Wenn etwas nicht kaputt ist, repariere es nicht. Ganz nach dieser Erfolgsformel haben sich in den vergangenen Jahren viele Autoren und Autorinnen auf die höchsten Plätze der Bestsellerlisten katapultiert, in Sicherheit gewogen von der Erkenntnis, dass ihr Lesepublikum auch noch für den drölfzigsten, nach Schema F zusammengezimmerten Band in die Tasche greifen wird. Veränderung, Innovation, Experimente – alles unnötiger Ballast, welcher die eigene Klientel nur unnötig verschrecken oder im schlimmsten Fall gar überfordern könnte. Gut, hierin liegt natürlich eine gewisse Übertreibung meinerseits, aber es ist nicht wegzudiskutieren, dass manch einer inzwischen so gar kein Risiko mehr eingeht – was sich besonders dann zum Ärgernis entwickelt, wenn schon das eigentliche Fundament einer Serie nur den Tiefgang eines Nichtschwimmerbeckens im Hochsommer aufweist.
Was hat das nun mit Bernard Cornwell zu tun? Nun, er gehört zu jener raren Zunft von Schriftstellern, welche die Variation auf kleinstem Raum auf eine Art und Weise gemeistert haben, die insbesondere im Genre des historischen Romans bis heute seinesgleichen sucht. Obwohl auch er sich bei seinen Romanen aus der Reihe um die Söldnerseele Uhtred (oder auch bei der Figur Richard Sharpe) vor allem auf das Konzept des „Villain of the Week“ stützt, besitzt er doch gleichzeitig die erstaunliche Fähigkeit, dies stets in einem frischen, neuen und vor allem mitreißenden Gewand zu präsentieren, wodurch sich der Leser schließlich mehr als willig am Nasenring durch die Manege ziehen lässt. Mehr noch: Die Bücher stellen quasi das literarische Äquivalent zur Popcorntüte im Kino dar – einmal angefangen, kann man nicht anders, als, scheinbar vollkommen willenlos, alles weitere in sich hineinzustopfen. Und so war es dann auch für mich nur folgerichtig, nach dem Ritt mit dem „weißen Reiter“ nun den Weg zu den „Herren des Nordens“ mit anzutreten.
Der dritte Band beginnt knapp einen Monat nach der Schlacht von Ethandun (Edington) im Mai 878, in welcher es Alfred von Wessex endlich gelungen war, den dänischen Invasoren eine herbe Niederlage zuzufügen. Vom sächsischen Heer in einer alten Festung umlagert, hatten sie schließlich kapituliert und ihr Anführer Guthrum einem Frieden zugestimmt. Und nicht nur das: Guthrum ließ sich gar taufen, nahm den Namen Æthelstan an und erhielt im Gegenzug von seinem Paten Alfred die Anerkennung als König von East-Anglien. Seitdem sind die restlichen Dänen aus Wessex abgezogen und haben sich weiter nördlich des mittleren Merciens ihr eigenes „Danelag“ etabliert – ein raues Land, das bis an die Nordspitze Northumbriens reicht und von gleich mehreren Königen beherrscht wird. Uhtred, der beim Sieg bei Ethandum eine entscheidende Rolle gespielt hat, ist über seine eigene Belohnung mehr als verbittert, wurde er doch mit einem kleinen Stück Land abgespeist, das kaum vier Familien ernähren kann. Er fühlt sich wieder mal von Alfred verraten, kehrt Wessex kurzerhand den Rücken und reitet ebenfalls gen Norden, um endlich sein Erbe, die Bebbanburg, zurückzuerobern.
