Der Rattenfänger von Haiti

© Goldmann

Nostalgie ist eine schöne Sache, aber sie verklärt bekannterweise oft den Blick auf die Wirklichkeit und zeichnet ein Bild, dass es so nur in unserer eigenen Erinnerung gegeben hat. Insofern war ich nun einigermaßen neugierig, als ich Nick Stones Debütwerk „Voodoo“ ein zweites Mal zur Hand nahm, mehr als zehn Jahre nach der ersten Lektüre. In einer Zeit, in der das Forum der Internetseite Krimi-Couch noch ein äußerst belebter Ort und Treffpunkt vieler gleichgesinnter Krimi-Freunde war, welche sich nicht nur über ihr aktuellstes Buch austauschen konnten, sondern auch gegenseitig den eigenen Literaturhorizont erweiterten.

Es war hier, wo einem der Facettenreichtum dieses Genres gewahr wurde und man über das Lesen hinaus tiefer in eine Materie eintauchte, die inzwischen zumindest aus meinem täglichen Leben nicht mehr wegzudenken ist. Und es war auch hier, wo zwischen Ende 2007 und Anfang 2008 eben jener Roman in aller Munde war und allseits – und damit auch von mir – gepriesen wurde. So viele Jahre danach stellt sich jetzt Frage: Waren diese hymnischen Rezensionen tatsächlich gerechtfertigt oder hatte ich mich damals in meinem jugendlichen Eifer auch ein bisschen beeinflussen lassen?

Letzteres lässt sich nicht ganz von der Hand weisen, hätte doch sonst allein schon die optische Aufmachung genügt, um Stones Roman zu meiden. Sowohl das Cover als auch der reißerische Titel ließen bzw. lassen hier auf ein Werk im Stil eines Jean-Christophe Grangé schließen, das eher in der blutrünstigen Ecke des Kriminalromans beheimatet ist und zudem noch Mystery- und Okkult-Elemente in den Mittelpunkt stellt. Eine Annahme, die nicht weiter von der Wahrheit entfernt sein könnte, erheblich in die Irre führt und einmal mehr die Unfähigkeit gewisser Verlage deutlich macht, ein Buch auch passend zum Inhalt zwischen dem Einband zu vermarkten. Und spätestens ein Jahrzehnt später lässt sich tatsächlich konstatieren: Nick Stone und sein Roman „Voodoo“ hätten nicht nur eine weitaus bessere Werbung verdient gehabt, sondern sicher auch gebrauchen können, ist doch vielen Freunden des hochklassigen Hardboiled hier ein äußerst empfehlenswerter und vor allem durchaus realistischer Vertreter des Subgenres durch die Lappen gegangen.

Eine Neubetrachtung lohnt also, umso mehr, da Autor Nick Stone, dessen Mutter selbst aus Haiti, dem Schauplatz des Buches stammt, nicht nur erstklassig recherchiert, sondern auch gleichzeitig eine Milieustudie eines der ärmsten Länder der Welt vorgelegt hat und damit der westlichen Welt, und ihrer Kultur des Wegschauens, den Spiegel vorhält. Stone hat tatsächlich eine Geschichte zu erzählen, will weit mehr als nur unterhalten und schafft doch auch dies von Seite eins an.

Diese nimmt ihren Anfang im Jahr 1996. Max Mingus, Ex-Cop und ehemaliger Privatdetektiv aus Miami, steht kurz vor seiner Entlassung aus dem Gefängnis. Sieben lange Jahre hat er seine Haft abgesessen, als Strafe dafür, einst im kalten Zorn drei Männer erschossen zu haben, die einer brutalen und mörderischen Kidnapper-Bande angehörten. Eine Tat, die zwar die Unschuldigen gerächt, Mingus selbst aber nichts als Unglück gebracht hat. Seine Frau kam bei einem Autounfall ums Leben, seine eigene Detektei musste dicht machen und seine ehemaligen Kollegen – bis auf seinen langjährigen Partner und Freund Joe Liston – wollen von ihm nichts mehr wissen. Die Welt, wie er sie kannte, sie liegt in Trümmern. Als die Gefängnistore sich hinter ihm schließen, liegt lediglich das Nichts vor ihm. Doch ein Mann scheint eine Aufgabe für ihn zu haben: der Milliardär Allain Carver.

