Wilde endgültig seinen bis heute unverblassten Ruhm als begabter Schriftsteller und „Enfant terrible“ der aristokratisch-literarischen Szene kräftigte, befasst sich mit einem zeitlos verführerischen Thema. Jugend und Schönheit wurden fast zu allen Zeiten verehrt und bewundert. Und in Dorian Gray werden diese Tugenden zu einer grausamen Illusion, zu einem Deckmantel für darunter verborgene abgrundtiefe Grausamkeit. Die geschönte Maske der dekadenten, besseren Gesellschaft zieht Wilde geschickt herunter und gibt damit Einblick in das schauerliche Gesicht des Realismus. „Das Bildnis des Dorian Gray“ entlarvte wie kein anderes Werk seiner Zeit die hohle Welt des schönen Scheins und verewigte die selbstbezogen-gefühllose Spezies der „Dandys“.

Die Geschichte nimmt ihren Anfang im Atelier des Künstlers Basil Hallward, der gerade an dem Portrait eines jungen Mannes arbeitet. Eines Mannes von außergewöhnlicher Schönheit und Ausstrahlung, welche sogar Hallwards Besucher, Lord Henry, ins Auge fällt. Dessen Neugier schürt Hallwards Eifersucht, will er doch unbedingt eine Begegnung zwischen seinem Freund und dem geheimnisvollen Modell vermeiden. Nicht nur weil er diese Schönheit für sich zu behalten erhofft, sondern vor allem weil er den verderblichen Einfluss des zynischen Dandys auf den unberührten jungen Mann fürchtet, an dem er so sehr hängt. Seine Befürchtungen sollen sich allzu bald bewahrheiten, denn es kommt noch am selben Tag zum Treffen zwischen Lord Henry und dem portraitierten Mann namens Dorian Gray, der dem bekennenden Hedonisten und seinen verführerischen Ansichten auch sogleich verfällt. Henrys Ausführungen zur Macht der Jugend und dem Verhängnis des Alterns bringen bei Dorian eine bisher ungeahnte Saite zum Klingen. Und der Wunsch, das Portrait möge an seiner Statt altern, er selber sich seine jugendliche Erscheinung bewahren, wird schließlich Wirklichkeit.

Während Dorian Gray in den nächsten Jahren seine makellose Schönheit und sein junges, unberührtes Gesicht der Öffentlichkeit präsentiert, degeneriert seine Seele, dessen grausamer Spiegel verhangen auf dem Dachboden seines Hauses verbleibt. Obwohl ihn ab und an leichte Gedanken der Reue befallen, hat er sich doch mit ganzem Herzen der Sinneslust verschrieben. Dieser eingeschlagene Weg, der bald zur verzehrenden Sucht wird, kennt in seiner eiskalten Grausamkeit kein Maß, macht nicht mal mehr vor Mord halt. Und aus dem einstigen Stolz auf ein Bildnis, wird schließlich die fortwährende Furcht, sich mit der eigenen Verderbnis konfrontiert zu sehen. Aus einem eitlen Wunsch ist ein Fluch geworden, aus einem leichtfertigen Tausch eine immer schwerer werdende Bürde, unter welcher Dorian bald zu zerbrechen droht …

Zäh. Langatmig. Öde. Langweilig. Alles Adjektive, welche mir im Zusammenhang mit „Das Bildnis des Dorian Gray“ im Bekanntenkreis begegnet sind, weshalb ich diesen Klassiker der Weltliteratur mit einer gehörigen Portion Skepsis in Angriff nahm. Und selten war diese, übrigens genauso wie die oben genannten Bezeichnungen, so unbegründet, denn Wildes Werk besticht nicht nur durch spitzfindige, lebenskluge Dialoge, sondern nimmt auch von Anfang an gefangen. Meisterhaft feinsinnig macht die Erzählung den Leser zum neugierigen Beobachter, um schließlich das Grauen der verhängnisvollen Entwicklung von Dorian Gray geschickt zu steigern und diese Tragödie in düsterste Gefilde zu führen.

Dabei beweist Wilde einmal mehr ein gewisses selbstironisches Talent, war es doch von einem Mann, der als arroganter Dandy mit all seinen Extravaganzen bekannt sein wollte, ein sehr gewagter und mutiger Schritt, die ewige Jugend und Schönheit als Albtraum zu präsentieren. Sie wird hier als grausame Illusion entlarvt. Und doch folgt Dorian dem Pfad des Hedonismus, der Maßlosigkeit und der Menschenverachtung, ohne dass dabei seine Fassade in den Kreisen der Dandys zu bröckeln beginnt. Denn egal wie verzweifelt er am Ende versucht, seine eigene Schlechtigkeit Henry gegenüber klar zu machen. Niemand vermag ihm zu glauben – etwas so Verwegenes wie Mord passt nicht zu einem makellosen Gesicht.

Was wie ein kunstfertig inszeniertes und lustvoll fabuliertes Märchen beginnt, entwickelt sich im weiteren Verlauf zu einem Schauerroman, der unter die Haut geht. Dorians moralischer Verfall versprüht eine morbide Faszination, die weniger durch ein mystisches Wesen zustande kommt, als vielmehr durch die Erkenntnis, zu welchen Grausamkeiten ein Mensch in der Lage, um den Schein zu wahren. Auf den falschen Pfad wird dieser dabei von jemanden geführt, der seine Worte wie Gift in das Ohr seiner Zuhörer tröpfelt. Lord Henrys Manipulation des unschuldigen Jungen Dorian Gray erinnern an einen Puppenspieler. Immer wieder wird an den richtigen Fäden gezogen, die Marionette in die gewünschte Richtung bewegt, bis sich diese wie gewollt verhält. Das Erschreckende daran: Auch der Leser ertappt sich dabei, wie er den Worten Henrys Glauben zu schenken, die Richtigkeit zwischen den Zeilen zu entdecken beginnt. Und Jorge Luis Borges bringt es auf dem Punkt, wenn er konstatiert:

Nachdem ich im Laufe der Jahre Wilde gelesen und wieder gelesen habe, bin ich auf eine Tatsache aufmerksam geworden, die seine Lobredner, so scheint es, nicht einmal geahnt haben: die nachprüfbare, elementare Tatsache nämlich, dass Wilde fast immer recht hat.“

Dieses Körnchen Wahrheit findet sich auch stets in Henrys Ausführungen, die, trotz ihrer fehlenden Moral, das aussprechen, was tief verwurzelt in jedem von uns schlummert und ausbrechen will. Und das nur von den Gesetzen der Zivilisation, dem Glauben und dem Gewissen in Zaum gehalten wird.

Das Bildnis des Dorian Gray“ ist mehr als ein Gesellschaftsportrait, mehr als nur das faszinierende Bild einer Persönlichkeitsentwicklung. Es ist ein Spiegel, der alles zeigt und in dem wohl niemand wirklich gern hineinblickt. Die Geschichte eines wunderschönes Monsters, das umso schrecklicher ist, weil man es ihm nicht ansieht, sondern nur seinem Seelenbildnis, das er vor der Welt verborgen hält.

Ich habe nun schon einige Kriminalromane der härteren Gangart gelesen – dennoch hat mich kaum ein Mord in einem Buch so verstört, wie der hier von Dorian Gray begangene, welcher lediglich noch vom tragischen Ende übertroffen wird. Dieses lässt uns atemlos, betroffen, verwirrt und geschockt zurück – und wirkt lange, lange nach.

