Sag es mit Gift

© Bastei Lübbe

Seit weit über zwanzig Jahren sammele ich inzwischen Kriminalliteratur, ergänzt durch eine auch nicht unbeträchtliche Anzahl von Büchern aus anderen Genres und zusammengefasst (oder sollte ich besser zusammengepfercht sagen?) in einer Bibliothek, welche mittlerweile aufgrund des Gewichts die Statik unseres Wohnzimmers in arge Bedrängnis bringt. Man könnte also tatsächlich passenderweise behaupten: „Mord ist aller Laster Anfang“. In meinem Fall ein Laster, das aber wenigstens keine nennenswerten gesundheitlichen Nachteile (von trockenen Augen mal abgesehen) mit sich bringt, wenngleich manch ein literarisches Mahl auf dem Weg zum „Krimi-Gourmet“ rückblickend etwas schwerer im Magen liegt – oder nach objektiven Gesichtspunkten unter äußerst leichter Kost anzusiedeln ist. Bei Ann Grangers Debüt im Spannungsgenre handelt es sich genau um solche.

Nun ist der klassische englische Landhauskrimi per se kein Sub-Genre, in dem sich Schriftsteller in der Vergangenheit in großer Zahl zu ungeahnten künstlerischen, geschweige denn spannungsreichen Höhenflügen aufgeschwungen haben. Wenig überraschend, legt das Lesepublikum doch seit Miss Marples Zeiten hier vor allem Wert auf den richtigen Schauplatz, möglichst verschrobene, skurrile Charaktere und eine dazu passende gediegene, gemütliche Atmosphäre. Die Suspense hat auch deswegen zwischen gehäkelten Tischdecken, weichen Ohrensesseln, knisternden Kaminfeuern und pfeifenden Teekesseln einen mitunter schweren Stand, was dem Erfolg des „Cozys“ allerdings nie abträglich war. Und ich bin ganz ehrlich: Ab und zu ist es tatsächlich ganz entspannend, sich nach all den depressiven, alkoholkranken Ermittlern oder geistesgestörten Serienkillern für die nächste Lektüre in einem idyllischen, abgelegenen englischen Dörfchen zu erholen. Sowohl zwischen den Buchdeckeln, als auch im wahren Leben. So nehme ich daher unseren diesjährigen Urlaub in Oxfordshire, am Rande der Cotswolds, zum Anlass, um Jahre nach dem ersten Kontakt mit diesem Buch, einen etwas kritischeren Rückblick zu wagen und eine Antwort auf die Frage zu suchen: Kann man das heute eigentlich noch lesen? Und konnte man es je?

Im Jahr 1991 hatte Ann Granger – erst als Englischlehrerin, dann im diplomatischen Dienst lange Zeit in Ländern wie Österreich, Frankreich, Deutschland, aber auch in ehemaligen Staaten wie Jugoslawien und der Tschechoslowakei, tätig – unter dem Pseudonym Ann Hulme bereits sechs Bücher veröffentlicht. Sie werden heute gerne im Bereich der „Historic Novels“ verortet, obwohl es sich bei sachlicher Betrachtung allesamt um äußerst kitschige Liebesromane handelt. Entsprechend hoch durften daher wohl die Erwartungen der Krimi-Leser gewesen sein, als im genannten Jahr mit „Mord ist aller Laster Anfang“ der erste Whodunit mit Meredith Mitchell, wie ihre Schöpferin ebenfalls Diplomatin, das Licht der Welt erblickte. Von wenigen Ausnahmen abgesehen – Martha Grimes‘ Inspektor Jury hatte inzwischen eine gewisse Popularität erreicht – war der Landhaus-Krimi zu diesem Zeitpunkt zu einer Randhauserscheinung verkommen. Keine gute Ausgangslage für eine erfolgreiche Reihe, möchte man meinen. 2023, sechzehn Bände (ein 17. ist auf Deutsch für März 2024 angekündigt) und diverse andere Reihen später, muss man konstatieren: Besser hätte es für Ann Granger kaum laufen können, auch wenn der Start ein durchaus holpriger war. Und damit nun zum Inhalt:

Ungarn, Anfang der 90er Jahre. Konsulin Meredith Mitchell erhält von ihrer Cousine Eve Owens einen Brief samt Einladung für die Hochzeit von deren Tochter Sara. Meredith, Saras Patentante und von der ewigen Routine im Dienst des auswärtigen Amts inzwischen mehr als gelangweilt, nimmt die Gelegenheit wahr, dankend an und reist kurz darauf in das kleine (fiktive) Dörfchen Westerfield, nahe Bamford (ebenfalls fiktiv) in Oxfordshire. Zu ihrer Überraschung muss sie feststellen, dass sich in ihrer alten, englischen Heimat einiges verändert hat. Die ehemals allgegenwärtige Landhausidylle hat durch die Errichtung hässlicher Betonbauten sichtlich Schaden genommen, das freundliche, nachbarschaftliche Miteinander sich in Misstrauen und skeptische Zurückhaltung gewandelt. Und selbst im Hause ihrer Cousine, dem alten Wohnsitz des ehemaligen Pfarrers, scheint alles andere als Frieden zu herrschen.

Ein Unbekannter hinterlässt regelmäßig Drohungen in Form makabrer Scherze am Eingangstor, Saras künftiger Gatte fürchtet um sein feines Image und zwischen den angrenzenden Nachbarn, dem alten Bert und dem jungen Künstler Philipp Lorrimer, herrscht Streit aufgrund buddelnder Katzen im preisgekrönten Blumenbeet. Was Meredith anfangs noch als typische Verschrobenheit der Landbevölkerung interpretiert, wird recht bald bitterer Ernst. Erst wird eine der Katzen tot aufgefunden, offensichtlich vergiftet. Dann stolpert sie bei einem Besuch über die schmerzverzerrte Leiche ihres Besitzers. Schon am Vortag klagte Philipp über Bauchkrämpfe und so vermutet Meredith, dass auch hier Gift im Spiel sein muss. Alan Markby, Inspektor bei der Bamforder Polizei und auch geplanter Brautführer, wird mit den Ermittlungen in dem Fall beauftragt – und kreuzt dabei, zu seiner wachsenden Verstimmung, immer wieder die Wege von Meredith, die sich als Hobbydetektivin gebärt und ihrerseits Nachforschungen anstellt. Zeichnet wirklich der alte Bert für die Vergiftung verantwortlich? Und ist Gift überhaupt die einzige Todesursache? Als sie der Wahrheit immer näher kommt, ist es endgültig vorbei mit der Beschaulichkeit im ruhigen Westerfield …

Als ich Mitte 2000er, auch dank des damals noch lebendigen Forums auf der Website Krimi-Couch (nun ein Schatten ihrer selbst), die Perlen der DuMont-Kriminalbibliothek nach und nach für mich entdecken durfte, richtete sich der Blick auf weitere Literatur aus dem Bereich des Whodunit. Seit dem Golden Age hatte sich aber der Spannungsroman, auch dank auf Realismus pochenden Schriftstellern wie Dashiell Hammett oder Raymond Chandler, weiterentwickelt. Morde unter Gentleman in alten Herrenhäusern und in verschlossen Räumen waren lange genau so außer Mode, wie Hobbydetektive mit Anzug und Zigarre. Morde wurden nun immer blutiger und wissenschaftlicher seziert. Und der Leser sollte weniger zum Miträtseln angeregt, als vielmehr durch immer plastischere Schilderungen geschockt und gegruselt werden. Dennoch scheint es gerade zur Jahrhundertwende eine kleine Renaissance des klassischen Mystery-Novels gegeben zu haben. Anfangs noch in Form von Persiflagen oder Hommagen, wie z.B. in Gilbert Adairs „Mord auf ffolkes Manor“, eroberte sich der Whodunit wieder einen Platz in den Buchhandlungen zurück. Und so musste ich letztlich unvermeidlich auch über die Ann Granger Titel – oder besser gesagt über deren sehr einprägsame Cover stolpern.

Konzentriert man sich allein auf die Aufmachung des Buches, so kann man durchaus feststellen: Das Buch hält genau das, was es verspricht. Wer sich über das pittoreske Dorfidyll hinaus aber große Hoffnungen auf einen winkelten, komplexen Plot oder einen Meisterdetektiv wie Miss Marple macht, der kann dieser (zumindest für den ersten Band der Reihe) direkt wieder begraben. Ann Granger vermag es nicht zu kaschieren, dass sie zum allerersten Mal einen Fuß in das Krimi-Genre setzt, denn der Plot knarzt allerorten und ist ähnlich wie schwerfällig, wie die alten Holztüren der Cottages in Westerfield. Zwar gelingt es ihr durchaus, den Schauplatz optisch einen St. Mary Mead von Agatha Christie anzugleichen, bevölkert ihn aber mit wandelnden Klischees, die sich dick eingepackt in Stereotypen kaum bewegen können und daher Lebendigkeit vermissen lassen. Fast scheint es so, als hätte sich Granger hier Punkt für Punkt durch die To-Do-Liste „Was gehört alles in einen Whodunit“ gearbeitet und darüber hinaus vergessen, dass alles auch logisch – und vor allem für den Leser überraschend zu verknüpfen.

Ironischerweise wirken sich diese Schwächen aber weit weniger auf das Lesevergnügen aus, als die Hauptprotagonistin, Meredith Mitchell. Bar jeglichen Sinns für Humor, motzt, zickt, meckert und trampelt die Diplomatin (!) durch die Szenerie, durchgängig im Angriffsmodus auf alles, was auch nur im Begriff ist, Widerworte zu geben oder ihrem Treiben Einhalt zu gebieten. Natürlich hätte es auch ein kleiner Belgier mit Eierkopf oder die alte wirre Oma nie über das Sperrband eines Tatorts geschafft. Es wirkt rückblickend aber dennoch logischer, als die Anwesenheit dieser personifizierten weiblichen Abrissbirne, die so ziemlich alles tut, um den Leser gegen sich aufzubringen. Alan Markby, im weiteren Verlauf der Reihe wichtige zweite Hauptfigur, hat dagegen kaum Raum, um sich entfalten zu können und ist sich daher in erster Linie unseres Mitleids sicher. Eine Mischung also, an der „Mord ist aller Laster Anfang“ eigentlich noch vor Auffinden der ersten Leiche hätte krepieren müssen.

Umso überraschender, dass mich trotzdem irgendetwas an dieser Lektüre um den Finger wickeln konnte, was mit Worten nur schwer zu greifen ist. Meredith nervt, ja. Die Kulisse könnte kaum künstlicher sein, sicher. Aber obwohl diese Mängel so offensichtlich sind, lullt uns Ann Granger mit dieser Tee-und-Keks-vorm-Kamin-Atmosphäre dermaßen geschickt ein, dass man unwillkürlich tiefer in den Sessel sinkt und darüber hinaus die Zeit (und viele der offensichtlichen Kritikpunkte) einfach vergisst. Es ist diese Rutherfordsche Gemütlichkeit, die den Leser in eine warme Decke packt, welche zum Markenzeichen der Reihe werden wird, in „Mord ist aller Laster Anfang“ aber allein noch nicht ausreicht, um eine wirkliche Empfehlung aussprechen zu können. Granger deutet hier zwar ein gewisses Potenzial an, ist aber sichtlich noch auf der Suche nach dem eigenen Stil, mit dem dann auch eine dringend benötigte Leichtigkeit einhergehen könnte.

So ist Meredith Mitchells erster Fall dann nur für diejenigen von Interesse, welche literarische Entschleunigung vom chaotischen Alltag in Form eines Landhaus-Krimis suchen oder Serien immer unbedingt von Anfang an verfolgen möchten. Allen anderen empfehle ich, etwas später in diese sich im weiteren Verlauf tatsächlich stetig steigernde Reihe einzusteigen.

Wertung: 71 von 100 Treffern

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  • Autor: Ann Granger
  • Titel: Mord ist aller Laster Anfang
  • Originaltitel: Say It with Poison
  • Übersetzer: Edith Walter
  • Verlag: Bastei Lübbe Verlag
  • Erschienen: 10.2022
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 304 Seiten
  • ISBN: 978-3404189113

Kraftwerk des Bösen

© Elsinor

John Buchans „Der Übermensch“, war da nicht mal was? Wer die deutsche Verlagsszene insbesondere im Bereich Kriminalroman in den letzten Jahren genauer verfolgt hat, dem wird nicht entgangen sein, dass dieser Titel bereits 2014 vom Elsinor Verlag veröffentlicht worden ist. Genau ist dabei allerdings das Stichwort, denn wie leider so oft bei kleineren Verlagshäusern, so blieb auch diesem Buch eine größere mediale Reichweite – und damit ein entsprechendes Lesepublikum – verwehrt. Und wenn es sich dann auch noch um einen Klassiker aus der Zeit des Ersten Weltkriegs handelt, scheinen die Chancen nicht selten umso geringer. Wieso also jetzt eine weitere Neuauflage?

Nun, einerseits feierte der klassische Spannungsroman zuletzt ein kleines Revival, wobei dies wohl weniger der großen Nachfrage geschuldet ist, als vielmehr dem Kostenfaktor. Anstatt Übersetzer, Lektoren und neue Lizenzen für großes Geld einzukaufen, bedient man sich bestehender Rechte und auch Übersetzungen, welche man allenfalls nochmal hier und da überarbeitet. Verlage wie zum Beispiel Kampa oder auch der Unionsverlag haben die finanziellen Vorteile in diesem Geschäftsmodell längst für sich entdeckt und entsprechend ihr Programm ausgerichtet. Andererseits gibt es weiterhin Menschen dort draußen, die nicht müde werden, sich für längst vergessene (oder auch bis dato unentdeckte) Krimi-Perlen einzusetzen. Und einer davon ist seit vielen Jahrzehnten Martin Compart – ehemaliger Herausgeber für u.a. so wegweisende Krimi-Reihen wie die „gelben Krimis“ bei Ullstein, die „Schwarze Serie“ von Bastei Lübbe oder die kurzlebige Kollektion DuMont Noir. Er ist es auch, der in der überarbeiteten Ausgabe von „Der Übermensch“ (engl. „The Power House“) wieder ein Nachwort besteuert, das sich am Informationsgehalt der oben genannten Reihen orientiert, fast allein den Kauf schon lohnt – und damit aber eigentlich auch in Inhalt und Umfang eine größere Besprechung des vorliegenden Romans fast gänzlich überflüssig macht.

Was soll ich da jetzt noch ergänzen oder aus dem Text herausholen? Das war so ziemlich mein erster, leicht verzweifelter Gedanke nach der Beendigung dieses Klassikers, welchen Compart – im Kontext der Bedeutung und der Entwicklung des Spionage-Romans (bis hin zum Ursprung des Begriffs Spion an sich) sowie auch mit Fokus auf den Lebenslauf John Buchans – im Anschluss an die eigentliche Geschichte über ganze dreißig Seiten (!!) analysiert. Nun, konzentriere Dich einfach auf den gelesenen Text, würde wohl mein alter Dozent zu mir sagen. Doch genau hier steht man relativ schnell vor dem nächsten Problem, denn „Der Übermensch“ ist eigentlich vom Umfang her weniger ein Roman, als vielmehr eine recht übersichtliche Novelle, welche zudem ohne wirkliche Aktion seitens des Hauptprotagonisten, Edward Leithen, auskommt.