Bereits während seiner Zeit im Gefängnis wurde Mingus immer wieder von ihm kontaktiert und darum gebeten, einen heiklen Auftrag anzunehmen. Mingus lehnte stets ab. Bis jetzt, bis er hört, welche Summe ihm für die Erledigung des Jobs angeboten wird. Zehn Millionen Dollar winken ihm als Belohnung, wenn ihm gelingt, woran bereits mehrere Detektive vor ihm – äußerst schmerzvoll – gescheitert sind: Charlie Carver zurück seiner Familie zu bringen. Allain Carvers Sohn wurde vor zwei Jahren auf Haiti entführt. Es gab nie ein Lebenszeichen und auch keinerlei Lösegeldforderung. Mingus‘ Vorgänger kehrten brutal misshandelt oder erst gar nicht zurück – es scheint, als würde irgendjemand nicht wollen, dass Carver gefunden wird. Doch was bedeutet wirklich Gefahr für jemanden, der ohnehin alles verloren hat. Und der in dem vielen Geld seine Chance sieht, nochmal neu zu beginnen.

Schon bei seiner Ankunft in der Ofenhitze von Haiti muss er erkennen, dass er von echtem Verlust zuvor keine Ahnung hatte. Das Land liegt wirtschaftlich am Boden, die Menschen sind bitterarm und von einer politischen Stabilität kann keinerlei Rede sein. Vielmehr befindet sich die Karibikinsel im Ausnahmezustand. Ein Zustand, an dem auch Präsident Jean-Bertrand Aristide seinen Anteil hat, der aufgrund seiner amerikafreundlichen Haltung kurzerhand von den USA ins Amt gehievt wurde, welche seitdem Haiti mit Truppen besetzt halten, um dessen Macht zu sichern. Hinzu kommen diverse UN-Verbände verschiedenster Nationen, die ihrer eigentlichen Aufgabe, der Friedenssicherung, schon lange nicht mehr nachkommen. Entsprechend herzlich fällt auch der Empfang für Max Mingus aus, dem zwar die Mittel der mächtigen Carver-Familie zur Verfügung stehen, welche aber außerhalb von Port-au-Prince nur von geringer Hilfe sind. Stattdessen haben Warlords das Kommando, allen voran der gefürchtete Vincent Paul, der beschuldigt wird, hinter Charlie Carvers Entführung zu stecken. Doch handelt es sich bei ihm tatsächlich um „Tonton Clarinette“, den Schwarzen Mann, welcher der Legende nach des Nachts die Kinderseelen raubt?

Max Mingus Ermittlungen lassen ihn bald an den Intentionen aller Beteiligten zweifeln. Und als er von seinem Partner die Nachricht erhält, dass sein Todfeind Solomon Boukman – ein skrupelloser Mann und selbsternannter Voodoo-Priester, der ihm einst Rache schwor – begnadigt und zurück in seine Heimat abgeschoben wurde, ahnt er, dass selbst zehn Millionen für diesen Auftrag noch zu wenig sein könnten …

Man könnte es sich einfach machen und „Voodoo“ einfach als einen Private-Eye vor exotischer Kulisse abstempeln, in dem einmal mehr ein gebrochener, vom Leben gezeichneter Anti-Held das Leid dieser Welt schultert und – umgeben von karibischen Schönheiten – der Gerechtigkeit zum Sieg verhilft. Ja, und genau all das ist Nick Stones Erstlingswerk eben nicht, denn wenngleich er sich tatsächlich bekannter Elemente des klassischen Noirs bedient, so liegt doch der eigentliche Kriminalfall nur an der Oberfläche. Und wir als Leser brechen diese nach und nach auf, um zu sehen was darunter liegt, denn Stone weiß nicht nur wovon er schreibt, er hat auch eine fühlbar emotionale Bindung zu diesem Land, was besonders deutlich wird, wenn er die gnadenlosen Auswüchse des Kapitalismus skizziert und die Amerikaner mit ihrem kolonialistischen Treiben konfrontiert. Wohlgemerkt ohne dabei an irgendeiner Stelle zu moralisieren. Stattdessen lässt er den Ami sich selbst offenbaren, was angesichts des aktuellen Treibens eines Donald Trump rückblickend umso glaubwürdiger erscheint.

