Ein Agent wider Willen

Unbenannt

© Heyne

Nach dem Erfolg seines Debütromans „Jagd auf Roter Oktober“ (1984 veröffentlicht) war es eigentlich nur eine Frage der Zeit, bis Autor Tom Clancy eine Fortsetzung folgen ließ – als diese schließlich 1987 erschien, waren nicht wenige überrascht, spielt doch „Die Stunden der Patrioten“ (engl. „Patriot Games“) etwa drei Jahre vor den Ereignissen um das sowjetische Atom-U-Boot von Kapitän Ramius.

Ob diese Herangehensweise der Tatsache geschuldet ist, dass Clancy die Idee zu dem Roman bereits vor seinem Erstlingswerk in der Schublade hatte oder die damalige politische Lage ihn inspirierte, ist – soweit mir bekannt – sein Geheimnis geblieben. Fakt ist jedenfalls: Mit Jack Ryans zweitem Auftritt festigte der US-amerikanische Schriftsteller seinen Ruf als Begründer des Techno-Thrillers – ein Genre, das Elemente des klassischen Polit-Thrillers mit exakter militärisch-technischer Recherche verbindet. Und das obwohl besonders letztere in „Die Stunde der Patrioten“ weniger zum Tragen kommen, hält sich doch Ryans chronologisch erster richtiger Einsatz im Dienst der CIA hinsichtlich fachlicher Begrifflichkeiten und militärischer Genauigkeit noch (vor allem für Nicht-Amerikaner wohltuend) zurück. Stattdessen konzentriert sich das Buch in erster Linie auf die Ausarbeitung der Figur, welche in späteren Werken sich auch das Rampenlicht mit weit mehr Personen teilen muss. Die Story sei kurz angerissen:

John Patrick „Jack“ Ryan, Professor für Militärgeschichte an der U.S. Naval Academy in Annapolis, Maryland, hält sich für historische Recherchearbeiten in London auf und will dort die freie Zeit mit seiner Familie nutzen. Während er sich gemeinsam mit Frau Cathy und Tochter Sally nach einem Vortrag trifft, wird er plötzlich Zeuge eines Anschlags vermummter Terroristen auf einen Rolls-Royce. Ryan handelt instinktiv, ergreift die Initiative und schafft es dank des Überraschungseffekts einen der Angreifer zu töten und einen weiteren schwer zu verletzen, bevor er selber angeschossen zu Boden geht. Als er im Krankenhaus wieder das Bewusstsein erlangt, ist die einstmals heile und ruhige Welt aus den Fugen geraten. Bei den Insassen des Royce handelte es sich um niemand geringeren als den Prinzen und die Prinzessin von Wales, die nun einem Amerikaner und ehemaligen US-Marine ihr Leben verdanken. Ganz England feiert den Helden aus den USA, wohingegen die verbliebenen Terroristen – ein Ableger der IRA namens ULA (Ulster Liberation Army) – ihre Wunden lecken und auf Rache sinnen.

Von seinen Verletzungen einigermaßen genesen, kehrt Jack Ryan einige Wochen später in die USA zurück. Sicher, dass ihm hier keine Gefahr droht, da die IRA bisher noch kein einziges Mal in Amerika aktiv geworden ist, um die dortige finanzielle Unterstützung nicht zu gefährden. Er kann noch nicht ahnen, dass die ULA mit dem provisorischen Flügel der IRA und ihren Brigaden auf dem Kriegsfuß steht. Für sie sind Ryan und seine Familie nicht nur ein legitimes Ziel, sondern auch die Gelegenheit zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: Die Unterstützung der IRA zum versiegen zu bringen und gleichzeitig selber Stärke zu demonstrieren. Als Jack Ryan ins Visier der Terroristen gerät, sucht er Kontakt zu Admiral James Greer, dem Direktor der Central Intelligence Agency – kurz C.I.A. Der hatte vor gut einem Jahr Ryan als Berater hinzugezogen und schon damals keinen Hehl daraus gemacht, ihn zum Agenten ausbilden zu wollen. Ein Angebot, welches dieser, vor allem aus Rücksicht auf seine Familie, noch ausgeschlagen hatte. Nun braucht er die Fähigkeiten der Agency, um eben diese vor der ULA zu schützen. Doch ist es dafür vielleicht schon zu spät?

