In den Straßen von San Francisco

© Pulp Master

Während im Hintergrund die Musik von Lana Del Reys Album „Honeymoon“ aus den Lautsprechern schwebt, werfe ich einen seligen Blick auf unsere hauseigene Bibliothek und registriere zu meiner Erleichterung, dass dort noch drei weitere ungelesene Romane aus der Feder des amerikanischen Autors Jim Nisbet auf mich warten. Und damit ein volles Magazin herausragender Literatur – zumindest lässt dies die Lektüre des vorliegenden Werks „Welt ohne Skrupel“ annehmen, welche ich mit der, für Pulp Master Titel üblichen, höheren Erwartung in Angriff genommen habe, nur um diese am Ende noch übertroffen vorzufinden.

Verflucht nochmal, Jim – wo warst du all die Jahre? Dieser Gedanke, er begleitete mich über die gesamte Distanz dieses sprachlichen Filetstücks des Genres Noir, welches man gar nicht schnell lesen, sondern lieber Seite für Seite auf der Zunge und mit Genuss zergehen lassen will. Nisbets Wortakrobatik, sie ist von solch finsterer Lakonie und doch auch stilsicherer Eleganz, dass darüber die Handlung an sich fast in den Hintergrund rückt. Wie gesagt nur fast, denn auf verhältnismäßig kleinstem Raum gelingt ihm nicht nur das Kunststück in die Fußstapfen des großen James M. Cain zu treten, sondern auch der klassischen Femme Fatale zu einem einprägsamen Comeback zu verhelfen. Und damit nun etwas genauer zur Story:

Klinger ist der Typ, bei dessen Anblick wir in der Regel die Straßenseite wechseln und gleichzeitig auch noch das Vorhandensein der Geldbörse am Körper checken. Ein Ganove und Gauner der alten Schule, der seine Finger nicht bei sich lassen kann und für den ehrliche Arbeit so etwas wie gesellschaftlicher Ausschlag ist, der aber nicht genug juckt, um ihm längere Aufmerksamkeit zu widmen. Und so sind es kleine und mittelgroße Dinger, die Klinger dreht und deren Ertrag er in erster Linie in einen Drink und eine warme Mahlzeit investiert. Sein letzter Überfall ist jedoch wenig von Erfolg gekrönt. Auf der Flucht vor der Polizei setzt er den Wagen kurzerhand gegen einen Lichtmast, lässt seinen Komplizen zurück und einbuchten, während er das Geschehen aus sicherer Distanz verfolgt. Gelegenheit macht jedoch bekanntlich Diebe und bereits kurze Zeit später versucht er sich mit Kumpel Frankie „Geeze“ an einem Mann, der sich gerade ein Bündel Dollar an einem Bankautomaten gezogen hat. Die Pechsträhne hält aber an und kurz darauf ist der Kumpel tot und das vorgesehene Opfer, der erfolgreiche App-Entwickler Philipp Wong, liegt bewusstlos im Krankenhaus. Vom Raubzug bleibt Klinger allein dessen Smartphone.

Aber was damit anfangen? Klingers Welt ist strikt analog und weder hat er eine Ahnung wie er es entsperren, noch wie er daraus Profit schlagen soll. Auftritt Marci, Chefin des App-Unternehmens und ehemalige Geliebte des ans Bett gefesselten Wong. Sie weiß um die neue Dating-App auf dessen Phone und will die Gelegenheit nutzen, diese auf eigene Faust zu Geld zu machen. Zu ihrer Überraschung ist Klinger nur wenig an einer Bezahlung in Naturalien interessiert, sondern verlangt Bares. Sie beschließt, die Fähigkeiten des streetsmarten Diebs zu nutzen, um den mittlerweile wieder wachen Wong um sein Passwort zu erleichtern …

The great theme of Noir is, ‚You’re fucked‘.

Wahre Worte des großen James Ellroy, die sich natürlich auch in „Welt ohne Skrupel“ letztlich bewahrheiten, denn Klinger – das wird relativ schnell klar – ist ein Relikt einer vergangenen Zeit, das es versäumt hat, sich an die gesellschaftlichen Veränderungen anzupassen. Menschen wie er und Frankie „Geeze“ verkörpern eine längst vergangene Ära, welche Nisbet zwar in seiner Diktion wiederbelebt, durch die äußeren Umstände aber doch auch stets konterkariert. Die Regeln des Kapitalismus mögen für Klinger zwar nicht gelten, dennoch fühlt er sich dessen Gesetzen unterworfen. Geld regiert die Welt. Und es reicht schon lange nicht mehr, dies nur zu besitzen – man muss es vermehren. Eine Fähigkeit, die diesem altmodischen Gangster schlichtweg vollkommen abgeht und dadurch folgerichtig seine Erfolglosigkeit bedingt. Längst ist er kein Profiteur des Systems mehr, wirft der Griff in die Brieftasche des vorbeihuschenden Passanten nicht mehr genug ab. Und doch ist Klinger unfähig diese Entwicklung zu sehen, seine Einstellung zu seiner monetären Situation zu ändern.