Leithen ist stattdessen der Prototyp des „Clubland Heros“, der, selbst konfrontiert mit lebensbedrohlichen Problemen, diesen weitestgehend von seinem Schreibtisch aus begegnet, wodurch sich wiederum Buchans Geschichte deutlich von vielen zeitgenössischen Kollegen wie Eric Ambler oder W. Somerset Maugham, unterscheidet. Compart spricht hier von einem „romantisierenden Blick“ gegenüber dem eher realistischen Ansatz der genannten Autoren – und trifft damit den Nagel auf den Kopf. Genau diese stilistische Eigenheit des schottischen Schriftstellers lässt aber eben wenig Raum für eine Auseinandersetzung mit der eigentlichen Handlung – zumindest ohne im gleichen Zug die Essenz, Faszination und vor allem Spannung schon vorweg zu nehmen. Ich will es dennoch versuchen und dabei vermutlich scheitern:

Edward Leithen ist der exemplarische, ja fast schon klischeehaft konservative Vertreter der britischen Oberschicht nach dem Ende der viktorianischen Ära. Wohnhaft in der Metropole London, leistet er seinen Dienst am Empire als Abgeordneter der Tory-Partei im Parlament und ist nebenbei noch am örtlichen Gericht als Anwalt tätig. Sein Leben findet neben diesen beiden Schauplätzen größtenteils in diversen exklusiven Clubs statt, in welchen die erbitterten, aber stets sportlichen Konflikte aus den politischen Sälen Westminsters mit großer Begeisterung fortgesetzt werden. So ist es wenig überraschend, dass zwei seiner besten Freunde dem gegnerischen Lager der Labour-Partei entstammen. Während man sich vor den Augen der allgegenwärtigen Presse in den Auseinandersetzungen nichts schenkt, schätzt man sich privat umso mehr, wenngleich ein jeder darauf bedacht ist, den jeweils anderen mit seinen Leistungen oder Erlebnissen zu beeindrucken.

Während einer geselligen Zusammenkunft ist es dann an Edward Leithen von seinem bis dato größten Abenteuer zu erzählen. Dieses begann mit der urplötzlichen und mysteriösen Flucht eines Bekannten aus London. Sein Name: Charles Pitt-Heron. Schon immer mit dem Ruf eines Draufgänger versehen, sind dessen Freunde dennoch überrascht über die Art und Weise der Abreise. Von seinem Freund Tommy Deloraine erfährt Edward, dass Charles zuletzt in zwielichtigen Kreisen verkehrt hat und nun verzweifelt versucht, diesen zu entkommen. Tommy seinerseits möchte ihm nachreisen und beistehen, weswegen er seinen Freund damit beauftragt, die Ursprünge der unbekannten Gefahr näher zu erforschen. Edward, der einst Charles‘ Ehefrau Ethel sehr zugetan war, kommt nach und nach einer weltumspannenden Verschwörung namens „Das Kraftwerk“ (engl. „The Power House“) auf die Spur und sieht sich schließlich sogar dessen Kopf gegenüber. Als dieser ihm die mitunter nachvollziehbaren Gründe für sein kriminelles Wirken erläutert, steht er vor einer schwierigen Wahl: Soll er den Dingen seinen Lauf lassen oder sein eigenes Leben riskieren, um ein anderes zu retten? Edwards Entscheidung setzt schließlich eine Kette von Ereignissen in Gang, welche von London bis in das ferne Kaschmir ihren Widerhall finden …

John Buchan – ein Name, der heute hierzulande allenfalls Kennern des Genres in Begriff ist, wobei sich diese Kenntnis zumeist auf sein wohl bekanntes Werk, „Die neununddreißig Stufen“, potenziert, dessen Verfilmung durch den damals noch recht jungen Alfred Hitchcock zu den größten britischen Filmen aller Zeiten zählt. Hier, in Großbritannien, ist Buchans Buch auch seit seinem Erscheinen im Jahr 1915 durchgehend lieferbar. Im Verlauf der Jahre hat es wie sein Schöpfer viele Bewunderer gefunden, zu denen u.a. Persönlichkeiten wie der ehemalige amerikanische Theodore Roosevelt zählten. Auch Graham Greene orientierte sich in seiner Arbeit stark am Idol John Buchan, dessen abwechslungsreiches und fast übervolles Leben von Martin Compart in dieser Ausgabe hervorragend herausgearbeitet und gewürdigt wird. Obwohl er nur 64 Jahre alt wurde, tat er sich nicht nur als Schriftsteller und Journalist hervor, sondern war während des Ersten Weltkriegs auch Mitarbeiter im militärischen Geheimdienst und ab 1935 sogar Generalgouverneur von Kanada. Zu seinem umfangreichen Werk gehören neben zweiundvierzig Sachbüchern, vier Gedichtbänden und zehn Biographien auch achtundzwanzig Romane, von denen der erste, „The Half-Hearted“, bereits im Jahr 1900 das Licht der Öffentlichkeit erblickte.

In dieser bis heute unübersetzten klassischen Abenteuergeschichte verhindert der Held namens Lewis eine Invasion durch die Russen. Zehn Jahre später folgt der Leser Buchan in „Trommeln über Transvaal“ (engl. „Prester John“) nach Südafrika, wo sich ein junger Engländer einem verheerenden Aufstand der Schwarzen entgegenstellt. Letzterer ist zwar von der damaligen imperialistischen Ideologie und Doktrin beeinflusst, zeichnet gleichzeitig aber auch ein für diese Zeit überraschend verständnisvolles Bild der südafrikanischen Sichtweise. Aus heutiger Sicht könnte man „Trommeln über Transvaal“ wohlwollend als frühen Polit-Thriller bezeichnen.

Dennoch sollte es nochmal fünf weitere Jahre dauern, bis Buchans literarischer Fingerabdruck auch von einem größeren Publikum wahrgenommen wird. Beeinflusst von den desillusionierenden Eindrücken des Kriegsjahres 1915, begann er mit der Arbeit am bereits erwähnten „Schlüsselwerk“ seiner Schriftstellerkarriere – „Die neununddreißig Stufen“, das noch im gleichen Jahr in Druck ging und zu einem großen Erfolg für Buchan wurde. Ein Erfolg, von dem auch „Der Übermensch“ profitierte, der bereits 1913 als Fortsetzungsroman erschienen war, und drei Jahre später, die Gunst der Stunde nutzend, als gebundene Ausgabe erneut auf den Markt kam. Nach Ansicht von Martin Compart, handelt es sich hierbei um den ersten modernen Spionage-Roman. Und selbst wenn viele Buchan nachfolgende Autoren des Genres bis heute „Die neununddreißig Stufen“ als Blaupause hervorheben – ich bin nach genauer Überlegung durchaus eneigt Compart zuzustimmen.

Um seine Sichtweise zu teilen, bedarf es allerdings auch einer gewissen Erweiterung eben dieser, denn „Der Übermensch“ hat aus heutiger Sicht nur noch wenig mit dem gemeinsam, was wir, geprägt von Protagonisten wie George Smiley oder James Bond, mit diesem Sub-Genre verbinden. Anstatt uns wie später genreüblich an der Seite der fürs Gute streitenden Helden körperlicher Gefahr auszusetzen, entwickelt sich der Spannungsbogen von „Der Übermensch“ größtenteils zwischen den Papierstapeln des Schreibtischs, hinter denen Edward Leithen sitzt und Telegramme verschickt, um die eigentlich der Bedrohung ausgesetzten Akteure zu warnen und in Sicherheit zu bringen. Fast scheint es anfangs so, als hätte Buchan es bewusst vermieden, seine höchstwahrscheinlich eher elitäre Leserschaft direkt mit so primitiven Dingen wie Mord und Totschlag auseinanderzusetzen. Immer wenn sich daher die Häscher den durch die Berge Bucharars und Kaschmirs Charles Pitt-Heron und Tommy Deloraine nähern, sitzen wir Leser im warmen, behaglichen London – relativ unberührt von dem Ausmaß der kriminellen Verschwörung, die Edward bis hierhin relativ dank diverser Gespräche und Schlussfolgerungen unbehelligt aufdecken kann. Zumindest so lang, bis der Hauptprotagonist durch das Element des Zufalls dem Kopf dieses Syndikats gegenübersteht.

Bis zu diesem Zeitpunkt hat uns „Der Übermensch“ zwar relativ temporeich und gefällig, aber auch wenig überraschend oder gar begeisternd von Seite zu Seite zu tragen – nun ändert diese Begegnung in einem dunklen Salon eines alten Landhauses von jetzt auf gleich die ganze Tonalität. Hier, in den Schatten eines brennenden Kaminfeuers, offenbart sich der scheinbar wohlwollende Gastgeber als Drahtzieher des Bösen, als kultivierte und doch gefährliche Spinne im Zentrum eines gewaltigen Netzes. Martin Compart zieht in seinem Nachwort Vergleiche mit Hugo Drax und Ernst Stavro Blofeld, späteren Superverbrechern und Gegenspielern James Bonds, dessen Schöpfer Fleming sich ebenfalls als Autor in der Tradition John Buchans verstand. Und tatsächlich liegen die Parallelen deutlich auf der Hand, erinnert die Enthüllung des Bösewichts frappant an die Konfrontationen von 007 mit den übergroßen Schurken, welche durch die Verfilmungen in die moderne Kultur übergegangen sind. Für mich weckt dieser wortwörtliche Gänsehautmoment – der Dialog zwischen Leithen und dem Kopf des „Kraftwerks“ gehört meines Erachtens zum Besten, was dieses Genre hervorgebracht hat – allerdings Erinnerungen an jemand ganz anderen.

Wenn sich Leithen und sein Gegenüber ein philosophisches Wortduell über ihre gegensätzlichen Weltanschauungen liefern und unser Held dabei, ohne wirklich nachzugeben, in diesem Kräftemessen immer mehr an Boden verliert, verwandelt sich das düstere Zimmer vor meinen Augen in den tosenden Abgrund eines Wasserfalls – in den Schauplatz der unvermeidlichen und entscheidenden Auseinandersetzung zwischen dem Meisterdetektiv Sherlock Holmes und dem Napoleon des Verbrechens, Professor Moriarty. Und Letzterer ist es auch, der hier für mich in Gestalt des großen Gegenspielers eine einprägsame, weil zutiefst unheimliche Wiederauferstehung feiert. Mit dem gleichen diabolischen Genie versehen und ebenso entschlossen, arbeitetet auch das „Kraftwerk“ am Fall der bestehenden, so genannten Ordnung, deren Ineffizienz und Anfälligkeit sich die Organisation aber gleichzeitig zu Nutze macht, um überall ihre eigenen Leute für den vernichtenden Schlag zu positionieren. Wie alle Oberschurken nach ihm (und vor ihm eben ein Moriarty), so gewährt er Leithen – und damit auch uns – einen relativ freigiebigen Blick in seine Absichten. Doch wo heutzutage ein actionreiches Überraschungselement dieser Selbstherrlichkeit ein Ende setzen würde, bleibt in „Der Übermensch“ nur ein mulmiges Gefühl zurück. Zu sehr schneiden sich die Worte von Leithens Gegner durch unser vermeintliches Selbstverständnis. Zu ungewollt und dennoch deutlich, der aktuelle Bezug.

Haben Sie jemals darüber nachgedacht, wie brüchig diese Zivilisation eigentlich ist, auf die wir alle so stolz sind?

Bei Drohungen bleibt es im weiteren Verlauf dann auch nicht mehr. Leithen, der sich als aufrechter Patriot seiner Zeit nicht einschüchtern lassen will, wird damit endgültig zum Hauptziel des vollkommen skrupellosen und an menschlichen Ressourcen nicht armen „Kraftwerks“ und muss fortan alle eigenen Hebel in Bewegung setzen, um am Leben zu bleiben – und um schließlich zum Gegenschlag ausholen zu können. Unterstützt wird er dabei von dem heimlichen Star des Buchs, der in Form des schlagkräftigen „Volkstribuns“ Chapman für ein paar handfeste Momente und damit eine kurzfristige Auflockerung der zupackenden Suspense sorgt (Übrigens fühlte ich mich auch hier an eine weitere Figur aus der Feder Sir Arthur Conan Doyles erinnert: Den temperamentvollen Professor Challenger aus „Die verlorene Welt“). Auch diese zupackende Unterstützung kann letztlich aber nicht verhindern, dass Leithen am Ende in den Straßen Londons noch um sein Leben laufen muss – und damit einem weiteren Stilelement den Boden bereitet, das heute aus keinem Spionage-Thriller mehr wegzudenken ist: Die rasante und atemlose Verfolgungsjagd.

Der Übermensch“, Auftakt einer vierbändigen Reihe um Edward Leithen, ist aber auch abseits seiner Bedeutung für das heutige Sub-Genre des Kriminalromans ein kaptivierendes, unheimlich dichtes Stück Spannungsliteratur, dessen Lektüre immer noch lohnt. Es bleibt zu hoffen, dass Martin Compart und der Elsinor Verlag auch in Zukunft weitere Schätze dieser Qualität aus den Tiefen der Thriller-Geschichte heben können.

Wertung: 87 von 100 Treffern

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  • Autor: John Buchan
  • Titel: Der Übermensch
  • Originaltitel: The Power House
  • Übersetzer: Jakob Vandenberg
  • Verlag: Elsinor
  • Erschienen: 05.2022
  • Einband: Broschiertes Taschenbuch
  • Seiten: 160 Seiten
  • ISBN: 978-3942788670

Tears for Fears

© Goldmann

Seit genau 22 Jahren verdingt sich der in Solihull gebürtige Engländer Mark Billingham nun schon als Autor von Kriminalromanen – wohlgemerkt neben seiner weit länger ausgeübten Tätigkeit als Stand-Up-Comedian, welcher er in der Heimat auch in erster Linie seine große Bekanntheit verdankt. Eben jene Bekanntheit, zu der es auf dem deutschen Buchmarkt bis heute nicht wirklich gereicht hat, obwohl seine Werke seit dem Erstling „Der Kuss des Sandmanns“ fast durchgehend veröffentlicht worden sind.

Doch diese Kontinuität täuscht, denn anders als die im Stil durchaus vergleichbare Kollegin Val McDermid, scheint Billingham hierzulande weiterhin auf der Suche nach dem sicheren Hafen zu sein. Zu Beginn noch fester Bestandteil des Goldmann Verlags, gab es anschließend ein kurzes Stelldichein bei Heyne, nur um inzwischen – aufgeteilt zwischen Atrium und Kampa Verlag – veröffentlicht zu werden. Die Tatsache, dass man dabei bereits auf Deutsch erschienene Bücher wieder unter einem neuen Titel herausgebracht hat, schadet nicht nur der Übersichtlichkeit, sondern macht es meines Erachtens auch schwierig, Leser längerfristig an diesen Autor zu binden.