Wem diese kurze Inhaltsbeschreibung bekannt vorkommt, wird sich höchstwahrscheinlich an die Ereignisse der gleichnamigen Verfilmung erinnern, in der Harrison Ford Jack Ryan verkörpert, allerdings „nur“ einen eng mit der Königsfamilie verwandten Lord rettet und nicht das echte Thronfolgerpaar. Auch sonst gibt es den ein oder anderen Unterschied zwischen Roman und Film. Insbesondere das Ende ist in der literarischen Vorlage weit weniger dramatisch. Das aber nur kurz zur Information, möchte ich doch Clancys Werk eigenständig beurteilen, wobei dies bereits das zweite Mal ist, habe ich doch „Die Stunde der Patrioten“ vor elf Jahren schon einmal gelesen. Und ich muss gestehen: Im Laufe der Jahre hat sich nicht nur mein Geschmack doch arg gewandelt, sondern auch die Perspektive ein wenig verschoben, weshalb ich Clancys Romane nun in einem etwas anderen und manchmal auch weniger günstigem Licht betrachte. So ist mir das patriotische Element diesmal, vielleicht auch naturgemäß, viel stärker ins Auge gefallen, als damals, wo in erster Linie noch die Spannung zählte.

Auf die Gefahr hin, zu negativ zu klingen, sei aber hier gleich gesagt: „Die Stunde der Patrioten“ ist beileibe kein schlechtes Buch, zählt sogar zu den Besten des US-Autors. Dem Leser sollte allerdings klar sein, dass der Titel auch gleichzeitig den Ton vorgibt. Wer mit Lobpreisungen auf stolze Marines, gewiefte FBIler und eiskalte CIA-Agenten so gar nichts anfangen kann (hier auch besonders „schön“ die Szene, in der sich ein irischer Pubbesitzer in den USA erst nach Aufklärung durch einen FBI-Agent über die IRA entrüstet und, als guter Amerikaner, einen Repräsentanten der Terrororganisation sogleich vor die Tür setzt), sollte von diesem und allen anderen Büchern aus Clancys Feder die Finger lassen.

Inwiefern dieser Verzicht ein Versäumnis darstellt, ist schwer und nur Buch für Buch zu beurteilen. „Die Stunde der Patrioten“ hat inzwischen nicht nur aufgrund der politischen Thematik Staub angesetzt, sondern ist auch sonst etwas in die Jahre gekommen. Durch eMails, Smartphones und allgegenwärtige Computer haben sich die Möglichkeiten der Kommunikation ebenso geändert, wie die der elektronischen Kriegsführung. Im Jahr 1987 war ein militärischer Schlag, der von einem Satelliten beobachtet und aus einem tausende Kilometer entfernten Büro koordiniert wird, ein mehr als beeindruckendes Szenario. Lange vor „Desert Storm“ geht Clancy hier auf militärische Details ein, welche sonst allenfalls den Geheimdiensten der Länder, aber nicht unbedingt der breiten Bevölkerung bekannt waren. Und damit sprechen wir genau die Punkte an, mit denen der US-Autor seit jeher seine Leser zu begeistern wusste: Militärische Insider-Informationen. Hochaktuelle Themen von politischer Brisanz. Erschreckend visionäre Vorausblicke.

Jack Ryan, Familienvater und Agent wider Willen, dient dabei als Verbindungsglied zwischen dem Leser und der Handlung, macht die doch nicht selten äußerst technischen und bürokratischen Vorgänge für die Allgemeinheit verständlich und soll gleichzeitig als Sympathieträger den guten, aufrechten Amerikaner verkörpern. Das funktioniert mitunter so gut, dass ich mich selbst heute noch von Clancy einlullen lasse, ihm seine handwerklichen Mängel und den wenig kunstvollen Stil nachsehe, weil der Plot, auf mehrere Schauplätze verteilt und zwischen diesen stets wechselnd, den Spannungsbogen stetig nach oben schraubt. Und auch das Element „Coolness“ muss berücksichtigt werden, denn Clancy spricht mit seinen Motiven (z.B. Tapferkeit und Kameradschaft im Angesicht der Gefahr) geschickt die ureigensten Triebe an. Wie ein Bernard Cornwell im Bereich des historischen Romans, so ist auch sein amerikanischer Kollege unnachahmlich, wenn es darum geht, das Blut zum Kochen, die Gefühle des Lesers in Wallung zu bringen. Eine Schwäche, derer man sich letztendlich sicher schämt, aber eben dann doch auch ein wenig für das Gespür des Schriftstellers spricht, der es trefflich versteht, uns zu manipulieren.