Das Bildnis des Dorian Gray“ ist ein Stück herausragender Weltliteratur und ein unbedingt lesenswertes Werk, das nichts von seiner Aktualität (und damit seiner Jugend) verloren hat und wohl leider auch nie verlieren wird. Und es ist gleichzeitig eine schmerzliche Reflexion über Wildes eigenes Doppelleben, das sein eigenes Versinken in Schimpf und Schande beinahe prophetisch vorweg nimmt.

Wertung: 96 von 100 Treffern

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  • Autor: Oscar Wilde
  • Titel: Das Bildnis des Dorian Gray
  • Originaltitel: The Picture of Dorian Gray
  • Übersetzer: Anna von Planta, W. Fred
  • Verlag: Diogenes
  • Erschienen: 07/1996
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 288 Seiten
  • ISBN: 978-3257214116

Der Fluch der Karibik

© dtv

„Früchte des Zorns“, „Jenseits von Eden“, „Von Mäusen und Menschen“, „Die Straße der Ölsardinen“ – John Steinbeck hat in seiner Karriere als Schriftsteller wohl die denkbar tiefsten literarische Fußspuren in der ersten Hälfte des Zwanzigsten Jahrhunderts hinterlassen und gehört bis heute noch zurecht zu den meistgelesenen amerikanischen Autoren dieser Epoche.

Ausgezeichnet unter anderem mit dem Nobelpreis für Literatur und dem Pulitzer-Preis, fällt er damit zwangsläufig in die Kategorie, welche man gemeinhin als Klassiker tituliert und daher in jeder gut sortierten heimischen Bibliothek den wohlverdienten Platz einräumt. Wohlgemerkt aber bitte nicht, um sie dort verstauben zu lassen, denn Steinbecks Werk ist, im Gegensatz zu manch anderer so genannter Weltliteratur, auch knapp fünf Jahrzehnte nach seinem Tod im Dezember 1968 immer noch von großem Unterhaltungswert und uneingeschränkt empfehlenswert. Doch gilt dies auch für seinen eher unbekannten Erstlingsroman „Eine Handvoll Gold“?

Es ist einmal mehr meiner persönlichen (und augenscheinlich unheilbaren) Neurose geschuldet, dass ich das literarische Schaffen Steinbecks für die kriminelle Gasse chronologisch in Angriff nehme, um dessen Entwicklung als Autor verfolgen zu können und seiner Bedeutung als naturalistische, einfühlsame Stimme der Verlierer des so genannten „American Dream“ entsprechend Rechnung zu tragen. In seinem Debüt kommen diese allerdings noch nicht „zu Wort“ bzw. zum Tragen, handelt es sich bei „Eine Handvoll Gold“ doch um einen historischen Roman, der allerdings nur auf den ersten Blick ganz in der Tradition der Mantel-und-Degen-Abenteuer von Jack London, Robert Louis Stevenson oder Rafael Sabatini steht, bei genauerem Hinsehen dieses Genre jedoch um ein paar bis dato eher unbekannte Elemente erweitert.

Im Mittelpunkt der Geschichte steht die historische Persönlichkeit Captain Henry Morgan (heutzutage der Mehrheit vielleicht nur noch aufgrund seiner Namensgebung für eine Rumsorte ein Begriff), einem geborenen Waliser, den es – behütet in einer bürgerlichen, aber eher armen Familie aufgewachsen – schon als Kind drängt, die Welt jenseits der britischen Gestade zu erkunden. Entgegen dem Willen seiner Mutter und dem Bergweisen Merlin (!) verlässt er die sichere Zuflucht und heuert in Cardiff als Kombüsenhilfe auf dem Handelsschiff „Bristol Girl“ an. Das Ziel: Westindien. Hier will sich Morgan als Bukanier (alte Bezeichnung für einen Freibeuter oder Piraten) mit Raubzügen und Eroberungen einen Namen machen. Es kommt jedoch zuerst ganz anders als gedacht. Der Kapitän der „Bristol Girl“ verkauft ihn als Sklaven an den Plantagenbesitzer James Flower, der jedoch Mitleid mit dem träumerischen Jungen hat und zudem in ihm einen wissbegierigen Zuhörer erkennt.

Schnell steigt Morgan zu dessen Sekretär auf, übernimmt bald die Leitung und nutzt die Zeit um sich vor allem in Kriegstaktik weiterzubilden. Als der fünfjährige Arbeitsvertrag mit Flower seinem Ende entgegen geht, sieht er endlich seine Chance gekommen. Er überredet Flower zum Kauf eines Schiffes, heuert eine Mannschaft an und geht, mit dem Segen der Majestät von England, auf Kaperfahrt. Immer mehr Kapitäne sammeln sich um Henry Morgan, dessen Ruf allein Furcht bei seinen Gegnern schürt und dessen gewiefte Manöver reiche Beute versprechen. Und mit der Zeit wird die Piraterie von einem kleinen Ärgernis zu einer ernsthaften Bedrohung innerhalb der Karibik. Insbesondere für die Spanier, welche aufgrund der vielen Angriffe ihr Gold inzwischen nur noch in großen Konvois gen Heimat transportieren und nach und ihre Stützpunkte an die Freibeuter-Armada verlieren. Allein Panama, die befestigte und aufgrund des Reichtums als Perle der Karibik bekannte Stadt, konnte bisher standhalten. Diese Trutzburg der Spanier gilt als uneinnehmbar, doch als Morgan erfährt, dass sie auch Heimat der geheimnisvollen „Roten Heiligen“ ist, der angeblich schönsten Frau der Welt, will er auch dieses Wagnis in Angriff nehmen …

Wie gemeinhin auch bei anderen historischen Romanen üblich, so hat auch John Steinbecks erster literarischer Wurf nur bedingt den Anspruch geschichtlich gänzlich korrekt zu sein, was im Hinblick auf den Lebenslauf von Henry Morgan ohnehin ein aussichtsloses Unterfangen gewesen wäre, existieren doch bis zum heutigen Tag nur spärliche Informationen über dessen Raubzüge in der Karibik. Und insbesondere über seine Kindheit und Jugend ist fast nichts bekannt. Die wenigen Quellen sind zudem widersprüchlich (der Pirat legte gegen manche Darstellungen sogar zu Lebzeiten noch gerichtlich Einspruch ein), so dass Steinbeck, vom Schauplatz Wales einmal abgesehen, sämtliche kreative Freiheiten genutzt hat, um Morgans Sehnsucht nach der Ferne in Szene zu setzen und zu erklären, wie es ihn letztlich in die Karibik verschlägt, wo er ab dem Jahre 1665 bis zu seinem Tod 1688 zum gefürchtetsten Freibeuter dieser Ära aufstieg, dessen Machtfülle selbst dem aufstrebenden britischen Weltreich und seiner Majestät zunehmend ein Dorn im Auge wurde. Ironischerweise war er es aber gleichzeitig auch, der die Expansion des jungen Empire in dem vormals vor allem von Spanien beherrschten Gebiet – und damit den Aufstieg zur Weltmacht – entscheidend begünstigte. Zur Belohnung stieg er später gar zu einem königlichen Beamten auf.

