That’s the story of the Hurricane…

© Rowohlt

„Ich kenne keinen Schriftsteller, der nicht glaubt, dass er ein Boxer ist.“

Bei dieser auf den eitlen Norman Mailer gemünzten Aussage Nelson Algrens mag er auch ein bisschen an sich selbst gedacht haben, war doch der in Chicago aufgewachsene Autor Zeit seines Lebens ein fanatischer Fan dieser rauen Sportart. Die Innenseite seines rechten Oberarms zierten als Tätowierung ein paar Boxhandschuhe. Sein Lieblingsschauspieler war Charles Bronson, nicht zuletzt weil er kein Antlitz hatte, sondern ein Gesicht. Und zwar das eines Boxers. Selbst im Arbeitszimmer seiner Wohnung in Hackensack, New Jersey, hing neben dem Porträt Dostojewskis ein Foto von Rubin „Hurricane“ Carter. Man kann daher schon von einer gewissen Zwangsläufigkeit sprechen, sieht man sich die Entstehungsgeschichte seines biographischen Romans „Calhoun“ etwas näher an.

1983, zwei Jahre nach seinem Tod, veröffentlicht, erzählt Nelson Algren in „Calhoun“ die Geschichte des berühmten Boxers Rubin Carter, genannt „Hurricane“, der 1966 wegen Mordes inhaftiert und erst 1985 nach mehrfacher Wiederaufnahme des Verfahrens freigelassen wurde. Ein Fall, der nicht nur aufgrund von Bob Dylans Song und der Verfilmung mit Denzel Washington als Carter bis heute noch in den Köpfen der Boxfreunde präsent ist, sondern auch für viele Jahre die Debatte um den Rassismus in der US-amerikanischen Justiz stark befeuert hat. Algren greift diese Thematik in seinem Roman auf, verflechtet das Boxmilieu mit der etwas anderen Arena Gerichtssaal und zeichnet ein düsteres Bild vom Land der unbegrenzten Möglichkeiten, das bis heute wohl nicht allzu viel an Aktualität verloren hat. Umso interessanter, dass Algren ursprünglich gar keinen Roman im Sinn hatte. Als Carter und sein Freund John Artis, beide Afroamerikaner, in New Jersey des Mordes an drei Weißen für schuldig befunden und für dreimal lebenslänglich ins Gefängnis geschickt wurden, war der Autor als Reporter des „Esquire Magazine“ lediglich damit beauftragt, einen Artikel mit Interview zu machen. Doch es sollte anders kommen.

Algren, der den Schuldspruch aufgrund fragwürdiger Zeugenaussagen zweier Kriminelle vor einer durchweg weißen Jury von Beginn an für einen Skandal hielt, rechnete zumindest zu Beginn im Falle eines Wiederaufnahmeverfahrens mit einem Freispruch. Erst als dieser ausblieb bzw. das erste Urteil bestätigt wurde, sah sich Algren in der Pflicht, auf diesen Justizirrtum und vor allem die Logik dieses Irrtums aufmerksam zu machen. Da man dies den Lesern des „Esquire Magazine“, welche kaum den Bürgerrechtlern angehörten, nicht zumuten konnte, schrieb er die ursprüngliche Story um. Aus einem einfachen Artikel wurde ein dokumentarischer Prozessbericht und schließlich, mangels Interesse anderer Zeitungen, ein Roman, den der Autor, der vorerst weiter am Tatort (eine kleine Stadt namens Paterson) blieb und sogar nach New Jersey zog, stetig mit Informationen aus weiteren Recherchen anreicherte. Für Algren war „Calhoun“ dabei die ganze Zeit mehr als nur die Geschichte eines Boxers – es war seine letzte Abrechnung mit einem Amerika, eine Anklage gegen die andauernde rassistische Gewalttätigkeit weißer Geschworenengerichte und deren stille Billigung durch eine große Bandbreite der Bevölkerung.

Wie schon in seinem bekanntesten Roman „Der Mann mit dem goldenen Arm“, so singt auch hier „die Blechpfeife der amerikanischen Literatur“ (Algren über sich selbst) noch ein letztes Mal das Hohelied auf den Scheiternden, den Einzelgänger in den Höllen der so genannten „Freiheit.“ Aus heutiger Sicht liest sich dies immer noch kraftvoll, allerdings auch mit viel Bitternis und Pathos durchsetzt, denn Algren, der stets den Verlierer der Gesellschaft überzeugend spielte, aber nie wirklich verkörperte, bezieht in einigen Passagen zu eindeutig Position, was der Dramatik der Geschichte zwar entgegen kommt, dem ein oder anderen Justizbeamten im Nachhinein jedoch vielleicht nicht ganz gerecht wird. Dem eindringlichen Charakter von „Calhoun“ tut dies jedoch keinerlei Abbruch. Lange vor einem Scott Turow oder John Grisham wird hier die Widersprüchlichkeit des amerikanischen Justizsystems genauso in seine Einzelteile zerlegt, wie die verhängnisvolle Einflussnahme der wohlmeinenden Prominenz (u.a. Bob Dylan) auf Carters Wiederaufnahmeverfahren.

