Der lange Weg nach Norden

© Rowohlt

Wenn etwas nicht kaputt ist, repariere es nicht. Ganz nach dieser Erfolgsformel haben sich in den vergangenen Jahren viele Autoren und Autorinnen auf die höchsten Plätze der Bestsellerlisten katapultiert, in Sicherheit gewogen von der Erkenntnis, dass ihr Lesepublikum auch noch für den drölfzigsten, nach Schema F zusammengezimmerten Band in die Tasche greifen wird. Veränderung, Innovation, Experimente – alles unnötiger Ballast, welcher die eigene Klientel nur unnötig verschrecken oder im schlimmsten Fall gar überfordern könnte. Gut, hierin liegt natürlich eine gewisse Übertreibung meinerseits, aber es ist nicht wegzudiskutieren, dass manch einer inzwischen so gar kein Risiko mehr eingeht – was sich besonders dann zum Ärgernis entwickelt, wenn schon das eigentliche Fundament einer Serie nur den Tiefgang eines Nichtschwimmerbeckens im Hochsommer aufweist.

Was hat das nun mit Bernard Cornwell zu tun? Nun, er gehört zu jener raren Zunft von Schriftstellern, welche die Variation auf kleinstem Raum auf eine Art und Weise gemeistert haben, die insbesondere im Genre des historischen Romans bis heute seinesgleichen sucht. Obwohl auch er sich bei seinen Romanen aus der Reihe um die Söldnerseele Uhtred (oder auch bei der Figur Richard Sharpe) vor allem auf das Konzept des „Villain of the Week“ stützt, besitzt er doch gleichzeitig die erstaunliche Fähigkeit, dies stets in einem frischen, neuen und vor allem mitreißenden Gewand zu präsentieren, wodurch sich der Leser schließlich mehr als willig am Nasenring durch die Manege ziehen lässt. Mehr noch: Die Bücher stellen quasi das literarische Äquivalent zur Popcorntüte im Kino dar – einmal angefangen, kann man nicht anders, als, scheinbar vollkommen willenlos, alles weitere in sich hineinzustopfen. Und so war es dann auch für mich nur folgerichtig, nach dem Ritt mit dem „weißen Reiter“ nun den Weg zu den „Herren des Nordens“ mit anzutreten.

Der dritte Band beginnt knapp einen Monat nach der Schlacht von Ethandun (Edington) im Mai 878, in welcher es Alfred von Wessex endlich gelungen war, den dänischen Invasoren eine herbe Niederlage zuzufügen. Vom sächsischen Heer in einer alten Festung umlagert, hatten sie schließlich kapituliert und ihr Anführer Guthrum einem Frieden zugestimmt. Und nicht nur das: Guthrum ließ sich gar taufen, nahm den Namen Æthelstan an und erhielt im Gegenzug von seinem Paten Alfred die Anerkennung als König von East-Anglien. Seitdem sind die restlichen Dänen aus Wessex abgezogen und haben sich weiter nördlich des mittleren Merciens ihr eigenes „Danelag“ etabliert – ein raues Land, das bis an die Nordspitze Northumbriens reicht und von gleich mehreren Königen beherrscht wird. Uhtred, der beim Sieg bei Ethandum eine entscheidende Rolle gespielt hat, ist über seine eigene Belohnung mehr als verbittert, wurde er doch mit einem kleinen Stück Land abgespeist, das kaum vier Familien ernähren kann. Er fühlt sich wieder mal von Alfred verraten, kehrt Wessex kurzerhand den Rücken und reitet ebenfalls gen Norden, um endlich sein Erbe, die Bebbanburg, zurückzuerobern.

Ein Ziel, das sich nur mit einer Armee erreichen lässt, weshalb Uhtred auf seinem Weg den Sklaven Guthred befreit, Sohn des dänischen Grafen Hardnicut, dem es bestimmt sein soll über Northumbrien zu herrschen und wie Alfred, der Große, den Dänen eine vernichtende Niederlage beibringen will. Eine Aufgabe, welcher der naive Guthred nicht gewachsen zu sein scheint – zumindest auf den ersten Blick. Als Uhtred hinter die wahren Pläne des ehrgeizigen Grafensohns kommt, der immer mehr den Einflüsterungen der Priester erliegt, ist die Falle bereits zugeschnappt. Er wird gefangen genommen und an den Sklavenhändler Sverri verkauft. Als Ruderer auf einem Schiff beginnen für ihn nun Jahre der Gefangenschaft. Doch Uhtred gewinnt nicht nur in dem Iren Finan einen neuen Freund, sondern eines Tages auch die Freiheit. Und sinnt auf Rache …

Nach der Lektüre von „Das letzte Königreich“, dem Auftakt der sogenannten „Sachsen“-Saga, war noch nicht abzusehen, dass mir Cornwells Epos tatsächlich auf lange Sicht Freude bereiten könnte. Zu sehr war man geprägt von anderen Mittelalter-Titeln aus dem Bereich des historischen Romans, welche, bei aller Authentizität und genauer Recherche, dennoch nicht selten vor allem eine gewisse Gemütlichkeit ausstrahlen, von edlen Rittern berichten, die sich wiederum ein Leben lang mit ekelerregenden Bösewichten herumplagen müssen – zumeist vor der Kulisse eines kleinen Dorffleckens, dessen Häuserdächer im Glanz der Sommersonne zu leuchten scheinen. Nein, natürlich hat es schon andere Autoren wie Noah Gordon oder auch Umberto Eco gegeben, die sich hinsichtlich der wahren Verhältnisse um weit größere Akkuratesse bemüht haben – eine solche Konsequenz wie Bernard Cornwell, sie jedoch hat keiner vorgelegt. Uhtreds Welt besteht aus schlammverseuchten Weihern, von Regen durchweichten Wiesen, Fäkalien übersäten Burghöfen und blutdurchtränkten Schlachtfeldern. Hunde haben die Räude, das Vieh verreckt an Hunger auf den Feldern – und die Menschen, nun auch sie zeigen durch die Bank weg vor allem ein hässliches Antlitz, befinden wir uns doch im frühen Mittelalter, wo selbst die Könige in düsteren Hallen hausen, die man heutzutage allenfalls noch als Geräteschuppen verwenden würde.