(…) „Verstehen Sie mich nicht falsch, (…) ich schätze Geld. Tu ich tatsächlich. Es ist nur so, dass Geld wie ein Fluch auf meiner Existenz lastet. Mein ganzes Leben lang, (…) lastete Geld wie ein Fluch auf meiner Existenz.“ (…)

Jim Nisbet macht in jeder Zeile deutlich, dass die Zukunft ohne Klinger auskommen muss, dass das große Spiel ohne ihn weitergespielt werden wird. Diese digitale neue Realität, sie frisst ihn, der seine Taubheit in Alkohol ertränkt, auf, um ihn achtlos auf die Straßen San Franciscos zu spucken. Ein Milieu, das der Autor vollkommen leidenschaftslos und mit schwermütiger Melancholie in Szene setzt, ohne, wie sonst in Noirs üblich, sich zu oft dunkelster Schattierungen zu bedienen. So bleiben zwar auch hier die Bordsteinkanten die Parkbänke der Abgehängten und Verlierer, aber es bedarf keiner größerer Dramatik oder düsterer Brutalität um dies zu betonen. Es scheint fast als wäre selbst diese einstmals so nachtschwarze Unterwelt kein sicherer Zuflucht mehr für einen Versager wie Klinger, der unbeteiligt und abgehängt durch sein Viertel flaniert. Ein Philosoph der Straße, dem, außer seinen Kneipenfreunden, schon lange niemand mehr Gehör schenkt.

(…) „Klinger war reif für alles, außer der Zukunft. Oder die Vergangenheit. Oder, wie sich herausstellte, für die Gegenwart.“ (…)

So wohnt dem Zusammentreffen mit Marci schließlich eine gewisse Unvermeidlichkeit inne. Wie die Spinne am Rande des Netzes, die geduldig auf den einen Dummen wartet, der sehendes Auges in sein klebriges Verderben läuft. Klingers Frühwarnsystem, es hat seit Jahren keinerlei Updates mehr erfahren und taugt allenfalls für die Gefahren der Straße. Bei einer verführerischen Frau wie Marci schlägt es jedoch nicht an, was es ihr wiederum so einfach macht, ihn zu manipulieren und als willigen Handlanger für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Was wir als Leser wiederum mit einem nicht unerheblichen Maß an Amüsement goutieren.

Überhaupt – „Welt ohne Skrupel“ ist trotz all der menschlichen Tristesse eine unheimlich kurzweilige Lektüre, zumal Nisbets musikalische Gossenpoesie seinen ganz eigenen Rhythmus hat, der einen leichtfüßig über die Seiten trägt. Dass man dennoch zwischendrin inne hält, um die Worte wirken zu lassen und sich der sprachlichen Magie herzugeben, spricht für die enorme Klasse dieses mit viel Feingefühl modernisierten Noirs, der mich über die Maßen beeindruckt hat.

Wertung: 91 von 100 Treffern

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  • Autor: Jim Nisbet
  • Titel: Welt ohne Skrupel
  • Originaltitel: Snitch World
  • Übersetzer: Ango Laina, Angelika Müller
  • Verlag: Pulp Master
  • Erschienen: 03/2019
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 233 Seiten
  • ISBN: 978-3927734630

Laughing all the way to hell

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© Pulp Master

„Ich mochte Morris – zumindest so, wie ich jeden mochte, den ich mochte.“

Mit diesem euphemistischen Bekenntnis des Ich-Erzählers setzt Autor Dave Zeltserman schon auf der ersten Seite genau das fort, womit er schon mit der Betitelung seines Romans begonnen hat: Die äußerst geschickt inszenierte Manipulation des Lesers.