Und genau das wäre durchaus wünschenswert, zählt doch Mark Billingham zu den wirklich lesenswerten Vertretern der britischen Krimi-Szene, wobei hier insbesondere die frühen Bände aus der Reihe Detective Inspector Tom Thorne herausstechen, da sie den klassischen britischen Police-Procedural gekonnt mit Elementen des amerikanischen Psychothrillers erweitern. Nachdem der Auftakt in dieser Hinsicht vor allem durch seine subtile Herangehensweise sowie durch seine unerwartete Reife überraschen und überzeugen konnte, kristallisiert sich nun in „Die Tränen des Mörders“ die eigentliche Marschrichtung mehr und mehr heraus. Und die hinterlässt weit deutlichere Abdrücke im literarischen Kopfsteinpflaster, spart der Autor doch jetzt auch drastischere Szenen nicht aus, was eine gewisse Resistenz in der Magen-Darm-Flora des Lesers voraussetzt. Die Subtilität ist eindeutig einer derben Anschaulichkeit gewichen – wohlgemerkt aber ohne dabei qualitativ in das niveaulose Metzgermilieu von Fitzek, Carter und Co. abzutauchen. Billinghams großes Verdienst ist es, genau hier einen formvollendeten Spagat hinzulegen und mit einem Bein fest im Realismus verankert zu bleiben, was sich besonders in seinem Hauptprotagonisten, Tom Thorne widerspiegelt.

Der sieht sich in „Die Tränen des Mörders“ mit einer Umstrukturierung der Londoner Metropolitan Police konfrontiert, denn die Ereignisse des 11. September haben auch in der Hauptstadt des Vereinigten Königreichs ihren Widerhall gefunden. Mehrere so genannte „Crime Groups“ wurden gebildet und Thorne, verantwortlich für die „Serious Crime Group“, wird nun zumeist mit den Fällen betreut, die in kein Schema passen wollen oder mangels Indizienlage allgemein als unlösbar gelten. Aktuell handelt es sich dabei um zwei Morde an Frauen, welche innerhalb kürzester Zeit hintereinander begangen worden sind. Beide Opfer scheinen auf dem Heimweg den Zug genutzt haben und wurden erwürgt, womit sich allerdings die Ähnlichkeiten auch erschöpfen, denn die Mordmethode war jeweils eine gänzlich andere. Während die allein erziehende Mutter vor den Augen ihres dreijährigen Kindes qualvoll und brutal getötet wurde, ist mit der zweiten verhältnismäßig vorsichtig umgegangen worden. Zudem finden sich bei Letzterer auch Spuren von Körperflüssigkeit – und zwar Tränen.

Sind es etwa die Tränen des Mörders? Und handelt es sich vielleicht um zwei verschiedene Täter? Durch die gewonnenen Erkenntnisse erscheinen jetzt auch zwei frühere Frauenmorde plötzlich in einem völlig neuen Licht. Gemeinsam mit seinem Kollegen Dave Holland und Neuzugang Sarah McEvoy nimmt Thorne die Ermittlungen auf – und scheut dabei auch wieder nicht die Konfrontation mit seinen Vorgesetzten, denen langsam aber sicher die Geduld ausgeht …

Falls jemand nun schon auf den Geschmack gekommen und im Begriff ist, sich dieses Buch (aktuell nur antiquarisch) zuzulegen, der sei dringend darauf hingewiesen, bitte nicht den Klappentext oder die Inhaltsangabe auf der Rückseite zu lesen. Wer immer für diesen Text damals verantwortlich gezeichnet hat, scheint vom Sternzeichen her Spaßverderber zu sein. Anders lässt sich nicht erklären, warum hier gleich die halbe Handlung gespoilert und damit dem etwaigen Lesern ein Großteil des Vergnügens verdorben wird. Doch zurück zum Inhalt zwischen den Buchdeckeln. Was auch bei „Die Tränen des Mörders“ wieder gleich auffällt: Mark Billingham leistet sich auch diesmal relativ wenige Anfängerfehler und schreibt weiterhin wie ein „alter Hase“, was durchaus nicht selbstverständlich ist, wenn man einen Blick auf die Frühwerke anderer Genre-Kollegen wirft, wo doch der ein oder andere einen mehr als holprigen Start hingelegt hat.

Vielleicht liegt es daran, dass Billingham sich vom ersten Band an (den man übrigens vorher unbedingt gelesen haben sollte!) auf seinen Hauptprotagonisten Tom Thorne fokussiert und er eine klare Vorstellung davon zu haben scheint, wohin sich die Figur (zumindest grob) entwickeln soll. Und Thorne ist auch der Triebwagen vor dieser Geschichte, bestimmt durch sein Handeln den Fortschritt der Ermittlungen und bleibt auch abseits der kriminalistischen Entwicklung für uns als Leser durchweg interessant. Vergleiche mit Ian Rankins John Rebus – ebenfalls auf dem Buch platziert – sind dabei jedoch vollkommen unangebracht, Ähnlichkeiten gänzlich aus der Luft gegriffen. Vom Beruf abgesehen, könnten beide kaum unterschiedlicher sein. Nicht nur besticht Thorne durch einen grauenvollen Musikgeschmack (Country), sondern er geht auch wesentlich offensiver mit den sich ihm stellenden Problemen um. Während ein John Rebus allabendlich seine Geister in Drams von Whisky ertränkt, ist Thorne eher Mitglied der Abteilung Attacke, wirft sich bissig, übereifrig und oft am Rande des Zorns in seine Arbeit. Eine Eigenschaft, die auch in diesem Fall deutlich zutage tritt – und ihn mehr als einmal in Schwierigkeiten bringt.

Billingham nimmt sich viel Zeit für seinen (Anti-)Helden, gewährt uns vor allem in Hinsicht auf dessen Beziehung zu seinem Vater neue Einblicke, vergisst darüber hinaus aber nicht, auch die anderen Mitglieder der „Serious Crime Group“ mit einzubeziehen. Wenn man unbedingt Parallelen zu Rankin ziehen möchte, wären sie dann eher in dieser Richtung angebracht, denn wie der Schotte in seinen späteren Romanen, so beginnt auch Billingham bereits hier sein London um weitere Perspektiven zu erweitern (siehe auch die Ausführungen im Epilog). Dave Holland und Phil Hendricks spielen diesmal eine weit größere Rolle als noch im Vorgänger. Und mit Sarah McEvoy gelingt ihm auf Anhieb eine weitere interessante Neubesetzung, deren Handlungsstrang zudem eine gewisse Tragik in sich birgt. Ihr Miteinander deutet daraufhin, dass der Autor seine Arbeit in Punkto Recherche gemacht hat, umschifft er doch geschickt die üblichen Klischees von toughen Bullen mit Sonnenbrille, sondern zeichnet ein authentisches Bild der Polizeiarbeit. Diese Detailtreue findet sich auch in der Ausarbeitung des bzw. der Antagonisten wieder. Anstatt uns Leser wie ein Jeffery Deaver mit stets den gleichen Soziopathen aus dem Sessel holen zu wollen, soll Billingham auch in den kommenden Bänden ein gutes Händchen beweisen, wenn es darum geht, erschreckende und verstörende, aber auch glaubhafte Bösewichte aus dem Hut zu zaubern.

Und wie schaut es beim Spannungsbogen aus? Wenn man zu Kritik ansetzen möchte, bietet sich leider an diesem Punkt die größte Angriffsfläche, denn Billingham bringt sich mit der Konzeption der Morde ein bisschen selbst in Bedrängnis, entnimmt viel zu früh ein elementares Gefahrenmoment aus der Handlung und lässt damit unnötig Dampf aus dem Kessel. Konkreter kann ich leider an dieser Stelle nicht werden, ohne zu viel zu verraten. Aber soviel sei gesagt: Der Autor legt den Hebel dann auch wieder recht schnell um, verengt seinen Fokus noch mehr auf Thorne und baut so erneut eine Suspense auf, die dann auch den Leser durchgängig bis zum Ende trägt, wenngleich dieser keine packende oder gar actionreiche Jagd erwarten sollte. Es handelt sich vielmehr um ein ruhiges, psychologisches Kräftemessen und Katz-und-Maus-Spiel, in dem die Gedanken der Gegenüber im Vordergrund stehen. Durch die konstanten Wechsel zwischen den Erzählebenen bleibt dabei das Tempo dennoch hoch, obwohl es zwischen all den falschen Fährten lange dauert, bis die Ermittler das vor ihnen ausgebreitete Puzzle zusammensetzen können.

Der Weg bis zur Auflösung ist für uns ein ziemlich düsterer und mitunter brutaler, da der Autor, wie bereits angedeutet, durchaus bildreich Tatorte und Handlungen des Mörders in Szene setzt. Die Tonalität passt sich hier eindeutig sowohl den Ereignissen als auch dem Setting selbst an, denn das winterliche London abseits der touristischen Hauptattraktionen kommt entsprechend trist und trostlos daher. Billingham nutzt Schauplätze und Jahreszeit geschickt aus, um bei seinem Publikum die gewünschten Bilder zu erzeugen, so dass man sich nicht selten dabei ertappt, wie Thorne selbst die Kälte zu spüren, dem überhaupt die Ermittlungen sichtlich zu schaffen machen.

Die Tränen des Mörders“ ist eindeutig keine Wohlfüllliteratur und will dies auch an keiner Stelle sein. Vielmehr zeigt der Roman deutlich und unzensiert die bösartigen Abgründe, in welcher der menschliche Geist abtauchen kann, welche Kräfte wirken können, wenn sich gewisse Konstellationen in der Vergangenheit zu deinen Ungunsten verschieben können. Billingham haut uns das unverblümt um die Ohren, nimmt keinerlei Rücksicht auf Etikette – und würde uns fast komplett vergessen lassen, dass hier tatsächlich ein Komiker die Feder geschwungen hat. Wäre, ja wäre da nicht dieser in all der Dunkelheit toll pointierte, zynische Humor, der dem Leser zwischendurch immer wieder ein Schmunzeln ins Gesicht zu zaubern vermag.

Die Auflösung ist letztlich schlüssig, wird jedoch etwas zu kurz und hastig abgehandelt und lässt leider auch ein paar Fragen (Wer war denn nun Caroline genau?) offen, was den Anschein erweckt, dass Billingham hier eventuell etwas unter Zeitdruck geraten ist. Das Gesamtergebnis trübt das nur bedingt. „Die Tränen des Mörders“ ist erneut eine gelungene Mischung zwischen Police-Procederual und Thriller. Keine Neuerfindung des Genres, aber eine nachtschwarze und schonungslose Variation des Bekannten, welche genau das liefert, was das Gros der Leser von einem Krimi erwartet – ziselierte und packende Spannung.

Wertung: 90 von 100 Treffern

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  • Autor: Mark Billingham
  • Titel: Die Tränen des Mörders
  • Originaltitel: Scaredy Cat
  • Übersetzer: Isabella Bruckmaier
  • Verlag: Goldmann
  • Erschienen: 08.2003
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 480 Seiten
  • ISBN: 978-3442455379

Die Geister, die ich rief

© Aufbau

Stephen King sollte sich vielleicht langsam Sorgen machen. Dem amerikanischen Bestseller-Autor, welcher jahrelang mit seinen Empfehlungen und Lobeshymnen auf den Buchdeckeln jede gefühlte zweite Krimi-Neuerscheinung als Meisterwerk angepriesen hat, wird scheinbar von James Ellroy und Ken Bruen immer mehr der Rang abgelaufen.

Besonders letzterer ist spätestens seit seiner auch in Deutschland erfolgreichen „Jack-Taylor“-Reihe offensichtlich ein neuer Gradmesser im „Hardboiled“-Genre. Und das, insbesondere der so genannte „Irish Noir“, ist wieder richtig gefragt. So verwundert es kaum, dass Bruens Name auch im Lesezeichen zu Stuart Nevilles Debütwerk „Die Schatten von Belfast“ mit positiver Werbung für seinen nordirischen Kollegen zu lesen ist. Es bleibt jedoch die Frage: Kann man diesen inoffiziellen Gütesiegeln wirklich blindlings vertrauen? Oder gibt der ein oder andere Autor seinen Namen eventuell etwas zu leichtfertig her?

Eins steht jedenfalls fest: Beim Aufbau-Verlag hatte man in der Vergangenheit immer wieder ein äußerst scharfes und gutes Auge für den besonderen Kriminalroman, welcher im gräulichen Einerlei des Mainstreams für Farbtupfer sorgt. Von Malla Nunns grandiosem und bitterschwarzem Noir-Erstling „Ein schöner Ort zu Sterben“ bis hin zum kitschigen Knast-Krimi „P. O. W. – Gefangen“ (nachträglich als Taschenbuch unter dem Titel „Das Camp“ neu erschienen). Die Palette des Verlagsprogramms Rütten & loening (wo der Titel ursprünglich als Hardcover erschien) ist trotz des geringen Umfangs erstaunlich reich an Facetten und, ja, eben irgendwie anders. Genau dieses Attribut trifft auch auf „Die Schatten von Belfast“ zu, welches uns die altbekannte Rache-Thematik in einem zwar nicht gänzlich neuen, aber bemerkenswert innovativen Gewand serviert.

Seit mehr als 75 Jahren hat er nun in Deutschland Bestand und ist für uns (leider) zur Selbstverständlichkeit geworden: der Frieden. In Irland konnte von ihm lange Zeit allenfalls geträumt werden. Jahrzehntelang tobte ein Krieg ohne wirkliche Fronten zwischen der IRA und den Unionisten, der tausenden Zivilisten das Leben kostete. Kollateralschäden, welche die jeweils andere Seite stets zum Anlass nahm ihrerseits Vergeltung zu üben. Dass dieser Kreislauf der Gewalt überhaupt gestoppt wurde, ist angesichts der so verhärteten Fronten fast ein kleines Wunder. Ein Wunder, an den sich aber manch einer immer noch nur schwer gewöhnen kann. Einer davon ist Gerry Fegan. Während des Höhepunkts des Nordirland-Konflikts galt er als der harte Mann der IRA. Zahlreiche Morde gingen auf sein Konto, bis er schließlich für viele Jahre ins berüchtigte Maze Prison wanderte. Als er nun im Jahre 2007 wieder herauskommt, hat sich die Welt verändert.

Seine einstigen Weggefährten haben sich mit der neuen Zeit arrangiert. Ehemalige IRA-Leute machen nun in Politik oder betreiben nebenbei das ein oder andere krumme Geschäft, um den Kitzel der Gefahr nicht gänzlich zu verlieren. Für Fegan jedoch bleibt dieser Frieden, dieses neue Belfast verschlossen. Seit seiner Zeit im Gefängnis wird er von den zwölf Geistern derer heimgesucht, die er auf dem Gewissen hat. Hartnäckig verfolgen sie jeden seiner Schritte, peinigen und martern sie ihn. Jeden Abend säuft Fegan sich ins Koma, um in Ruhe schlafen zu können. Doch die Schatten bleiben. Bis ihm eines Tages in einer Bar ein Ausweg gezeigt wird. Dort trifft er auf Michael McKenna, einen Jugendfreund aus IRA-Zeiten, der mittlerweile in der Politik seine Strippen zieht. Die Schatten wollen ihn tot sehen. Ihn und all die anderen, welche Fegan im Auftrag der IRA getötet hat. Dem bleibt keine andere Wahl. Er greift einmal mehr zur Waffe …

Wer sich nun „Die Schatten von Belfast“ als eine Mischung aus „Ein Mann sieht Rot“ und „The Sixth Sense“ vorstellt, der liegt damit gar nicht mal so falsch, denn Nevilles Thriller verbindet die Rache-Elemente des klassischen Hardboiled äußerst geschickt mit einer Prise des Übersinnlichen, wobei er, trotz einer kurzen psychologischen Erklärung, es im Großen und Ganzen dem Leser überlässt, ob die Geister „Realität“ oder nur Einbildung des Protagonisten sind. Wer mit solch mystischen Einflüssen jetzt wenig anfangen kann, sei aber vorab beruhigt. Neville baut Fegans Schatten nur dort ein, wo es wirklich notwendig ist und tut dies meist sehr dezent. Dennoch machen sie das Spannungselement dieses Krimis aus, da sie innerhalb der Handlung die Richtung angeben und man durch sie von Beginn an weiß, wie viele Menschen sterben müssen (Der englische Titel lautet deswegen auch „The Twelve“). Das trotz der düsteren Vergangenheit Gerry Fegan die Sympathien des Lesers hat, liegt dann auch nicht nur an dessen gezeigter Reue, sondern an der Tatsache, dass hier jemand das Gesetz in die Hand nimmt, der es selbst oft gebrochen hat.  Doch was hat Neville aus dieser sehr intelligent konzipierten Ausgangssituation nun gemacht?