Morgans Zeit als erfolgreicher Bukanier nimmt jedoch nur einen überschaubaren Teil dieses mit gerade mal 200 Seiten relativ kurzen Romans ein. Vielmehr konzentriert er sich vor allem auf den inneren Antrieb seines Protagonisten, der nach Ruhm, Ehre und später vor allem auch Reichtum strebt, die Heimat als Fesseln empfindet, welche es abzustreifen gilt. Interessant ist dabei, wie behutsam und liebevoll Steinbeck eben diese Entwicklung Morgans skizziert, der uns zu Beginn als unschuldiges, neugieriges Kind begegnet, dem man noch größtmöglichen Erfolg bei der Erfüllung seiner Träume wünscht, nur um nach und nach zu begreifen, wie gefährlich eben solche Wünsche sein können, wenn jemanden für deren Umsetzung jegliches nur denkbare Mittel Recht ist. Seine Zielstrebigkeit und der eiserne Willen, welche den jungen Morgan sowohl die erste Überfahrt als auch seine Knechtschaft auf der Plantage überstehen lassen, härten ihn zwar sichtbar ab, haben letztlich aber auch zur Folge, das er von nun an mitleidslos fähig ist, andere dasselbe durchleiden zu lassen. Henry Morgan herrscht durch Furcht, sein Name wird, wenn überhaupt, nur leise genannt. Fast so, als läge ein Fluch auf ihm. Übrigens hat sich das bis zum heutigen Tag nicht geändert. Bewohner der damals betroffenen Inseln vergleichen ihn immer noch mit niemand geringeren als dem Teufel selbst.

Was auf den ersten Blick wenig ungewöhnlich für einen Freibeuter klingt, ist dennoch in literarischer Form im Jahr der Veröffentlichung (1929) durchaus ein Novum, wurden die rauen Gesellen mit Augenklappe und Papagei auf der Schulter doch eher als Robin Hoods der Meere porträtiert, für welche die sorglose Lebenslust und die grenzenlose Freiheit bei ihrem Treiben weit mehr im Vordergrund stand, als tiefer verwurzelte, konkrete Ziele, die es hartnäckig zu verfolgen galt. Henry Morgan dagegen offenbart sich uns als ein getriebener, kaltblütiger Charakter ohne Reue, der kein Ziel erreichen kann, ohne sich selbst schon wieder ein Neues zu stecken – sei es auch noch so unerreichbar. Es ist diese unbändige Gier sich zu beweisen, die im späteren Verlauf seines Lebens letztlich zu seinem Fall führen wird. Isoliert von all den Menschen um ihn herum – seinem einzigen Freund und Verbündeten Coer de Gris will er unbedingt trauen, ohne dies wirklich zu können – schafft sich Morgan einen goldenen Käfig, der, gebaut aus dem immerwährenden Hunger nach mehr Macht und Geld, für ihn nur Einsamkeit und den teuflischen Kreislauf der Obsession bereithält (Hier verkörpert durch „La Santa Roja“, die „Rote Heilige“). Wir als Leser erkennen, dass er sich dabei selbst verrät – und das gleich zweimal. Einerseits kann er gegenüber Merlin nicht sein Wort halten, andererseits kehrt er dem selbstbestimmten Bukanierleben den Rücken, um stattdessen als Diener der Krone in deren Auftrag zu plündern.

Der Aufstieg Henry Morgans bis zum Gipfel und der darauffolgende Sturz – sie sind gleichzeitig die Triebfeder dieser leichtfüßigen, wenn auch manchmal etwas zu phantasievoll ausgeschmückten Erzählung, welche bei ihrer Veröffentlichung von der Kritik nahezu unbeachtet blieb und für den Autor einen finanziellen Misserfolg bedeuteten. Es sollte noch einige Zeit, genauer gesagt zwölf Jahre und bis „Tortilla Flat“ dauern, ehe der Name John Steinbeck den Stellenwert erhielt, den er bis zum heutigen Tage beibehalten hat. Dass auch der Weg dorthin ein unheimlich lohnens -und lesenswerter ist, beweist „Eine Handvoll Gold“ nachdrücklich. Ein feiner, geistreicher und mitunter philosophischer Abenteuerroman über den ursprünglichen Fluch der Karibik, der immer noch zu unterhalten weiß.

Wertung: 81 von 100 Treffern

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  • Autor: John Steinbeck
  • Titel: Eine Handvoll Gold
  • Originaltitel: Cup of Gold – A Life of Sir Henry Morgan, Buccaneer, with Occasional Reference to History
  • Übersetzer: Hans B. Wagenseil
  • Verlag: dtv
  • Erschienen: 09.1987
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 208 Seiten
  • ISBN: 978-3423107860

No Big Easy

© Rowohlt

Zuletzt hat der US-amerikanische Autor Nathaniel Rich (nicht nur) hierzulande vor allem durch sein aufrüttelndes Werk „Losing Earth“ auf sich aufmerksam gemacht, das uns schonungslos die Kette von falschen Entscheidungen vor Augen hält, welche letztlich das unumkehrbar gemacht haben, was wir inzwischen tagtäglich weltweit als Klimawandel erleben bzw. teilweise schon bitter am eigenen Leib erfahren müssen.

Sein nur ein Jahr zuvor veröffentlichter Roman „King Zeno“ konnte dieses mediale Scheinwerferlicht jedoch nicht für sich beanspruchen, lief weitestgehend unter dem Radar und hat – trotz durchaus positiver Resonanz im Feuilleton – wenig nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Dass dennoch meine Wahl nun aber genau auf diesen Titel fiel, hat vor allem mit meinem grundsätzlichen Interesse an der Stadt New Orleans und deren Geschichte zu tun, das – einst geweckt durch James Lee Burke – inzwischen schon zu einer gewissen Faszination angewachsen ist. Wenn dann noch ein realer Kriminalfall dazu gemengt wird – auch Ray Celestin hatte sich zuletzt literarisch des (nie gefassten) Axtmörders angenommen – stehen die Chancen für eine atmosphärische Reise in die historischen Straßen von „The Big Easy“ ja eigentlich nicht schlecht. Doch macht Rich auch etwas aus dieser Ausgangskonstellation?

Bevor an dieser Stelle kurz die Handlung angerissen wird, sei aber noch darauf hingewiesen, dass es sich nicht, wie in mancher Rezensionen behauptet, um einen Kriminalroman im klassischen Sinne oder gar einen reinen Vertreter des „Noir“ handelt – entsprechend also diejenigen unter den Lesern vorgewarnt sind, die hier einen intensiven Spannungsbogen erwarten oder auf jeder zweiten Seite eine überraschende Wendung voraussetzen. Richs größte Stärke (und auch Schwäche, doch dazu später mehr) ist vielmehr sein enorm facettenreicher und opulenter Ansatz, der sich nicht nur in mehreren Handlungssträngen, sondern auch in der Vielzahl der tragenden Charaktere widerspiegelt, deren Schicksale sich im New Orleans von 1918 überschneiden.

Mit der großen Gelassenheit, welche die Stadt namensgebend verkörpern will, ist es im Mai 1918 nicht weit her. New Orleans befindet sich im Aufruhr, denn ein mysteriöser Unbekannter, von der Presse aufgrund des Modus Operandi als „Axtmörder“ bezeichnet, verbreitet Angst und Schrecken in der Bevölkerung. Seine Opfer sind anfangs vor allem italienischstämmige Geschäftsleute und Händler, weswegen die Polizei Schutzgeldpressung als Motiv und den Täter im Umkreis der hiesigen Mafia vermutet. Unter den Beamten befindet sich auch Bill Bastrop, ein traumatisierter Kriegsheimkehrer, der sich nicht nur mit seinen Erlebnissen an der Westfront, sondern auch mit dem Alltagsrassismus seiner Kollegen herumplagen muss. Als einer von ihnen bei einer Verfolgungsjagd durch einen Schwarzen ums Leben kommt, hat diese Tat auch Auswirkungen auf den titelgebenden Protagonisten Isadore Zeno. Isadore, tagsüber als Arbeiter beim Bau des Industrial Canal beschäftigt, der den Lake Pontchartrain mit dem Mississippi verbinden soll, und nachts als Kleinkrimineller unterwegs, um seine Liebe zum Jass (der bald Jazz heißen soll) zu finanzieren, wird Zeuge des Polizistenmordes und fürchtet nun den Verrat durch seinen im Gefängnis sitzenden Kumpanen Bailey.