Überhaupt versteht es Stone vorzüglich mit unseren Erwartungen und Annahmen zu spielen, in falsche Richtungen zu leiten und Brotkrumen zu verteilen, welche uns letztlich in eine Sackgasse führen. Und obwohl dies mehr als einmal geschieht, stellt sich keinerlei Langeweile ein, was wiederum daran liegt, dass sich der Autor als äußerst geschickt erweist, wenn es darum geht, aus dem Weg das Ziel zu machen. Neben Max Mingus ist hier allen voran Haiti der zentrale Protagonist – und diese Insel wird mit allen ihren Sonnen- und Schattenseiten zum Leben erweckt. Fernab der touristischen Hochglanzbroschüren öffnet sich uns ein Land, welches zwischen dem modernen Aufschwung und traditionellen Bräuchen gefangen ist, seinen eigenen Weg ins das 21. Jahrhundert sucht und doch dabei immer wieder von außerhalb an der Hand genommen, besser gesagt gepackt wird. Wie Nick Stone diese Ausbeutung verdeutlicht ist mir besonders anhand einer Szene bis heute in Erinnerung geblieben. In dieser wird eine Gruppe indischer UN-Soldaten von Vincent Paul mit den von ihnen begangenen Übergriffen auf haitianische Frauen konfrontiert. Mangels irgendeiner Gerichtsbarkeit, spricht Paul auch gleich direkt das Urteil, das noch an Ort und Stelle vollstreckt wird. Hut ab vor all den Lesern, welche sich an dieser „Stelle“ nicht im Lesesessel ihres Vertrauens winden.

Übrigens ist dies einer der wenigen Ausbrüche von Brutalität, welche sich dieser Roman erlaubt, der ansonsten auf ganz andere Art und Weise für Entsetzen sorgt. Wenn sich nach und nach die wahren Hintergründe von Charlie Carvers Verschwinden offenbaren, das ganze Ausmaß klar wird, erweitert sich nicht nur unsere Perspektive – wir beginnen auch diesen tiefen, verzweifelten und doch auch machtlosen Zorn der Haitianer zu verstehen, die, um ihr Überleben kämpfend, der Willkür ihrer Herrscher – sei es von innen oder von außen – nichts mehr entgegenzusetzen haben. Im Angesicht dieses Elends und dieser Ungerechtigkeit gelingt Stone das Kunststück Bodenhaftung zu bewahren, denn anstatt sich als den Tag rettender Held zu entpuppen, muss der zynische Max Mingus weitestgehend die Kontrolle über das Geschehen abgeben und zur Seite treten. Er muss einsehen, dass diese haitianische Angelegenheit letzten Endes auch nur von Haitianern geregelt werden kann. Und inmitten dieser emotionalen Offenbarung kredenzt uns der Autor dann auch noch eine Wendung, die wohl selbst gut beobachtende Leser nur in den wenigsten Fällen voraussehen konnten. Chapeau für diesen Schlag aus dem Nichts, Mr. Stone.

Was bleibt nun nach der Lektüre – und mehr als zehn Jahre nach dem Erstkontakt? Das Denkmal „Voodoo“ hat zwar in der Tat über die Zeit ein wenig gebröckelt und Macken bekommen – die Überzeugung, hier einen einzigartigen und lohnenswerten Kriminalroman gelesen zu haben, konnte aber auch im zweiten Durchgang nicht erschüttert werden. Ein immersives, eindringliches und düsteres Noir-Werk, das sich schwer abschütteln und seine Spuren hinterlässt. So darf, so muss heutzutage ein Krimi sein.

Wertung: 89 von 100 Treffern

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  • Autor: Nick Stone
  • Titel: Voodoo
  • Originaltitel: Mr. Clarinet
  • Übersetzer: Heike Steffen
  • Verlag: Goldmann Verlag
  • Erschienen: 11/2007
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 608 Seiten
  • ISBN: 978-3442463367

„Niemand hört zu, das ist das Problem.“

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© CulturBooks

Schon während der Lektüre von „In Gesellschaft kleiner Bomben“ kam mir der Gedanke, dass die Besprechung für dieses Buch nicht nach dem üblichem Schema erfolgen würde und auch nicht erfolgen könnte. Und das hat vielerlei Gründe.