Die Stunde der Patrioten“ ringt dem Nordirland-Konflikt keine neue Facetten ab, vermeidet jedoch auch jegliche Schwarz-Weiß-Malerei. Das sei insofern hervorgehoben, da Tom Clancy besonders in späteren Jahren gerade dadurch Schiffbruch erleidet und jenseits des Atlantiks bzw. Pazifiks nur noch auf wenig Gegenliebe stößt bzw. fast gänzlich unlesbar wird. 1987 allerdings ist Clancy auf dem Höhepunkt seines Schaffens, weshalb unterm Strich eine Empfehlung ausgesprochen werden muss.

Ein eher waffen- als sprachgewaltiger Polit-Thriller über die Arbeit der US-Geheimdienste Mitte der 80er. Kurzweilig, spannend, intensiv und aufgrund vieler Ereignisse (u.a. wird am Ende des Buches Jack Ryan junior geboren – Hauptfigur späterer Bände) ein Muss für all diejenigen, welche Jack Ryans Karriere chronologisch verfolgen möchten.

Wertung: 85 von 100 Trefferneinschuss2

  • Autor: Tom Clancy
  • Titel: Die Stunde der Patrioten
  • Originaltitel: Patriot Games
  • Übersetzer: Jürgen Abel
  • Verlag: Heyne
  • Erschienen: 07.2012
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 496
  • ISBN: 978-3453436732

„Niemand hört zu, das ist das Problem.“

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© CulturBooks

Schon während der Lektüre von „In Gesellschaft kleiner Bomben“ kam mir der Gedanke, dass die Besprechung für dieses Buch nicht nach dem üblichem Schema erfolgen würde und auch nicht erfolgen könnte. Und das hat vielerlei Gründe.

Von der lieben Zoë Beck – welche übrigens gleichsam für die gelungene Übersetzung verantwortlich zeichnet – mir am CulturBooks-Stand auf der Buchmesse in Frankfurt nachhaltig empfohlen, fällt Karan Mahajans mit Auszeichnungen überhäufter Roman (u.a. Bard Fiction Prize 2017, Young Lions Fiction Award 2017, Muse India Young Writer Award 2016 und Ansfield-Wolf Book Award for Fiction 2017) eigentlich nicht in die Kategorie Literatur, welche sonst den Weg in mein Bücherregal findet, da sich beim Thema Terrorismus oft alles nur um die politischen Ursachen dreht und die persönliche Motivation der Täter – aber auch die Gefühlswelt der Opfer – zumeist zu kurz oder plakativ daherkommt. Und auch der Schauplatz Indien, den ich sonst als Leser lieber vor historischer Kulisse bereise (hier insbesondere die Zeit als britische Kronkolonie), steht mir mit seinen vielen verschiedenen Religionen und Kasten manchmal etwas im Weg. Kaschmir-Konflikt, Hindu-Nationalismus, innenpolitische Auseinandersetzungen und Skandale – es fehlt da meinerseits schlicht an Wissen und Grundlage, um gänzlich unbeeindruckt und vor allem unbeschwert einen literarischen Ausflug in das siebtgrößte Land der Erde zu unternehmen.

Warum ich diese persönliche Nabelschau hier voranstelle? Nun, weil es Mahajans großes Verdienst ist, dass er diese – vielleicht auch nur vermeintliche – Hürde aus dem Weg räumt und schon nach wenigen Seiten einen Zugang zu dieser faszinierenden, aber in vielen Bereichen auch zerrissenen Nation herstellt. Und das ohne Daten oder Fakten, sondern ganz allein mittels seiner Figuren, welche auf menschlicher Ebene greifbar und verständlich daherkommen, welche durch ihr Denken und ihr Tun, durch ihr Lieben und ihr Leiden verdeutlichen, dass Sprache oder Religion oder auch gesellschaftlicher Status das Menschsein im Kern nicht beeinflussen. Was wiederum im Umkehrschluss bedeutet: Man kann das Problem dieses Konflikts verstehen. Und wenn man das Problem versteht, kann man es lösen. Warum das nicht passiert, bringt der Moslem Ayub in diesem Roman auf den Punkt.

„Niemand hört zu, das ist das Problem.“

Die Lektüre von „In Gesellschaft kleiner Bomben“ bietet also für uns alle jetzt die Gelegenheit, dies zu ändern.