Gleichzeitig träumt Beatrice Vizzini, Matriarchin eines sizilianischen Mafia-Clans, von einem weiter wachsenden Machteinfluss auf die Stadt, den sie durch ihre Beteiligung beim Kanalbau zu erreichen hofft. Neben den ständigen Arbeitsunfällen auf der gefährlichen Baustelle macht ihr vor allem der eigene Sohn zunehmend Sorgen. Zwar hat er sich aufgrund seiner Brutalität bereits einen gefürchteten Namen gemacht, verliert aber mehr und mehr die Kontrolle und scheint auch vor (nicht beauftragten) Morden Halt zu machen. Vizzini fürchtet ungebetene Aufmerksamkeit und als eine Leiche im Schlamm des Kanals gefunden wird, soll sich ihre Besorgnis als begründet erweisen. Derweil kann sich Isadore mit gelegentlichen Auftritten nach und nach einen Namen in der Jazz-Szene machen, was vor allem seinem Talent am Kornett zu verdanken ist. Doch bevor dieser neue Musikstil, der schon in New Orleans als gescheitert galt, die Stadt und seine Bewohner infizieren kann, kommt ihm ein Virus zuvor. Die letzten Heimkehrer aus dem Ersten Weltkrieg haben die Spanische Grippe mit in die Heimat gebracht – und plötzlich droht neben dem Axtmörder noch eine weit tödlichere Gefahr …

Alle Schulen, staatlich, privat oder kirchlich sind geschlossen. Alle Kinos und Theater geschlossen. Alle Kirchen geschlossen. Alle öffentlichen Zusammenkünfte, Konzerte und Sportveranstaltungen abgesagt. Menschenansammlungen auf Straßen sind verboten.

Nein, hier hat sich kein Ausschnitt vom Spiegel aus der Anfangszeit der aktuellen Corona-Pandemie in den Text verirrt, sondern es handelt sich tatsächlich um eine von mehreren originalen Zeitungsmeldungen, welche Rich immer wieder geschickt in seinem Text platziert, um die Authentizität seines Romans zu unterstreichen. Und auch wenn obiges Zitat aus dem Oktober 1918 stammt, so ist es schon unheimlich, wie sehr es sich eins zu eins auf die Jetztzeit anwenden lässt – wohlgemerkt seitens des Autors eher ungewollt, denn „King Zeno“ entstand bereits 2018 und damit lange vor den ersten Schrecknissen durch Covid-19. Andererseits stehen diese Parallelen auch sinnbildlich für die uralte (und augenscheinlich ewig geltende) Wahrheit, dass wir Menschen aus der Geschichte lernen, dass wir eben nichts aus ihr lernen. Auch im New Orleans der Jahre 1918 und 1919 hat dieser staatlich verordnete Lockdown seine Auswirkungen auf die Gesellschaft, kämpfen die Krankenhäuser mit einer nicht enden wollenden Flut an Infizierten. Obwohl New Orleans sich weit liberaler als die meisten Nachbarstädte des Südens zeigt, so kocht unter dem Druck der Ereignisse auch hier Stimmung schnell hoch – und die Suche nach den Schuldigen führt in den meisten Fällen in die Reihen der schwarzen Bevölkerung.

Verkörpert wird deren ohnmächtige Wut in „King Zeno“ in erster Linie durch Isadore, dem die Quarantäneverordnungen genauso schwer zu schaffen machen, wie die allgemeine Ablehnung schwarzer Musik. Zwar zeigen sich auch mehr und mehr Weiße für den Jazz aufgeschlossen, aber auch diese geben sich ihre Leidenschaft entweder nur in den eigenen vier Wänden oder exklusiven Clubs hin. Genau an diesen Orten versucht Isadore nachträglich Eindruck zu hinterlassen, um sich endlich einen Namen zu machen und sich finanziell abzusichern. Ein Kampf gegen viele Widerstände, gefördert und gestützt von einem ungerechten System, dem auch Bill Bastrop angehört, in dessen Zeichnung Nathaniel Rich ebenfalls viel Zeit investiert. Er ist auch vielleicht die tragischste Figur des Romans, hängt ihm doch eine folgenschwere Fehlentscheidung an der Kriegsfront immer noch nach und wie ein Schatten über seinen Handlungen. Seine introvertierte, ablehnende Art und die kühle Vorgehensweise während seiner Ermittlungen sind deutlich erkennbare Anleihen des Noirs der 30er Jahre, werden mitunter aber zu dominant skizziert, um glaubwürdig zu überzeugen. Und damit kommen wir auch zum großen Knackpunkt des Romans:

King Zeno“ will schlichtweg zu viel, leidet an seinem epischen Grundgerüst, wodurch das erzählerische „Gebäude“ am Ende keinerlei einheitliche Form erhält und ein roter Faden als Fundament nicht erkennbar bleibt. Richs Ansinnen, New Orleans in all seinen Facetten zum Leben zu erwecken, darf atmosphärisch als mehr als gelungen bezeichnet werden, sorgt im Umkehrschluss aber auch dafür, dass sich der Plot immer wieder selbst ausbremst, ja, quasi erstarrt, wodurch sich ein richtiger Lesefluss nie so recht einstellen will. Wann immer wir die Seiten festen greifen – so zum Beispiel meinerseits unter anderem geschehen bei der Schilderung von Isadores, nur durch eine Tür getrennten Begegnung mit dem Axtmörder – lässt Rich das Potenzial dieses Augenblicks brach liegen, in dem er entweder direkt den Schauplatz wechselt oder im nächsten Absatz gleich erst mit einem Abstand von ein paar Monaten innerhalb der Geschichte fortsetzt. Die Gelegenheit, diese räumliche Enge der French Quarter, das knisternde Momentum, diesen einen entscheidenden Augenblick einfach laufen zu lassen – sie verstreicht und wird oft ersetzt durch eine Unmenge von detaillierten Beschreibungen, die zwar das Milieu akkurater, aber dann auch nicht immer zwingend lebendiger erscheinen lassen.

Sperrig ist wohl das Adjektiv, mit dem man die Lektüre treffend zusammenfassen könnte, was mittendrin immer wieder ärgert, da „King Zeno“ gleichzeitig auch soviel richtig macht und man quasi zwischen den Zeilen spürt, welchen großen Wurf Nathaniel Rich hier landen wollte. Und dass er dazu in der Lage ist, steht außer Frage, denn trotz dem unbeweglichen Duktus bleiben doch viele Passagen nachhaltig in Erinnerung, gelingt es dem Autor gelegentlich mit seiner augenzwinkernden Schreibe, die spiegelnden Flächen seiner Erzählung sichtbar zu machen. Bestes Beispiel dafür ist eben jener Bau des Industrial Canal, durch dessen Fertigstellung man sich damals einen größeren strategischen Vorteil als wichtiger Hafen der USA erhoffte. Wie die meisten Leser heute wissen, ist es aber genau dessen Verlauf direkt vom Golf von Mexiko Richtung New Orleans, der 2005 die Überflutung der Stadt in Folge des Hurrikan „Katrina“ entscheidend begünstigte. Viele Menschen verloren dabei ihr Leben oder zumindest jegliches Hab und Gut. Ein Fingerzeig, ganz im Stil von „Losing Earth“, mit dem uns Nathaniel Rich elegant und dennoch unmissverständlich auf die direkten Folgen der Ausbeutung unserer natürlichen Ressourcen hinweist.