Von „Small Crimes“ (dt. „Kleine Verbrechen“) kann nämlich im ersten Buch der zwar nicht inhaltlich, aber thematisch zusammenhängenden „Badass Get Out of Jail“-Trilogie, mitnichten die Rede sein. Mehr noch: Wenn der oben zitierte Joe Denton davon spricht, dass er jemanden mag, heißt das nichts Geringeres, als dass ihm die jeweilige Person so ziemlich Arsch vorbeigeht – wobei sie sich in guter Gesellschaft wähnt, denn wie wir im Laufe der knapp 340 Seiten feststellen dürfen, interessiert den Erzähler, trotz andauernder anderslautender Beteuerungen, nur eins: Er selbst. Und das, muss man fast sagen, ist auch gut so, weil der Klappentext den vorliegenden Noir als Machwerk in der Tradition von Jim Thompson und James M. Cain preist – zwei absolute Schwergewichte des dreckigen Hardboiled, die vor allem eine Sache verbindet: Sie waren beide äußerst geschickt darin, den Leser das glauben zu lassen, was sie wollten – und zwar so lange wie sie es wollten.

Es ist also wenig verwunderlich, dass der ehemalige Softwareentwickler Zeltserman, ersteren Autor auch als großes Vorbild nennt und bereits für einige Publikationen über diesen verantwortlich zeichnet. Inzwischen gilt er selbst als legitimer Nachfolger Thompsons. Und bevor alle Puristen nun gleich Schnappatmung kriegen – das ist nur ein auf den ersten Blick anmaßender Vergleich, denn „Small Crimes“ beweist eindrücklich, dass es dieser Gegenüberstellung durchaus standhalten kann. Einen Beweis, den er mit den nachfolgenden Titeln der Trilogie, „Paria“ und „Killer“, noch zementiert, wo sich der Autor bei seinen Hauptprotagonisten sogar von realen Hintergrundgeschichten inspirieren ließ. Vielleicht auch eine Erklärung für die nicht chronologische Veröffentlichungspolitik des Pulp Master Verlags, der uns nach dem soziopathischen Killer Kyle Nevin und dem eiskalten Mafia-Ausputzer Leonard March nun also den ehemaligen Cop Joe Denton kredenzt.

Wie schon die beiden anderen Protagonisten, so wird auch Denton aus dem Knast entlassen, wo er zuvor sieben Jahre absitzen musste. Nur sieben Jahre möchte man sagen, denn er hatte nicht nur versucht die ihn belastenden Beweismittel im Büro des Bezirksstaatsanwalts Phil Coakley abzufackeln, sondern, als er von dessen Ankunft überrascht wurde, Coakley gleich auch noch dreizehnmal mit einem Brieföffner im Gesicht traktiert. Normalerweise genug für die Höchststrafe, selbst in einem vergleichsweise liberalen Staat wie Vermont, doch die richtigen Leute wurden geschmiert. Was in einer Kleinstadt wie Bradley vor allem dann problemlos vonstatten geht, wenn die komplette Polizei durch und durch korrupt ist, und daher großes Interesse daran hat, dass ihr Ex-Kollege hinter Gittern seinen Mund hält. Weil Denton das ohne zu Murren tut, ist seine Zeit im Gefängnis relativ leicht, doch seine Hoffnungen für einen Neuanfang lösen sich schon beim Verlassen der Justizanstalt in Luft auf.

Phil Coakley, fürs Leben entstellt, wartet am Ausgang und setzt ihn davon in Kenntnis, dass er nichts unversucht lassen wird, um Denton wieder dorthin zu bringen, wo er gerade hergekommen ist. Eine Drohung, die der Ex-Cop relativ locker nimmt, bis er sich mit dem örtlichen Sheriff Dan Pleasant trifft. Pleasant, welcher seit Jahren in allen dreckigen Geschäften in der Gegend seine Finger hat und eng mit dem örtlichen Mobster Manny Vassey zusammenarbeitet, macht seinem Namen keinerlei Ehre. Er setzt Denton eindringlich davon in Kenntnis, dass Manny an Magenkrebs erkrankt ist. Und mehr noch: Anscheinend hat er zu Gott gefunden und will auf dem Sterbebett seine Sünden beichten. Sünden, an denen natürlich auch Denton und Pleasant maßgeblich beteiligt gewesen sind, was wiederum Phil Coakley weiß, der den todkranken Mobster regelmäßig besucht und Stück für Stück Richtung Geständnis treibt. Denton wird nun vor die Wahl gestellt: Entweder Manny oder Coakley – einer von beiden muss sterben …

Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert und so lässt uns auch Zeltserman anfänglich glauben, dass Denton mit der Vergangenheit abschließen, aus dem Teufelskreis ausbrechen und ein neues Leben beginnen will. Als Triebfeder dienen ihm dafür die beiden inzwischen jugendlichen Töchter, nach denen er sich auf den ersten Blick sehr sehnt und welche seine Ex-Frau Elaine mit zu sich nach Albany genommen hat. Wohlgemerkt, auf den ersten Blick, denn wie anfangs erwähnt, ist Zeltserman, und insbesondere seine frühen Werke, stark vom Vorbild Thompson geprägt, der es meisterhaft verstand, in die Psyche seiner Figuren einzutauchen und ihr Handeln zu rechtfertigen. Eine Psyche, die meist gestört war. Und ein Handeln, dass nicht selten aus brutalem Mord bestand. Denton reiht sich in diese Kategorie der manipulativen Erzähler ein, lässt uns nach und nach ahnen, dass seinen Worten, seinen Bestrebungen nicht zu trauen ist – bis auch schließlich der gutgläubigste Leser dann kapiert hat, dass er es hier mit einem ausgewachsenen Psychopathen zu tun hat.

