Journey into Fear

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In vielerlei Fällen übersteigt der Bekanntheitsgrad einer Verfilmung, den der literarischen Vorlage – und hier bildet auch „Von Agenten gejagt“ (Orig. „Journey into Fear“) keinerlei Ausnahme.

1943, mitten während des Zweiten Weltkriegs, kam diese Umsetzung von Eric Amblers gleichnamigem Thriller – der auf den Deutsch den Titel „Die Angst reist mit“ erhielt – in die Kinos und konnte, trotz der vergleichsweise übersichtlichen Spiellänge von gerade mal 68 Minuten, nicht zuletzt auch aufgrund der starken Besetzung sein Publikum überzeugen. So spielt hier unter anderem Orson Welles, der zwei Jahre zuvor mit „Citzen Kane“ von sich Reden machte, eine der tragenden Hauptrollen und teilte sich die Regie mit Norman Forster, welcher wiederum Krimi-Kennern als Regisseur der Charlie-Chan-Streifen ein Begriff sein dürfte. Doch verdient nun auch das Buch denselben Klassiker-Status wie die erste Leinwandversion (1975 erschien eine weitere, kanadische Produktion mit u.a. Donald Pleasance und Ian McShane)?

Diese Frage kann, soviel sei vorab schon mal gesagt, besten Gewissens mit einem kräftigen „Ja“ beantwortet werden, denn einmal mehr gelingt es dem englischen Autor scheinbar mühelos, aus einer vergleichsweise äußerst alltäglichen und unspektakulären Ausgangssituation ein unfassbar spannendes, intelligentes Kammerspiel zu skulptieren, das einen Großteil moderner Spionagekrimis mühelos hinter sich lässt und äußerst gekonnt die Brücke zum klassischen Whodunit schlägt. Gekonnt und wohlgemerkt gewollt, denn die Reminiszenzen an ein paar der ganz großen Vertreter des Golden Age of Crime sind mehr als offensichtlich, was dem Werk allerdings nicht nur ein größeres Publikum eröffnet, sondern auch unterstreicht, wie vielschichtig und vor allem genreübergreifend der Kriminalroman mit dem richtigen Schriftsteller an der Feder sein kann. Der bedient sich beim Aufbau seiner Handlung auch bei sich selbst und präsentiert dem Leser einen Protagonisten, der Ambler-Kennern in seinen Charakteristika vielleicht etwas bekannt sein dürfte.

Frühjahr 1940, Istanbul. Während die Truppen des Dritten Reichs erbarmungslos ihre Macht über das bereits eroberte Polen festigen und hinter den Kulissen die Planungen für die Eroberung der Benelux-Staaten („Fall Gelb“) und von Frankreich („Fall Rot“) laufen, rüsten sich die Alliierten ihrerseits für den erwarteten Angriff. Unter ihnen ist auch die noch relativ junge türkische Republik, die zwar bis zum August 1944 außenpolitisch ihre Neutralität bewahren sollte, der aber dennoch daran gelegen war, militärisch auf Abschreckung zu setzen. Aus diesem Grund reist der englische Ingenieur Graham von der Rüstungsfirma Cator & Bliss (schon bekannt aus Amblers Erstling „Der dunkle Grenzbezirk“ und „Anlass zur Unruhe“) in die Stadt am Bosporus. Er soll die notwendigen Daten sammeln, um die Kriegsschiffe der türkischen Marine mit neuen Geschützen ausstatten zu können und mit diesen Informationen nach England zurückkehren. Ein Routineauftrag für Graham, der vor seiner Abreise noch die Gastfreundschaft der Türken genießt und, von einem mysteriösen Beobachter in einem Nachtclub mal abgesehen, einen schönen letzten Abend in der Metropole verbringt. Doch dieser soll jäh enden.