So bleibt am Schluss für mich paradoxerweise ein Buch, das sich streckenweise nur schlecht genießen lässt und dennoch gut in Erinnerung bleibt, weil es gerade historisch interessierte (und vor allem Jazz-begeisterte) Leser äußerst glaubwürdig in die Vergangenheit dieser so einmaligen Metropole der USA katapultiert, wenn sie willens sind, bei der durchgehenden Spannung und einer klaren Linie in der Erzählung qualitative Abstriche zu machen.

Wertung: 79 von 100 Treffern

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  • Autor: Nathaniel Rich
  • Titel: King Zeno
  • Originaltitel: King Zeno
  • Übersetzer: Henning Ahrens
  • Verlag: Rowohlt
  • Erschienen: 10.2020
  • Einband: Hardcover
  • Seiten: 448 Seiten
  • ISBN: 978-3737100915

All for the next shot

© Heyne Hardcore

Nico Walkers Debütroman „Cherry“ ist wohl kaum die am besten geeignete Lektüre, um nach längerer Kunstpause mal wieder die Niederschrift einer Buchbesprechung in Angriff zu nehmen – und das gleich aus vielerlei Gründen. Zum einen ist da schon die beinahe penetrant omnipräsente Attitüde dieses Werks, das, beginnend mit dem auffälligen und um Aufmerksamkeit buhlenden Cover, die amerikanische Anfälligkeit für einen perfekt inszenierten Hype genauso gezielt nutzt, wie die zum Zeitpunkt der Veröffentlichung einen neuen Höhepunkt erreichende Opioid-Epidemie in den USA. Und zum anderen ist es gerade Walkers Stil – oder sollte ich besser sagen, der Mangel daran – der mir bei der schriftlichen Auseinandersetzung mit diesem Erstling immer wieder auf enervierende Art und Weise die Notebook-Tastatur verklemmt hat.

Es ist tatsächlich schwer, „Cherry“ analytisch gerecht zu werden, ohne sich gleichzeitig auch mit der schon beinahe kitschigen Entstehungsgeschichte dieses Werks zu beschäftigen, dessen Hauptprotagonist natürlich die künstlerische Essenz des echten Nico Walkers ist, der ab 2011 eine langjährige Haftstrafe wegen mehrerer Banküberfälle absaß und 2019 frühzeitig entlassen wurde, um sich um seine schwer erkrankte Mutter kümmern zu können. In dem gleichen Jahr, knapp zwölf Monate nach der Veröffentlichung des im Gefängnis verfassten Romans, erhielt „Cherry“ schließlich landesweite literarische Anerkennung. 2021 folgt nun die filmische Verarbeitung durch die bereits im Marvel-Universum extrem erfolgreichen Russo-Brüder. Die Hauptrolle spielt Spider-Man-Darsteller Tom Holland.

Buch und Film erzählen beide die Geschichte vom Absturz eines jungen Mannes, der, aufgewachsen in den Suburbs von Cleveland, seine Uni frühzeitig abbricht, sich dort aber noch in die junge Emily verliebt, nachdem er von seiner eigentlichen Freundin nach allen Regeln der Kunst verarscht wurde. Dem unkonventionellen Paar mangelt es einem konkreten Ziel und Engagement. Ihr Alltag besteht aus Gelegenheitsjobs, die mehr oder weniger ernst genommen und immer wieder gewechselt werden. Um der grauen Tristesse zu entfliehen, verticken sie nebenbei Drogen, welche sie gelegentlich auch selbst konsumieren – doch die aussichtslose Hoffnungslosigkeit bleibt. Während Emily zurück nach Pennsylvania geht – nicht ohne ihn noch vorher zu heiraten – schreibt er sich bei der Army ein, bringt die triste Grundausbildung irgendwie hinter sich und wird 2003 schließlich als Sanitäter in den Irak geschickt. Schon nach kurzer Zeit im Einsatz wird er Zeuge der schlimmsten Gräuel des Krieges, muss zu Dutzenden sterbende Kameraden letzte Hilfe leisten und sich immer wieder mit der eigenen Sterblichkeit auseinandersetzen. Um es irgendwie zu ertragen nimmt er Schmerzmittel, konsumiert Pornos, schnüffelt Klebstoff und wird nach elf Monaten Dienst schwer traumatisiert zurück in die Heimat geschickt, die den „Kriegsheld“ mit allen Ehren empfängt, um ihn letztlich dann ohne weitere Unterstützung in den Alltag zu entlassen.

Alsbald übernehmen alte Gewohnheiten wieder die Kontrolle, doch um nun die Traumata zu ertragen, reichen leichte Drogen längst nicht mehr aus. Nun muss es mindestens Heroin sein, wofür das Geld bald hinten und vorne nicht mehr langt. Um irgendwie an den Stoff zu gelangen, schreckt er bald auch nicht mehr vor kriminellen Aktionen zurück, bis er irgendwann seinen ersten Bankraub begeht …

Genau hier, also quasi am Ende, beginnt auch die Lektüre von „Cherry“, womit dem Leser das Endprodukt eines selbstzerstörerischen Prozesses präsentiert wird, an dem Mensch und Staat gleichermaßen ihren Anteil tragen und welches exemplarisch für so viele andere kaputte Leben in den Vereinigten Staaten steht, die besonders unter der Ägide Donald Trumps aufgrund des gänzlich außer Kontrolle geratenen Heroin-Handels ab 2017 auch international (unerwünschte) Aufmerksamkeit auf sich zog. Ein äußerst ernstes Thema also, welches uns Nico Walker rückblickend in diesem scheinbar unaufhaltsamen, unabdingbaren Abstieg äußerst schonungslos und vor allem provokativ präsentiert – und dabei ein Bild zeichnet, das mit dem angestrebten „American Dream“ nicht das geringste zu tun hat. Ganz im Gegenteil: Perspektivlos ist wohl das Adjektiv, das die Lebenssituation der Hauptfigur am Besten beschreibt, die in ihrer Existenz – und den Existenzen um ihr herum – einfach keinerlei Sinn sehen kann und will, dieser Leere mittels Droge instinktiv entfliehen will und der für diese kurze Zeit des Eskapismus fast jegliche Mittel recht sind.

Nico Walker deutet dabei an, dass er in einem anderen Umfeld, unter anderen Umständen, auch ein anderer Mensch hätte werden können. Dass da in ihm keine nicht behandelbare Bösartigkeit lauert, sondern er von seiner eigenen Wertigkeit einfach nie auch nur ansatzweise genug überzeugt war, um das Leben mit all seinen Herausforderungen irgendwie in Angriff nehmen zu können. Dabei muss man dem Autor hoch anrechnen, dass er dies in keinster Weise als Entschuldigung für seine Taten missbraucht und er sich allen Verfehlungen klar und deutlich stellt. Mitunter so klar und deutlich, dass man es als Leser nur noch schwer ertragen kann. Und damit kommen wir jetzt auch zum größten Kritikpunkt, den ich an diesem Roman habe, denn so überzeugend, nachvollziehbar und auch nachdrücklich die letztliche Moral, die Sozialkritik von „Cherry“ auch ist – das Vehikel in dem all das transportiert wird, hat eine mehr als holprige Straßenlage und verliert nach einem fulminanten Start auch schnell an Tempo.