Von der lieben Zoë Beck – welche übrigens gleichsam für die gelungene Übersetzung verantwortlich zeichnet – mir am CulturBooks-Stand auf der Buchmesse in Frankfurt nachhaltig empfohlen, fällt Karan Mahajans mit Auszeichnungen überhäufter Roman (u.a. Bard Fiction Prize 2017, Young Lions Fiction Award 2017, Muse India Young Writer Award 2016 und Ansfield-Wolf Book Award for Fiction 2017) eigentlich nicht in die Kategorie Literatur, welche sonst den Weg in mein Bücherregal findet, da sich beim Thema Terrorismus oft alles nur um die politischen Ursachen dreht und die persönliche Motivation der Täter – aber auch die Gefühlswelt der Opfer – zumeist zu kurz oder plakativ daherkommt. Und auch der Schauplatz Indien, den ich sonst als Leser lieber vor historischer Kulisse bereise (hier insbesondere die Zeit als britische Kronkolonie), steht mir mit seinen vielen verschiedenen Religionen und Kasten manchmal etwas im Weg. Kaschmir-Konflikt, Hindu-Nationalismus, innenpolitische Auseinandersetzungen und Skandale – es fehlt da meinerseits schlicht an Wissen und Grundlage, um gänzlich unbeeindruckt und vor allem unbeschwert einen literarischen Ausflug in das siebtgrößte Land der Erde zu unternehmen.

Warum ich diese persönliche Nabelschau hier voranstelle? Nun, weil es Mahajans großes Verdienst ist, dass er diese – vielleicht auch nur vermeintliche – Hürde aus dem Weg räumt und schon nach wenigen Seiten einen Zugang zu dieser faszinierenden, aber in vielen Bereichen auch zerrissenen Nation herstellt. Und das ohne Daten oder Fakten, sondern ganz allein mittels seiner Figuren, welche auf menschlicher Ebene greifbar und verständlich daherkommen, welche durch ihr Denken und ihr Tun, durch ihr Lieben und ihr Leiden verdeutlichen, dass Sprache oder Religion oder auch gesellschaftlicher Status das Menschsein im Kern nicht beeinflussen. Was wiederum im Umkehrschluss bedeutet: Man kann das Problem dieses Konflikts verstehen. Und wenn man das Problem versteht, kann man es lösen. Warum das nicht passiert, bringt der Moslem Ayub in diesem Roman auf den Punkt.

„Niemand hört zu, das ist das Problem.“

Die Lektüre von „In Gesellschaft kleiner Bomben“ bietet also für uns alle jetzt die Gelegenheit, dies zu ändern.

Die Geschichte nimmt ihren Anfang im Mai des Jahres 1996 und beginnt wortwörtlich mit einem Knall. Zwei Brüder, der elfjährige Tushar und der dreizehnjährige Nakul Khurana, sind mit ihrem zwölf Jahre alten Freund Mansoor Ahmed auf einem belebten Marktplatz in Delhi, um den zum x-ten mal reparierten Fernseher der Khurana-Familie bei einem Händler abzuholen, als direkt in ihrer Nähe eine Autobombe detoniert. Während Tushar und Nakul sofort bei der Explosion den Tod finden, überlebt Mansoor wie durch ein Wunder die Druckwelle. Zwischen Leichen und schwer Verwundeten kommt er wieder zu sich. Eine stark blutende Wunde an der Hand und halb taub vom Lärm der Erschütterung. Mühsam und verwirrt rappelt er sich auf, taumelt vom Ort des Schreckens, dem Haus seiner Eltern entgegen.

Diese warten gleichzeitig daheim auf ihren Sohn, nicht wissend, dass er die Khurana-Brüder noch auf den Markt begleitet hat. Als die Nachricht von dem Anschlag in der Nachbarschaft die Runde macht, beginnt gemeinsam mit den Eltern der Khuranas das Bangen. Bis Mansoor schließlich sein Zuhause erreicht – und mit ihm die Gewissheit des Todes der beiden anderen Jungen. Für die Khuranas, eine in eher bescheidenen bis ärmlichen Verhältnissen lebende Hindu-Familie aus der Mittelschicht Indiens, scheint die Nachricht der letzte Sargnagel auf eine ohnehin kriselnde Ehe zu sein. Doch ihre Verzweiflung bringt sie zumindest kurzzeitig noch einmal näher, während sie sich zunehmend von der muslimischen Ahmeds distanzieren. Der terroristische Krieg um die Unabhängigkeit Kaschmirs – plötzlich steht er zwischen den einstmals befreundeten Familien. Mansoor, körperlich und seelisch gezeichnet, kehrt Indien den Rücken, um den anklagenden Blicken und der allgegenwärtigen Angst zu entgegen. In den USA versucht er einen Neuanfang. Doch dann kommt der 11. September …