Kurzum: Bernard Cornwell ist sehr daran gelegen, diese Zeit nicht künstlich zu verklären, um stattdessen eine längst vergangene Welt möglichst genau zum Leben zu erwecken, was im Umkehrschluss dann aber auch bedeutet, die sie besiedelnden Figuren ebenfalls entsprechend zu zeichnen. Von den adligen Familien abgesehen, welche im Dunstkreis ihrer Könige und Grafen um Aufmerksamkeit und Einfluss buhlen, interessiert sich kaum jemand im Volk der Sachsen oder Dänen für das Wirken der Mächtigen. Jeder Tag ist in erster Linie ein Kampf ums Überleben, ein Kampf darum Essen auf den Tisch zu bekommen oder sich etwaiger Gefahren – sei es tierischer oder menschlicher – zu erwehren. Hat man dies erst einmal verstanden, überträgt sich auch die Faszination von Uhtred auf den Leser, der immer wieder seine Bündnisse bricht und die Seiten wechselt, stets auf den eigenen Vorteil bedacht und mit dem langfristigen Ziel in Sicht, sein Erbe aus den Händen des verräterischen Onkel Ælfric zurückzugewinnen. Ihn als gutmütigen, empathischen Menschen zu skizzieren würde nicht nur seinem Umfeld zuwiderlaufen – es würde auch letztlich seine ganze Motivation torpedieren.

Fundament sind dabei für Cornwell stets vor allem die in der Angelsachsenchronik überlieferten Ereignisse, deren sichere Pfade er in „Die Herren des Nordens“ diesmal aber erstmals verlässt, gibt es doch gerade über die Geschehnisse in Mercien und Northumbrien aus dieser Zeit bis heute nur wenige geschichtliche Quellen. Ein Umstand, welcher selbst dem historisch bewanderten Leser kaum auffallen dürfte, macht zwar der Autor von dem Raum für dichterische Freiheiten, den das Dunkle Zeitalter zweifellos bietet, reichlich Gebrauch, ohne dabei jedoch die durch Fakten gesetzten Grenzen zu übertreten. Mehr noch: Cornwell geht im dritten Band nun nochmal weit näher auf den steigenden Einfluss der Religionen im Konflikt zwischen Sachsen und Dänen ein. Insbesondere die christliche Kirche hat nun in König Alfred einen mächtigen Befürworter, der es, trotz übertriebener Frömmigkeit und gesundheitlichen Problemen, im Verlaufe der letzten Jahre geschafft hat, die Sachsen unter sich zu vereinen – und viele Ungläubige zu Jesus Christus zu bekehren. Dass ausgerechnet Uhtred sich beharrlich weigert, sich taufen zu lassen, macht ihm gleich mehrere Feinde, die sich im vorliegenden Band nun mehr und mehr herauskristallisieren.

Da es auch auf dänischer Seite derer genug gibt, wird Uhtred zu einem Heimatlosen, der zwischen den beiden Kulturen und Völkern gefangen ist, sich mal der einen, mal der anderen zugehörig fühlt – und damit gleichzeitig ein perfektes Werkzeug darstellt, um den jeweiligen Gegner auszuspionieren. Sachsen und Dänen haben dabei eins gemeinsam: Sie unterschätzen Uhtred, der nicht nur ein gefürchteter Krieger, sondern vor allem ein listiger Stratege ist, welcher selbst aus einer verhängnisvollen Lage wie dem Sklavendasein noch seinen Vorteil zu ziehen vermag. So schließt er bei seinen Reisen durch die Nordsee – sie führen ihn unter anderem auch in das damalige Handelszentrum Haithabu im heutigen Schleswig-Holstein – neue Freundschaften, nutzt die Gier seiner Feinde für seine eigenen Zwecke aus. Macht ihn das sympathisch? Definitiv nein. Und auch sein Verhalten gegenüber den Frauen kann allenfalls als zweckmäßig bezeichnet, wenngleich im Hinblick auf Gisela vielleicht tatsächlich so etwas wie Liebe andeutet.

Doch sind wir am Ende ehrlich. So lebendig auch Cornwell diese dunkle Zeit auf Papier bringt – deswegen allein lesen wir seine Saga natürlich nicht, denn die herausragendste, ja, beeindruckendste Fähigkeit legt der Brite einfach bei der Beschreibung seiner Schlachten an den Tag. Und auch hier weiß „Die Herren des Nordens“ einmal mehr auf allerhöchstem Niveau zu punkten. Die Belagerung Dunholms (das heutige Durham) ist derart spannend und plastisch in Szene gesetzt, dass uns selbst als Leser das Blut in den Ohren rauscht, wenn Uhtred und seine Kameraden, darunter auch der mutige Priester Beocca, beim Sturm auf die Holzbarrikaden ihr fürchterliches Kampfesgeheul anstimmen. Dass es im Verlaufe dieser Schlacht noch zu einigen überraschenden Wendungen kommt, setzt dem Ganzen dann die wohlverdiente Krone auf.

Spätestens jetzt sollte auch der letzte Leser dieses arrogante Arschloch Uhtred in sein Herz geschlossen haben, der natürlich am Ende wieder von seinem eigentlichen Weg abkommt, weil die Spinnerinnen am Fuße des Weltbaumes vorerst anderes mit ihm im Sinn haben. „Die Herren des Nordens“ ist der bis hierhin beste Teil einer in diesem Genre einzigartigen Romanreihe. Wer mehr über die Zeit von Alfred, dem Großen, über die Christianisierung Englands und über den jahrzehntelangen Konflikt zwischen Sachsen und Dänen wissen will – der kommt endgültig an Bernard Cornwell nicht mehr vorbei.