Es wird sie sicher geben – die Leser, welche den Roman für seine voyeuristische Authentizität und destruktive Kompromisslosigkeit feiern, der äußerst radikal die Ungerechtigkeiten eines Systems beklagt, in welchem eben nicht alle gleich sind, sondern das Glück einer teure Hure ist, die sich eben nicht jeder leisten kann. Doch was bietet „Cherry“ darüber hinaus? Und hier bin ich am Ende bei der Antwort: Nicht viel. So sehr mich die Ausgangssituation auch gewinnen und – auf eine fast sadistische Art und Weise – begeistern konnte, so wenig macht Nico Walker im weiteren Verlauf daraus. Ein Plot im eigentlichen Sinne oder einen roten Faden lässt sich alsbald in dieser Aneinanderreihung von schockierenden Einzelheiten nicht mehr ausmachen, verliert sich in dem mäandernden Gewirr aus Sex, Gewalt und Drogen, das sich aufgrund der ewigen Wiederholungen vor allem deswegen abnutzt, weil es der Autor sprachlich schlicht nicht entsprechend präsentieren kann, ihm einfach die künstlerischen Mittel fehlen, um dem Ganzen auch Bedeutung zu verleihen. Nichts gegen eine einfache Sprache, aber gerade bei der Gegenüberstellung mit anderen bekannten Autoren, welche die Selbstzerstörung mittels Drogenkonsum thematisieren, macht „Cherry“ keinerlei gute Figur.

Dabei muss man nicht zwingend auf Charkes Bukowski, Nelson Algren, David Foster Wallace, Bret Easton Ellis oder Hunter S. Thompson verweisen, sondern kann auch jüngere Beispiele wie Tony O’Neill heranziehen, welche es allesamt wesentlich besser verstehen, die stilistischen Möglichkeiten auszuschöpfen, um Inhalt und Botschaft in eine Form zu kleiden, welche auch, unabhängig von der Art und Weise, irgendwie ihren Widerhall beim Leser findet. Das genau fehlt „Cherry“. Walkers reine, einfache Wiedergabe lässt letztlich kalt, dupliziert sich in den Beschreibungen zu oft, um nachhaltig Eindruck zu hinterlassen oder nach Beendigung der Lektüre noch weiter große Gedanken an sein Schicksal zu verschwenden.

So bleibt am Ende zwar ein ehrliches, schonungsloses und wohl auch wichtiges, aber in seiner Wirkung auch stumpfes und wenig eindringliches Buch, das meines Erachtens über den Status einer persönlichen Aufarbeitung nicht hinauskommt. Empfehlenswert für mich tatsächlich am ehesten noch aufgrund der im Irakkrieg spielenden Passagen, wenngleich „Cherry“ in diesem Punkt ebenfalls nicht viel Neues bieten kann.

Wertung: 76 von 100 Treffern

einschuss2
  • Autor: Nico Walker
  • Titel: Cherry
  • Originaltitel: Cherry
  • Übersetzer: Daniel Müller
  • Verlag: Heyne Hardcore
  • Erschienen: 04.2019
  • Einband: Hardcover
  • Seiten: 384 Seiten
  • ISBN: 978-3453271975

Lügen in Zeiten des Krieges

© Suhrkamp

Jurek Beckers Debütroman „Jakob, der Lügner“ hat, trotz seines Prädikats als Klassiker der Weltliteratur, lange Zeit ein verstaubtes Dasein in meinem Regal gefristet. Zum einem fasst man das Thema Holocaust nicht leichtfertig an, zum anderen haben die im Geschichtsunterricht gezeigten Archivbilder über die Befreiung von Auschwitz Spuren hinterlassen.

Sich diesem dunklen Kapitel unserer deutschen Vergangenheit auf literarischer Ebene nochmals zu stellen, hatte ich mich eine Zeitlang einfach nicht mehr gewagt. Letztlich ward es dann doch irgendwann von mir gelesen, was ich im Nachhinein auch nicht bereut habe, denn Beckers Auseinandersetzung mit den Grauen der Judenvernichtung während des Zweiten Weltkriegs ist über alle Maßen gelungen. Er schafft das scheinbar Unmögliche – mit Humor über den Holocaust zu schreiben und seine eigenen persönlichen Erfahrungen (Becker selbst wuchs im Ghetto von Lodz sowie in den Konzentrationslagern von Ravensbrück und Sachsenhausen auf und lebte später in Ostberlin, wo auch „Jakob, der Lügner“ entstand) einzuarbeiten, ohne den Roman zu sehr autobiographisch zu prägen.

Geschildert wird die Geschichte aus der Perspektive des einzigen Überlebenden eines polnischen Ghettos, der nicht über die Deportation seiner eigenen Familie und seiner Freunde sprechen mag, und dem Leser stattdessen von Jakob Heym berichtet. Dieser ist zur selben Zeit wie der Erzähler Bewohner des Ghettos. Und das „Leben“ dort bedeutet Verzicht auf alles. Bäume sind in dem abgeriegelten Bezirk von den Nazis verboten worden, genauso wie der Besitz von Ringen und sonstigen Wertgegenständen, die Haltung von Tieren oder der Aufenthalt auf der Straße nach acht Uhr. Besonders diese Sperrstunde macht dem begeisterten Spaziergänger Jakob zu schaffen. Und sie ist es auch, mit der diese Geschichte ihren Anfang nimmt. Jakob wird vorgeblich nach der festgelegten Ausgangssperre von einem Wachposten erwischt, der ihn in das Hauptquartier der örtlichen Polizei schickt. Jakob zittert vor Todesangst, doch er hat Glück im Unglück. Der guten Laune eines anwesenden Offiziers ist es zu verdanken, dass er nicht nur als erster Jude das deutsche Revier lebend verlässt und sich somit der Willkür eines wahrscheinlich nur gelangweilten Wachmanns entzieht, sondern auch noch eine aktuelle Frontlage aus einem Radiobericht belauschen kann. Die Russen sind auf dem Vormarsch. Sie kämpfen kurz vor einer nur 400 bis 500 km entfernten Stadt.

Als er diese Nachricht den Bewohnern des vollkommen von der Außenwelt abgeschnittenen Ghettos präsentiert, will ihm niemand Glauben schenken. Ausgerechnet jetzt will Jakob Frontberichte gehört zu haben? In der Höhle des Löwen, dem deutschen Revier? Ein Ort, den keiner verlässt? Jakob, der ein wenig Freude schenken wollte, wird nur müde belächelt. Um einem Freund aufzumuntern und die Nachricht glaubhafter zu machen, entwirft er eine Notlüge. Er behauptet ein Radio zu besitzen. Dies wird nun schnell zum Lebensgrund der Menschen. Die täglichen Neuigkeiten, die Jakob erfindet, wecken neuen Glauben bei den Ghettobewohnern. Plötzlich werden Pläne für nach dem Krieg geschmiedet, geben sich Paare der Liebe hin, hören die Selbstmorde auf. Aus „einem Gramm Nachrichten“ erschafft Jakob „eine Tonne Hoffnung“ und sieht sich damit einen großen Verantwortung ausgesetzt. Er zerbricht sich den Kopf bei der Erfindung neuer, glaubwürdiger Neuigkeiten, improvisiert sogar ein Interview mit dem englischen Premier Winston Churchill. Bald übersteigt das Lügen seine Kräfte. Doch als er die Wahrheit gestehen will, muss er erkennen, dass ein einfacher Rückzug nicht mehr möglich ist …