Karan Mahajan – gebürtiger Inder, aufgewachsen in Neu-Delhi und jetzt ebenfalls in den USA lebend – hat mit „In Gesellschaft kleiner Bomben“ einen starken zweiten Roman abgeliefert, der mit Recht zu vielen Ehren kam, wenngleich ich der Aussage der New York Times – „Eines der zehn besten Bücher des Jahres“ – etwas stirnrunzelnd begegne, denn die Konkurrenz kann sich da ja ebenfalls sehen lassen. Doch fangen wir vorne an. Fangen wir mit der Bombe an. Eine Bombe, welche natürlich nur vermeintlich klein ist. Eine Bombe, der von den Medien im endlos anmutenden Terrorkrieg des Kaschmir-Konflikts keinerlei größere Bedeutung zugemessen und welche von der Politik für die „Weiter-machen“-Haltung instrumentalisiert wird. Und die aber für alle Betroffenen – Opfer wie Täter – doch große Auswirkungen hat. Und das beide Seiten nicht nur zur Sprache kommen, sondern ihnen ein Gesicht verliehen wird – das ist eine Stärke dieses Romans. Suggeriert der Klappentext nämlich noch den Fokus allein auf Mansoor, so wird doch recht schnell deutlich, dass Mahajan die Auswirkungen des Anschlags auf allen Seiten weiterverfolgt, er die Erzählperspektiven wechselt, um in das Innenleben aller Beteiligten einzutauchen – und damit auch der Komplexität des Konflikts Rechnung zu tragen, welcher sich eben nicht auf die einfache Formel des Gut gegen Böse herunterbrechen lässt.

Mahajan tut dies mit einer ruhigen, besonnenen und doch auch immer sehr scharfsinnigen und scharfzüngigen Stimme, welche die Gefühlswelt der Figuren bis auf die verborgensten Gedanken filetiert, wodurch die sonst so übliche Rollenverteilung obsolet und das Beschriebene umso glaubwürdiger wird. So verfolgen wir unter anderem den Attentäter Shockie, der sich als Widerstandskämpfer Kaschmirs sieht und festen Glaubens ist, nur durch schiere Gewalt und möglichst große Opferzahlen, Gerechtigkeit und vor allem Aufmerksamkeit für sein Volk zu erlangen. Ein Mann jenseits jeglichen Gefühls, besessen von einer Mission – und im festen Glauben von ihrer Richtigkeit.

„Und weißt du, was passiert, wenn eine Bombe hochgeht? Dann zeigt sich die Wahrheit über die Menschen. Männer lassen ihre Kinder im Stich und laufen weg. Ladenbesitzer stoßen ihre Frauen zur Seite und versuchen, ihr Geld zu retten. Leute kommen und plündern die Läden. Eine Explosion enthüllt die Wahrheit über Orte. Vergiss nicht, dass das, was du tust, nobel ist.“

Ein handelsüblicher Thriller würde ihn nun zum Antagonisten stilisieren, als Werkzeug gebrauchen, um die Gegensätzlichkeit der Parteien zu unterstreichen. Mahajan sieht sich hier jedoch der Wirklichkeit verpflichtet. Eine Wirklichkeit, welche eben keinen starken Kontrast, keine klar gezogene Grenze kennt – sondern lediglich eine feine, dünne Linie, die zu übertreten jedermann in der Lage ist. Ob aus eigenem Willen oder im festen Glauben, dazu gezwungen zu sein. Letzteres gilt für den bereits oben erwähnten Moslem Ayub, der Mansoor nach dessen Rückkehr in einer „Peace-for-all“-Organisation erst Gewaltverzicht predigt und den Koran nahebringt, um schließlich durch die Trennung von seiner Freundin komplett aus dem Gleichgewicht geworfen zu werden.

Der Grat zwischen richtig und falsch – im heutigen Indien ist er schmal und sturmumtost – und birgt selbst für die augenscheinlich Besseren unter uns die Gefahr des Sturzes. Mahajan zeigt hier deutlich auf, dass es keines kaputten Elternhauses bedarf, um sich zu radikalisieren. Dass Ausgrenzung oder fehlende Bildung allein nicht der Grund sind, um als Terrorist aktiv zu werden. Die Gesellschaft an sich. Ihre zur Schau getragenen Fassaden. Ihre instabilen Verpflechtungen. Ihre oberflächlichen Freundschaften. Sie sind – noch zusätzlich unterhöhlt von den Verlockungen des kapitalistischen Wohlstands – bester Nährboden für Zwietracht und Unzufriedenheit – und mit ihnen schließlich dann Wut und Zorn.