Wertung: 90 von 100 Trefferneinschuss2

  • Autor: Bernard Cornwell
  • Titel: Die Herren des Nordens
  • Originaltitel: The Lords of the North
  • Übersetzer: Karolina Fell
  • Verlag: Rowohlt
  • Erschienen: 01.2008
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 480
  • ISBN: 978-3499245381

Vom König der Deutschen

© Lübbe

So schön das Dasein als Vielleser und bibliophiler Sammler auch ist – es hat auch seine Schattenseiten. Im Wust der zahlreichen vielversprechend tönenden Novitäten schaffen es irgendwann nur noch wenige Titel, den Puls der Erwartung etwas höher schlagen zu lassen und uns den Veröffentlichungstermin als lang herbeigesehntes Ereignis zu kredenzen. Dies liegt nicht unbedingt am satten Leser, sondern an der so großen Menge hervorragender Bücher. (Ob es mehr sind als früher, ist fraglich. Wahrscheinlich haben sich einfach die Möglichkeiten, sie zu entdecken, verbessert) Und die werden, statt wie früher geduldig mit der Angel gefischt, inzwischen von mir in Schleppnetzen nach Hause gebracht, wo sie in Stapeln getürmt um meine knapp bemessene Lesezeit buhlen. Das hat zur Folge, dass nur wenige Novitäten sogleich gelesen werden.

Aber es gibt Ausnahmen. Und die Romane aus der Feder der deutschen Schriftstellerin Rebecca Gablé gehören in diese Kategorie. Als sich mir also an meinem Geburtstag in der Geschenktüte „Das Haupt der Welt“ entgegen reckte, ward mal wieder jegliche Leseplanung über den Haufen geworfen, ist doch ein Ausflug in Gablés Geschichten in der Vergangenheit stets ein lohnenswerter gewesen. Aber auch diesmal?

Das Haupt der Welt“ ist insofern schon ein bemerkenswerter Roman, da Rebecca Gablé erstmals ihrem üblichen Betätigungsfeld, dem englischen Mittelalter, den Rücken gekehrt hat, um sich stattdessen der deutschen Geschichte zuzuwenden. Dies ist, auch wenn viele Leser dies bereits länger gefordert haben, sicherlich ein Wagnis seitens der Autorin, welche die „Sicherheit“ des Schauplatzes Englands für eine Epoche preisgibt, die, und das ist eigentlich das merkwürdige, den meisten deutschen Lesern vielleicht sogar weit weniger bekannt ist. Im Mittelpunkt des wieder einmal in Umfang und Erzählung epischen Romans steht nämlich Otto I., später genannt „der Große“, der in vielen Geschichtsbüchern als Begründer des Deutschen Reiches angesehen wird. Eine Rolle, die er, auch von den Nationalsozialisten für ihre Propaganda missbraucht, so nie verkörperte, denn wie Gablé im Nachwort treffend bemerkt: Eine nationale Identität in dem Sinne hat es zu diesem Zeitpunkt in keinster Weise gegeben. Das einzig „Deutsche“ am riesigen Reich Ottos war die Sprache. Und selbst hier hatten und haben bis heute die Bewohner, je nach Herkunft, so ihre Probleme einander zu verstehen.

Nichtsdestotrotz: Otto I. ist eine interessante Figur und eine noch interessantere Wahl für einen Roman, zumal sich Frau Gablé auf die ersten Jahre seiner Regentschaft konzentriert, was die Möglichkeiten in der Erzählung der Geschichte etwas limitiert. Ein Grund, weshalb auch hier wieder jemand anders die Rolle des Hauptprotagonisten verkörpert, der jedoch, uns das ist neu für Gablé, diesmal keine fiktive Figur ist, sondern wirklich gelebt haben soll.

Die Brandenburg im kalten Winter 929. Tugomir, slawischer Fürstensohn der Heveller, steht kurz vor dem Ende seiner Ausbildung zum Tempel-Priester, als die Belagerung durch den deutschen König Heinrich I. und dessen Sohn Otto ein blutiges Ende findet. Die Festung an der Havel fällt, und Prinz Tugomir und seine Schwester Dragomira werden als Geiseln nach Magdeburg verschleppt. Während sich letztere schnell an die Sachsen gewöhnt und sogar bald ein Kind von Otto erwartet, leidet Tugomir unter dem Verlust von Freiheit und Heimat. So rettet er zwar Otto – widerwillig – das Leben und macht sich einen Namen als Heiler am Hof, doch er bleibt gefangen zwischen zwei Welten. Ein Umstand, der sich noch verschlimmert, als er sich in die Tochter seines größten Feindes verliebt und fortan seines Lebens nicht mehr sicher ist. Geschützt wird Tugomir dabei zumeist von Ottos Halbbruder Thankmar, mit dem ihm eine ungewöhnliche Freundschaft verbindet. Doch die Zeiten unter Ottos Regentschaft sind stürmisch und das Reich von allen Seiten bedroht. Und auch in der eigenen Familie gibt es Widerstand gegen den König der Ostfranken.

Als sich Ottos Gegner schließlich für seinen geplanten Sturz formieren, wendet sich dieser mit einer ungewöhnlichen Bitte an Tugomir – den Mann, der Freund und Feind zugleich ist und dem sich jetzt die einmalige Chance bietet: Das deutsche Reich, den großen Widersacher der slawischen Völker, zu Fall zu bringen. Wie wird er sich entscheiden?