Puh, was für ein Buch. Mit einer beiläufigen, klaren und oft sehr humorvollen Sprache schildert Becker den hoffnungslosen und dramatischen Alltag der Bewohner eines Ghettos unter dem menschenverachtenden Naziregime, ohne dabei den moralischen Zeigefinger zu heben. Stattdessen verpackt er seine Kritik an der damaligen Zeit in der Geschichte selbst. Aufgrund des auktorialen Erzählers, der selbst im Ghetto lebt und die Grausamkeiten und Probleme durch seine Erzählweise (das Dokumentarische wird mit dem Erfundenen vermischt und durch Rückblicke unterbrochen) auflockert, wirkt der Plot von Beginn an authentisch, wird er vor unseren Augen lebendig. Während andere thematisch ähnliche Romane den Leser durch das deprimierende Leid und die Schuldzuweisungen erdrückt, liest sich „Jakob, der Lügner“ trotz eben dieses historischen Hintergrunds seltsam erfrischend, wenngleich die liebevolle Beleuchtung der Figuren dazu führt, dass man sich des drohenden Unheils stets bewusst ist. Unmöglich, das Buch einfach an die Seite zu legen, ohne sich Gedanken zu machen. Unmöglich, trotz des immer wieder aufkeimenden Glücks nicht todtraurig und den Tränen nahe zu sein. Beckers Erstlings hinterlässt tiefe Spuren beim Leser, da man sich unwillkürlich direkt angesprochen und sich zu einer Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte gezwungen fühlt.

Die heimliche Hochzeit von Mischa und Rosa, die Mütze Herschels, welche er nie absetzt oder die kleine Lina unter dem Dachboden. Gerade die kleinen Episoden, die das Geschehen immer wieder aus einem anderen Blickwinkel zeigen, füllen dieses gerade mal 283 Seiten lange Buch mit soviel Leben. „Jakob, der Lügner“ ist nicht die Anklage der Täter. Die Tragik des Romans liegt nicht in der Aufzählung von den Verbrechen an den Juden. Ghettoaufseher und Gestapopolizisten sind bis auf wenige Ausnahmen nur namenlose Vertreter des Antisemitismus, welche nur beiläufig erwähnt werden. Nein, es sind diese anrührenden Momente der aufflackernden Hoffnung, welche Jakob entfacht, die zu Herzen gehen.

Becker entlässt den Leser am Ende, wie angesichts der Geschichte nicht anders zu erwarten, ernüchtert und nachdenklich, aber auch mit der Erkenntnis, dass menschliche Freuden selbst unter den schlimmsten Umständen möglich sind. Ein Buch der leisen und bescheidenen Töne, dem jeglicher Hass gänzlich fehlt und das trotz düsterer Dramaturgie, die verschmitzte Heiterkeit des osteuropäischen Witzes einfängt.

Ein literarisches Ereignis und ein Klassiker, der einfach in jedes gut sortierte heimische Bücherregal gehört, aber auch ein Buch, für das man reif genug und bereit sein muss. Eins ist in jeden Fall klar: Vergessen wird man Jakob, den Lügner, wohl nie. Und vielleicht war eben das Beckers Absicht.

Wertung: 89  von 100 Treffern

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  • Autor: Jurek Becker
  • Titel: Jakob, der Lügner
  • Originaltitel: –
  • Übersetzer: –
  • Verlag: Suhrkamp
  • Erschienen: 04.1982
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 288 Seiten
  • ISBN: 978-3518372746

Übrig bleiben wird nur Asche …

© Ullstein

Im letzten Jahr mussten wir aus Gründen des Infektionsvermeidung innerhalb der Pandemie auf sie verzichten. Und auch für 2021 ist ihre Ausrichtung weiterhin alles andere als gesichert: Die Frankfurter Buchmesse. Trotz ihrer stetig sinkenden Bedeutung, für die ohnehin inzwischen zu kämpfende Branche, immer noch Deutschlands Mekka für alle Buchaffinen und Literaturbegeisterten – und in meinem Fall auch jährlicher Treffpunkt, um alte Freunde und Bekannte unter den Autoren, Verlegern, Kennern, Kritikern und Sammlern wiederzusehen, ist doch diese riesige Gemeinde rund um das schönste Medium der Welt am Ende auch dennoch ein Dorf, in dem jeder irgendwie den anderen kennt. Oder eben kennenlernt. Doch inwieweit ist das nun im Hinblick auf Sven Heucherts Roman „Alte Erde“ relevant?

Die Antwort darauf ist einfach. Obwohl ich mit ihm bereits zuvor über die sozialen Medien im Dialog stand – unter dem gegenseitigen Austausch von Buch- und Autorentipps wird vor allem meinerseits das Portemonnaie gelitten haben – durfte ich Sven Heuchert erstmals 2019 auf der Frankfurter Buchmesse persönlich kennenlernen, wo er sich am Stand von Pulp Master dem Gespräch zwischen mir und Verleger Frank Nowatzki anschloss und in diesem Zuge auch bereits einige, äußerst appetitanregende Details aus seinem kommenden Buch fallen ließ. Der Autor Heuchert war mir zuvor erstmals im Zuge einer eher negativ gefärbten Besprechung seines Werks „Dunkels Gesetz“ aufgefallen – übrigens auch Auslöser unserer virtuellen Gespräche – und davor (zu meiner Schande) kein Begriff.

Seit dieser Zeit habe ich diese kulturelle Lücke durch die Lektüre seiner frühen Kurzgeschichtensammlungen jedoch etwas schließen können. Und kulturelle Lücke sei hier auch nicht einfach so dahingesagt, denn Heucherts ganz eigene Stimme sucht im deutschsprachigen Raum nicht nur ohne Zweifel seinesgleichen, sondern walzt mit urgewaltiger Wucht eine Schneise durch das Sammelsurium der hiesigen, bräsigen und pseudointellektuellen Bildungsromane, die stapelweise die Buchhandlungstische belegen und, von Literaturpreisen überhäuft, massenweise gekauft werden, um dann am oberen Buchschnitt den steigenden Staubschichten eine sichere Zuflucht im heimischen Regal zu gewähren.

Sei es in der technischen Innovation oder im zukunftsweisenden Denken allgemein – hierzulande scheint uns der Mut abhanden zu kommen, den einen Schritt weiter zu gehen, die Komfortzone zu verlassen, etwas Neues zu probieren – und vielleicht dabei zeitgleich über den nationalen Tellerrand hin wegzuschauen. Die fehlende größere Beachtung dieses wirklich nachhaltig beeindruckenden Romans spiegelt einmal mehr die mangelnde Entwicklung wieder, die unser Literaturverständnis seit Marcel Reich-Ranickis vernichtendem Verriss von Jörg Fausers Lesung beim Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt im Jahr 1984 genommen hat. Der deutsche Roman, er scheint auch heutzutage noch in ein enges Regelkorsett gezwängt, obwohl dies dem Lesepublikum selbst nur noch in den seltensten Fällen passt bzw. nur der Preisschau halber von diesem getragen wird.