Ist es anderswo die Sprachgewalt, welche uns mitreißt, so passiert dies bei „In Gesellschaft kleiner Bomben“ eher auf einer unterschwelligen Ebene. Mahajan nimmt uns beinahe sanft an der Hand und schiebt den Leser, anstatt ihn zu stoßen – mitten hinein in diese Handlung, die so gar keinen fiktiven Charakter hat und uns streckenweise glauben lässt, hier hätte ein begabter Romancier lediglich Zeugenaussagen gesammelt und literarisch ansprechend verarbeitet. Schnappschüsse verschiedener Leben, die Gesichter und Gefühle gleichermaßen erfassen und es vor dem Hintergrund des pulsierenden Großstadttrubels Delhis ablichten. Gerade diese ästhetische Nahbarkeit, welche selbst feinsten Sarkasmus zur schmerzhaften Erfahrung macht, verdient nicht nur höchstes Lob, sondern macht die Lektüre auch zu einer nachhaltigen Erfahrung. Eine Erfahrung, welche allein dadurch ein wenig getrübt wird, dass Mahajan das Tempo mitunter für unnötige Wiederholungen etwas zu sehr verschleppt. Kritik auf hohem Niveau, denn am Ende bleibt „In Gesellschaft kleiner Bomben“ ein in allen Belangen lesenswerter und vor allem lohnender Roman, dessen größte Stärke in seiner Unparteilichkeit besteht. Einmal mehr – eine echte Entdeckung des kleinen, aber feinen Hamburger Verlags CulturBooks.

Ich bedanke mich an dieser Stelle nochmal herzlich bei Zoë Beck für das Leseexemplar.

Wertung: 83 von 100 Treffern

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  • Autor: Karan Mahajan
  • Titel: In Gesellschaft kleiner Bomben
  • Originaltitel: The Association of Smalls Bombs
  • Übersetzer: Zoë Beck
  • Verlag: CulturBooks
  • Erschienen: 08.2017
  • Einband: Hardcover
  • Seiten: 376 Seiten
  • ISBN: 978-3959880220

 

Ich bin alles tote Sein

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© Ullstein

Es war der Sommer 2008 – die Zeit vor Twitter und der (exzessiven) allgemeinen Nutzung von Facebook . Das Forum auf der Website www.krimi-couch.de war noch quicklebendig, der Thread „Quasselbox“ Anlaufstelle für gleich eine Vielzahl von Membern, allesamt vom Wunsch dorthin getrieben, sich über Spannungsromane aller Couleur auszutauschen und gegenseitig Tipps zu geben (Und auch Offtopic waren die Konversationen mehr als unterhaltsam, aber dies ist eine andere Geschichte). Einer dieser Tipps war ein Name – John Connolly

Rückblickend betrachtet hätte ich ihn wohl ohne dieses Forum nie entdeckt, hat es der irische Autor doch hierzulande nicht wirklich zu größerer Bekanntheit gebracht. Sein Verleger Ullstein bzw. List stellte – höchstwahrscheinlich auch aus demselben Grund – die Veröffentlichung in Deutschland bereits im Jahr 2012 ein. Und selbst vor dieser Zeit war der Name Connolly ein seltener Gast in unseren Buchhandlungen. Dies ist angesichts der Qualität, besonders der frühen Werke, bemerkenswert, könnte aber unter anderem darin begründet sein, dass man sich seitens des Verlags bei der Bewerbung des Autors auch nur wenig Mühe gemacht hat. Inzwischen ist ein Großteil der Titel vergriffen, weswegen es auf den ersten Blick keinen Sinn macht, diese Trommel nachträglich zu rühren. Allerdings eben nur auf den ersten Blick, hat doch die Erfahrung – zum Beispiel im Fall James Lee Burke – gezeigt, dass es durchaus lohnt, einen vergessenen Autor immer mal wieder in den Fokus zu rücken.