Eine Beantwortung dieser Frage ist schwierig, da man „Die Schatten von Belfast“ mit zweierlei, streckenweise sogar dreierlei Maß messen muss. Eins wird jedenfalls schon zu Beginn deutlich. Stuart Neville schreibt über ein Thema, das ihm nicht fremd ist und das er wohl jahrelang selbst als betroffener Bewohner dieser Region Nordirlands miterlebt hat. Nur so lässt sich jedenfalls erklären, wie sensibel und scharfsinnig er hier den brüchigen Frieden seziert, der eigentlich eher ein beidseitiger Waffenstillstand für die Öffentlichkeit ist.

Außerhalb des Rasters, unter der Oberfläche und im Verborgenen, wird weiterhin, wenn auch auf andere Art und Weise, Krieg geführt. Aus Bomben sind nun Rednerpulte geworden. Der Flecktarn wurden gegen den Nadelstreifenanzug ausgetauscht. Die IRA ist nicht tot, sondern lediglich Teil der Politik geworden. Nicht zuletzt auch deswegen, weil terroristische Anschläge spätestens seit dem 11. September keinerlei Akzeptanz mehr in der Bevölkerung finden. Der Nimbus des irischen Freiheitskämpfers ist verloren gegangen. Und die finanzielle Unterstützung irischstämmiger US-Amerikaner damit zu einem Rinnsal verebbt. Das wissen auf der anderen Seite auch die Briten, die ihre militärische Präsenz zwar reduziert, ihr Engagement in Nordirland aber keinesfalls aufgegeben haben. Stattdessen versuchen sie es nun mit Bespitzelung und Bestechung, um die im Untergrund operierenden Gegner im Zaum zu halten. In „Die Schatten von Belfast“ ist der schottische Agent Davy Campbell ihr verlängerter Arm, den man in den engeren Kreis der alten IRA-Riege eingeschleust hat. Als Gerry Fegan seinen Rachefeldzug beginnt, wird Campbell auf ihn angesetzt, da beide Seiten verhindern wollen, dass das Karfreitagsabkommen, der so genannte Stormont, nicht scheitert.

Hätte Neville in Punkto Figurenzeichnung dasselbe Feingefühl bewiesen, „Die Schatten von Belfast“ hätte durchaus das Zeug zum Volltreffer gehabt. Hier offenbart sich aber vielleicht sein Bezug zum Filmgeschäft (Neville ist Hand-Double für einen irischen Schauspieler), denn die Besetzung könnte so auch in einem Mafia-Schinken von Scorsese zu sehen sein. Dass an sich wäre nicht gravierend, würde die Sprache nicht derart blumig und gestelzt ausfallen. Was in einem Drehbuch vielleicht funktioniert, beißt sich hier stellenweise mit der knallharten, mitunter sogar sehr brutalen Geschichte und sorgt für den ein oder anderen ungewollten Lacher. Nicht zum Lachen dagegen ist die Bearbeitung der deutschen Buchausgabe. Da Übersetzer Armin Gontermann bei Malla Nunns „Ein schöner Ort zu sterben“ einen sehr guten Job gemacht hat, ist hier wohl in erster Linie das Lektorat und besonders die Korrekturabteilung zu kritisieren. So viele fehlende oder falsch gesetzte Satzzeichen, Wörter und grammatikalisch holpernde Sätze hat man selten derart geballt auf einem Haufen gesehen.

Dass diese Lektorats-Versäumnisse dem Lesevergnügen nicht gänzlich abträglich sind, liegt letztlich besonders an einem: der Spannung. Die versprüht das Buch nämlich trotz aller Holperer bis zum Schluss und macht es dem Leser mitunter unmöglich, den Buchdeckel überhaupt zuzuklappen. Besonders das Ende gerät grandios düster und atmosphärisch, wenngleich, bedingt durch den Auftrag der Geister, natürlich vielleicht etwas vorhersehbar.

Mich persönlich hat das wenig gestört. „Die Schatten von Belfast“ ist knallharte und rasante Hardboiled-Unterhaltung, welche in ihrer Kurzweil und Intensität einfach Laune macht und der man, nicht nur weil es sich um ein Debütwerk handelt, manchen Fehler gerne verzeiht. Wer Lee Child mag, dürfte auch hier ordentlich auf seine Kosten kommen und im Anschluss mit Sicherheit zum nächsten Band „Blutige Fehde“ greifen.

Wertung: 85 von 100 Treffern

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  • Autor: Stuart Neville
  • Titel: Die Schatten von Belfast
  • Originaltitel: The Twelve / The Ghosts of Belfast
  • Übersetzer: Armin Gontermann
  • Verlag: Aufbau Verlag
  • Erschienen: 08.2012
  • Einband: Hardcover
  • Seiten: 448 Seiten
  • ISBN: 978-3746628578

Master of Puppets

© Goldmann

Was haben das Album einer neuseeländischen Rock-Gruppe und ein Dokumentarfilm über das schottische Parlament mit dem zwölften Band aus der Reihe um Detective Inspector John Rebus zu tun? Nun, sie bildeten quasi den Ausgangspunkt für die Geschichte von „Puppenspiel“, der rückblickend zu einem von Sir Ian Rankins wichtigsten Romanen werden sollte, markiert er doch den Zeitpunkt, ab dem er endgültig komplett vom Schreiben leben konnte – und damit das Ende einer mehr als 12-jährigen, finanziell nicht immer auf Rosen gebetteten Lehrzeit. Geduld, so stellt er heute selbst fest, ist daher die vielleicht wertvollste Tugend, welche man sich als angehender Schriftsteller zu Eigen machen kann. Geduld, für die richtige Idee zur richtigen Zeit. Für einen Verleger, der den Wert und die Chancen hinter dieser Idee nicht nur erkennt, sondern auch wertschätzt. Und Geduld für den Moment, an dem sich all dieser Fleiß und die Hingabe auszahlt.

Wer sich bereits ein paar Interviews mit Sir Ian Rankin angeschaut hat, der erkennt und versteht, dass sich dieser Schotte nicht nur seiner Heimat Fife und der naheliegenden Stadt Edinburgh auf eine besondere Art verbunden fühlt, sondern schon seit seiner Kindheit in Cardenden an, der Faszination des geschriebenen Wortes genauso erlegen ist, wie dem Zauber der Musik. Von der Comic-Lektüre über das Schreiben eigener kleiner Kurzgeschichten und Gedichte bis hin zum Studium von Muriel Spark und seinem ersten eigenen Werk „Verborgene Muster“ (engl. „Knots and Crosses“). Von Abenden in Tanzlokalen und einer kurzen Zeit als Sänger in der Punkband „Dancing Pigs“ bis hin zur Zusammenarbeit mit Jackie Leven. Literatur und Musik haben Sir Ian Rankins Werdegang beeinflusst, gelenkt und letztlich auch den speziellen Charakter und Charme seiner Bücher geformt. So ist es fast folgerichtig, dass ihn beide Elemente immer wieder zu Ideen inspirieren – er stets aufs Neue aus Musikalben und Songtexten seine Ideen bezieht und diese dann nicht selten dann auch den Ton des Buchs bestimmen. „Puppenspiel“, dessen englischer Original-Titel „The Falls“ lautet, ist dafür einmal mehr ein treffendes Beispiel.

Bei „The Falls“ handelt es sich einen Song der neuseeländischen Band „Mutton Birds“ aus dem Album „Rain, Steam and Speed“, über das Rankin nach seinem ersten Aufenthalt in Neuseeland Anfang der 2000er beim fernsehen in einem Werbespot stolperte. Er kaufte es sich kurzerhand am Flughafen, hörte es sich zuhause in Edinburgh an – und blieb am langsamen, quälend eindringlichen und mythischen Sound des Liedes hängen. Der Text handelte davon, wie der Mensch sich in seiner unersättlicher Neugier die Welt erfindet und hat eine besonders prägende Zeile im Refrain:

There must be a story behind all that …

Dieser Satz schien Rankins eigenen inneren Antrieb zum Schreiben zusammenzufassen und sollte ihm kurz darauf direkt wieder durch den Kopf spuken, als er für ein französisches Fernsehteam im Untergeschoss des damals gerade erst eröffneten Museum of Scotland ein Interview über das neue Parlamentsgebäude gab (Der Autor verfolgte zu der Zeit die Baukosten, den gewählten Standort und die ganze Notwendigkeit, mehr Bürokratie einzurichten, mit großer Skepsis). Ein Museumsarbeiter erkannte den Autor wieder und bat ihn darum, sich die „Püppchen“ im vierten Stock in der Abteilung „Religion und das Leben nach dem Tod“ anzusehen. Eher widerwillig kam er diesem Ansinnen nach und sah dort erstmals die „Särge vom Arthur’s Peak“. Kleine, geschreinerte Miniatursärge mit darin bestatteten Holzpüppchen, welche man 1836 in einer Höhle des „Arthur’s Peak“-Hügels entdeckt hatte und über deren Herkunft und Bedeutung bis zum heutigen Tage ohne eine abschließende Deutung diskutiert wird. „There must be a story behind all that …“ Rankin sah sofort die Gelegenheit, seinerseits eine Deutung zu liefern, wo eine historische „Wahrheit“ bislang gefehlt hatte, begann mit der Recherche und hatte einige Monate später seinen Plot. Und dieser sei kurz angerissen:

Edinburgh, Anfang der 2000er Jahre. Nicht nur ein neues Jahrtausend ist angebrochen, auch sonst scheint die Welt rund um Detective Inspector John Rebus von der Mordkommission im Revier St. Leonard’s Street im Wandel begriffen. Mit seinem Vorgesetzten Chief Superintendent Thomas „Farmer“ Watson geht eine langjährige Konstante in Rebus‘ beruflichen Leben endgültig in den Ruhestand. Ihr Verhältnis war von Gegensätzlichkeit, aber auch von großem Respekt geprägt. Watson, um die Stärken des unkonventionell agierenden Detectives wissend, hatte immer wieder mehr als nur ein Auge zugedrückt oder ganz weggeschaut, selbst den zuletzt immer exzessiver werdenden Alkohol- und Nikotinkonsum so gut und lang es ging ignoriert. Nun rückt auf seine (lange von Männern dominierte) Position die Karrierefrau Gill Templer nach, die nicht nur eine komplizierte gemeinsame (wenngleich kurze) Vergangenheit mit Rebus verbindet, sondern ungünstigerweise direkt mit einem Aufsehen erregenden Fall konfrontiert wird:

Philippa Balfour, junge Studentin und Tochter des stadtbekannten Privatbankiers John Balfour, ist wie vom Erdboden verschluckt. Sie hatte sich eigentlich mit Freunden für denselben Abend verabredet, ist aber nie am Treffpunkt angekommen. Der erste Verdacht fällt direkt auf ihren Freund David Costello, dem Rebus und seine Kollegin Detective Sergeant Siobhan Clarke sogleich einen Besuch abstatten. Während Letztere sich durch den Rechner der Vermissten wühlt und dabei in deren eMails über ein seltsames Online-Rollenspiel stolpert, an dem Philippa augenscheinlich teilgenommen hat, fühlt Rebus wiederum Costello auf den Zahn. Der ist selbst Sohn gut betuchter Eltern und muss zugeben, Philippa nach einem heftigen Streit verlassen zu haben. Beweise für eine Gewalttat gibt es aber keine, was John Balfour jedoch nicht davon abhält, seine Beziehungen spielen zu lassen und sämtliche Reviere für eine Großfahndung in Bewegung zu setzen. Der Druck von Öffentlichkeit und Medien steigt schnell – und mit ihm die Nervosität in der polizeilichen Führungsetage.

Rebus wird nach einem nächtlichen alkoholischen Absturz in Costellos Wohnung ein Arzttermin aufgedrückt. Gill Templer hofft ihn so aus dem Dunstkreis der Ermittlungen herauszuhalten. Eine weitere Gelegenheit ergibt sich in dem kleinem Dorf Falls. Hier hat eine Einwohnerin einen kleinen Holzsarg an dem namensgebenden Wasserfall gefunden. An sich keine nennenswerte Entdeckung, würde nicht unweit der schlossähnliche Familiensitz der Balfours liegen. Widerstrebend begibt sich Rebus in die ländliche Provinz, tut den bizarren Fund aber schnell als makabren Scherz ab und hat dabei sogar die Finderin selbst im Verdacht. Dennoch ist sein Interesse geweckt. Ist der Zeitpunkt wirklich ein Zufall? Oder ist die Aktion eine Botschaft an Philippas Eltern? Bei seinen Nachforschungen macht er kurz darauf die Bekanntschaft mit Dr. Jean Burchill, eine Historikerin im Museum of Scotland und Expertin für ein paar besondere Ausstellungsstücke: Sechzehn Miniatursärge gleicher Machart, die 1836 entdeckt wurden und für deren Bedeutung es mehrere Theorien gibt. Eine davon bezieht sich direkt auf die Zahl, denn das in Edinburghs Geschichte berüchtigte Duo Burke und Hare, beide in den 1820er Jahren als Leichenhändler tätig, hatte der Legende nach genau die gleiche Anzahl an Männern und Frauen getötet – und deren Körper anschließend an die Anatomie der Universität verkauft.

Gibt es hier vielleicht eine Verbindung? Während er gemeinsam mit einem kleinen Team geschichtliche Recherche betreibt, nimmt Siobahn per eMail Kontakt mit Philippas Questgeber auf. Der mysteriöse „Quizmaster“ stellt ihr mit steigendem Schwierigkeitsgrad immer kompliziertere Rätsel. Und im Versuch, sich auch ohne John Rebus an ihrer Seite bei einer Ermittlung beweisen zu können, wird Siobhan plötzlich unvorsichtig …

Vorab: Wer nach dem äußerst komplex aufgebauten und mit einer Vielzahl verschiedenster Figuren bevölkerten elften Band, „Der kalte Hauch der Nacht“ (das mir – siehe Rezi – hervorragend gefallen hat), ein ähnliches „Ungetüm“ befürchtet hat, den kann ich an dieser Stelle beruhigen. Sir Ian Rankin geht mit der Menge an Charakteren weit sparsamer um als im Vorgänger und fährt auch nicht annähernd so viele parallele Handlungen auf. Ob das gut oder schlecht ist – daran scheiden sich sicherlich die Geister. Ich habe in jeden Fall sowohl positive als auch negative Aspekte in dieser veränderten Strategie ausmachen können, wobei erstere – einmal mehr – überragen, denn auch „Puppenspiel“ legt wieder Zeugnis von der hochkarätigen Klasse dieses Ausnahme-Autors ab.