Die Geschichte nimmt ihren Anfang im Mai des Jahres 1996 und beginnt wortwörtlich mit einem Knall. Zwei Brüder, der elfjährige Tushar und der dreizehnjährige Nakul Khurana, sind mit ihrem zwölf Jahre alten Freund Mansoor Ahmed auf einem belebten Marktplatz in Delhi, um den zum x-ten mal reparierten Fernseher der Khurana-Familie bei einem Händler abzuholen, als direkt in ihrer Nähe eine Autobombe detoniert. Während Tushar und Nakul sofort bei der Explosion den Tod finden, überlebt Mansoor wie durch ein Wunder die Druckwelle. Zwischen Leichen und schwer Verwundeten kommt er wieder zu sich. Eine stark blutende Wunde an der Hand und halb taub vom Lärm der Erschütterung. Mühsam und verwirrt rappelt er sich auf, taumelt vom Ort des Schreckens, dem Haus seiner Eltern entgegen.

Diese warten gleichzeitig daheim auf ihren Sohn, nicht wissend, dass er die Khurana-Brüder noch auf den Markt begleitet hat. Als die Nachricht von dem Anschlag in der Nachbarschaft die Runde macht, beginnt gemeinsam mit den Eltern der Khuranas das Bangen. Bis Mansoor schließlich sein Zuhause erreicht – und mit ihm die Gewissheit des Todes der beiden anderen Jungen. Für die Khuranas, eine in eher bescheidenen bis ärmlichen Verhältnissen lebende Hindu-Familie aus der Mittelschicht Indiens, scheint die Nachricht der letzte Sargnagel auf eine ohnehin kriselnde Ehe zu sein. Doch ihre Verzweiflung bringt sie zumindest kurzzeitig noch einmal näher, während sie sich zunehmend von der muslimischen Ahmeds distanzieren. Der terroristische Krieg um die Unabhängigkeit Kaschmirs – plötzlich steht er zwischen den einstmals befreundeten Familien. Mansoor, körperlich und seelisch gezeichnet, kehrt Indien den Rücken, um den anklagenden Blicken und der allgegenwärtigen Angst zu entgegen. In den USA versucht er einen Neuanfang. Doch dann kommt der 11. September …

Karan Mahajan – gebürtiger Inder, aufgewachsen in Neu-Delhi und jetzt ebenfalls in den USA lebend – hat mit „In Gesellschaft kleiner Bomben“ einen starken zweiten Roman abgeliefert, der mit Recht zu vielen Ehren kam, wenngleich ich der Aussage der New York Times – „Eines der zehn besten Bücher des Jahres“ – etwas stirnrunzelnd begegne, denn die Konkurrenz kann sich da ja ebenfalls sehen lassen. Doch fangen wir vorne an. Fangen wir mit der Bombe an. Eine Bombe, welche natürlich nur vermeintlich klein ist. Eine Bombe, der von den Medien im endlos anmutenden Terrorkrieg des Kaschmir-Konflikts keinerlei größere Bedeutung zugemessen und welche von der Politik für die „Weiter-machen“-Haltung instrumentalisiert wird. Und die aber für alle Betroffenen – Opfer wie Täter – doch große Auswirkungen hat. Und das beide Seiten nicht nur zur Sprache kommen, sondern ihnen ein Gesicht verliehen wird – das ist eine Stärke dieses Romans. Suggeriert der Klappentext nämlich noch den Fokus allein auf Mansoor, so wird doch recht schnell deutlich, dass Mahajan die Auswirkungen des Anschlags auf allen Seiten weiterverfolgt, er die Erzählperspektiven wechselt, um in das Innenleben aller Beteiligten einzutauchen – und damit auch der Komplexität des Konflikts Rechnung zu tragen, welcher sich eben nicht auf die einfache Formel des Gut gegen Böse herunterbrechen lässt.

Mahajan tut dies mit einer ruhigen, besonnenen und doch auch immer sehr scharfsinnigen und scharfzüngigen Stimme, welche die Gefühlswelt der Figuren bis auf die verborgensten Gedanken filetiert, wodurch die sonst so übliche Rollenverteilung obsolet und das Beschriebene umso glaubwürdiger wird. So verfolgen wir unter anderem den Attentäter Shockie, der sich als Widerstandskämpfer Kaschmirs sieht und festen Glaubens ist, nur durch schiere Gewalt und möglichst große Opferzahlen, Gerechtigkeit und vor allem Aufmerksamkeit für sein Volk zu erlangen. Ein Mann jenseits jeglichen Gefühls, besessen von einer Mission – und im festen Glauben von ihrer Richtigkeit.

