Am Kap der verlorenen Hoffnung

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„Tod vor Morgengrauen“ („Orion“, so der Titel auf Afrikaans) gehört ohne Zweifel zum sowohl sprachlich als auch inhaltlich besten, was ich seit längerer Zeit (oder besser gesagt seit James Lee Burke) in diesem Genre in den Händen halten durfte. Deon Meyer legt hier nicht nur das Klischee des südafrikanischen Exoten ad acta, er vollzieht, wie das nur wenigen vor ihm gelungen ist, den Spagat zwischen ernsthafter Literatur und spannungsgeladener Unterhaltung, ohne sich dabei die Leisten zu zerren bzw. dem Leser zu viel künstlich aufgetragenes Gefasel zuzumuten. Hier sitzt jeder Satz am richtigen Platz, trägt jede winzige Zeile dazu bei, ein Gesamtbild zu erzeugen, das uns geistig direkt an den Kap katapultiert und aus künstlichen Figuren erschreckend, ja berührend nachvollziehbare Menschen macht.

Im Mittelpunkt steht dabei diesmal ein ehemaliger Ermittler der Mordkommission namens Zatopek van Herrden, der sich inzwischen notgedrungen als abgehalfterter Privatdetektiv seinen Lebensunterhalt verdingt und dabei in schöner Regelmäßigkeit vollkommen besoffen am Fußboden irgendeiner Kneipe wiederfindet. Als ihn eines Tages wieder einmal sein Anwalt Kemp aus dem Knast holen muss, weil er des Abends zuvor eine Schlägerei vom Zaun gebrochen hat, hat dieser zugleich einen neuen Auftrag für ihn: Kemps Kollegin Hope Beneke benötigt seine Hilfe in einem mysteriösen und aufgrund der fehlenden Indizien auch undankbaren Fall. Er soll den Mord an dem Antiquitätenhändler Johannes Jacobus Smit aufklären, der vor seinem Tod brutal gefoltert und am Ende mit einem Schuss aus einer amerikanischen M-16 hingerichtet worden ist. Die Polizei hat die Akte Smit längst geschlossen. Doch da man bei dem Mord auch den Safe geplündert und das darin enthaltene Testament entwendet hat, drängt die Witwe nun auf neue Ermittlungen. Andernfalls fällt das Erbe, ein beträchtliches Vermögen, nach dem Ablauf von sieben Tagen direkt an den Staat.

Van Heerden ist von seiner Aufgabe genauso wenig begeistert wie von der idealistischen Hope Beneke. Nur widerwillig erklärt er sich bereit Nachforschungen anzustellen, sind die Spuren doch, allein aufgrund der bereits vergangenen Zeit seit dem Tod des Opfers, mehr als kalt. Als er schließlich auf etwas stößt, scheint er in einen Wespennest gestochen zu haben. Plötzlich zeigt sich neben der Polizei auch der südafrikanische Geheimdienst an seinen Ergebnissen äußerst interessiert. Mit jedem Tag wird mehr Druck auf van Heerden ausgeübt, der immer noch herauszufinden versucht, was sich genau im Safe befunden hat. Waren er es gefälschte Dollars oder Drogengeld? Hatte Smit vielleicht etwas mit Schmuggel zu tun?

Nach und nach verwirft er die einzelnen Theorien bis er schließlich auf die Wahrheit stößt, die ihn nicht nur weit zurück in das Jahr 1976 führt, sondern sich und Hope Beneke auch in tödliche Gefahr bringt …

Ich bin ganz ehrlich: Kriminalromane mit zwei parallel laufenden Handlungssträngen, welche selbst nach mehr als dreihundert Seiten immer noch keine größere Verbindung zueinander aufweisen, sind mir eigentlich grundsätzlich zuwider, hemmen sie doch zumeist das Lesevergnügen bzw. stören die Dynamik und den Fluss der eigentlichen Geschichte. „Tod vor Morgengrauen“ kann allerdings als schulmeisterliches Beispiel angeführt werden, wie man es richtig macht, gelingt es doch Deon Meyer mit diesem stilistischen Griff hervorragend, der ohnehin schon unheimlich komplexen Handlung und ihren Figuren zusätzliche Tiefe zu verleihen. Und um es auf den Punkt zu bringen. Das ist tatsächlich Optimierung auf besten Niveau, da van Heerden den Vergleich mit den ganz Großen standzuhalten vermag und sich problemlos in die Riege der Dave Robicheaux‘, Philip Marlowes, John Rebus‘ oder Patrick Kenzies einreiht. Es fällt mir wirklich schwer zu urteilen, was mir besser gefallen hat: Der eigentliche Krimi-Plot oder die in der Ich-Form erzählte Lebensgeschichte van Heerdens. Fakt ist jedenfalls: Beide zusammen sorgen für den genau richtigen Mix aus psychologischer Betrachtung und stimmungsvoller Atmosphäre, heben das ohnehin schon hohe Niveau des Romans nochmal an.