Ein Ziel, das sich nur mit einer Armee erreichen lässt, weshalb Uhtred auf seinem Weg den Sklaven Guthred befreit, Sohn des dänischen Grafen Hardnicut, dem es bestimmt sein soll über Northumbrien zu herrschen und wie Alfred, der Große, den Dänen eine vernichtende Niederlage beibringen will. Eine Aufgabe, welcher der naive Guthred nicht gewachsen zu sein scheint – zumindest auf den ersten Blick. Als Uhtred hinter die wahren Pläne des ehrgeizigen Grafensohns kommt, der immer mehr den Einflüsterungen der Priester erliegt, ist die Falle bereits zugeschnappt. Er wird gefangen genommen und an den Sklavenhändler Sverri verkauft. Als Ruderer auf einem Schiff beginnen für ihn nun Jahre der Gefangenschaft. Doch Uhtred gewinnt nicht nur in dem Iren Finan einen neuen Freund, sondern eines Tages auch die Freiheit. Und sinnt auf Rache …
Nach der Lektüre von „Das letzte Königreich“, dem Auftakt der sogenannten „Sachsen“-Saga, war noch nicht abzusehen, dass mir Cornwells Epos tatsächlich auf lange Sicht Freude bereiten könnte. Zu sehr war man geprägt von anderen Mittelalter-Titeln aus dem Bereich des historischen Romans, welche, bei aller Authentizität und genauer Recherche, dennoch nicht selten vor allem eine gewisse Gemütlichkeit ausstrahlen, von edlen Rittern berichten, die sich wiederum ein Leben lang mit ekelerregenden Bösewichten herumplagen müssen – zumeist vor der Kulisse eines kleinen Dorffleckens, dessen Häuserdächer im Glanz der Sommersonne zu leuchten scheinen. Nein, natürlich hat es schon andere Autoren wie Noah Gordon oder auch Umberto Eco gegeben, die sich hinsichtlich der wahren Verhältnisse um weit größere Akkuratesse bemüht haben – eine solche Konsequenz wie Bernard Cornwell, sie jedoch hat keiner vorgelegt. Uhtreds Welt besteht aus schlammverseuchten Weihern, von Regen durchweichten Wiesen, Fäkalien übersäten Burghöfen und blutdurchtränkten Schlachtfeldern. Hunde haben die Räude, das Vieh verreckt an Hunger auf den Feldern – und die Menschen, nun auch sie zeigen durch die Bank weg vor allem ein hässliches Antlitz, befinden wir uns doch im frühen Mittelalter, wo selbst die Könige in düsteren Hallen hausen, die man heutzutage allenfalls noch als Geräteschuppen verwenden würde.
Kurzum: Bernard Cornwell ist sehr daran gelegen, diese Zeit nicht künstlich zu verklären, um stattdessen eine längst vergangene Welt möglichst genau zum Leben zu erwecken, was im Umkehrschluss dann aber auch bedeutet, die sie besiedelnden Figuren ebenfalls entsprechend zu zeichnen. Von den adligen Familien abgesehen, welche im Dunstkreis ihrer Könige und Grafen um Aufmerksamkeit und Einfluss buhlen, interessiert sich kaum jemand im Volk der Sachsen oder Dänen für das Wirken der Mächtigen. Jeder Tag ist in erster Linie ein Kampf ums Überleben, ein Kampf darum Essen auf den Tisch zu bekommen oder sich etwaiger Gefahren – sei es tierischer oder menschlicher – zu erwehren. Hat man dies erst einmal verstanden, überträgt sich auch die Faszination von Uhtred auf den Leser, der immer wieder seine Bündnisse bricht und die Seiten wechselt, stets auf den eigenen Vorteil bedacht und mit dem langfristigen Ziel in Sicht, sein Erbe aus den Händen des verräterischen Onkel Ælfric zurückzugewinnen. Ihn als gutmütigen, empathischen Menschen zu skizzieren würde nicht nur seinem Umfeld zuwiderlaufen – es würde auch letztlich seine ganze Motivation torpedieren.