Es ist die große Stärke von „Small Crimes“, dass dies nie wirklich offensichtlich, dass die eigentliche Wahrheit verschleiert, beschönt und hintertrieben wird – stets darauf setzend, dass ein Großteil des Publikums, wenn schon nicht an das Gute glaubend, so zumindest der Ansicht ist, einen weiteren Genre-typischen Anti-Helden vorzufinden. Doch heldenhafte Züge – sie sucht man bei Denton vergebens, der immer wieder neue Lösungsmöglichkeiten erdenkt, um sich aus der Schusslinie zu befreien und sich damit Schritt für Schritt nur mehr in der Scheiße reitet. Die regelmäßigen Damespiele mit dem Direktor im Knast noch kontrollierend, ist er außerhalb des Gefängnisses nur ein Spielball fremder Mächte – und vor allem seiner eigenen verderbten Moral. Er wird nicht müde sich zu rechtfertigen, versichert sich selbst und dem Leser immer wieder von seiner Reue, um dann im Anschluss doch der rasenden Wut und der Sucht nach Koks nachzugeben, welche beide schon vor sieben Jahren für seinen Abstieg verantwortlich waren. Die zaghaften Versuche seiner Eltern, die ihn eigentlich zum großen Teil schon aufgegeben haben, mehren den Zorn noch. Der psychologischen Analyse seines Vaters, er hätte eine narzisstische Störung, begegnet er mit beißendem Spott. Man hat das Gefühl, dass alles was Dentons Hand berührt verdorrt, jeder seiner Züge von vornherein zum Scheitern verurteilt ist.

Und genau diese Züge sind es, die nach und nach den Spannungsbogen nach oben treiben, den Kessel mehr und mehr unter Druck setzen und zum Kochen bringen. Ein Kessel, welcher noch zusätzlich durch die örtlichen Gegebenheiten befeuert wird, denn auch das Setting ist eine Reminiszenz an Thompsons Noir. Ein kleines Provinzkaff im ländlichen Vermont – gefüllt mit mörderischen Schlägern und Heimat für Stripclubs, Meth-Labore und schmuddelige Motels. Der typische New-England-Sündenpfuhl also, wie er schon von vielen Vertretern dieses Genres bedient wurde. Und ein Ort, den man natürlich nicht so einfach hinter sich lassen kann. Schon gar nicht, wenn man es so halbherzig versucht wie Joe Denton, der, gefangen in einer Abwärtsspirale, stattdessen voll auf Konfrontationskurs geht, wodurch sich das übliche Chaos noch multipliziert. Und Chaos ist das einzige, wozu Denton fähig ist, die einzige Verlässlichkeit dieses Plots – dieser Ausbruch der Gewalt, der dräuend über der Geschichte hängt und sich naturgemäß schlussendlich entladen muss. Doch selbst hier weiß das Wie zu begeistern und ringt dem Altbekannten sogar ein paar neue Facetten ab.

Small Crimes“ ist ein Noir alter Schule mit äußerst nihilistischem Anstrich. Dreckig, kantig, roh – und doch stilistisch auch immer wieder ein echtes Fest, wenn Denton uns Einblicke wie diese gewährt:

„Einen Augenblick lang dachte ich, sie werde mir erklären, ich sollte mich selbst ficken, und dass sie es nicht tat, ich glaube, dass überraschte sie selbst wohl noch mehr als mich. Ihr Lächeln verabschiedete sich und sie nickte. Ich denke, die Story war ihr mehr wert als die Genugtuung darüber, mir zu erklären, auf welche Weise ich mich mit mir selbst beschäftigen konnte.“

Es bleibt dabei. Wo Pulp Master draufsteht, ist erstklassige Unterhaltung drin.

Wertung: 87 von 100 Treffern

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  • Autor: Dave Zeltserman
  • Titel: Small Crimes
  • Originaltitel: Small Crimes
  • Übersetzer: Michael Grimm, Angelika Müller
  • Verlag: Pulp Master
  • Erschienen: 08.2017
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 337 Seiten
  • ISBN: 978-3927734838