Um es in der Boxsprache zusammenzufassen: „Calhoun“ geht über die volle Distanz von 12 Runden und leistet uns, den Lesern, einen harten Kampf, da Algren immer wieder zwischen den Zeiten springt und auch die vielen Spitznamen der kriminellen Unterwelt New Jerseys oftmals zur Verwirrung beitragen.

Calhoun“ ist eine eindringliche, rasiermesserscharfe Wiedergabe über die Umstände des Falls Rubin „Hurricane“ Carter, an der man sich immer wieder schneiden und reiben kann. Eine eckige, kantige, nicht immer leichte Lektüre, wie sie typisch für Algren war. Ob man das mag oder nicht – Geschmackssache. In seine Fußstapfen ist bis heute jedenfalls nicht wirklich nochmal jemand getreten. Das dürfte dem „Verlierer“ Algren aber gefallen haben, der einer angehenden Schriftstellerin, welche auf der Schwelle zu einer literarischen Karriere stand, per Brief einmal folgenden Rat mitgab:

„Geh zwei Schritte zurück, Baby. Lauf davon, lauf, so schnell du kannst. Das ist keine Schwelle – das ist ein Abgrund.“

Wertung: 80 von 100 Treffern

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  • Autor: Nelson Algren
  • Titel: Calhoun – Roman eines Verbrechens
  • OriginaltitelThe Devil’s Stocking
  • Übersetzer: Carl Weissner
  • Verlag: Rowohlt
  • Erschienen: 1/1999
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 305 Seiten
  • ISBN: 978-3499136825

The needle tears a hole, the old familiar sting …

© Rowohlt

„Ich lebe vom Schreiben, aber ich mag Schriftsteller nicht besonders. Marcel Proust? Kenn ich nicht, interessiert mich nicht. Ich bevorzuge Boxer, Huren und Gauner. Da bin ich zuhause, da fühl ich mich wohl.“

Treffender als mit Nelson Algrens eigenen Worten könnte man wohl kaum beschreiben, was den Leser erwartet, wenn er zu einem Werk des US-Amerikaners greift, den Ernest Hemingway einst äußerst unbescheiden als „zweitbesten Autor“ und „Nachfolger“ bezeichnete.

Zeit ihres Leben schrieben diese zwei „Alpha-Tiere“ sich Briefe in gegenseitiger Wertschätzung, sowohl was den Inhalt als auch den Stil des jeweils anderen anbelangte. Die große Popularität Hemingways, vor allem außerhalb der Staaten, erreichte Algren, der für „Der Mann mit dem goldenen Arm“ im Jahr 1950 den National Book Award erhielt, letztlich aber nie. Und so hat selbst der Tod, welcher ihn am 9. Mai 1981 ereilte, einen gewissen ironischen Zug. Algren, der die Aufnahme in die American Academy of Arts and Letters feiern wollte, starb noch bevor die ersten Gäste eintrafen. Der Legende nach fand man ihn auf dem Küchenfußboden liegend mit einem Whiskey-Glas in der Hand. Ein Ende, wie es wohl auch Hemingway gefallen hätte.

Hierzulande ist der „zweitbeste Autor“ augenscheinlich in Vergessenheit geraten. Die letzten Auflagen seiner Werke sind inzwischen fast zwei Jahrzehnte alt und allesamt vergriffen. Und es deutet auch nichts daraufhin, dass Algren auf dem deutschen Buchmarkt nochmal Ehre erwiesen wird. Das wäre aber im Grunde genauso ungerecht wie der Umstand, dass man mit Algren in erster Linie den Mann verbindet, der Simone de Beauvoir zu ihrem ersten Orgasmus verhalf (Was meinerseits eher ein Grund wäre, ihn nicht zu lesen, kann ich doch mit der guten Dame und ihrem Geschreibsel so rein gar nichts anfangen). Dennoch muss ich nach meinem ersten Roman von diesem Autor, „Der Mann mit dem goldenen Arm“, konstatieren: Die ganz große Begeisterung konnte er nicht auslösen. Und das obwohl Sujet und Sprache durchaus vollkommen meinem Geschmack entsprechen.