Rankin hat seine Perspektive über die Jahre von dem sehr engen narrativen Fokus auf den einsamen Wolf Rebus hin zu einem viel umfassenderen Weitwinkel erweitert, in dem auch anderen Protagonisten aus der Serie nun immer mehr Aufmerksamkeit zuteil wird. Das scheint jedoch weniger eine bewusste Entscheidung des Autors, als folgerichtige Entwicklung, hat doch der grimmige Einzelgänger zunehmend seine Schwierigkeiten mit dem Wandel der Zeit mitzuhalten. Rebus wird langsam aber sicher zu einem Auslaufmodell, das zwar immer noch mit unkonventionellen Methoden Erfolge verbuchen kann, dafür aber auch inzwischen auf die Mithilfe anderer angewiesen ist. Das Zeitalter der Informanten und kurzen Dienstwege neigt sich dem Ende zu. Modernste Techniken ersetzen diese antiquierten Methoden – und damit auch den ehemals scheinbar unvermeidlichen Gang in die verrauchten Gefilde der Pubs. Für Rebus ist alles rund um das Thema Computer unbekanntes Terrain. Eine Welt, in der er sich komplett verloren fühlt – und die er daher gerne Kollegen, wie eben Siobahn Clarke, überlässt.

Die hatte in der Vergangenheit allenfalls angedeutet, wozu sie fähig ist, erhält nun aber ihren „moment to shine“. Mit dem Vorwurf konfrontiert, zu einem Abbild ihres Mentors Rebus zu werden, hängt sie sich besonders herein, um zu beweisen, dass sie mit ihren ganz eigenen Fähigkeiten glänzen kann. „Puppenspiel“ ist nicht nur ihre endgültige Feuertaufe – es ist auch der Abschluss dieser oben erwähnten Entwicklung. Spätestens ab jetzt ist das nicht mehr allein eine Reihe um Detective Inspector John Rebus, der ihr in diese virtuelle Welt auch in Zukunft nur widerwillig folgen und sich lieber auf alte Stärken – und damit auf die Suche nach greifbaren, konkreten Indizien – besinnen und beschränken wird. Für den Leser ist das meines Erachtens eine absolute Win-Win-Situation, ist es doch sonst in vielen Krimis sehr oft der Fall, dass die Erzählung unter den regelmäßigen Perspektivwechseln leidet, ein Spannungsbogen unnötig in die Länge gezogen oder – noch schlimmer – das Spannungsmoment gänzlich verschleppt wird.

In „Puppenspiel“ haben beide – Rebus und Clarke – gleich viel „Screentime“. Es ist ebenso sehr Siobhans wie Rebus‘ Buch. Und von dieser Gleichberechtigung profitiert der Roman in besonderem Maß, zumal beide neben den beruflichen, eben auch mit privaten Themen zu kämpfen haben. Während Siobhan sich der Avancen ihres Kollegen Detective Grant erwehren muss, mit dem sie gemeinsam die Rätsel zu lösen versucht, ist Rebus erneut im Clinch mit den eigenen Dämonen und Geistern der Vergangenheit. Nicht zum ersten Mal hinterfragt er, angesichts all der gebrachten Opfer, den Sinn seiner Arbeit. Gute Freunde sind tot (hier gelingt Ian Rankin im Buch eine der stärksten Momente der Serie), seine Tochter ihm weiterhin fern und fremd – und auf eine richtige Beziehung kann und will er sich auch nicht einlassen. Und das obwohl er durchaus Gefühle für Dr. Jean Burchill entwickelt, die zudem noch erwidert werden. Aber wie soll er ihr seinen inneren Konflikt erklären? Wie soll er ihr verständlich machen, dass allein sein Beruf ihn definiert und es so etwas wie Feierabend, für ihn nicht gibt?

(…) „Was für eine herrliche Stadt“, sagte sie. Rebus gab sich Mühe, ebenso zu empfinden. Die Schönheiten der Stadt fielen ihm kaum mehr ins Auge. Für ihn war Edinburgh eine Art Gemütszustand: ein Herumjonglieren mit den Beweggründen krimineller Machenschaften und mit den niederen Instinkten anderer Leute. Er mochte die kompakte Bauweise ihrer Stadt und ihre Größe. Und er mochte ihre Bars. Doch ihr äußeres Erscheinungsbild beeindruckte ihn schon lange nicht mehr. Jean kuschelte sich etwas enger in ihren Mantel. „Wohin man auch schaut, überall Geschichten und historische Reminiszenzen.“ Sie sah ihn an, und er nickte zustimmend. Doch in Wahrheit dachte er nur an die zahllosen Selbstmorde, mit denen er zu tun gehabt hatte, an die Leute, die von der North Bridge gesprungen waren, weil es ihnen offenbar nicht gelungen war, dieselbe Stadt zu sehen wie jetzt Jean.

„Ich kann mich an diesem Ausblick einfach nicht satt sehen.“, sagte sie und ging dann weiter Richtung Auto. Wieder nickte er, nicht ganz aufrichtig. Denn für ihn handelte es sich nicht um einen Ausblick, sondern vielmehr um eine Ansammlung potenzieller Tatorte. (…)

Rankin investiert diesmal viel Zeit in die Ausarbeitung und Erweiterung seiner Charaktere, macht deutlich, dass auch ein John Rebus den Zahn der Zeit zu spüren beginnt und er nicht in einer künstlichen Blase lebt, die in kommenden Bänden unangetastet bleiben wird. Dieser Mut zur Veränderung hebt den Schotten von einer Vielzahl seiner Konkurrenten ab, die jedes Jahr aufs Neue ein und denselben Stereotyp aus ihrer Schublade ziehen und allein den Schauplatz und die restliche Besetzung etwas variieren. Bestes Beispiel dafür ist Rebus‘ Gedanke, seine Wohnung in der Arden Street endgültig zu verlassen. Das Wohngebiet ist längst komplett in der Hand von Studenten, keinen seiner Nachbarn kennt er noch persönlich. Warum er diese Entscheidung am Ende des Buches dann doch nochmal ändert, ist ein weiteres Highlight des Buchs.

Das ist wiederum – Rankin-typisch – kein Pageturner im klassischen Sinne, entwickelt aber eine immense Sogkraft, welche den Leser immer tiefer in die Handlung und die Gassen der Stadt Edinburgh hineinzieht. So kann ich sogar verschmerzen, dass die Auflösung selbst mich nicht mehr wirklich überrascht hat. Auch weil bei Rankin seit jeher das „Warum?“ Vorrang vor dem Genre-typischen „Wer?“ hat. Und in dieser Hinsicht macht er wieder einen fantastischen Job.

Wer es an der Länge meiner (vollkommen ausgeuferten) Besprechung noch nicht hergeleitet hat, dem sei also nochmal zusammenfassend gesagt: „Puppenspiel“ ist ein düsterer, melancholischer, aber auch immer wieder äußerst schwarzhumoriger Police-Procedural (den „Tartan Noir“ hat er für mich hiermit hinter sich gelassen) über die Brüchigkeit bürgerlicher Fassaden, der ein paar der besten Dialog- und Monologzeilen der gesamten Serie beinhaltet und für viele Stunden auf höchstem Niveau unterhält. Da verzeiht man dem Autor sogar, dass er Gerald Cafferty, Rebus‘ Nemesis, diesmal auf der Ersatzbank gelassen hat. Unbedingte Leseempfehlung!

Wertung: 91 von 100 Treffern

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  • Autor: Ian Rankin
  • Titel: Puppenspiel
  • Originaltitel: The Falls
  • Übersetzer: Christian Quatmann
  • Verlag: Goldmann
  • Erschienen: 03/2004
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 640 Seiten
  • ISBN: 978-3442456369

Agatha Christies Reifeprüfung

© Atlantik

Nach den unruhigen Tagen und dem Aufruhr rund um ihr mysteriöses Verschwinden und das endgültige Scheitern ihrer Ehe im Dezember 1926 (siehe auch meine Rezension zu „Die großen Vier“) reiste Agatha Christie zu Beginn des kommenden Jahres gemeinsam mit ihrer siebenjährigen Tochter Rosalind auf die Kanarischen Inseln. Gesundheitlich war die Schriftstellerin zu diesem Zeitpunkt in einer äußerst schlechten Verfassung und psychologisch ebenfalls schwer angeschlagen. Die Scheidung von ihrem ersten Ehemann, Archibald Christie, stand bevor und der kürzliche Tod ihrer Mutter verursachte ihr noch ebenso viel Kummer, wie der „Verrat“ vieler sogenannter Freunde, welche ihr in der Zeit der Not den Rücken zugewandt hatten. Hinzu kam die Angst vor finanziellen Engpässen, die mit einer anstehenden Trennung einhergehen würden. Alles andere, als die perfekte Ausgangslage, um ein neues Buch in Angriff zu nehmen.

Im Februar 1927 blieb Agatha Christie aber schlichtweg nichts anderes übrig – die erwähnte Geldnot und ein Vertrag zwangen sie dazu – als erneut zur Feder zu greifen. Wie schon bei „Die großen Vier“, so suchte sie auch diesmal Hilfe bei sich selbst. Da Christie enorme Probleme bei der Komposition eines passenden Plots hatte, griff sie kurzerhand die bereits 1923 erschienene Kurzgeschichte „Das Geheimnis des Plymouth-Express“ (hierzulande erst 1977 im Sammelband „Auch Pünktlichkeit kann töten“ veröffentlicht) wieder auf und schrieb diese zu einem kompletten Roman um. Das Ergebnis ist „Der blaue Express“, welcher knapp ein Jahr später, zuerst als Fortsetzungsroman in der Londoner Abendzeitung „The Star“, in achtunddreißig Folgen von Februar bis März das Licht der Welt erblickte – und im Laufe der Zeit zu einem großen finanziellen Erfolg für die Autorin wurde. Auch die Kritiker waren voll des Lobes für das Werk, das Christie selbst bis zuletzt nur mit der schlimmsten Phase ihres Lebens verband. In ihrer Autobiografie beschrieb sie gar, den ganzen Schreibprozess „immer gehasst“ und das Zählen der Wörter als „Tortur“ empfunden zu haben.

“(…) I could not see the scene in my mind’s eye, and the people would not come alive.” (…) „I found it commonplace, full of clichés and with an uninteresting plot.“ (…)

Der blaue Express“ markiert daher für heutige Literaturwissenschaftler den Wendepunkt in Agatha Christies langer Karriere als Schriftstellerin, den finalen Schritt vom Amateur zum Profi, vom Hobby- zum Berufsschreiber, der eben auch dann ein Werk vollenden und abliefern muss, wenn alle privaten Umstände es auf den ersten Blick eigentlich unmöglich machen. Die spätere Queen of Crime – sie wuchs mit diesem Roman und zog aus ihm auch ihre Lehren. In einen ähnlichen Zugzwang beim kreativen Prozess des Schreibens wollte sie fortan nie wieder geraten, weshalb sie bis in die 1940er Jahre zwei Manuskripte zurückhielt – für den Fall, nochmal in eine ähnliche Schaffenskrise zu geraten. Zwei Joker in ihrem Blatt, die später zu den besten Vertretern ihres Lebenswerks gehören sollten: „Ruhe unsanft“ und „Vorhang“. Letzterer Titel ist auch ein weiterer Hinweis darauf, dass sich Christie spätestens zu diesem Zeitpunkt („Alibi“ deutete es ja schon an) einen Ausweg zurechtgelegt hatte, um Hercule Poirot loswerden zu können. Wie Sir Arthur Conan Doyle so viele Jahre vor ihr, so schien auch sie hier ihres Helden bereits überdrüssig, dessen Popularität in der Bevölkerung aber inzwischen ähnliche Höhen erreicht hatte, wie einst Sherlock Holmes. Neben diesen beiden Jokern auf der Hand, zog sie daher zwei Jahre nach „Der blaue Express“ noch ein Ass aus dem Ärmel. In „Mord im Pfarrhaus“ betrat mit Miss Marple erstmals eine neue Hauptfigur die Bühne und erlaubte ihr im weiteren Verlauf ihrer Karriere eine gewisse Unabhängigkeit von dem egozentrischen Belgier.

All diese oben beschriebenen (auch im Nachwort der alten Fischer-Ausgabe nachzulesenden) Umstände und Informationen sollte der Leser meines Erachtens im Hinterkopf haben, wenn er zur Lektüre dieses Buches und auch zu einer späteren Bewertung ansetzt. Sie sind mit Sicherheit ein Grund dafür, warum „Der blaue Express“ Christies übliche Leichtigkeit und Leichtfüßigkeit im Umgang mit ihren sonst so lebendigen Figuren vermissen lässt und sich stattdessen ein äußerst verkrampfter und sperriger Stil durch das ganze Buch zieht. Nichtsdestotrotz, so viel sei vorangestellt, stellt der Roman eine erhebliche Steigerung zum so viel schwächeren Vorgänger „Die großen Vier“ dar. Eben weil es Christie wieder einmal gelingt, auf kleinstem Raum einen relativ verwinkelten Kriminalfall zu inszenieren, dessen Rahmenhandlung an dieser Stelle kurz angerissen sei:

Der amerikanische Multi-Millionär Rufus van Aldin hat endgültig genug von seinem verschwenderischen und notorisch untreuen Schwiegersohn Derek Kettering und überredet seine Tochter Ruth zur Scheidung. Als brave Tochter beugt sich diese (scheinbar) dem Willen ihres Vaters und besteigt kurz darauf den Train Bleu, den blauen Express, einen Luxuszug zwischen Calais und Ventimiglia, um an die Französische Riviera zu reisen – und um sich dort mit ihrem heimlichen Geliebten zu treffen. Lebend soll sie dort niemals ankommen. Ihre Leiche findet man erdrosselt und mit bis zur Unkenntlichkeit entstelltem Gesicht in ihrem Abteil. Die Geschenke ihres Vaters, eine Sammlung wertvoller Rubine, unter denen sich auch das sagenumwobene „Feuerherz“ befindet, sind verschwunden. Angeblich hatte sie zuvor Besuch von einem fremden Mann, weswegen die lokale Polizei sogleich von einem Raubmord ausgeht. War es vielleicht sogar Derek Kettering, der sich auch unter den Passagieren des Zugs befindet? Ein kleiner, belgischer Fahrgast mit grünen Augen und Eierkopf ist davon nicht ganz überzeugt und stürzt sich, obwohl eigentlich im Ruhestand, sogleich in die Ermittlungen. Und findet in Katherine Grey, die ihren ersten Winter außerhalb Englands verbringen will, eine unerwartete Verbündete bei seinen Nachforschungen …

Mord in einem Zug? Da war doch was? Lässt man die bereits erwähnte Vorlage „Das Geheimnis des Plymouth-Express“ mal außer Acht, stoßt der Leser hier erstmals auf dieses Motiv, dessen sich Agatha Christie einige Jahre später in ihrem wohl erfolgreichsten und bekanntesten Roman, „Der Mord im Orient-Express“, erneut bedienen wird. Und dort, das muss man an dieser Stelle konstatieren, auch um einiges ausgereifter und komplexer ausarbeitet, denn „Der blaue Express“ krankt vor allem an einer, für einen Whodunit sehr wesentlichen Schwäche: Er wartet schlichtweg mit viel zu wenigen wirklichen Verdächtigen auf, wodurch ein möglicher Täter trotz Christies üblichem Kartenspiel und den unter-welchem-Hütchen-ist-die-Kugel-Tricks zumindest relativ schnell einzukreisen ist. Obwohl ich mich selbst in diesem Genre gerne am Nasenring durch die Manege ziehen lasse, kam auch ich nicht umhin, während der Lektüre gewisse Indizien früh deuten zu können, wenngleich es dann am Ende nicht ganz für alle Zusammenhänge gereicht hat. Hier bleibt uns Lesern Hercule Poirot also dennoch ein paar kleine Trippel-Schritte – und die ein oder andere Überraschung – voraus.