So verheißungsvoll für eine gut erzählte Geschichte diese Ausgangslage auch ist – Gablé kopiert sich hier dennoch ein bisschen selbst, sind doch die Erfahrungen und der Lebenslauf des Hauptprotagonisten Cædmon in „Das zweite Königreich“ denen Tugomirs nicht unähnlich. Beide sind weitestgehend allein unter Feinden, beide fernab der eigentlichen Heimat. Und beide werden irgendwann vor die Wahl zwischen eben dieser und dem neu gefundenen Zuhause gestellt. Der einzige Unterschied dabei: Tugomir tut sich wesentlich schwerer, das sächsische Exil zu ertragen und weigert sich beharrlich Freundschaften mit den sächsischen Feinden zu schließen. Eine durchaus nachvollziehbare Einstellung angesichts dessen, was mit dem Rest seines Volkes nach Einnahme der Brandenburg passiert ist. Dennoch ist es gerade diese Zurückhaltung und der (vor allem zu Beginn) gänzliche Mangel an Freundlichkeit, welcher es dem Leser schwer macht, Sympathie für den slawischen Prinz zu entwickeln, der partout jeder ihm dargebotenen Hand entgegenspuckt.

Überhaupt hat Gablé hier einige Schwierigkeiten damit, einen schnellen Einstieg in die Geschichte zu gewährleisten und eine Brücke zwischen dem Jetzt und dem frühen Mittelalter zu bauen. Ungewöhnlich für eine Autorin, welche mich sonst bereits nach wenigen Seiten vollkommen in den Bann gezogen hat. Ob Robin of Waringham oder eben der bereits genannte Cædmon, die Lebendigkeit der Figuren, ihr Freud und ihr Leid, nahm sogleich automatisch gefangen. „Das Haupt der Welt“ kommt da wesentlich schwerer und schleppender in Fahrt und besonders Tugomir bleibt dem Leser seltsam fremd. Ob das dem ungewohnten Setting zuzuschreiben ist oder vielleicht gar der Tatsache, dass Gablé selbst nicht so wirklich mit ihrem „Helden“ warum geworden ist, vermag ich nicht zu sagen. Fakt ist jedenfalls: Der Roman lässt bereits an dieser Stelle das gewisse und vor allem gewohnte Herzblut vermissen, das die Vorgänger zu solchen Pageturnern hat werden lassen.

Dabei lässt sich der Autorin sonst nicht wirklich viel vorwerfen. Der bildgewaltige Erzählstil überzeugt einmal mehr und der historische Hintergrund, wieder sorgfältig recherchiert, regt zur Auseinandersetzung mit dieser Epoche der deutschen Geschichte an. So werde ich als gebürtiger Westfale dem ein oder anderen Ort meiner Heimat nun sicherlich mehr Aufmerksamkeit schenken bzw. diesen auch aus einem anderen Blickwinkel betrachten. Aber das alles, nun ja, reicht mir irgendwie nicht. Vielleicht auch weil Rebecca Gablé die Messlatte durch ihr bisheriges Werk derart hoch gelegt hat, dass damit halt eine gewisse Erwartungshaltung einhergeht. „Das Haupt der Welt“ kommt zu schwer in Gang, die Figuren sehr hölzern daher. Gerade ihr Geschick, die historischen Persönlichkeiten mit Ecken, Kanten und vor allem mit Charisma zu füllen, habe ich doch schmerzlich vermisst. Die meisten, wie z.B. Ottos jüngerer Bruder Henning, genannt „Hasenfuß“, wirken unausgearbeitet, eindimensional. Einziger Lichtblick ist da Halbbruder Thankmar, der mich in seinen Ausschweifungen und dem hitzigen Temperament an Raymond of Waringham erinnert hat und welcher der Handlung, die sonst eher gemächlich dahinschreitet, ordentlich Feuer verleiht.

Woran es letztlich haargenau im Einzelnen liegt, warum der Funke nicht richtig übergesprungen ist – ich vermag es nicht zu sagen. Möglicherweise würde ich diesen Roman, wäre er der Feder eines bis dahin nicht bekannten Autors entsprungen, auch nicht derart pingelig beurteilen. So fehlt halt einfach das gewisse Etwas, dieser typische Schuss Gablé, der die meisten anderen ihrer Werke zu so großartigen und vor allem bewegenden Leseerlebnissen gemacht hat. Fast scheint es so, als hätte Gablé dies selbst gemerkt und versucht durch neue Elemente wettzumachen, womit sie aber gerade das Gegenteil erreicht. Waren sonst die Liebesgeschichten immer durchaus stilvoll mit der Geschichte verzahnt, wandelt hier die Autorin nun auf Folletts Spuren. Explizite Beschreibungen von Bettszenen verstören mich zwar genauso wenig wie ich sie grundsätzlich in jeglicher Literatur ablehne, so lange es passt – aber ein Gablé-Roman hatte das einfach nie nötig. Warum also jetzt die ständigen Einblicke in den menschlichen Genitalbereich?

Bevor ich Gefahr laufe, allzu kritisch zu erscheinen: „Das Haupt der Welt“ ist immer noch ein richtig guter historischer Roman, der in vielen Bereichen der Konkurrenz auch weiterhin davonläuft. Doch diese Liebe zum Detail, diese Leidenschaft für jede noch so kleine Figur im großen Konstrukt der Handlung, sie wird doch schmerzlich vermisst. Wo mich sonst z.B. Tode unheimlich bewegt und gerührt haben, verfolgte ich in diesem Roman die Schicksale eher aus der Distanz. Das Ableben wird nicht als Verlust empfunden, nur mit einem Nicken zur Kenntnis genommen. Auch weil die Schwarz-Weiß gezeichneten Protagonisten selbst kaum der richtigen Trauer fähig sind und man dadurch das Gefühl bekommt, dass einfach keine Zeit da ist, dass die Geschichte schnell ihrem Ende entgegen getrieben werden muss. Und gerade das Verweilen im Mittelalter, das alltägliche Leben, die kleinen Dinge am Rand des Weges, haben die Gablé-Bücher immer so hervorragend gemacht.

Müsste ich „Das Haupt der Welt“ mit einem Wort beschreiben, es wäre wohl „mühselig“. Bezogen nicht auf die Lektüre selbst, sondern auf den Prozess der Entstehung, da ich das Gefühl nicht loswerde, dass Rebecca Gablé hier einfach nicht richtig mit ganzem Herzen dabei bzw. auf einem ihr noch etwas unbekannten Terrain unterwegs gewesen war. Dennoch freue ich mich auf die Fortsetzung „Die fremde Königin„, ändert mein Jammern auf hohem Niveau doch nichts an der Tatsache, dass diese Autorin im Genre weiterhin ihresgleichen sucht.