Im Mittelpunkt der Geschichte steht der Kleinganove Frankie Majcinek, von allen nur „Frankie Machine“ genannt, der seit Rückkehr aus dem Krieg sein Leben im polnischen Viertel von Chicago fristet. Um mit seiner Frau Sophie, welche an den Rollenstuhl gefesselt ist, über den Runden zu kommen, verdingt er sich als Kartengeber in einer Hinterzimmerspelunke. Der Großteil seines überschaubaren Gehalts geht allerdings für Morphium drauf, das er sich regelmäßig in die Adern seines „goldenen Arms“ jagt, weswegen auch sein Traum vom berühmten Schlagzeuger in weite Ferne rückt. Und auch das nächstmögliche Ziel, endlich das Viertel hinter sich zu lassen, scheint zum Scheitern verdammt. Hinzu kommt das Verhältnis zu Molly Novotny, welches droht die Ehe mit Sophie endgültig zu ruinieren. Verzweifelt sucht Frankie einen Ausweg … doch Chicago lässt seine Gauner nicht so schnell aus seinen Fängen.

Nelson Algrens Roman vermischt die schillernde Beschreibung der Welt des Verbrechens in Kolportageliteratur und Sensationsjournalismus mit dem aufklärerischen Eifer einer soziologischen Untersuchung. Er zeichnet ein düsteres, hoffnungsloses Bild der amerikanischen Hinterhöfe der 40er Jahre, ein Bild vom Leben der Gestalten im Schatten, die sich nur mit verkniffenen Augen ins Tageslicht wagen und ansonsten die Dunkelheit für ihre Tätigkeiten vorziehen. Algren musste hier nie viel seiner Fantasie spielen lassen, hat er doch selbst an diesen Orten gelebt, wodurch sich letztlich auch die eindrückliche Prosa erklären lässt, die streckenweise derart plastisch gerät, dass man als Leser meint den Alkohol schmecken und das Nikotin riechen zu können. Und trotz dieser äußerst naturalistisch gestalteten Darstellungen Algrens, bleibt stets dieses Element der Distanz, welche der Autor durchgängig hält. Anstatt wie viele seiner Kollegen und auch literarischen Nacheiferer die Figuren für sich sprechen zu lassen, hält er das Zepter der Handlung in der Hand, berichtet als auktorialer Erzähler. Vielleicht ein Grund warum diese Synthese aus Zwielicht und hehrer Gesinnung mich nicht so recht zu packen vermochte.

Tatsache ist jedenfalls: So überzeugend Algrens Milieubeschreibungen und die Umstände der Figuren sind, so wenig blieben mir letztere nach Beendigung der Lektüre in Erinnerung. Algrens großes Talent, mittels seiner respektvollen, aufmerksamen Sprache die herzzerreißende Würdelosigkeit der heruntergekommenen Bars, billigen Absteigen und klammen Gehsteige zu betonen, ist für mich auch gleichzeitig der auffälligste Makel. Und zwar ganz einfach, weil der Autor kein Ende findet. „Der Mann mit dem goldenen Arm“ war für mich letztlich mindestens hundert Seiten zu lang, die x-te Beschreibung von ein und derselben Schäbigkeit führt bald zur Übersättigung. Wo Bukowski, Céline oder Price immer wieder neue Facetten hervorheben, klingt das Ganze hier stark nach einer Schallplatte, bei der die Nadel hängt und stets den gleichen Ton spielt. Und das teils so extrem und bombastisch, dass aus Musik bald Lärm wird.

Dennoch gilt „Der Mann mit dem goldenen Arm“ zu Recht zu den Romanen, die man gemeinhin unter dem Prädikat Klassiker führt. Chicago, das große Thema Algrens, wurde seitdem nur noch selten aus einer solchen Perspektive betrachtet. Und dann auch nicht außerhalb des Kriminalroman-Genres.

Der Roman ist eine düster-schwarze, hoffnungslose Milieustudie ohne größeren Spannungsbogen, bei der die Schicksale der Figuren durchweg nur in eine Richtung zeigen: nach unten. Eine Empfehlung für alle Freunde des realistischen Großstadtromans, für die Unterhaltung und der Erlebniseffekt nicht die wichtigsten Punkte auf ihrer Leseagenda sind. Für mich bleibt das Buch einer der wenigen Titel, wo mir die Verfilmung tatsächlich besser gefallen hat, als ihre Vorlage. Ol‘ Blue Eyes sei Dank.

Wertung: 83 von 100 Treffern

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  • Autor: Nelson Algren
  • Titel: Der Mann mit dem goldenen Arm
  • OriginaltitelThe Man with the Golden Arm
  • Übersetzer: Carl Weissner
  • Verlag: Rowohlt
  • Erschienen: 1996
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 471 Seiten
  • ISBN: 978-349913683