Dessen etatmäßiger Begleiter Captain Hastings (in „Das Geheimnis des Plymouth-Express“ an seiner Seite) fehlt jedoch auffallend und kann durch die eher blasse Miss Katherine Grey nicht ansatzweise gleichwertig vertreten werden. Interessant ist jedoch, zumindest für den eingefleischten Krimi-Kenner und Christie-Gourmet, dass die gute Miss Grey ihre Heimat in einem beschaulichen kleinen Dörfchen namens St. Mary Mead hat. Genau das Fleckchen Erde in dem niemand geringeres als Miss Marple, an deren Entstehung Agatha Christie wie bereits erwähnt direkt nach der Veröffentlichung dieses Romans arbeitete, ihre berühmten Fälle lösen wird.

Während in vielen Poirot-Fällen dem Hauptprotagonist oft gar nicht so viel Raum in der Handlung zuteil wird, ist „Der blaue Express“ doch deutlich – und man muss vielleicht sogar sagen zwangsweise – auf den kleinen belgischen Meisterdetektiv ausgerichtet. Das ist Fluch und Segen zugleich, da einerseits der Mord nicht genug Futter hergibt, um für dessen graue Zellen eine wirkliche Herausforderung darzustellen, wir andererseits ihm aber viel näher als sonst über die Schulter schauen dürfen und seine, trotz fehlender Bescheidenheit, charmante und zutiefst sympathische Art für enorm viel Kurzweil sorgt. Poirot, in „Alibi“ eigentlich schon zwischen Cottages und Kürbissen aufs Altenteil und Abstellgleis geschoben, wirkt hier deutlich revitalisiert und verjüngt – und deutet an, dass er vielleicht doch noch nicht zum alten Eisen gehört. Wer konnte zu diesem Zeitpunkt auch ahnen, dass er seine größten Momente und Fälle sogar noch vor sich haben sollte?

Trotz der Widrigkeiten bei der Entstehung, ein paar Ungereimtheiten im Plot und dem übersichtlichen Kreis der Verdächtigen – mit „Der blaue Express“ gelingt Agatha Christie eine merkliche Steigerung zu „Die großen Vier“ und ein heute noch lesenswertes, weil unterhaltsames und atmosphärisches Krimi-Kammerspiel auf der Schiene, an dem Fans und Freunde der Autorin sowie grundsätzlich Liebhaber des klassischen Kriminalromans des Golden Age gleichermaßen ihre Freude finden werden. Also Ticket ziehen, Abteil besteigen, zurücklehnen, miträtseln und sich (ein bisschen) verblüffen lassen.

Wertung: 84 von 100 Treffern

einschuss2
  • Autor: Agatha Christie
  • Titel: Der blaue Express
  • Originaltitel: The Mystery of the Blue Train
  • Übersetzer: Gisbert Haefs
  • Verlag: Atlantik
  • Erschienen: 03/2018
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 320 Seiten
  • ISBN: 978-3455002249

He’s cold as Ice

© Zsolnay

„Sein letzter Trumpf“ ist der siebte, beim Zsolnay-Verlag erschienene Roman aus der Reihe um den leidenschaftslosen und eisenharten Berufsverbrecher Parker. Eine Figur, die für ein paar Jahre trotz (oder gerade wegen) seiner kriminellen Ader zu einem festen Bestandteil der deutschen Krimi-Szene geworden war – nur um mittlerweile leider wieder in der Versenkung zu verschwinden.

Ihr Schöpfer, der amerikanische Schriftsteller Donald E. Westlake, welcher die Parker-Bücher unter dem Pseudonym „Richard Stark“ veröffentlichte, weilt bereits seit dem Silvesterabend 2008 nicht mehr unter den Lebenden. Seit diesem Jahr versorgte Zsolnay die Leser hierzulande im chronologischen Rückwärtsgang mit neuen Episoden. „Sein letzter Trumpf“ wurde im amerikanischen Original bereits 1998 publiziert und von Stephen King als Einstieg in die Lektüre Richard Starks empfohlen. In diesem Fall ein gutgemeinter Rat, den man tatsächlich beherzigen sollte, ist doch dieser Titel nicht nur ohne jegliche Vorkenntnisse lesbar (anders als bei „Fragen sie den Papagei“ oder „Das Geld war schmutzig“), sondern gleichzeitig auch einer der besten aus Starks späterer Schaffensperiode.

Der letzte Raubüberfall ist, wenn auch mit personellen Verlusten, gerade über die Bühne gegangen, da lockt Parker bereits die Aussicht auf einen neuen Coup: Ein Casinoschiff, das den Hudson befährt und in drei Wochen den Betrieb aufnimmt, soll ausgeraubt werden. Keine einfache Aufgabe, da man unbemerkt Waffen an Bord bringen und irgendwann mit der Beute wieder runter vom Schiff muss. Parkers Auftraggeber, ein lokaler Politiker im Ruhestand, der bisher erfolglos gegen die Legalisierung des Glücksspiels gekämpft hat, will zwar brauchbare Pläne und alle sonstigen Details liefern, sich sonst jedoch komplett heraushalten. Das bedeutet mehr Profit, aber auch mehr Arbeit. Arbeit, die Parker alleine nicht leisten kann. Deshalb stellt er ein schlagkräftiges Team aus zuverlässigen Leuten zusammen: Dan Wycza, den Mann fürs Grobe. Mike Carlow, den Fahrer. Lou Sternberg, der einen arroganten Abgeordneten auf Kontrollbesuch mimen wird. Und Noelle Braselle, welche, im Rollstuhl mit installierter Bettpfanne sitzend, mit dem Geld das Schiff verlassen soll. Als es schließlich soweit ist, klappt anfangs alles wie am Schnürchen. Doch jeder Plan hat seine Schwachstellen. Und als eine Bikergruppe von ihrem Coup Wind bekommt und ein korrupter Polizist sich an seine Fersen heftet, muss Parker wieder mal zur Waffe greifen …

Richard Stark spielt auf seine Klaviatur auch in „Sein letzter Trumpf“ wieder mal explizit eine unterbewusste Schwäche der Krimileser an: Die Sympathie für den Bösewicht. Obwohl Parker, der raubt, lügt, betrügt und mordet, sich selbst wohl kaum als Böse bezeichnen würde, ist er doch nach allen Paragraphen des Gesetzes eigentlich zu verurteilen. Ein Mensch, dessen Bekanntschaft man eigentlich nicht machen, in dessen Visier man nicht geraten will. Und doch ertappt sich der Leser dabei ihn zu mögen. Er drückt die Daumen, hofft das der Plan gelingt, am Ende alles gut ausgeht. Wobei er eigentlich weiß, dass „gut“ in diesem Fall bedeutet: Der Verbrecher entkommt mit der Beute. Das dem letztlich immer so ist, weiß der Parker-Leser schon bevor er das Buch überhaupt aufgeklappt hat. Aber wieso sollte man es dann denn überhaupt lesen? Wie kann ein Roman, dessen Ausgang man bereits kennt, spannend sein?

Nun, hierin liegt die große Stärke von Richard Stark, dem mit Parker eine Figur gelungen ist, die einem, trotz ihrer zweifellos äußerst dunklen Seiten, Respekt und Bewunderung abnötigt. Dieser amoralische Held plant mit sparsam-kühler Effizienz, wartet geduldig, kennt keine Nervosität und räumt Hindernisse eiskalt aus dem Weg. Die Möglichkeit, das etwas schief geht, kalkuliert er von vornherein mit ein, weshalb ihn Rückschläge nicht aus der Bahn werfen. Kurzum: Parker ist ein Profi. Und als ein solcher kann man sich weder amourösen Verbindungen noch Freundschaften hingeben. So ist auch diesmal die Arbeit im Team dem Job geschuldet. Parker braucht die Hilfe seiner Kumpanen, um den Raub durchzuziehen. Es geht ums Geld. Und nur ums Geld. Für weitere moralische Verpflichtungen ist da kein Platz. Und weil sich das herumgesprochen hat, ist Parker inzwischen ein gefragter und auch bei anderen Verbrechern beliebter Mann. Er ist verlässlich, sein Wort gilt, seine Pläne versprechen Profit. Was natürlich nicht heißt, dass er immer Erfolg hat oder niemand versucht ihn übers Ohr zu hauen. Wenn Letzteres passiert, schlägt Parker gnadenlos zurück. Nie übertrieben brutal, aber meist zumindest so drastisch, dass jeder die Botschaft kapiert: Lege dich nie mit Parker an.

Mit dieser Kaltschnäuzigkeit, dieser bedingungslosen Zielgenauigkeit nimmt Stark den Leser früh für Parker ein, der dessen Planungen und Vorbereitungen verfolgt und gebannt beobachtet wie die Rädchen nach und nach ineinander greifen. Gleichzeitig wird die Geschichte um Handlungsstränge erweitert, die außerhalb der Kontrolle des eiskalten Berufskriminellen liegen. So droht unter anderem ein verdeckt recherchierender Journalist auf dem Casinoschiff die Tarnung auffliegen zu lassen, während ein skrupelloser Cop in aller Ruhe eine Falle aufbaut, welche bei Parkers Rückkehr vom erfolgreichen Beutezug zuschnappen soll. Diese und andere sich im weiteren Verlauf auftürmende Hindernisse gilt es aus dem Weg zu räumen. Und sie sind es auch, die aus einem simplen, problemlosen Raubüberfall eine höchst brenzlige und lebensgefährliche Angelegenheit machen, welche zur Improvisation zwingt und damit immer wieder für Spannung sorgt.

Und die kommt hier wahrlich nicht zu kurz. Auch weil Richard Starks sachliche und direkte Schreibe dem Leser jegliche langatmige Ausschweifungen erspart und kein einziges Wort zu viel verschwendet. Wo andere Krimiautoren heutzutage noch den kleinsten Manschettenknopf en detail beschreiben und Auskunft über die Verwandtschaftsgrade der Familie eines Ermittlers geben, da belässt es Stark bei dem, was der Handlung dienlich ist. Keine Schwenks, Kurven oder Kehren. Nur ein Gaspedal, das mit jeder weiteren Seite tiefer durchgetreten wird. Diese Geradlinigkeit und völlige Abstinenz überflüssigen Geschwätzes ist genauso Kennzeichen der Reihe, wie die Zurückhaltung des Autors bei der Zeichnung seiner Hauptfigur. Egal was alles im Laufe eines Coups passiert: Am Ende weiß man über Parker genauso viel wie am Anfang. Er bleibt ein Mann ohne Identität. Ein Mann, dessen Gedanken und Gefühle genauso im Verborgenen bleiben, wie sein nie genannter Vorname.

Sein letzter Trumpf“ hat neben all diesen üblichen Ingredienzien allerdings noch weit mehr zu bieten, da Stark sich diesmal auch in Punkto Setting ein paar zusätzliche Sternchen verdienen kann. Ob auf dem beleuchteten Casinoschiff in tiefer Nacht oder im triefenden Dreck einer Gaststättentoilette. Die Handlungsorte bieten Kopfkino vom Feinsten, machen Parkers Treiben noch zusätzlich lebendiger, der diesmal in allen Belangen zur Höchstform aufläuft. Wenn Parker mit gezücktem Colt Python im Dunklen an Häuserwänden vorbeischleicht oder einfach nur wortlos sein Gegenüber niederstarrt, hält man unwillkürlich den Atem an. Ein diabolisches und wissendes Grinsen im Gesicht. Bis zur letzten Silbe.

Der achtzehnte Parker ist atemberaubende und zuspitzende Spannung auf 283 Seiten, die mal so wirklich jeden Cent wahrlich wert sind und welche man am Ende nur äußerst ungern aus der Hand legt. Es bleibt zu hoffen, dass derart kompromisslose und gradlinige Kriminalliteratur auch weiterhin den Weg auf den deutschen Buchmarkt finden wird. Angesichts solcher Qualität sollte weiterhin auch die Neuauflage älterer Bände in Erwägung gezogen werden.

Wertung: 94  von 100 Treffern

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  • Autor: Richard Stark
  • Titel: Sein letzter Trumpf
  • Originaltitel: Backflash
  • Übersetzer: Rudolf Hermstein
  • Verlag: Zsolnay
  • Erschienen: 02.2011
  • Einband: Broschiertes Taschenbuch
  • Seiten: 283 Seiten
  • ISBN: 978-3552055360

Der Name ist Bond. James Bond.

© Cross Cult

Bond, James Bond. 007. Es gibt wohl kaum einen bekannteren Spion, als den Mann aus der Doppel-Null-Abteilung des britischen Geheimdiensts MI6 mit der Lizenz zum Töten, was diese inzwischen popkulturelle Figur wohl allerdings in erster Linie den diversen Auftritten auf der Kinoleinwand zu verdanken hat.

Verkörpert von legendären Schauspielern wie Sean Connery, Roger Moore, Pierce Brosnan oder zuletzt Daniel Craig, sind es besonders ihre Interpretationen, welche für verschiedene Generationen von Zuschauern das Bild von James Bond nachhaltig geprägt haben. Die Bandbreite reicht dabei vom maskulinen, frauenfressenden Macho (Sean Connery) über den wortwitzigen Gentleman (Roger Moore) und den smarten, eleganten Anzugträger (Pierce Brosnan) bis hin zur menschlichen Dampframme, welche sich letztlich gar in einen von Gefühlen geleiteten Familienvater wandelt (Daniel Craig). Wie immer man selbst die einzelnen Interpretationen von 007 auch für sich beurteilt – und ja, auch Lazenby und Dalton (über David Niven decken wir lieber den Mantel des Schweigens) haben natürlich den Spion um zusätzliche Facetten erweitert – alle haben eine Tatsache gemeinsam: der literarischen Vorlage wird jede von ihnen nur in Teilen gerecht.