Zum Teufel damit, scheint Heuchert gedacht zu haben, dessen „Dunkels Gesetz“ schon nach einem allenfalls oberflächlichen, plakativen Blick (leider auch durch den Verlag) im Hardboiled-Genre verortet worden ist – dabei vollkommen missachtend, dass sich hier jemand zwar durchaus der Stilelemente eines Chandler bedient, die Herangehensweise jedoch eine vollkommen andere ist. Und so wandelt auch „Alte Erde“ weit eher in den Fußstapfen von so großen Namen wie William Gay, Cormac McCarthy, Daniel Woodrell oder Breece D’J Pancake, hinter denen sich, und das sei vorab gesagt, Heuchert nicht einmal einen Zentimeter weit verstecken muss. Damit kurz zur Handlung:

Die Ville, ein waldreicher Höhenzug in der niederrheinischen Bucht. Tiefste deutsche Provinz und Heimat der fiktiven Dorfflecken Altglück, Vierheilig und Neuglück. Eine abgelegene Gegend und bereits Schauplatz für „Dunkels Gesetz“. Entgegen der Namensgebung, so ist es mit dem Glück für die Bewohner dieses Landstrichs nicht weit her. Und auch heilig scheint nicht mehr allzu viel zu sein, denn Großgrundbesitzer Wasserfuhr, einst durch „arisiertes“Land reich geworden, hat die Rechte erst kürzlich an einen Internetkonzern verkauft, der in der vergleichsweise urwüchsigen Umgebung ein riesiges Warenlager errichten will. Der Bau wird nicht nur die Region von Grund auf verändern, sondern auch die letzten Alteingesessenen aus ihrer Heimat vertreiben. Eine Entwicklung, die auch Wouter Bisch mit Sorge beobachtet. Der alte Revierjäger kennt die Wälder und Auen in diesem abgelegenen Landstrich wie seine Westentasche und hat hier bereits zahlreiche Jagdgesellschaften geführt. Nach dem Verlust seines Sohnes ist die Jagd sein letzter Halt, an deren Riten er sich festklammert und die gleichzeitig seine Verbindung zu der von Umwälzungen betroffenen Natur herstellt. Ihren Kreislauf aus Leben und Tod gilt es seiner Ansicht nach unbedingt zu respektieren.

Eine Sichtweise, die Karl Frühreich nicht teilt, der allgemein jegliche Gesellschaft meidet und sich von der Rückkehr seines Bruders Thies in ihr gemeinsames Elternhaus, nach über vierzehn Jahren Abwesenheit, wenig begeistert zeigt. Mehr Interesse wecken dafür seine Begleitung Monique sowie ein randvoller Koffer mit Geld. Als er dann auch noch hört, dass der exzentrische Gustav Rio durch den Verkauf ebenfalls zu einem gewissen Reichtum gekommen ist, reift ihn ihm ein diabolischer Plan. Doch er hat seine Rechnung ohne Wouter Bisch gemacht. Bald kreuzen sich ihre Wege und die Ereignisse nehmen eine eigene, todbringende Dynamik …

Puh, was für ein Roman. Obwohl es jetzt schon ein paar Tage her ist, seitdem ich „Alte Erde“ beendet und atemlos zur Seite gelegt habe, haftet das Erlebte noch immer an mir, wirken Heucherts eindringliche Bilder weiterhin nach, der, selbst leidenschaftlicher Jäger, seine sprachliche Munition mit unbarmherziger Präzision beinahe stakkatoartig auf den Leser abfeuert und mit seiner drastischen Härte tiefe Wunden schlägt, die so schnell nicht verheilen dürften. Ganz ohne Übertreibung kann ich behaupten: Seit James Ellroy und David Peace hat mich ein Buch stilistisch nicht mehr derart kraftvoll in die Magengrube getroffen, die Form so sehr den Inhalt dominiert wie hier. Wo das Beschriebene endet und die eigenen Sinneseindrücke beginnen – das vermag man in „Alte Erde“ schon nach kurzer Zeit nicht mehr auseinanderhalten zu können, ziehen uns doch Heucherts sogartige Schilderungen förmlich in diese vor Nässe triefende, karge und archaische Welt der rauschenden Bäche, lichtdurchfluteten Wälder und modernden Wiesen – in dieses letzte Refugium der Wildnis, welches noch nicht den Gesetzmäßigkeiten der sogenannten Zivilisation unterworfen ist und das weiterhin nach ganz anderen, uralten Regeln spielt.

Sven Heuchert pflegt hier natürlich in vielerlei Hinsicht den Anachronismus, präsentiert eine Welt, die so fast nicht mehr existiert – reduziert damit aber den Mensch auch gekonnt auf sein eigentliches Selbst, auf die primitiven Wünsche und Bedürfnisse, die, unter Druck gesetzt von äußeren Umständen und familiären Tragödien, sich an diesem Ort noch, unbeirrt von Recht und Gesetz, Bahn brechen können. Ganz in der Tradition des „Country Noir/Southern Gothic“ – und wenn es ihn in Deutschland bis dato so nicht gab, dann spätestens ab jetzt – wandeln wir auch in „Alte Erde“ Seite an Seite mit dem Protagonisten in einem vergessenen Hinterland, das vergleichbar ist mit Tom Franklins Bear Thickett oder William Gays Ackerman’s Field. Ein Landstrich, scheinbar bisher unberührt von Zeit und Raum, in der noch fleißig an der Reval-Zigarette gezogen und die alte Nagant geölt und gefettet wird – und den man doch irgendwie zu kennen glaubt und an vielen Stellen mit der eigenen Vergangenheit in Verbindung bringt. Heucherts plastische Beschreibungen haben mich, auf beinahe erschreckende Art und Weise, an die Umgebung direkt vor der Haustür meines eigenen, ersten Elternhauses erinnert, was wohl ein weiteren Grund darstellt, wieso mir die Lektüre derart ans Leder gegangen ist.

Und so spröde und knarzig, aber auch beständig, lichtecht und durchlässig wie Leder, so ist auch Heucherts Sprache, die uns in „Alte Erde“ keine Ruhe gönnt, uns malträtiert, aber zeitgleich stetig fordert und mitzieht, wobei sich die Protagonisten, anfangs hinter einem scheinbar schwer durchdringbaren Schleier verborgen, nur langsam aus dem Nebel schälen und ihre wahren Absichten offenbaren. Dafür bedarf es kaum längerer Dialoge. Ganz im Gegenteil: In den entscheidenden Momenten wird geschwiegen, hält die „Kamera“ einfach ruhig auf die einzelnen Bilder, um diese für sich sprechen zu lassen. Und verflucht noch eins, das tun sie. Seit Chigurh aus „No Country for Old Men“ hat man wohl nicht mehr einen derart leidenschaftslosen Einsatz eines Bolzenschussgeräts gelesen, seit Portis‘ „True Grit“ nicht mehr eine so leidenschaftslose, kaltblütige Ausübung von „Gerechtigkeit“. Je nachdem, aus welcher Perspektive man dies analysiert, kann man argumentieren, dass das alles auf Kosten einer gewissen Leichtigkeit geht, die Erzählung gewollt ungenießbarer macht. Wer sich jedoch die Mühe macht, zwischen den Zeilen zu lesen und zudem auch Heucherts literarische Vorbilder kennt, der weiß diese durchaus gezielte, bleierne Schwere zu schätzen, versteht, dass „Alte Erde“ nur aufgrund dieser unbarmherzigen, kahlen Poesie funktionieren kann.

Sven Heuchert hat mit „Alte Erde“ nochmal einen weiten Schritt nach vorne gemacht. Die Belohnung für diese erneute Weiterentwicklung ist einer der besten, formal gelungensten (ich sage absichtlich nicht nur deutschsprachigen) Romane der letzten Jahre. Ein harter, durchrüttelnder, jeglichen Witterungen ausgesetzter, literarischer Ritt ohne Sattel, an dessen Ende man zwar erschöpft absteigt, nur um aber dann dem Gaul an die Flanke zu klopfen und zu flüstern: Bis zum nächsten Mal.

Wertung: 94 von 100 Treffern

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  • Autor: Sven Heuchert
  • Titel: Alte Erde
  • Originaltitel: –
  • Übersetzer: –
  • Verlag: Ullstein
  • Erschienen: 08/2020
  • Einband: Hardcover
  • Seiten: 224 Seiten
  • ISBN: 978-3550050756