Vorneweg: „Das schwarze Herz“, Auftakt der Reihe um den Privatdetektiv Charlie „Bird“ Parker, gehört mit zum Besten was ich im Bereich der härteren Spannungsliteratur bis dato zwischen den Fingern hatte und lesen durfte, was insofern erwähnenswert ist, da ich es mit den brutalen Vertretern dieser Zunft – von Ausnahmen wie Rex Miller oder Thomas Harris mal abgesehen – eher nicht halte. Dies legt weniger in einer zartbesaiteten Seele begründet, als vielmehr an der Tatsache, dass mich die Tendenz moderner Thriller, sich mit immer perfideren Foltermethoden und entstellteren Leichen gegenseitig zu übertreffen, zunehmend ermüdet und daher das Gegenteil des gewollten Effekts erzielt. Blut, Mord, Tod – inzwischen geht dies mit Belanglosigkeit einher, weswegen ich es als umso wichtiger erachte, die unbedingt lesenswerten Vertreter dieser Sparte hervorzuheben. Und einer davon ist eben „Das schwarze Herz“, dessen Inhalt hier kurz angerissen sei:

Ein kalter Dezember im Jahr 1996. Charlie „Bird“ Parker, Detective des New York Police Department, sucht sich den falschen Abend aus, um seine Eheprobleme in einem Pub um die Ecke zu ertränken. Als er nach Hause zurückkehrt, findet er die Hölle vor. Frau und Tochter sind tot. Dahingeschlachtet von einem diabolischen Killer, der sie einem mysteriösen Ritual nach dem Tode wie ein Totenkünstler in einer Art Pieta arrangiert und ihnen die Haut samt Gesicht abgezogen hat. Parker, der kurzfristig selbst zum Mordverdächtigen wird, bricht unter seiner Trauer zusammen, quittiert kurze Zeit später den Dienst und beginnt als freischaffender Detektiv den Täter auf eigene Faust zu suchen, was sich jedoch alsbald als vergeblich erweist. Der Mörder seiner Familie scheint wie vom Erdboden verschluckt. Als Parker der letzten verbliebenen Spur nach New Orleans folgt, gerät er an eine alte Voodoo-Frau. Sie erzählt ihm die Legende vom „Fahrenden Mann“, der bereits unzählige Male in der Vergangenheit getötet hat und immer noch sein Unwesen treibt. Dies scheint der Mann zu sein, den er sucht. Bevor er jedoch diesem Hinweis nachgehen kann, fordert ein anderer Fall Parkers Aufmerksamkeit.

Ein alter Kollege bittet ihn um Mithilfe bei der Suche nach Catherine Demeter, die spurlos verschwunden ist. Parkers Nachforschungen führen ihn in den tiefen Süden der USA, nach Haven, Virginia und auf die Fährte eines weiteren Killers, der seit über dreißig Jahren im Umfeld der örtlichen Mafia ungestraft sadistische Morde an Kindern begeht. Und mehr noch: Dieser Mann scheint die Identität des „Fahrenden Manns“ zu kennen. Parker hat nichts mehr zu verlieren. Gemeinsam mit dem schwulen Paar Angel und Louis, Profis in Sachen Diebstahl, Einschüchterung und eiskaltem Mord, nimmt er den Kampf gegen den Mob auf…

Wie oben bereits angedeutet, gibt es im Umfeld des Spannungsromans kaum etwas, dem ich inzwischen mehr überdrüssig bin, als der Serienkiller-Thematik. Eigentlich also keine guten Voraussetzungen für den Erstling des gebürtigen Iren Connolly, der gleich mit mehr als einem dieser Soziopathen aufwartet und damit augenscheinlich in dieselbe Kerbe schlägt. Was unterscheidet ihn dann von der stereotypen Genre-Konkurrenz? Die Antworten darauf, welche nicht einer gewissen Ironie entbehren, lauten: Glaubwürdigkeit und Originalität. Ironie deshalb, weil Connollys Bösewichte sich der Elemente des klassischen Lecters bedienen, um ihn dann wie einen harmlosen Nachbar von nebenan aussehen lassen. In den Schatten gestellt, von brutalen, gewissenlosen Monstern, die ihren Platz in einer Welt haben, welche so dunkel ist, dass ihr selbst der Begriff „Noir“ nicht mehr gerecht wird. Doch wo andere Romane aufgrund solcher Überzeichnungen Schiffbruch erleiden, sind sie in Connollys Werken das Salz in der Suppe, das Alleinstellungsmerkmal, aus dem vor allem die Serie um Charlie „Bird“ Parker seine Faszination bezieht – wenn man sich als Leser in der Lage dazu sieht, die Bösartigkeiten zu ertragen, welche der Autor mit einer schon perversen Liebe fürs Detail skizziert.