Nachdem nun mit „Keine Zeit zu sterben“ im vergangenen Jahr das Franchise zumindest im Kino zu einem vorläufigen Ende gekommen ist – das Wie möchte ich an dieser Stelle lieber ausklammern, würde doch mein Frust ob dieser 163minütigen Demontage einer Filmikone sicher ganze Seiten füllen – scheint daher nun der richtige Zeitpunkt gekommen, sich näher den Wurzeln von James Bond zu widmen. Und diese haben ihren Ursprung in Ian Flemings Erstlingswerk (zuvor geschriebene Bücher blieben unveröffentlicht) „Casino Royale“ aus dem Jahr 1953, das mit etwas Verspätung (dazu weiter unten mehr) nicht nur ein ganzes Sub-Genre nach dem Zweiten Weltkrieg revitalisierte, sondern zugleich auch in vielerlei Hinsicht autobiografisch stark von seinem Schöpfer geprägt ist. Bevor wir uns daher genauer mit dem Inhalt der Geschichte befassen, lohnt vorab ein Blick auf den Autor selbst, der das Porträt des Anti-Helden mit der Vorliebe für schöne Frauen und schnelle Autos bis heute wie kein anderer maßgeblich beeinflusst.

Im Jahr 1908 in London geboren, wuchs er im Stadtteil Mayfair auf und kam aufgrund guter schulischer Leistungen im Alter von 13 Jahren auf das Eton College, wo er nicht nur diverse Sprachen erlernte (u.a. Deutsch, Französisch und Russisch), sondern sich auch durch sportliche Leistungen hervortat. Zu Disziplin und Regeln hatte er jedoch schon in jungen Jahren ein eher distanziertes Verhältnis und so passt es auch angesichts seiner späteren Biographie fast ins Bild, das er das College aufgrund eines Vorfalls mit einem Mädchen verlassen musste. Für Fleming ging es im Anschluss an die Militärakademie nach Sandhurst, welche er aber krankheitsbedingt ebenfalls nicht abschließen konnte. Damit begann für ihn die Zeit der Reisen. Über eine Privatschule im österreichischen Kitzbühel (hier lernte er Ski fahren und den ehemaligen Geheimdienstler Ernan Forbes und seine Frau, die Schriftstellerin Phyllis Bottome kennen) ging es an die Universitäten von München und Genf. Im Herbst des Jahres 1931 trat er seine Stellung als Journalist bei Reuters an, wo er immer wieder direkt von den damals sehr beliebten Motorsportwettbewerben in den Alpen berichtete, welche sein Interesse an der Rennfahrerei und Sportwagen generell weckte. Größer von sich Reden machte er erstmals mit einem Bericht aus Moskau, wo sechs britische Ingenieure in einem stalinistischen Schauprozess der Spionage angeklagt wurden. Eine Zeit, die Flemings Bild von der Welt hinter dem Eisernen Vorhang und von dem Gegner Sowjetunion nachhaltig prägen sollte.

Ian Flemings kostspieligen Lebensstil – er war als Frauenheld und Lebemann inzwischen berüchtigt – konnte seine Arbeit als Journalist jedoch nicht finanzieren und da auch kein größeres Erbe in Aussicht stand, versuchte er sich zwischenzeitlich erfolglos als Börsenmakler bis ihn schließlich der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs in die Dienste der Armee zwang. Er trat als Lieutenant in den Marine-Nachrichtendienst British Naval Intelligence ein und arbeitete hier ab 1939 als persönlicher Adjutant des Direktors, Konteradmiral John Godfrey. In dieser Funktion war er u.a. für den Schutz von Gibraltar und Südspanien verantwortlich. Die Abwehr der deutschen Radarüberwachung lief damals übrigens unter dem Codenamen „Operation Goldeneye“. Desweiteren diente er als Verbindungsoffizier zum US-Marinegeheimdienst (später rühmte er sich selbst damit, einen großen Beitrag für die Reorganisation der amerikanischen Nachrichtendienste geleistet zu haben) und besuchte in dieser Zeit auch das Casino Estoril in Portugal, das damals größte Casino in Europa und erlernte dort das Baccara-Spiel. Ohne es zu wissen, war bereits hier die Blaupause für die Kulisse von „Casino Royale“ geboren. Als weiterer Einfluss auf sein Werk gilt schließlich auch das Kommando für eine speziell ausgebildete Einheit der Royal Marines, für die er ab 1943 einige gefährliche Einsätze plante und sein Besuch von Jamaika im Jahr 1944. Fleming war von der exotischen Landschaft beeindruckt und bekundete seine Absicht, nach Kriegsende hierhin zurückzukehren.

Mit welcher Frau an seiner Seite, das stand lange nicht fest, hatte doch Ian Fleming gleich mehrere Affären und – laut seinem Umfeld – auch eindeutige sadomasochistische Vorlieben wie das Spanking, die eine längere Beziehung zumindest erschwerten, wenn nicht gar für diese Zeit gänzlich unmöglich machten. Es gilt heute als sicher, dass sich diese Neigungen in den diversen Folter-Szenen und Beinahe-Vergewaltigungen der Bond-Romane widerspiegeln, welche erst spät ihren Weg auf die Leinwand fanden (Erst mit der Veröffentlichung der ungekürzten Ausgaben durch den Cross Cult Verlag im Jahr 2012 liegen diese hierzulande auch literarisch auf Deutsch vor). Dennoch heiratete Fleming Anfang 1952 schließlich seine langjährige Geliebte Ann. Noch im gleichen Jahr kam ihr Sohn Casper auf die Welt, mit dem sie vor allem die Wintermonate auf Jamaika verbrachten, wo Fleming inzwischen ein Grundstück erworben und „Goldeneye“ getauft hatte. Finanziert wurde dies durch seine Anstellung als leitender Kolumnist der „Sunday Times“, welche immer noch viel Zeit zum Schreiben ließ. Inmitten der Flitterwochen begann er mit seinem ersten Spionageroman – „Casino Royale“. Den Namen seines Protagonisten „klaute“ sich der passionierte Vogelbeobachter bei dem Autor eines ornithologischen Bestimmungsbuchs. James Bond war geboren.

Damit nähern wir uns nun endlich auch inhaltlich dem Auftakt der Reihe. Man möge mir die lange Einleitung verzeihen, aber sie ist meines Erachtens notwendig, um vor dem Hintergrund Flemings eigener Biographie Bond näher zu verstehen. Aber jetzt zum Buch:

Das kleine (fiktive) Provinznest Royale-les-Eaux an der französischen Kanalküste. Wir schreiben das Jahr 1951. Einst war dieses Feriendorf ein Anlaufpunkt für die Reichen und Schönen, aber mit den Wirren des Krieges hat es zunehmend an Bedeutung verloren. Wie die Farbe an der Häuserfassaden, so ist auch der Glanz von Royale-les-Eaux längst abgeblättert und der faden Tristesse gewichen. Allein das Casino besitzt noch einen gewissen überregionalen Ruf, der vor allem diejenigen anlockt, welche lieber unter dem Radar bleiben und dennoch um äußerst hohe Beträge spielen wollen. Einer von ihnen ist James Bond, 007. Den Agenten mit der Lizenz zum Töten hat jedoch nicht die eigene Vorliebe für das Glücksspiel nach Nordfrankreich geführt. Vielmehr wurde er persönlich vom British Secret Service, genauer gesagt dem MI6, ausgewählt, um vor Ort eine einmalige Gelegenheit zu nutzen: Le Chiffre, ein sowjetischer Meisterspion und langjähriger Gegenspieler, befindet sich ebenfalls im Casino, um am Spieltisch die Verluste gut zu machen, welche ein fehlgeschlagenes Unterweltgeschäft verursacht hat. Dass er sich dafür eines Geldbetrags bedient hat, welcher seitens des russischen Geheimdiensts eigentlich für die Unterwanderung der französischen Gewerkschaften gedacht war, macht das Ganze umso prekärer. Niemand bestiehlt Stalin ungestraft. Und die eigens dafür installierte Einheit „Smersch“ hat sich bereits an seine Fersen geheftet.

Ein finanzieller Ruin von Le Chiffre ist also im Interesse der Briten, weswegen James Bond sein Geschick nutzen soll, um im Baccara-Duell den Sieg davon zu tragen. Für den jungen Agenten ist es die erste große Bewährungsprobe. Zwar hat er bereits zweimal Gebrauch von seiner Lizenz gemacht, aber noch nie stand so viel auf dem Spiel. Auch aus diesem Grund schickt man ihm zur Unterstützung Vesper Lynd, welche als Kontakt nach oben dienen und gleichzeitig darauf achten soll, dass Bond seinerseits nicht zu verschwenderisch mit den eigenen monetären Mitteln umgeht. Das Raubein hat nur wenig für seine neue Partnerin übrig, welche seinen Hass auf den Kommunismus nicht wirklich zu teilen und auch sonst für den Job viel zu grün zu sein scheint. Wenigstens ist ihr Anblick etwas für die Augen. Eine Eigenschaft, die er sich vielleicht zu Nutze macht, wenn sich Zeit und Gelegenheit ergeben. Bis dahin soll sie vor allem eins tun: Ihm nicht im Weg stehen.

Am Anfang scheint alles nach Plan zu laufen, denn Bond schlägt – auch mit Hilfe der CIA in Person von Felix Leiter – Le Chiffre am Spieltisch und besteht so seine Feuertaufe. Doch im Überschwang seines Erfolgs unterschätzt er seinen Gegenspieler. Als er gemeinsam mit René Mathis vom Deuxième Bureau und Vesper auf seinen Triumph anstoßen will, wird Letztere vor seinen Augen entführt. In einem Bentley aus den Dreißigern nimmt James Bond die Verfolgung auf, wird jedoch in eine Falle gelockt und verliert in einem spektakulären Unfall die Kontrolle über seinen Wagen. Als er wieder zu sich kommt, befindet er sich in Le Chiffres Händen. Und der hat sich eine ganz ausgeklügelte Folter ausgedacht, um wieder in den Besitz seines Geldes zu kommen …

Mehr soll an dieser Stelle nicht verraten werden, zumal gerade an diesem Punkt der Handlung das Buch eine ziemlich unerwartete Wendung nimmt – zumindest für diejenigen, welche die Verfilmung mit Daniel Craig aus dem Jahr 2006 noch nicht kennen sollten (so viele dürften das aber nicht sein). Und damit kommen wir vorneweg gleich zu meiner persönlich erstaunlichsten Erkenntnis nach dieser Lektüre: Martin Campbells cineastische Verarbeitung orientiert sich – ganz im Gegensatz zu früheren Verfilmungen – inhaltlich erstaunlich nah an der literarischen Vorlage, von gewissen Zugeständnissen an das moderne Publikum mal abgesehen. Das ist insofern überraschend, weil es unterstreicht, welche bahnbrechende Wirkung der Roman auf die damaligen Leser gehabt haben muss. Zumindest auf diejenigen, die ihn in den 50ern überhaupt gelesen haben, denn ein breitenwirksamer Erfolg blieb Ian Fleming mit den James-Bond-Titeln noch bis Anfang der 60er Jahre verwehrt. Bis ein gewisser John F. Kennedy eine Liste mit seinen Lieblingsbüchern veröffentlichte – und sich darunter ein Titel mit dem Namen „Liebesgrüße aus Moskau“ wiederfand. Im Zuge der darauffolgenden Popularität wurde schließlich das Fundament für eine Erfolgsgeschichte gelegt, die bis zum heutigen Tag andauert. Aber auch zurecht?

Entgegen meiner üblichen Gewohnheit habe ich diesmal tatsächlich einen Blick in die Einschätzungen diverser Literaturkritiker geworfen, die fast alle ein überwiegend negatives Bild von „Casino Royale“ zeichnen – von einem Roman, dem der Zahn der Zeit ordentlich zugesetzt hat und der heutzutage nur noch mit viel Mühe konsumierbar ist. Auffällig dabei: Viele der deutschen Rezensenten fällen dieses Urteil auf Basis der gekürzten deutschen Auflagen früherer Jahre, die vom Umfang her allenfalls noch knapp als Novelle durchgehen dürften und wichtige Passagen komplett außen vor gelassen haben. Andere kritisieren die Inkohärenz der Figur James Bond, welche zwar als Profi eingeführt wird, jedoch im weiteren Verlauf des Romans immer wieder diverse Anfängerfehler macht und mitunter ziemlich leichtsinnig – und vermeintlich eines Agenten unwürdig – agiert. Der Fakt, das Fleming betont, das wir Bond hier noch am Anfang seiner Karriere begegnen, wird bei dieser Beurteilung gerne ausgeblendet. Genauso wie der zeitliche Kontext, in dem letztlich das ganze Gebaren des Agenten Bond begründet liegt.

Die kurze Phase des Friedens und die aus der Not geborene Allianz der Alliierten nach Ende des Zweiten Weltkriegs hatte sich 1953 bereits in eine deutliche Auseinandersetzung der zwei Blöcke gewandelt – mit der NATO auf der einen und dem Warschauer Pakt auf der anderen Seite. Eine jede Seite strebte nach größtmöglicher Ausbreitung, versuchte ihre Ideologie und damit auch ihren Einflussbereich stetig zu erweitern – mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln. Während wir in Deutschland diese Phase vor allem etwas oberflächlich als Zeit des Wirtschaftswunders und neu gefundener Freiheiten, wie das Reisen in ferne Länder, verklären, fand hinter den Kulissen des Kalten Krieges ein heißer Konflikt statt, in dem sich tatsächlich Geheimdienstler auf diverse Art und Weise ihre Finger schmutzig machen mussten. James Bond ist daher einerseits ein Produkt von Flemings Erfahrungen und andererseits eines dieser Zeit. Entsprechend kaltblütig, rücksichtslos, manipulativ und emotional oberflächlich hat ihn der Autor gezeichnet. Eine Charakterisierung, die er jedoch in späteren Werken nicht nur mehr und mehr differenzierte, sondern auch etwas aufweichte (Eine gänzliche weichgespülte Version wie in „Keine Zeit zu Sterben“ blieb den Lesern aber gottseidank erspart) und zudem immer mit einer gehörigen Position Stil würzte, der Fleming bekanntermaßen äußerst wichtig war. Nur aus diesem Grund trägt James Bond die besten Anzüge, isst die feinsten Delikatessen, steigt in den teuersten Hotels ab und trinkt stets seinen Martini – geschüttelt, nicht gerührt.

Ja, wie Judi Denchs M in „Goldeneye“ treffend feststellt: James Bond ist ein Dinosaurier, ein Relikt des Kalten Krieges. Aber dies ändert nichts am formidablen Vergnügen, das sich bei der Lektüre dieses Romans sofort einstellt. Lange vor einem Elmore Leonard definiert hier Ian Fleming den Begriff „Coolness“ im Kriminalroman, setzt er die Richtlinien dafür, wie ein schurkischer, überlebensgroßer Oberbösewicht zu agieren hat, nutzt er die literarischen Freiheiten aus, um das bis dahin in seinen Konventionen gefangene Genre des Agententhrillers um eine ganz neue Bandbreite an Möglichkeiten zu erweitern. Dafür nimmt er sich trotz kurzen 240 Seiten erstaunlich viel Zeit, verzichtet (von wenigen Momenten wie der Verfolgungsjagd oder eine gezündeten Autobombe abgesehen) auf ausufernde Action und legt Bonds erstes Abenteuer besonders gegen Ende hin ziemlich „character driven“ an. Während sich manche gerade über diesen „Epilog“ nach der ansteigenden Spannungskurve und die damit abfallende Dramaturgie echauffieren, empfinde ich speziell dieses retardierende Moment als sehr gelungen und kennzeichnend für den weiteren Verlauf der Reihe. Die Welt ist eben nicht genug – es muss stets gleichfalls ein persönlicher Preis in der Waagschale liegen, um der Suspense Bedeutung zu verleihen.