Wertung: 85 von 100 Trefferneinschuss2

  • Autor: Rebecca Gablé
  • Titel: Das Haupt der Welt
  • Originaltitel:
  • Übersetzer:
  • Verlag: Bastei Lübbe (Ehrenwirth Verlag)
  • Erschienen: 10.2013
  • Einband: Hardcover
  • Seiten: 864
  • ISBN: 978-3431038835

One day, a King will come, and the Sword will rise… again

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Nein, diesmal erspare ich mir den Sermon über Cornwells Meriten und eine knappe Kurzbeschreibung des Inhalts, da jeder, der die ersten beiden Bände der Artus-Trilogie gelesen hat, ohnehin weiß worum es geht und woran er bei dem britischen Autoren ist. Daher sollen wenige(r) Worte genügen, um es auf den Punkt zu bringen:

Arthurs letzter Schwur“ bildet den Abschluss einer Reihe, die mit den traditionellen Versionen der Grals-Legende vollkommen bricht und eine der ältesten Sagen Britanniens in einer Art und Weise präsentiert, wie man sie so noch nicht gekannt hat. Wo sich doch die meisten Erzählungen um die Ritter der Tafelrunde zumindest in einigen Punkten gleichen, ist es Cornwell gelungen, etwas gänzlich Neues auf Papier zu bringen, das sich jeglicher mythischer Einflüsse enthält, mittels der realistischen Erzählungen aber dafür umso nachhaltiger wirkt. Der Spagat zwischen Magie und Geschichte, er funktioniert bis ins letzte Detail. Die Figuren, heruntergeholt vom lichtdurchfluteten Sockel, sind derart menschlich gezeichnet, dass man gar nicht anders kann, als mitzuleiden, mitzufiebern, mitzulieben und letztlich auch zu hassen. Fernab vom Glanz üblicher Grals-Geschichten hat Cornwell ein Epos zu Papier gebracht, das in erster Linie das frühe Mittelalter in England zum Leben erwecken will und sich dabei nur zufällig der bekannten Figuren bedient. Und auch diese erkennt man hier nicht wieder.

Merlin ist ein verrückter, verdreckter Druide mit Wahnvorstellungen. Artus ein genialer Stratege ohne Ambitionen auf eine Krone. Lancelot ein feiger, ehrloser Geck ohne Rückgrat. Und erzählt wird die Geschichte rückblickend aus der Sicht eines einfachen Soldaten. Womit natürlich auch der Boden für Cornwell bereitet ist, dem hinsichtlich der minutiösen Beschreibung einer Schlacht wohl kein anderer Autor dieser Welt das Wasser reichen kann. Im Gegensatz zu der „Sharpe“-Reihe oder Büchern wie „Das Zeichen des Sieges“ lebt die Artus-Trilogie aber noch weit mehr von ihren Figuren. Und auch nirgendwo sonst sind sie dem englischen Autor derart gut gelungen. Inmitten des Konflikts zwischen aufkommenden Christentum und alter Götterkulte erzählt er eine Geschichte, die man weniger mitliest, als vielmehr miterlebt. Es geht um Verrat, Ehre, Treue, Liebe, Freundschaft. Um Eide, die nicht gebrochen werden dürfen. Und um Pakte, die geschlossen werden müssen, um das Überleben zu sichern. Kurz: Cornwell beschreibt das düstere frühe Mittelalter, wie es hätte sein können.

Und düster, ja streckenweise schon hoffnungslos finster, ist besonders der letzte Band der Reihe geworden. Nach und nach scheint sich alles zum schlimmsten zu wenden, die Lage für Artus und seine Getreuen immer aussichtsloser zu werden. Und dem Leser ist, nicht nur aufgrund des Titels, klar, dass das Ganze nicht gut ausgehen kann und wird. Doch gerade diese Tatsache, scheint das Buch noch umso spannender zu machen. Man weiß, dass der Traum vom friedlichen Britannien nicht in Erfüllung gehen kann, dass Mordred verloren ist, dass es zu viele Sachsen sind, um siegen zu können, dass das Druidentum zum Untergang verdammt ist. Aber man will das Drama, die Tragik, hautnah erleben. Und was Bernard Cornwell hier dann auf den letzten einhundertfünfzig Seiten abfackelt, ist großes Kino, ist einfach schlicht und ergreifend meisterhaft.

Die letzten Schritte an der Seite Arthurs und seiner Gefährten sind unheimlich schwer, der Abschied von den ans Herz gewachsenen Figuren rührt. Und die ganze Leidenschaft, die Cornwell in die Geschichte hineingesteckt hat, sie zahlt sich mehr als aus. Ein Buch wird an dieser Stelle für kurze Zeit zu mehr. Wenige Worte, die lediglich etwas beschreiben, werden zu einem beeindruckenden, ergreifenden Moment. Würdiger und besser hätte sich der Kreis der Handlung nicht schließen können. Und kurz, ganz kurz, war ich mir tatsächlich sicher: Irgendjemand schneidet gerade Zwiebeln.

Arthurs letzter Schwur“ ist, wie schon seine beiden Vorgänger, ein Meisterwerk im Genre des historischen Romans. Hervorragend erzählt, atmosphärisch einzigartig, unheimlich bewegend. Es ist eins dieser Bücher, die im Gedächtnis, die unvergesslich bleiben. Und es ist die beste, weil glaubhafteste Geschichte vom „König“ Artus, die ich bisher lesen durfte.

