Der Lüge verpflichtet

© Piper

In der Retrospektive eine Besprechung zu einem Buch zu schreiben – vor allem wenn die Lektüre, wie hier in meinem Fall mehr als ein Jahr zurückliegt – ist in der Regel wenig zielführend, wenn das betreffende Werk nicht einen größeren und nachhaltigen Eindruck hinterlassen hat. Und genau das trifft leider auf Arne Molfenters Biografie „Garbo, der Spion“ zu, welche eigentlich alle Ingredienzien für ein kaptivierendes Leseerlebnis auf Basis wahrer Begebenheiten mit sich bringt, daraus letztlich aber meines Erachtens einfach zu wenig macht. Dennoch hätte ich wohl mit meiner Tradition (oder sollte ich es lieber monkschen Manie nennen?) gebrochen und bewusst auf eine Rezension verzichtet, um dem Autor nicht aufgrund starker Erinnerungslücken Unrecht zu tun – wären da nicht doch ein paar Notizen zum Buch zwischen meinen Stapeln aufgetaucht.

Am Fach Geschichte scheiden sich schon in der Schule oft die Geister, was natürlich zumeist am grundsätzlichen Interesse des Einzelnen liegt, nicht selten aber auch am Lehrer oder Dozenten und der Art und Weise, wie er den jeweiligen Stoff vermittelt. Als ehemaliger Student in genau diesem Fachbereich kann ich von diesem schmalen Grat zwischen verzauberten Bann und formvollendeter Narkose in einem Vorlesungssaal ein Liedchen singen. Und so ist es für mich bei historischen Sachbüchern entscheidend, welchen Ansatz der Autor wählt, um längst vergangene Ereignisse zum Leben zu erwecken und damit dem Leser zugänglich zu machen. Joan Pujol García ist dafür auf den ersten Blick in der Tat bestens geeignet, was vor allem an seiner zentralen Beteiligung an Operation Fortitude liegt. Einem groß angelegten Täuschungsmanöver, welches der Operation Overlord, der Landung der alliierten Streitkräfte in der Normandie am 6. Juni 1944, vorausging und die Deutschen hinsichtlich der geplanten Angriffsrichtung (vielleicht sogar kriegs-)entscheidend auf die falsche Fährte locken konnte. Doch first things first, denn noch interessanter als dieser Coup, ist tatsächlich wie García überhaupt in diese bedeutende Position gelangen konnte.

In den Wirren des spanischen Bürgerkriegs hat der 1912 geborene Hühnerzüchter Joan Pujol García die Gräuel des modernen Kriegs selbst kennengelernt und lebt seitdem in einem Land, das von Francos eiserner Faust hart regiert wird. Als sich im Jahre 1940 der Zweite Weltkrieg auch an die Westfront verlagert, aber Spanien weiterhin seine Neutralität aufrecht erhält, reift in ihm der Gedanke, selbst den Kampf gegen Hitler aufnehmen zu wollen. Einen guten Soldat, das weiß er, gibt er nicht ab und so nimmt er, inzwischen in Portugal lebend, mehrfach Kontakt mit britischen Diplomaten auf, um als Doppelagent oder zumindest Informant die alliierte Seite zu unterstützen. Seine Ansprechpartner halten ihn aber schlicht für einen Verrückten und gehen auf seine Angebote nicht näher ein, weshalb García, nun in der Rolle des fanatischen Franco-Anhängers, es kurzerhand bei der deutschen Gegenseite versucht. Auch hier stößt er zuerst auf verhaltene Begeisterung, bis er forsch erklärt, nach England auswandern zu wollen, um dort kriegswichtige Informationen einholen zu können. Nun beißen die Deutschen an.