Fundament sind dabei für Cornwell stets vor allem die in der Angelsachsenchronik überlieferten Ereignisse, deren sichere Pfade er in „Die Herren des Nordens“ diesmal aber erstmals verlässt, gibt es doch gerade über die Geschehnisse in Mercien und Northumbrien aus dieser Zeit bis heute nur wenige geschichtliche Quellen. Ein Umstand, welcher selbst dem historisch bewanderten Leser kaum auffallen dürfte, macht zwar der Autor von dem Raum für dichterische Freiheiten, den das Dunkle Zeitalter zweifellos bietet, reichlich Gebrauch, ohne dabei jedoch die durch Fakten gesetzten Grenzen zu übertreten. Mehr noch: Cornwell geht im dritten Band nun nochmal weit näher auf den steigenden Einfluss der Religionen im Konflikt zwischen Sachsen und Dänen ein. Insbesondere die christliche Kirche hat nun in König Alfred einen mächtigen Befürworter, der es, trotz übertriebener Frömmigkeit und gesundheitlichen Problemen, im Verlaufe der letzten Jahre geschafft hat, die Sachsen unter sich zu vereinen – und viele Ungläubige zu Jesus Christus zu bekehren. Dass ausgerechnet Uhtred sich beharrlich weigert, sich taufen zu lassen, macht ihm gleich mehrere Feinde, die sich im vorliegenden Band nun mehr und mehr herauskristallisieren.
Da es auch auf dänischer Seite derer genug gibt, wird Uhtred zu einem Heimatlosen, der zwischen den beiden Kulturen und Völkern gefangen ist, sich mal der einen, mal der anderen zugehörig fühlt – und damit gleichzeitig ein perfektes Werkzeug darstellt, um den jeweiligen Gegner auszuspionieren. Sachsen und Dänen haben dabei eins gemeinsam: Sie unterschätzen Uhtred, der nicht nur ein gefürchteter Krieger, sondern vor allem ein listiger Stratege ist, welcher selbst aus einer verhängnisvollen Lage wie dem Sklavendasein noch seinen Vorteil zu ziehen vermag. So schließt er bei seinen Reisen durch die Nordsee – sie führen ihn unter anderem auch in das damalige Handelszentrum Haithabu im heutigen Schleswig-Holstein – neue Freundschaften, nutzt die Gier seiner Feinde für seine eigenen Zwecke aus. Macht ihn das sympathisch? Definitiv nein. Und auch sein Verhalten gegenüber den Frauen kann allenfalls als zweckmäßig bezeichnet, wenngleich im Hinblick auf Gisela vielleicht tatsächlich so etwas wie Liebe andeutet.
Doch sind wir am Ende ehrlich. So lebendig auch Cornwell diese dunkle Zeit auf Papier bringt – deswegen allein lesen wir seine Saga natürlich nicht, denn die herausragendste, ja, beeindruckendste Fähigkeit legt der Brite einfach bei der Beschreibung seiner Schlachten an den Tag. Und auch hier weiß „Die Herren des Nordens“ einmal mehr auf allerhöchstem Niveau zu punkten. Die Belagerung Dunholms (das heutige Durham) ist derart spannend und plastisch in Szene gesetzt, dass uns selbst als Leser das Blut in den Ohren rauscht, wenn Uhtred und seine Kameraden, darunter auch der mutige Priester Beocca, beim Sturm auf die Holzbarrikaden ihr fürchterliches Kampfesgeheul anstimmen. Dass es im Verlaufe dieser Schlacht noch zu einigen überraschenden Wendungen kommt, setzt dem Ganzen dann die wohlverdiente Krone auf.
Spätestens jetzt sollte auch der letzte Leser dieses arrogante Arschloch Uhtred in sein Herz geschlossen haben, der natürlich am Ende wieder von seinem eigentlichen Weg abkommt, weil die Spinnerinnen am Fuße des Weltbaumes vorerst anderes mit ihm im Sinn haben. „Die Herren des Nordens“ ist der bis hierhin beste Teil einer in diesem Genre einzigartigen Romanreihe. Wer mehr über die Zeit von Alfred, dem Großen, über die Christianisierung Englands und über den jahrzehntelangen Konflikt zwischen Sachsen und Dänen wissen will – der kommt endgültig an Bernard Cornwell nicht mehr vorbei.
Wertung: 90 von 100 Treffern
- Autor: Bernard Cornwell
- Titel: Die Herren des Nordens
- Originaltitel: The Lords of the North
- Übersetzer: Karolina Fell
- Verlag: Rowohlt
- Erschienen: 01.2008
- Einband: Taschenbuch
- Seiten: 480
- ISBN: 978-3499245381