Auch wenn knurrige, saufende Ermittler uns allerorten aus den Buchdeckeln entgegenzuhüpfen scheinen – Zatopek van Herrden hat mit diesen schablonenhaften Stereotypen nur wenig gemein, ist in seiner Charakterisierung viel intensiver gezeichnet, als man dies allgemein hin von diesem Genre gewohnt ist. Fast scheint es so, als wäre nicht die Figur für die Handlung entworfen, sondern andersrum. Als hätte Deon Meyer rund um van Heerden seine Geschichte erzählt, die nicht nur die gesellschaftlichen und politischen Veränderungen des heutigen Südafrikas berücksichtigt, sondern bis weit zurück in die Zeit der Befreiungskriege reicht. Einmal mehr wird deutlich, wie eng Zukunft und Vergangenheit am Kap zusammenhängen, wie die Folgen der Apartheid, die begangenen und unter den Teppich gekehrten Verbrechen, das Land, trotz der TRC (Wahrheits- und Versöhnungskommission), weiterhin beschäftigen.

Für uns Europäer ist das mitunter schwer verständlich, wenngleich sich Meyer große Mühe gibt, seine Handlung nicht allzu sehr mit Informationen zu überfrachten. Um den ein oder anderen Blick ins Lexikon (Befreiungskriege, UNITA, Geschichte Angolas) kam ich letztlich dennoch nicht herum. Für mich jedoch auch kein Grund zur Kritik. Ganz im Gegenteil: Ein Krimi, welcher es neben dem eigentlichen Auftrag der Spannungserzeugung auch noch schafft mich tiefer für die Thematik zu interessieren, muss umso höher gelobt werden. Selbiges gilt für Meyers Angewohnheit, Figuren früherer Bücher in Nebenrollen auftauchen zu lassen, was einem immer wieder das Gefühl gibt, sofort zuhause zu sein. In diesem Fall sind dies Mat Joubert (Hauptprotagonist in „Der traurige Polizist“) sowie der ehemalige Berufskiller Thobela »Tiny« Mpayipheli, dem der Leser u.a. in „Das Herz des Jägers“ wieder begegnen wird.

Wer jetzt Angst hat von all den komplexen Verbindungen erschlagen zu werden, den kann ich beruhigen. „Tod vor Morgengrauen“ liest sich flüssig, schnell, ja, wie aus einem Guss und hält stets die Balance zwischen ruhigen Passagen und deftiger Action. Letztere hat Deon Meyer nicht selten drastisch und brutal inszeniert, wenngleich diese Einlagen keinesfalls den Gewaltgrad eines Roger Smith erreichen. Dennoch: Meyers dritter Roman ist nichts für zartbesaitete Rätselfreunde. Anhänger des nachtschwarzen Hardboiled werden dafür aber ebenso auf ihre Kosten kommen wie Leser psychologischer Krimis. Auch weil die Handlung nicht mit Überraschungen geizt und immer wieder neue Haken schlägt, bis man sich letztendlich mit der ernüchternden, düsteren Wahrheit konfrontiert sieht.

Tod vor Morgengrauen“ ist eine in allen Belangen meisterhafte Mischung aus gesellschaftlichem Kriminalroman und psychologischer Lebensgeschichte, die über die volle Distanz zu überzeugen weiß. Nachtschwarz, spannend, einfühlsam, glaubwürdig und einfach vortrefflich erzählt – ein ganz dicke Empfehlung für alle Freunde anspruchsvoller Spannungsliteratur!

Wertung: 96 von 100 Treffern

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  • Autor: Deon Meyer
  • Titel: Tod vor Morgengrauen
  • Originaltitel: afrikaans: Orion / englisch: Dead at Daybreak
  • Übersetzer: Karl-Heinz Ebnet
  • Verlag: Aufbau
  • Erschienen: 02/2014
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 579 Seiten
  • ISBN: 978-3746630489