Von da an gibt es nun regen Austausch zwischen García und seinen Kontaktleuten, welche anfangs noch aus einfachen Diplomaten, bald aber aus hochrangigen Vertretern des deutschen Geheimdienst-Apparats bestehen. In anderthalb Jahren versorgt „Arabel“ diese mit vielen brisanten militärischen Geheimnissen, gibt die Positionen von britischen Geleitzügen im Mittelmeer sowie deren Aktivitäten auf Malta preis. Was niemand in Deutschland trotz diverser Kontrollen ahnt – García hat die Iberische Halbinsel niemals verlassen. Und alle seine Informationen sind samt und sonders erfunden. Ausgeschmückt mit Inhalten aus öffentlich zugänglichen Quellen wie Reiseführern, Zeitungsausschnitten und sonstigen Nachrichten – und dennoch glaubhaft genug, um die deutsche Kriegstaktik vielerorts entscheidend zu beeinflussen. Als die Alliierten im Jahr 1941 Enigma entschlüsseln und dadurch auch „Arabels“ Nachrichten mitlesen können, werden sie erstmals auf García aufmerksam. Der ist bis dato nur deshalb nicht aufgeflogen, weil viele Geheimdienstler in deutschen Diensten bereits umgedreht worden sind und als „XX“-Doppelagenten selbst Falschinformationen weiterleiten – und dabei auch die Hand über „Arabel“ halten.

Nun suchen die Briten Kontakt zu García, der inzwischen mit seinen anhaltenden Märchengeschichten mehr Schaden auf deutscher Seite anrichtet, als die gesamte alliierte Gegenspionage. Mitsamt der Familie wird der offensichtlich geborene Schauspieler kurzerhand nach Großbritannien gebracht, wo man ihm den passenden Codenamen „Garbo“ verleiht. Von jetzt an operiert er direkt von London aus unter dem Befehl der Sektion „XX“, welches nun alle falschen Geheiminformationen koordiniert und so zusammensetzt, das daraus für die Deutschen ein noch glaubhafteres Netz aus Lügen und Halbwahrheiten entsteht. Gleichzeitig meldet „Arabel“ an die Abwehr unter Admiral Wilhelm Canaris immer neue Erfolge bei der Anwerbung von neuen Agenten für Nazi-Deutschland. Dieses verzweigte Netz, welches Hitler einen Vorteil im Kampf gegen England verschaffen soll, existiert jedoch nur auf dem Papier. García und seine Kollegen schicken in den kommenden zwei Jahren hunderte Briefe und Telegramme an fiktive Scheinadressen, um diesen Schwindel aufrecht zu erhalten. Er fliegt während des Krieges nie auf. „Arabel“ ist längst zu einer der wichtigsten Quellen in der deutschen Planung geworden. Doch die größte Herausforderung steht den Alliierten noch bevor: D-Day.

Um die Deutschen von ihrem eigentlichen Landungsziel in der Normandie abzulenken, starten die Alliierten die bereits erwähnte Operation Fortitude, in der García zu einem wichtigen Baustein wird. Er soll in seiner Rolle als „Arabel“ dem deutschen Geheimdienst glaubhaft machen, dass die Invasion an ganz anderer Stelle stattfinden wird. Dafür werden Berichte über falsche Truppenkonzentrationen weitergeleitet, Attrappen von Landungsbooten in Südost- und Ostengland platziert und in Schottland Funkverkehr simuliert, um auch die Möglichkeit der Stoßrichtung Norwegen weiterhin offen zu lassen. Derart verwirrt, sehen sich die Deutschen gezwungen, ihre Truppenverbände aufzuteilen. Als die ersten Soldaten an den Stränden der Normandie landen, hält García weiterhin die Täuschung aufrecht, dass eine zweite Welle am Pas de Calais erfolgen wird. Wenn er die deutsche Generalität nun auch lange genug davon überzeugen kann, würden gleich zwei von Hitler persönlich in Reserve gehaltene Panzerdivisionen, zu spät kommen, um den Erfolg der Operation Overlord zu verhindern …