Auch wenn James Bond hier noch lange nicht der Profi ist, als den ihn Sean Connery in „James Bond jagt Dr. No“ einst verkörpert und weltweit bekannt gemacht hat (selbst die Walther PPK trägt er in „Casino Royale“ noch nicht) – sein erster Auftritt beeindruckt auch heute noch durch archaische Wucht, britischen Stil und zielgerichtete Eleganz, welche der Cross Cult Verlag in seiner wunderschön aufgemachten Neuauflage dieses Klassikers einer neuen Generation von Lesern (äußerst gelungen übersetzt) zugänglich gemacht hat. Ich kann daher nur jedem Freund von klassischen Agentengeschichten raten: Unbedingt lesen!

Wertung: 95 von 100 Treffern

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  • Autor: Ian Fleming
  • Titel: Casino Royale
  • Originaltitel: Casino Royale
  • Übersetzer: Anika Klüver, Stephanie Pannen
  • Verlag: Cross Cult
  • Erschienen: 09.2012
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 240 Seiten
  • ISBN: 978-3864250705

Money makes the world go round

© Pulp Master

The Times they are a changin'“ – das gilt auch für die Welt des Verbrechens. Selbst ein ungewöhnlicher und findiger Dieb wie Garry Dishers Wyatt stößt an seine Grenzen. In jeder Hinsicht. Die menschliche Perfidie ist geblieben, aber die Technik entwickelt sich in jeder Hinsicht weiter und überrollt das Individuum. Jeder Beutezug wird zum Überlebenskampf.

Dem Buchtitel entsprechend begibt sich Wyatt diesmal in einen Sumpf. Den des Finanzbetrugs. Jack Tremayne hat nach dem „Ponzi-Schema“ Klienten abgezockt und steht kurz vor der Verhaftung. Seinen Partner hat es schon erwischt, doch Tremayne windet sich noch in Freiheit herum, wenige Vertraute und eine untreue Gattin im Schlepptau. Irgendwo hat er Fluchtgeld gebunkert, von dem Wyatt dank seines Knast-Informanten Sam Kramer erfährt. Er heftet sich an die Fersen Jack Tremaynes, bemerkt aber nicht, dass  der Kriegsveteran Nick Lazar, der Kramers verkorksten und nicht besonders hellen Sohn ausspioniert, ebenfalls auf die Fluchtkasse des windigen Finanzberaters aus ist. Gleichzeitig kommt ihm der hartnäckige Cop Muecke ziemlich nahe. Wyatt braucht mehr noch als Geschick Glück, um seinen Verfolgern zu entkommen.

Sam Kramer hingegen gerät im Gefängnis unter lebensbedrohlichen Druck, während Jack Tremayne seine gewinnorientierte, Menschenleben fordernde Killermentalität aktiviert. Am Ende ist das große Sterben angesagt, wer verwundet überlebt, befindet sich noch auf der Sonnenseite. Vom großen Reibach sind alle Beteiligten weit entfernt.

Wyatt begibt sich in die Gefilde von Finanzjongleuren und ins Visier eines militärisch ausgebildeten Killers. „Moder“ zerlegt den Edelgangster konsequent. Die Zeiten von Kriminellen wie Parker (Donald E. Westlake), Charlie Varrick (John Reese), Frank Logan (Max Allan Collins), Bernie Rhodenbarr (Lawrence Block) oder eben Wyatt scheinen vorbei zu sein. Er bewegt sich immer noch eloquent und elegant auf den Pfaden, die er anhand der von Sam Kramer entworfenen Pläne, entwirft. Doch seine Winkelzüge werden durchschaubarer, er selbst saturierter und unaufmerksamer. Davon abgesehen ist ihm Jack Tremayne an krimineller Energie deutlich überlegen. Tremayne plagt kein Gewissen, keine Verantwortlichkeit irgendwas oder -wem gegenüber. Muecke nutzt die umfassende Videoüberwachung, um Wyatts Bewegungsmuster auszukundschaften. Seine Tarnmaßnahmen funktionieren bei weitem nicht so wie Wyatt es sich wünscht und vorstellt.

Dass er zudem die Bestrebungen Nick Lazars nicht erkennt, ist fatal. Wyatt scheitert beinahe an seiner Selbstüberschätzung und den Tücken der durchtechnisierten Gegenwart. Darüber räsoniert er zwar, hat aber kaum Gegenmaßnahmen zu bieten. Tresore, Geldverstecke spielen nur noch eine untergeordnete Rolle und sind, falls doch existent, wesentlich effizienter gesichert als in der Vergangenheit. Krumme Transaktionen finden nicht mehr auf dunklen Parkplätzen oder Hinterhöfen statt, sondern in den Weiten des Darknets. Wyatts Tarnfähigkeiten versagen angesichts der nahezu lückenlosen Videoerfassung, er hinterlässt Spuren. Und braucht das Glück, dass Muecke ihm mehr Sympathie entgegenbringt als Lazar und Konsorten.

Moder“ ist ein Abgesang. Auf den Profi-Gangster, der seinem Geschäft mit hoher Effizienz, aber ohne den Einsatz überflüssiger Gewalt nachgeht. Der Cleverness über Waffeneinsatz stellt. Der aber auch nicht den perfiden Methoden von skrupellosen Bänkern verfällt, die ihre Opfer nicht direkt ausrauben, stattdessen lieber freiwillige Einzahlungen entgegennehmen. Für die es keine Deckung gibt. Geringe Ausschüttungen werden über folgende Einzahlungen finanziert, sobald viele Kunden ihre Rendite oder gar Auszahlungen beanspruchen, implodiert das System. Die neoliberale Gier arbeitet für Ränkeschmiede wie Peter Tremayne. 

Gary Dishers Roman ist ein (leicht) wehmütiger Roman über das Verschwinden. Über skrupellose Menschen wie Peter Tremayne, die die Flucht ergreifen und nur Opfer hinterlassen, über Geld, das sich verflüchtigt, und über ein Relikt wie Wyatt, der sich abrackert und erkennen muss, dass der Raum für Professionals seiner Art immer weiter schrumpft. In einer Welt, in der Fiktionen verkauft und Milliarden verschoben werden, steht der „ehrenwerte“ Gangster  auf verlorenem Posten. Wyatt, Muecke, selbst Sam Kramer samt Familie, mit Ausnahme des tumben Sohnes, bewegen sich innerhalb moralischer Codices. Die zwar der Gesetzeslage nach irregulär sind, aber das kriminelle Geschäft am Laufen halten und Beziehungsgeflechte möglich machen. Psychopathen wie Lazar und Geldhaie wie Pete Tremayne gehen ethische Bedenken ab, sie arbeiten nach einem simplen Kosten- Nutzen-Plan. Und stehen somit stellvertretend für Vieles, was in der realen Welt falsch läuft.

Moder“ ist ein Roman von brodelnder Lakonik. Gary Disher beobachtet genau, lässt seine Akteure akribisch Pläne schmieden, die allesamt scheitern. Gelegenheiten, Topografie, Mitstreiter und Kontrahenten werden permanent abgetastet und sondiert. Ist auch nötig angesichts von Verrat, Hinterhalten, Überwachung sich ändernder Allianzen. Wyatt möchte sich inmitten des Chaos bereichern, doch seine eigentliche Rolle ist die eines Chronisten des Zerfalls. Gary Disher verzichtet dabei auf plakative Action oder ausführliche Mordsequenzen. Der Tod erfolgt geradezu beiläufig, und wirkt umso erschreckender, da es in „Moder“ nur ein „Vorher“ und ein „Nachher“ gibt, dazwischen aber eine dunkle Leerstelle existiert. Das wird bis zum letzten Satz konsequent betrieben, ein großer Showdown fällt aus. Was bleibt, ist Ernüchterung.  

Dishers Prosa ist klar und präzise, die Dialoge sind pointiert und kommen ohne überflüssigen Zierrat aus. Privates wird nur ausgebreitet, wenn es der Geschichte dient. So agiert Lazar meist aus dem Schatten heraus, seine Vergangenheit offenbart sich nur häppchenweise und rudimentär. Mitunter erscheint „Moder“ etwas spröde, aber angesichts der geschwätzigen Wortdurchfälle vieler aktueller Kriminalromane, ist Dishers kantige und effektive Schreibweise eine Wohltat.

Wertung: 84 von 100 Treffern

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  • Autor: Garry Disher
  • Titel: Moder
  • Originaltitel: Kill Shot
  • Übersetzer: Ango Laina, Angelika Müller
  • Verlag: Pulp Master
  • Erschienen: 09.2021
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 300 Seiten
  • ISBN: 978-3946582069

Die Nackten und der Tote

© Ullstein

Ein Jahr nach dem Edgar Award prämierten Kriminal-Debütroman „In der Hitze der Nacht“ ließ John Dudley Ball seinen zweiten Band aus der Reihe um den schwarzen Detektiv Virgil Tibbs aus Pasadena folgen.

Totes Zebra zugelaufen“, so der deutsche Titel, brachte es hierzulande nur zu einer Veröffentlichung im Jahre 1967 beim Ullstein Verlag. Danach verschwand der Titel, wie auch die meisten restlichen Werke John Balls, komplett vom deutschen Büchermarkt. Selbst die Hoffnung, dass im Rahmen der Fischer Crime Classics Reihe einer der Bände eine Neuausgabe erfahren würde, währte schließlich, wie auch die Reihe selbst, nicht lange. Wer also gern heutzutage chronologisch die Fälle von Virgil Tibbs lesen möchte, muss weiterhin antiquarisch suchen. Aber diese Suche lohnt – ganz sicher.

Totes Zebra zugelaufen“ führt uns in die kalifornische Nudisten-Kolonie „Sun Valley Lodge“ Mitte der 60er Jahre. Dort ist ein fremder Mann nackt im Schwimmbecken aufgefunden worden. An sich nichts Ungewöhnliches an diesem Ort, nur ist dieser „Badegast“ tot und treibt mit dem Rücken nach oben. Ein Mord ist mehr als wahrscheinlich, wobei sich der Täter alle Mühe gegeben hat, eine Identifizierung zu erschweren, denn neben neben der Kleidung wurde ihm gleich auch noch das Gebiss entwendet. Nur soviel ist klar. Der Unbekannte ist kein Mitglied der Kolonie, sondern ein „Zebra“. (Um die Hüften herum ist er weiß, sonst braun. Bei einem Nudist fehlen diese Streifen.)

Für den ortsansässigen Sheriff ist dies ein mysteriöses Rätsel. Er zieht sogleich Virgil Tibbs von der Mordkommission zurate, der sich nicht nur aufgrund seiner Hautfarbe zwischen all diesen weißen Sonnenanbetern ziemlich fehl am Platz fühlt. Besonders die Nacktheit einer äußerst attraktiven Zeugin macht ihm sichtlich zu schaffen. Schnell kommt der sonst so kühle Denker ins schwitzen, zumal die Suche nach der Identität der Leiche ebenfalls früh in einer Sackgasse zu enden scheint. Bis schließlich ein Landpolizist der kalifornischen Polizei einen wichtigen Hinweis gibt und Tibbs damit auf die richtige Spur gebracht wird …

Nein, die Intensität und Wirkung des Erstlings erreicht „Totes Zebra zugelaufen“ leider nicht. Ein überdurchschnittlich guter Krimi ist er aber dennoch, was gleich mehrere Gründe hat. John Ball beweist auch diesmal viel Mut und scheut sich nicht vor Konfliktthemen. Nachdem es sein Schützling Virgil Tibbs zuvor noch mit rassistischen Cops im kleinen Südstaatenkaff Wells zu tun hatte, sieht er sich nun anderweitig ausgegrenzt. Seine Hautfarbe ist dabei weniger von Belang, als vielmehr die Tatsache, dass er sich angezogen auf dem Gebiet der Nackten bewegt. Ball, selbst einen großen Teil seines Lebens lang Nudist, führt der Gesellschaft hier geschickt, pointiert und mit viel Witz ihr falsches Denken vor, ohne groß mit der Moralkeule zu schwingen. Zwischen dem schwarzen Cop und den weißen Nudisten besteht, und das müssen beide Seiten schnell feststellen, eine schon fast ironische Gemeinsamkeit. Beide werden, der eine wegen der Hautfarbe, die anderen wegen ihres Lebensstils, abfällig beäugt. Das Intelligenz, Kompetenz und Charakterstärke aber vom äußeren Schein unabhängig sind, kann Tibbs erneut brillant unter Beweis stellen.

Auffällig ist dabei hier, dass er sich der Unterstützung der ortsansässigen Polizei sicher sein kann, welche die Fähigkeiten des schwarzen Ermittlers schätzt und sich auch nicht schämt, ihre eigene Unkenntnis einzugestehen. Hier ist er nicht einfach nur Virgil, sondern Mr. Tibbs. Geachtet und anerkannt, nimmt er sich in bester Holmes-Manier des Falles an, wobei der Leser (wie die Leiche) direkt zu Beginn ins kalte Wasser geworfen wird. Ball hält sich nicht allzu lang mit einer großen Einführung auf, sondern lässt den Detective mittels Deduktion und Kombinationsgabe wichtige Indizien noch am Tatort entschlüsseln. Während man selbst noch irritiert über Gründe und Motive rätselt, scheint Tibbs bereits sein Netz enger um den Täter zu ziehen.

Es ist die große Stärke dieses Autors, die Genialität seines Ermittlers herauszustellen, obwohl der Leser, dem die gleichen Hinweise zur Verfügung stehen, völlig im Dunkeln tappt. Ob man will oder nicht. Staunend sieht man Tibbs bei der Arbeit über die Schulter. Und obwohl das Buch (das in der Fassung von Ullstein wieder einige Kürzungen erfahren musste) gerade mal knapp 160 Seiten umfasst, und damit ein wenig mehr Umfang als eine Kurzgeschichte hat, fesselt der Plot von Beginn, überzeugt Ball mit Sprachstil und detaillierten Beschreibungen, die uns das Kalifornien der 60er Jahre vor den Augen wieder auferstehen lassen. Krimikenner mit dem genauen Blick werden übrigens dabei erkennen, dass sich hier eine gewisse Entwicklung von klassischen „Whodunit“ zum „Police Procedural“ vollzieht, den vor allem Ed McBain seit Mitte der 50er aus der Taufe gehoben hatte.

Totes Zebra zugelaufen“ ist der würdige Nachfolger eines großartigen ersten Bands, welcher zwar dessen Qualität nicht ganz erreicht, aber mit einem intelligenten, sehr scharfsinnigen Plot unterhält und neben dem eigentlichen Mordfall noch eine ganze Menge Tiefgang mitliefert. Ein kurzes, aber lohnendes Lesevergnügen, das, zumindest derzeit, zu moderaten Preisen aus zweiter Hand zu bekommen ist.

Wertung: 86 von 100 Treffern

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  • Autor: John Dudley Ball
  • Titel: Totes Zebra zugelaufen
  • Originaltitel: The Cool Cottontail
  • Übersetzer: Mechtild Sandberg-Ciletti
  • Verlag: Ullstein
  • Erschienen: 1967
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 160 Seiten
  • ISBN: –