Wertung: 97 von 100 Trefferneinschuss2

  • Autor: Bernard Cornwell
  • Titel: Arthurs letzter Schwur
  • Originaltitel: Excalibur
  • Übersetzer: Gisela Stege
  • Verlag: Rowohlt
  • Erschienen: 12.2009
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 688
  • ISBN: 978-3499246265

Der Kessel von Clyddno Eiddyn

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Der Schwachpunkt einer jeden Trilogie ist bekanntlich fast immer der zweite Teil, da ein Großteil der vorhergehenden Ereignisse aufgegriffen werden und das Buch zwangsläufig mit einem offenen Ende schließen muss. Bernard Cornwell schafft es jedoch, trotz dieser offensichtlichen erzählerischen Einschränkungen, nochmals eine Schüppe oben drauf zulegen und den ohnehin schon überragenden ersten Part der Artus-Saga, „Der Winterkönig“, zu überflügeln.

Erneut entzaubert er die bis dato bekannte Legende um die Tafelrunde und Camelot, um stattdessen dem Leser eine Alternative zu kredenzen, welche dank sorgfältiger Recherchen nicht nur historisch glaubwürdiger daherkommt, sondern zugleich den sonst sehr stereotyp gezeichneten Heldenfiguren und Bösewichten ein gehöriges Maß an Facettenreichtum und Tiefgang verleiht. Herausgekommen ist ein historischer Roman, der als schulmeisterliches Beispiel für die Verknüpfung von Fakten und Fiktion gelten darf.

Britannien Ende des 5. Jahrhunderts. Nach der Schlacht von Lugg Vale ist Arthurs lang ersehnter Traum in Erfüllung gegangen: Die bisher zerstrittenen britannischen Stämme sind endlich im Kampf gegen die sächsischen Eindringlinge vom Festland geeint und Gerechtigkeit und Ordnung scheinen greifbar nahe. Nach mehreren Kämpfen an der sächsischen Grenze wird ein zerbrechlicher Frieden ausgehandelt, der dem Land einige Jahre der Ruhe beschert. Doch während der bösartige Mordred auf seine Rolle als König vorbereitet wird, ziehen am Horizont bereits dunkle Wolken auf, denn mit dem Sieg bei Lugg Vale ist auch das Christentum in Britannien erstarkt. Einzig und allein Merlin, der Druide, und seine Gehilfin Nimue glauben noch an die Wiederkehr der alten Götter. Um die deren Mächte neu zu entfesseln, brauchen sie den Kessel von Clyddno Eiddyn, eines der dreizehn Kleinodien der Briten, das sich auf der Insel Ynys Mon und damit tief im Territorium des gefürchteten irischen Königs Diwrnach befindet. Durch einen Eid an Merlin gebunden, schließt sich der Krieger Derfel Cadarn dem Druiden an und reist gemeinsam mit diesem tief ins Feindesland … wo Diwrnach bereits auf sie wartet.

Währenddessen droht von anderer Seite ebenfalls Gefahr. Guinevere, Arthurs Frau, hat genug von ihrer Rolle als stilles Eheweib und sucht den Kontakt zum machtgierigen und selbstverliebten Lancelot. Und der hat, da ihm Derfel einst die Frau vor dem Altar stahl, mit Arthurs bestem Mann schon seit langem eine Rechnung offen …

Erneut wird uns die Geschichte rückblickend aus der Sicht von Derfel Cadarn erzählt, dem bei den Briten aufgewachsenen Sachsen, welcher nun im hohen Alter im Kloster lebend, der Königin Igraine die Legenden um Arthur niederschreiben soll. Dabei wird einiges wieder ganz anders dargestellt, als man es gemeinhin aus den Sagen kennt. Ein Umstand, den die heldenliebende Igraine stets aufs Neue bemängelt, dem Leser jedoch nur zugute kommt, denn Bernard Cornwells Darstellung von Arthur, Merlin, Lancelot und Co. hebt sich erfrischend vom klischeehaften Einerlei bisheriger Literaturfassungen ab. So hat Arthur nichts mit dem strahlenden Recken zu Pferde gemein, sondern wird als idealistischer, kühner Mann voll Schwächen gezeichnet, welcher in Merlin einen Verbündeten hat, den einzig und allein die Götterwelt und weniger die Geschicke der Menschen interessiert. Guinevere hat auch hier nichts von ihrer Schönheit verloren, ist jedoch zudem mit einer überragenden Intelligenz gesegnet, die große Ambitionen in ihr nährt, wohingegen Lancelot als narzisstischer und opportunistischer Feigling wohl den größten Gegensatz zur altbekannten Vorlage darstellt.

Cornwell hat mit der Zeichnung seiner Charaktere beeindruckendes, ja streckenweise atemberaubendes geleistet, denn trotz all dieser neuen Facetten, nimmt einen das hier geschilderte Frühmittelalter von der ersten Seite gefangen. Man leidet, hofft und bangt mit den Helden, welche allesamt mit unglaublicher Tiefe ausgestattet sehr menschlich skizziert wurden und im Verlauf der Trilogie eine jederzeit nachvollziehbare Entwicklung durchmachen. Auf der anderen Seite wird die Bühne dieser Erzählung von einer ganzen Schar äußerst hassenswerter Bösewichte besiedelt, welche uns stets um Arthurs Hoffnungen und Träume bangen und ein Happy-End nicht selten in weite Ferne rücken lassen. Ohnehin ist auch Band zwei der Artus-Chroniken wieder mal nichts für zartere Gemüter, was schon in der Erzählperspektive des Buches begründet liegt. Derfel, als Kind einer druidischen Todesgrube entkommen, ist als Krieger aufgewachsen und schreibt deshalb auch aus deren Sicht. Seine Geschichte Arthurs ist eine Geschichte voller Kriege zwischen Angeln und Sachsen, vom Konflikt des Druidentums mit dem aufkommenden Christentum. Sprachlich wird nichts beschönigt, die Taten auf und neben dem Schlachtfeld detailliert geschildert. Das frühe Mittelalter war eine rauhe, eine rohe Zeit. Und genau das will Cornwell auch zeigen. Wem das nicht liegt, der sollte lieber zu Iny Lorentz und Konsorten greifen.