Auf die weiteren Geschehnisse gehe ich bewusst nicht ein. Vielen militärhistorisch interessierten Lesern werden sie ohnehin bekannt sein. Alle anderen soll dies vor allem aus einem Grund nicht meinerseits gespoilert werden – denn „Garbo, der Spion“ bezieht als Werk seine Stärke fast ausschließlich aus diesen dramatischen geschichtlichen Ereignissen. Arne Molfenter hat für sein Buch offensichtlich sehr gewissenhaft recherchiert, auch noch die kleinsten Details aus Garciás schlicht unglaublichem Leben zu Tage gefördert – und äußerst wirkungsvoll in den historischen Kontext gesetzt. Daraus ergibt sich ein mehrjähriger, episodenhafter Tatsachenbericht, der wie prädestiniert für Hollywood zu sein scheint, derart außergewöhnlich die Rolle dieses eigentlich relativ farblosen Mannes, dessen Einfallsreichtum aber im Verbund mit seinem unterwürfigen Auftreten, einen herausragenden Doppelagenten aus ihm machten.

Doch worin genau lag eigentlich sein Erfolg? Wie schaffte es García, über Jahre ohne Zugang zu irgendwelchen sensiblen Informationen, die Deutschen so lange an der Nase herumzuführen? Und vor allem – was war seine eigentliche Motivation? Arno Molfenter verpasst leider die Gelegenheit auf diese und andere Fragen (Garcías mysteriöser Tod wird nur kurz behandelt) näher einzugehen, wie auch überhaupt dem Buch seinen ganz eigenen Stempel aufzudrücken. „Garbo, der Spion“ ist in erster Linie eine Aneinanderreihung von Fakten, Jahresdaten, Schauplätzen und Ereignissen, in der man eine größere Interaktion zwischen den einzelnen, wichtigen Charakteren schmerzlich vermisst. Stattdessen versinkt das Buch in einer stringenten Sachlichkeit, was dem Zugang zu den eigentlich durchaus spannenden geschichtlichen Entwicklungen gleich mehrfach erschwert. Molfenter versäumt auch, einen näheren Blick auf die deutsche Gegenseite zu werfen, welche nachweislich natürlich grobe Fehler im Umgang mit den Informationen begangen hat, auf ihrer Seite aber auch mit erheblichen Problemen zu kämpfen hatte. Canaris Rolle beim Widerstand gegen Hitler ist inzwischen bekannt. Und auch das fehlende Wissen um die Tatsache, dass die Alliierten Enigma geknackt hatten, darf bei allen erfolgreichen Operationen der vor allem britischen Gegenspionage nicht komplett (wie hier geschehen) außer Acht gelassen werden.

Joan Pujol Garcías Meisterstück, es wird zwar ausreichend gewürdigt, lässt aber meines Erachtens eine Komplexität vermissen, die über die reine Wiedergabe seiner Heldentaten hinausgeht. Am Ende ist alles vielleicht ein bisschen zu sehr auf eine Person konzentriert, was natürlich ein nicht ganz fairer Vorwurf an ein biographisches Buch ist. Dennoch hätte ich mir wesentlich mehr Informationen über die anderen Beteiligten gewünscht. Neben den Kollegen der „XX“-Sektion kommt hier wie bereits erwähnt besonders die deutsche Gegenseite viel zu kurz. Wer einen gesamtheitlichen Blick auf die „Operation Magnitude“ erwartet, wird daher ebenso enttäuscht sein, wie diejenigen unter den Lesern, die sich mehr Informationen über Garcías Beweggründe erhofft hatten. Molfenter, inzwischen Pressesprecher der Vereinten Nationen in Deutschland, lässt im wahrsten Sinne des Wortes Taten sprechen und hat dabei das Glück, selbst nicht viel beisteuern zu müssen – denn das Leben schreibt manchmal halt die besten Geschichten.

Wertung: 84 von 100 Treffern

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  • Autor: Arne Molfenter
  • Titel: Garbo, der Spion
  • Originaltitel:
  • Übersetzer: –
  • Verlag: Piper Verlag
  • Erschienen: 04.2014
  • Einband: Hardcover
  • Seiten: 288 Seiten
  • ISBN: 978-3492055833

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