Als Graham in sein Hotelzimmer zurückkehrt, wird direkt auf ihn geschossen. Er überlebt nur knapp, zeigt sich typisch englisch empört und glaubt in seiner Naivität lediglich einen Einbrecher überrascht zu haben. Doch als sein türkischer Verbindungsmann Kopeikin ihn ins Bild setzt, eröffnet sich ihm die ganze Ernsthaftigkeit der Situation. Der versuchte Raubüberfall war in Wirklichkeit ein fehlgeschlagenes Attentat auf ihn. Oberst Haki vom türkischen Geheimdienst setzt ihn in Kenntnis, dass bereits zuvor ein Anschlag auf ihn vereitelt wurde und die deutschen Agenten mit aller Macht verhindern wollen, dass Graham zeitnah England erreicht und damit die Aufrüstung der Türken vorantreibt. Obwohl sich der schrullige Ingenieur noch weiterhin gegen die ihn so absurde Vorstellung wehrt, Beteiligter in einem Spionage-Katz-und-Maus-Spiel zu sein, muss er dennoch tatenlos zusehen, wie seine Fahrt mit dem Orient-Express verhindert und er stattdessen an Bord eines Dampfschiffs gebracht wird, das ihn über die griechischen und italienischen Häfen bis nach Südfrankreich transportieren soll.

Die kurze Planänderung gelingt und Graham erreicht das Schiff. Er ist in Sicherheit, so scheint es. Oder haben seine Verfolger diesen Schritt vielleicht auch vorausgesehen? Arbeitet gar einer der anderen Passagiere auch für die Deutschen? Für den Engländer beginnt eine „Journey into Fear“ …

Die Angst reist mit“ kann natürlich in gewisser Weise als Verbeugung Eric Amblers vor der großen Agatha Christie verstanden werden, welche im Jahrzehnt zuvor mit Werken wie „Mord im Orient-Express“ (1934) und „Tod auf dem Nil“ (1937) den „Closed-Room-Mystery“-Roman John Dickson Carrs aus dem klassischen englischen Landhaus erfolgreich in einen neuen, beweglichen Schauplatz transportiert hatte. Und so erinnert gerade die Konstellation auf der Fähre stark an diese Vorbilder, zumal sich dem Leser ein ähnlich diverses Ensemble an möglichen Verdächtigen präsentiert. Recht schnell ist klar – irgendjemand an Bord spielt ein falsches Spiel und versucht Graham noch vor dem Erreichen seines Ziels zu töten. Doch bloß wer? Neben Josette, der aufdringlichen und anhänglichen Kabarett-Tänzerin, welche der Ingenieur bereits in Istanbul kennengelernt hatte, sind dies unter anderem ihr reizbarer Geschäftspartner (Zuhälter wäre wohl passender) Josè, der türkische Tabakhändler Kuventli, der vom Kommunismus begeisterte, französische Geschäftsmann Monsieur Mathis und seine Frau sowie der alte, deutsche Archäologe Dr. Fritz Haller samt dessen Gattin.

Insbesondere die Anwesenheit des Letzteren trägt maßgeblich zu der angespannten Stimmung zwischen den Schiffsreisenden bei, die Hallers Mitfahrt inmitten des Krieges als Affront ansehen und dessen Nähe demonstrativ meiden. Sehr zum Missfallen Grahams, der den einzigen freien Platz ausgerechnet am Tisch des Deutschen in Anspruch nehmen muss. Eric Ambler erweist sich hier – einmal mehr – als ausgezeichneter Beobachter und Charakterzeichner, vermenschlicht den kriegerischen Konflikt in Person der unterschiedlichen Figuren, welche, abseits üblicher Nationalitätenklischees, die politischen und gesellschaftlichen Zustände ihrer jeweiligen Heimatländer widerspiegeln. Das hier insbesondere, verkörpert durch Graham selbst, das britische Empire auch nicht ungeschont davon kommt, spricht für das ehrliche Ansinnen des Autors. Für England ist der Krieg, trotz des Überfalls der Deutschen auf Polen und dem damit ersichtlichen Irrtums Chamberlains nach der Konferenz in München, scheinbar immer noch weit weg und eine allenfalls abstrakte Gefahr. Eine geistige Maginot-Linie scheint jeden Gedanken daran abzuwehren, auch die westlichen Länder könnten nun in naher Zukunft ins Visier von Hitlers Expansionsplänen geraten. Und überhaupt, Mord? Ein dreckiges Geschäft und doch nichts für europäische Gentlemen.