„Und weißt du, was passiert, wenn eine Bombe hochgeht? Dann zeigt sich die Wahrheit über die Menschen. Männer lassen ihre Kinder im Stich und laufen weg. Ladenbesitzer stoßen ihre Frauen zur Seite und versuchen, ihr Geld zu retten. Leute kommen und plündern die Läden. Eine Explosion enthüllt die Wahrheit über Orte. Vergiss nicht, dass das, was du tust, nobel ist.“

Ein handelsüblicher Thriller würde ihn nun zum Antagonisten stilisieren, als Werkzeug gebrauchen, um die Gegensätzlichkeit der Parteien zu unterstreichen. Mahajan sieht sich hier jedoch der Wirklichkeit verpflichtet. Eine Wirklichkeit, welche eben keinen starken Kontrast, keine klar gezogene Grenze kennt – sondern lediglich eine feine, dünne Linie, die zu übertreten jedermann in der Lage ist. Ob aus eigenem Willen oder im festen Glauben, dazu gezwungen zu sein. Letzteres gilt für den bereits oben erwähnten Moslem Ayub, der Mansoor nach dessen Rückkehr in einer „Peace-for-all“-Organisation erst Gewaltverzicht predigt und den Koran nahebringt, um schließlich durch die Trennung von seiner Freundin komplett aus dem Gleichgewicht geworfen zu werden.

Der Grat zwischen richtig und falsch – im heutigen Indien ist er schmal und sturmumtost – und birgt selbst für die augenscheinlich Besseren unter uns die Gefahr des Sturzes. Mahajan zeigt hier deutlich auf, dass es keines kaputten Elternhauses bedarf, um sich zu radikalisieren. Dass Ausgrenzung oder fehlende Bildung allein nicht der Grund sind, um als Terrorist aktiv zu werden. Die Gesellschaft an sich. Ihre zur Schau getragenen Fassaden. Ihre instabilen Verpflechtungen. Ihre oberflächlichen Freundschaften. Sie sind – noch zusätzlich unterhöhlt von den Verlockungen des kapitalistischen Wohlstands – bester Nährboden für Zwietracht und Unzufriedenheit – und mit ihnen schließlich dann Wut und Zorn.

Ist es anderswo die Sprachgewalt, welche uns mitreißt, so passiert dies bei „In Gesellschaft kleiner Bomben“ eher auf einer unterschwelligen Ebene. Mahajan nimmt uns beinahe sanft an der Hand und schiebt den Leser, anstatt ihn zu stoßen – mitten hinein in diese Handlung, die so gar keinen fiktiven Charakter hat und uns streckenweise glauben lässt, hier hätte ein begabter Romancier lediglich Zeugenaussagen gesammelt und literarisch ansprechend verarbeitet. Schnappschüsse verschiedener Leben, die Gesichter und Gefühle gleichermaßen erfassen und es vor dem Hintergrund des pulsierenden Großstadttrubels Delhis ablichten. Gerade diese ästhetische Nahbarkeit, welche selbst feinsten Sarkasmus zur schmerzhaften Erfahrung macht, verdient nicht nur höchstes Lob, sondern macht die Lektüre auch zu einer nachhaltigen Erfahrung. Eine Erfahrung, welche allein dadurch ein wenig getrübt wird, dass Mahajan das Tempo mitunter für unnötige Wiederholungen etwas zu sehr verschleppt. Kritik auf hohem Niveau, denn am Ende bleibt „In Gesellschaft kleiner Bomben“ ein in allen Belangen lesenswerter und vor allem lohnender Roman, dessen größte Stärke in seiner Unparteilichkeit besteht. Einmal mehr – eine echte Entdeckung des kleinen, aber feinen Hamburger Verlags CulturBooks.

Ich bedanke mich an dieser Stelle nochmal herzlich bei Zoë Beck für das Leseexemplar.

Wertung: 83 von 100 Treffern

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  • Autor: Karan Mahajan
  • Titel: In Gesellschaft kleiner Bomben
  • Originaltitel: The Association of Smalls Bombs
  • Übersetzer: Zoë Beck
  • Verlag: CulturBooks
  • Erschienen: 08.2017
  • Einband: Hardcover
  • Seiten: 376 Seiten
  • ISBN: 978-3959880220