Non, je ne regrette rien

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© Edition Nautilus

Anarchismus – eine politische Ideenlehre und Philosophie, mit der ich mich, trotz großem Interesse an der europäischen Geschichte, lange Zeit nie näher beschäftigt habe. Geändert hat sich diese Einstellung erst vor kurzem durch die Lektüre von Patrick Pécherots „Nebel am Montmartre“ und Anthony Burgess‘ Klassiker „Clockwork Orange“ – zwei Bücher, welche das Streben nach einer herrschaftsfreien Gesellschaft zwar auf unterschiedliche Art und Weise darstellen, gerade aber auch deswegen die Neugier an der Thematik entfachen. Durch ersteres, beim Verlag Edition Nautilus gemeinsam mit den beiden Fortsetzungen („Belleville Barcelona“ und „Boulevard der Irren“) erschienen, richtete sich schließlich auch mein Augenmerk auf Pino Cacuccis „Besser auf das Herz zielen“.

Eine Quasi-Biographie über den berühmt-berüchtigten Anarchisten Jules Bonnot, der für den ersten motorisierten Raubüberfall der Geschichte verantwortlich zeichnet und sich zuvor gar eine Zeitlang seinen Unterhalt als Fahrer von Sir Arthur Conan Doyle verdiente. Ich gebe zu: Dieser letzte Punkt war für einen Holmes-Fan wie mich bei der letztlich getroffenen Kaufentscheidung nicht ganz unerheblich. Doch warum sonst sollte Cacuccis Werk unbedingt in das Bücherregal wandern?

Zuallererst sollte man sich in jedem Fall von dem (auch von mir anfangs gehegten) Gedanken verabschieden, es hier mit einem reinen True-Crime-Titel zu tun zu haben. Wenngleich sich Cacucci eng an den wesentlichen Fakten aus dem Leben des meist gesuchtesten französischen Verbrechers des beginnenden 20. Jahrhunderts orientiert und in vielen Belangen äußerst akribisch und genau recherchiert hat – wirklich leben tut der Roman vor allem von den nicht belegten und nachträglich hinzugefügten Ausschmückungen. Denn: So spannend, aufregend und tragisch Bonnots kurzes und ereignisreiches Leben war, so wenig vermag Cacucci es zu gelingen, diese Elemente auf Papier zu übertragen. Besonders hinsichtlich der begangenen Verbrechen lässt der Autor doch einiges an Potenzial ungenutzt und konzentriert sich auf klar gefasste historische Wiedergabe, um wiederum an anderer Stelle Dinge im Detail zu beschreiben, die weder für die Handlung noch für Bonnots weiteren Werdegang von grundlegender Bedeutung sind. Auch in Punkto Figurenzeichnung lässt Cacucci viel fruchtbares Land brach. Neben Jules Bonnot, dessen nachvollziehbaren Fall durch die breiten und tiefen Gitter der Gesellschaft er eindringlich schildert, führen die anderen Charaktere ein klares Statistendasein. Gerade Viktor Kibaltschitsch (frz. Victor Serge) kommt bei Cacuccis Ausflügen in die Pariser Anarchistenszene kurz nach der Jahrhundertwende viel zu kurz.

Man muss aber auch deutlich betonen: Die geübte Kritik vollzieht sich auf hohem Niveau und kann sich zudem aufgrund fehlender Kenntnis des Originals nicht allein auf Cacucci einschießen. Inwieweit dessen Schwächen als Romancier oder der Übersetzer Andreas Löhrer „Schuld“ an der doch sehr boulevardhaften Erzählweise haben, ist somit schwer zu sagen. Wie bereits von anderen Rezensenten zurecht betont, steht der Stil jedenfalls einem größeren Lesevergnügen im Wege. Selbiges gilt für die vielen Schauplatzwechsel, welche immer genau dann gesetzt worden sind, wenn die Handlung gerade dabei ist so etwas wie Spannung zu entwickeln. Was bleibt ist schließlich die Faszination an dem Mensch Jules Bonnot, dem das Leben immer wieder Knüppel zwischen die Beine wirft und der erst nach und nach den Weg in die verbrecherische Unterwelt eintritt. Oftmals geradezu dorthin getrieben von den Institutionen, die später anklagend mit dem Finger auf ihn zeigen und sich die Wurzeln des Anarchismus partout nicht erklären können – oder wollen. Bonnots Fall ist so tragisch wie zwangsläufig und nicht selten ohne eine gewisse Portion bitterer Ironie. Bei all den Mitteln des Staates, bei all der Gewalt durch die Obrigkeit und die Herrschenden – wie ist es da möglich, keine Wut zu empfinden?

Während gemäßigte Anarchisten wie Viktor Kibaltschitsch das geschriebene Wort im Kampf gebrauchen, nutzt Bonnot die politische Bewegung für eine persönliche Abrechnung mit dem System, welches ihm von Geburt an jede Möglichkeit von Glück bis zuletzt verwehrt hat. Am Schluss ist dies natürlich keine Rechtfertigung für die von ihm (»Ich bereue nichts. Manches bedaure ich, aber ich bin ohne einen Funken Reue.«) und seiner Bande begangenen Morde – dennoch fällt es schwer, Gefallen am dramatischen und kugelreichen Ende Bonnots zu finden, der selbst in den letzten Minuten seines Lebens Mensch geblieben zu sein schien, als er in einem schnell verfassten Testament mehrere (wohl zu Unrecht verurteilte) Personen von jeglicher Mittäterschaft freisprach.

Besser auf das Herz zielen“ ist somit mehr als nur ein biographischer Roman und das Portrait eines einzigen Mannes. Es ist die treffliche Wiedergabe eines gesellschaftlichen Teufelskreises, welche exemplarisch für viele andere Leben aus der französischen Arbeiterklasse der damaligen Zeit steht und die gleichzeitig den schmalen Grat zwischen politischen Widerstand und krimineller Gewalt deutlich macht. Und ein Blick in die Zeitung dürfte uns in Erinnerung rufen, wie aktuell diese Thematik der Polizeigewalt, Zielfahndungen und rechtswidriger Überwachungen auch heute noch ist.

Trotz einiger Schwächen – eine echte Empfehlung für Freunde von Gangster-Geschichten und „Noir“-Liebhaber, die im Hinblick auf den Realismus ihrer Romane höhere Ansprüche stellen.

Wertung: 85 von 100 Treffern

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  • Autor: Pino Cacucci
  • Titel: Besser auf das Herz zielen
  • Originaltitel: In ogni caso nessun rimorso
  • Übersetzer: Andreas Löhrer
  • Verlag: Edition Nautilus
  • Erschienen: 02.2010
  • Einband: Hardcover
  • Seiten: 352 Seiten
  • ISBN: 978-3894017224

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