Dass sich Cornwell damit zwangsläufig vom ätherischen, magischen Mythos im Stile Marion Zimmer Bradleys entfernt, liegt auf der Hand. Und dennoch verliert die Erzählung nichts von ihrem Zauber und ihrer Unterhaltung. Da wird die „Tafelrunde“ kurzerhand zum bierbefleckten Holztisch voll schnarchender, besoffener Speerträger umfunktioniert, was neben den Auftritten Merlins eine der humorigsten Passagen des Buches darstellt. Cornwell gelingt das, was nur wenigen gelingen will. Einen Mythos neu zu interpretieren, in dem er ihm zwar den Glanz nimmt, aber gleichzeitig glaubwürdiger, nachvollziehbarer und damit bewegender macht. Die bildhafte, direkte Sprache lässt selbst die verworrensten politischen Intrigen und Verwandschaftsverhältnisse verständlich werden, ohne das an irgendeiner Stelle deutlich wird, wo die Fakten aufhören und die Fiktion beginnt. „Der Schattenfürst“ funktioniert somit als fantastischer und historischer Roman gleichermaßen. Nicht zuletzt deshalb, da Cornwell Kenner der Mythologie das Erwartete auf völlig andere Art und Weise präsentiert und neben seiner üblichen Liebe zu Schlachten diesmal auch besonders im Hinblick auf die Charakterzeichnung zu punkten weiß.

Für mich gehört „Der Schattenfürst“schon jetzt zu meinen persönlichen Favoriten in diesem Genre. Über knapp 700 Seiten hat Cornwell mich mit herrlichen Bildern und ungeahntem Tiefgang auf allerhöchstem Niveau unterhalten, bewegt und bis zum Ende nicht losgelassen. Wenn man in manchen Passagen (hier möchte ich besonders Cornwells Erzählung von Tristan und Iseult/Isolde hervorheben) einen Kloß im Hals hat, an anderer Stelle vor Wut und Empörung kocht, um dann wieder im Wüten der Schlacht das Adrenalin steigen zu spüren, dann, ja dann, hat ein Buch bemerkenswertes geleistet.

Bernard Cornwell hebt sich mit „Der Schattenfürst“ endgültig weit von der trivialen Konkurrenz ab und schafft eine Neuerzählung des Mythos, welche den Geist jener Zeit lebendig macht und den ohnehin schon brillanten Vorgänger (den man vorher gelesen haben sollte) zu übertrumpfen weiß. Ein episches Meisterstück, das mit zwei Karten, Namensliste und äußerst informativen Nachwort abgerundet wird.

Wertung: 96 von 100 Trefferneinschuss2

  • Autor: Bernard Cornwell
  • Titel: Der Schattenfürst
  • Originaltitel: Enemy of God
  • Übersetzer: Gisela Stege
  • Verlag: Rowohlt
  • Erschienen: 05.2009
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 688
  • ISBN: 978-3499246258

Das Erbe des Uther Pendragon

© Rowohlt

Nachdem zuletzt die Warterei auf Band 11 von Bernard Cornwells Sachsen-Saga zu lang zu werden drohte, habe ich mir „Der Winterkönig“ aus dem Bücherregal hervorgeholt, um damit zumindest etwas die Zeit überbrücken zu können. Ich konnte ja nicht ahnen, dass der Auftakt der Arthur-Trilogie, welche Cornwell Mitte der 90er und damit chronologisch vor der so erfolgreichen Serie mit dem Sachsen Uthred geschrieben hat, die anderen Werke nochmal derart in den Schatten stellen sollte. Und dabei standen die Zeichen vor der Lektüre doch eigentlich nicht so günstig, gibt es schließlich bereits genug Bücher über die Artus-Saga, von denen ein Großteil (von wenigen Ausnahmen abgesehen) letztendlich am versuchten Spagat zwischen Fiktion und Fakten gescheitert ist.

Besonders auf Letztere legt nun ja auch Cornwell bekanntlich großen Wert, weswegen das von ihm hier Geleistete umso höher zu bewerten ist. Ihm ist es gelungen, aus Mythen und Legenden, und trotz fehlender geschichtlich belegbarer Aufzeichnungen, einen historischen Roman zu schmieden, der die märchenhafte Erzählung zwar zu großen Teilen entzaubert, dafür aber gleichzeitig eine viel realistischere aus der Taufe gehoben hat. Diese sei schnell angerissen:

Britannien Ende des 5. Jahrhunderts. Es ist eine dunkle, eine düstere Zeit. Die Königreiche der Insel werden von Sachsen und Iren gleichermaßen bedroht, innere Streitigkeiten sorgen für Krieg zwischen den einzelnen Stämmen. Uther Pendragon, der alternde Großkönig, wartet verzweifelt auf die Geburt seines Kindes, in der Hoffnung es möge ein Junge sein, der seine Nachfolge sichert. Sein Wunsch wird ihm erfüllt, doch nur wenige Zeit später stirbt Uther aufgrund seines hohen Alters. Da der Säugling mit dem Namen Mordred das Land nicht regieren kann, beginnt nun die Suche nach einem Vertreter unter den Rittern, der anstatt des jungen Königs die Führung übernimmt und die begonnenen Friedensgespräche zwischen den britannischen Stämmen weiter vorantreibt. Ist Mordred alt genug, muss dieser Regent von seinem Amt zurücktreten und dem von Geburt an bestimmten Herrscher die Macht übergeben. Doch wer soll dieser Ritter sein?