Im Unterschied zu solchen Autoren wie Edward Lee oder Richard Laymon ist John Connolly dabei jedoch nicht an Gewaltpornographie gelegen. Stattdessen dienen die expliziten Schilderungen in erster Linie dem atmosphärischen Anstrich des Plots, der sich gleich an mehreren Stellen den Zwängen des klassischen Thrillers entledigt, um eine Brücke zu den Gefilden von Stephen King und Co. zu schlagen. Eine Tendenz, welche Connolly in den kommenden Bänden der Reihe noch zielgerichteter verfolgen und damit für allerlei Kontroversen unter seinen Lesern sorgen wird. Heißt gleichzeitig: Wem diese übersinnlichen Phänomene bereits jetzt bitter aufstoßen, der kann von der weiteren Verfolgung der Serie gleich Abstand nehmen.

Alle anderen werden auf einen dunklen, stimmungsvollen Trip in die schwül heißen Gefilde von Louisiana und Virginia mitgenommen, der trotz tropischer Temperaturen vor allem für kalte und selten wohlige Schauer sorgt und – das sei hervorgehoben – auf die üblichen Südstaaten-Klischees wohltuender Weise verzichtet. Wie kaum ein anderer Autor vermag es John Connolly die Essenz des Bösen auf Papier zu bringen, der menschlichen Niedertracht ein Gesicht zu verleihen und uns als Leser aus der alltäglichen Komfortzone zu holen. Der viel beworbene Gänsehaut-Faktor, er hat hier beinahe durchgängig Bestand, sorgt für ein ständiges Gefühl des Verfolgtwerdens (der „Fahrende Mann“ bleibt lange Zeit eine im Schatten lauernde Bedrohung) gepaart mit einer nicht wirklich erklärbaren Unruhe und der Neigung den eigenen Blick vom Buch zu heben, um sich zu vergewissern, dass sich in den letzten Minuten nicht doch jemand Zutritt zum sonst doch immer so gemütlichen Wohnzimmer verschafft hat.

Einziger größerer Kritikpunkt an „Das schwarze Herz“ ist die Tatsache, dass hinsichtlich der Komposition des Ganzen der Debütcharakter des Romans doch das ein oder andere mal deutlicher zutage tritt. John Connolly verfolgt die zwei oben angerissenen Handlungsstränge nicht parallel, sondern separat, wodurch das Konstrukt nicht immer homogen daherkommt und die am Ende installierten Verbindungen auch eben genau so wirken. So wäre Parkers Intermezzo mit der hiesigen Mafia allein schon ein passender, weil stilistisch hervorragend und vor allem eindringlich in Szene gesetzter Höhepunkt für das Buch gewesen. Stattdessen ist aber an dieser Stelle erst die Hälfte der Strecke zurückgelegt. Und genau nach diesem Showdown hat der Plot dann so einige Mühe den Bruch in der Erzählung zu kitten und den Anstieg für den nächsten Spannungsbogen in die Wege zu leiten. Als Folge davon verliert die Story etwas an Tempo. Und auch der dringliche Charakter, der bis hierhin die Protagonisten in seinen Klauen hatte, lockert seinen Griff. Hat man diese Durststrecke jedoch zurückgelegt, erwartet und belohnt uns ein Finale, das gekonnt mit unserer Vorstellungskraft spielt und in seiner Dramaturgie nichts vermissen lässt.

Zurück bleibt ein atemloser Leser, sichtlich gezeichnet von diesem Ausflug ins das schwarze Herz eines Mörders. Und doch gleichzeitig mit der Erkenntnis, dass auch ein brutaler Thriller mit  Substanz und Finesse aufwarten kann. John Connolly wird die hier schon ziemlich hoch gelegte Latte mit den Nachfolgern, „Das dunkle Vermächtnis“ und „In tiefer Finsternis“, nochmal überspringen. Wer also am vorliegenden Roman (und dem düster-schwarzen Humor von Angel und Louis) Gefallen gefunden hat, dem sei der Kauf dieser zwei Titel unbedingt ans Herz gelegt. In meinem persönlichen Fall hat sich Connolly schon längst einen besonderen Status im Regal erworben.

Wertung: 92 von 100 Treffern

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  • Autor: John Connolly
  • Titel: Das schwarze Herz
  • Originaltitel: Every Dead Thing
  • Übersetzer: Jochen Schwarzer
  • Verlag: Ullstein
  • Erschienen: 07.2001
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 525 Seiten
  • ISBN: 978-3548251509