Es ist nicht das erste Mal, dass Ambler einen vollkommen naiven, gutgläubigen Menschen mit den Gefahren der politischen Verwerfungen in Mitteleuropa konfrontiert – aber noch nie zuvor hat sich der Autor so viel Zeit genommen, diese Konfrontation mit der Wirklichkeit in der Gefühlslage seines Protagonisten abzubilden. „Die Angst reist mit“ ist ein mehr als passender Titel, denn mit jeder Meile, die das Schiff zwischen sich und Istanbul bringt, passiert genau das Gegenteil von dem, was sich Graham erhofft hat. Anstatt sich sicherer zu fühlen, droht ihn zunehmend die Panik zu überwältigen, beobachtet er die anderen Passagiere mit steigender Skepsis – und eben Angst. Und genau diese überträgt Ambler äußerst geschickt auf den Leser, der sich mit diesem Jedermann und dessen aufsteigender Furcht und den quälenden Gedanken relativ leicht identifizieren kann. Graham ist kein Profi, ist nicht abgeklärt und hat entsprechend auch keinerlei Kontrolle über diese Situation, woraus wiederum der Plot, trotz dem viele Seiten nichts passiert und vor allem die Dialoge zwischen den Passagieren in Mittelpunkt stehen, seine zunehmend beklemmende Suspense bezieht.

Hinzu kommt Amblers feine Feder bei der literarischen Illustration seiner Schauplätze. Ob das lärmende, nie stillstehende Istanbul oder der glutheiße Hafen von Saloniki – hier sind wir erneut mittendrin statt nur dabei, entsteht vor unseren Augen die Mittelmeerregion der 40er Jahre und das damalige Lebensgefühl wieder auf. Und mit ihnen die letzte Ausgelassenheit vor einem weltumspannenden Krieg, der in wenigen Monaten auch die Etappenziele dieser Schiffsreise mit in den Konflikt hineinziehen wird. Wie Ambler diese scheinbare unvermeidbare Abfolge der Ereignisse durch einen Monolog des Monsieur Mathis wieder auf den Punkt bringt – das ist von beklemmender, unbehaglicher Brillanz. Grandios auf welch intelligentem Niveau dieser fantastische Schriftsteller auch in seinem sechsten Roman unterhält, er am Ende nochmal in bester Bond-Manier (Herr Fleming scheint Ambler wohl auch aufmerksam gelesen zu haben) die Handlung verdichtet.

Die Angst reist mit“ gehört vollkommen unbestritten zu den besten Titeln aus dem an herausragenden Romanen nicht armen Lebenswerk Eric Amblers. Ein atmosphärisch unheimlich stimmiger, den blinden Nationalismus erneut entblößender Thriller, der es tatsächlich schafften dürfte, sowohl Freunde von Agatha Christie als auch Anhänger von John Le Carré gleichsam zu begeistern. Ein Spagat, den so wohl nur auch dieser Ausnahmeschriftsteller hinzulegen imstande war. Ich möchte weniger für eine Wiederentdeckung plädieren, als vielmehr dafür, diesen Autor endlich die ihm gebührende Präsenz im Buchhandel einzuräumen, welcher er seit jeher eigentlich verdient.

Nachtrag: Eric Ambler wird inzwischen vom Atlantik-Verlag neu aufgelegt.

Wertung: 92 von 100 Trefferneinschuss2

  • Autor: Eric Ambler
  • Titel: Die Angst reist mit
  • Originaltitel: Journey into Fear
  • Übersetzer: Matthias Fienbork
  • Verlag: Atlantik
  • Erschienen: 07/2017
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 320
  • ISBN: 978-3455651126

8 Gedanken zu “Journey into Fear

    • Danke schön, Gunnar! – Ich kann mir ehrlich gesagt nicht erklären, warum Ambler seit jeher im deutschen Buchhandel so stiefmütterlich behandelt wird. Dafür lass ich jederzeit jeden Follett, Ludlum, Silva oder Harris stehen. – Ich bin recht froh, dass ich da noch einige ungelesene Titel vor mir habe.

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  1. Danke! – Damit hast Du meine Erwartungshaltung und Vorfreude vergrößert!
    Letztes Jahr habe ich mir von Ambler „Der dunkle Grenzbezirk“ und „Ungewöhnliche Gefahr“ zugelegt, doch bei mit meiner aktuellen „Leseblockade“ müssen sie noch eine Zeit lang warten bis sie vom RUB „erlöst“ werden.

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    • Die Vorfreude ist auch berechtigt, denn Ambler ist wirklich ein fantastischer Autor. – Was das Thema Leseblockade angeht: Kenn ich leider nur allzu gut. Ich hoffe, meine Lust am Lesen hält dieses Jahr etwas länger an. ;-)
      Liebe Grüße ins Nachbarland!

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