Ein Rat wird gegründet, der aus den verschiedensten Stämmen den geeignetsten Kandidaten auswählen soll. Nach langen, zähen Verhandlungen einigt man sich schließlich auf Arthur, den Bastardsohn Uthers ohne legitimen Kronanspruch, der derzeit in Armorica, an der nordwestlichen Küste Galliens weilt, um dort das gefährdete britannische Reich gegen die vorrückenden Franken zu verteidigen. Bevor er sein Amt als Protektor Mordreds antreten kann, kommt es zu Verrat zwischen den Stämmen auf der Insel, den der junge rechtmäßige König nur knapp überlebt. Arthur eilt in Riesenschritten zur Hilfe und macht sich fortan an daran, das zerteilte Britannien zu einen, um die Sachsen endgültig vernichtend schlagen zu können. Alles sieht danach aus, als hätte er Erfolg. Die Heirat der Tochter eines ehemaligen Feindes scheint endlich den ersehnten Frieden und damit auch den Sieg zu bringen … bis Arthurs Blick auf die junge Guinevere fällt und durch seine Liebe zu ihr das gesamte Königreich in den Abgrund zu stürzen droht.

Uther Pendragon, Arthur, Guinevere, Merlin, Gawain, Lancelot. All die aus der legendären Sage bekannten Namen tauchen auch in diesem Buch auf, soviel sei verraten. Doch mit den Namen endet dann auch jegliche Ähnlichkeit zu anderen Artus-Büchern. Von Rittern in glänzenden Metallrüstungen oder elfengleichen Prinzessinnen vor turmhohen Steinburgen fehlt hier nämlich jede Spur. Und auch die Figuren sind so ganz anders, als man sie aus Film und vergleichbaren Büchern kennt. Cornwell zeigt sich einmal mehr als innovativer Autor und lässt die Geschichte, wie auch in der Sachsen-Saga, rückblickend erzählen. In diesem Fall von einem alten Mönch mit Namen Derfel, der als Kind nur knapp einer Todesgrube entkam und als Mündel des Druiden Merlins aufwuchs. In späteren Jahren wurde er zum findigen Krieger, Heerführer und Freund an Arthurs Seite, mit dem er gemeinsam so manche Schlacht schlug, um letztendlich in einem christlichen Kloster zu landen. Nun, im hohen Alter, schreibt er auf Wunsch von Lady Igraine seine Erlebnisse nieder, wobei diese stets den Ausgang der Geschichte sowie die Darstellung der Figuren zu beeinflussen versucht, da die von Derfel berichteten Vorgänge nicht zu dem von ihr lieber gesehenen Heldenbild der Beteiligten passen wollen. An dieser Stelle spielt Cornwell augenzwinkernd auf die verschiedenen, zumeist eher traditionellen Artus-Sagen an, die in seiner realitätsnahen Geschichte letztendlich keinen Platz finden.

Arthur ist hier kein strahlender Held und schon gar nicht König, sondern lediglich ein willensstarker, fähiger Krieger mit politischem Weitblick, dem es jedoch nicht an charakterlichen Schwächen und Feinden mangelt. Sein Mentor Merlin kann keine Zauberkräfte aufbieten und ist vielmehr der führende Kopf des vom Aussterben bedrohten Druidenkults. Und selbst Lancelot, der strahlende, blondgelockte Vorzeigeritter aus der Sage, hat keinerlei Ähnlichkeit mit der von z.B. Richard Gere verkörperten Figur. In diesem Buch ist er ein Feigling und Blender, und ein besonders hassenswertes Geschöpf dazu, an dem Cornwell seinen Spaß gehabt zu haben scheint. Selbiges gilt natürlich auch für Merlin, der mit seiner zynischen Art und dem staubtrockenen Humor nicht nur für ordentlich Spaß in der Geschichte sorgt, sondern der auch trotz seiner anfangs undurchsichtigen Handlungen die zusammenhängenden und -führenden Faden der Ereignisse in den Händen zu halten scheint.

Wo sonst besonders die Ausarbeitung der Nebencharaktere zu den größeren Schwächen des Autors zählt (u.a. bei „Das Zeichen des Sieges“ oder den ersten Bänden der Uthred-Reihe), so ist sie gerade hier das Bemerkenswerte des Romans. Alle, wirklich alle Personen innerhalb der Handlung überzeugen mit einer beeindruckenden Tiefe und einem Facettenreichtum, den man sonst innerhalb dieses Genres vergeblich sucht. Gute und Böse gibt es hier nicht. Vielmehr verkörpert fast jede Figur vor allem das Menschliche, das Zerrissene. Geleitet von den verschiedensten Motivationen und Wünschen sind sie weit entfernt von den strahlenden Rittergestalten der Sage, wodurch der Plot nicht nur an Authentizität gewinnt, sondern auch der Leser einen viel engeren Zugang zu den Charakteren bekommt. Und obwohl sich Cornwell liebevoll um diese, SEINE Figuren kümmert, verliert er doch nie den größeren Kontext aus den Augen. Dies hat zur Folge, dass „Der Winterkönig“ weit mehr ist, als nur eine weitere Version einer Legende. Der Autor erweckt eine ganze Epochen mit ihren Kriegen, Religionsstreitigkeiten und politischen Auseinandersetzungen zum Leben, und tut dies derart bildreich und berührend, das man nicht anders kann, als mitgerissen zu werden. So blutig und brutal auch hier die Schlachten wieder sind, sind es doch diesmal die ruhigen Szenen, die im Gedächtnis haften bleiben und das Leseerlebnis damit zu einem äußerst nachhaltigen machen.

Der Winterkönig“ ist weit mehr als ein guter Auftakt einer Trilogie. Cornwell stellt hier vielleicht erstmals sein sprachliches Können und seine Befähigung als Romancier auf ganzer Länge unter Beweis. Ein historischer Roman mit Anleihen des Fantasy-Genres, der einen Mythos auf die allerbeste Weise neu erzählt und gleichzeitig in Punkto Spannungsaufbau neue Grenzen auslotet. Für mich das (bisher) beste Werk dieses Autors, der sich langsam aber sicher zum Olymp des Genres schreibt.

Wertung: 95 von 100 Trefferneinschuss2

  • Autor: Bernard Cornwell
  • Titel: Der Winterkönig
  • Originaltitel: The Winter King
  • Übersetzer: Gisela Stege
  • Verlag: Rowohlt
  • Erschienen: 09.2008
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 688
  • ISBN: 978-3499246241